Kurd Laßwitz
Aspira
Kurd Laßwitz

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Nach dem Tunnel

Aus Aspiras Tagebuch

Ich war hochgesprungen. Ein unbeschreibliches Gefühl des Glückes und des Stolzes erfüllte mich. Ich wollte zu den Menschen, zu den andern Menschen, zu meinen Schwestern und Brüdern. So schritt ich rasch durch den Wald und weiter auf dem Wege.

Da stand ein Wegweiser. Was bedurfte ich seiner? Ich war noch Aspira genug, um mich zurechtzufinden. Aber ich konnte auch lesen. Das mußte ich doch gleich probieren.

Der Wegweiser hatte drei Arme. Auf dem einen stand: »Zum Weißbachfall und Gletscherblick.« Aus dieser Gegend kam ich. Der zweite zeigte die Inschrift: »Promenadenweg nach Hotel Leberecht.« Dort wohnte ich. Ich wollte in den Weg einbiegen, da fiel mein Blick auf den dritten Arm:

»Zum Langbergtunnel. Unbefugten verboten.«

Da stutzte ich. Warum? Doch es fiel mir gleich ein. Der Weg führte nach der Stelle, wo ich als Wolke die arbeitenden Menschen beobachtet hatte. Von dort dröhnten die Sprengschüsse, erklangen die Hammerschläge. Dort sollte man nicht hingehen, weil Steintrümmer herabrollten – –

Und es fiel mir noch mehr ein. Es war bei der Mittagstafel im Hotel. An meinem Tische, an der Ecke mir schräg gegenüber, sitzt ein Herr mit dunklem Haar und Bart. Er sieht klug aus, sehr ernst, aber gutmütig. Er kommt immer erst, wenn wir schon beim zweiten Gange sind, und wenn das Dessert herumgeht, steht er schon wieder auf und verschwindet. Niemals richtet er das Wort an seine Nachbarn, schweigend sitzt er da und sagt höchstens höflich »bitte« oder »danke«, wenn eine Schüssel weitergereicht wird. Fräulein Bertilde von Okeley, die neben ihm sitzt, ärgert sich darüber. Den »Schwätzer« nennt sie ihn. Es ist der Ingenieur Martin, der die Tunnelarbeiten leitet. Die Gäste wissen wohl, wer er ist, aber niemand kennt ihn näher, denn er hat keine Zeit mit ihnen zu verkehren; er hat sehr viel zu tun und ist abends ermüdet, wenn sich die andern unterhalten. So oft ich gelegentlich zu ihm hinübersah, bemerkte ich, daß seine großen, etwas träumerischen Augen auf mir ruhten.

Neulich wollte ihn Fräulein von Okeley offenbar zum Reden bringen. Sie rief ganz laut zu mir über den Tisch herüber:

»Heute war ich ein ganzes Stück auf dem verbotenen Wege nach dem Tunnel zu. Dort sollten Sie einmal hingehen, Fräulein Lentius. Da ist es wunderschön. Schade, daß man nicht weiterkann. Ich möchte so gern einmal die Arbeiten sehen.«

Ich nickte ihr nur zu, denn ich rede nicht gern mit ihr. Man kommt so schwer wieder los.

Auf einmal aber zu aller Erstaunen erhob der Ingenieur seine Stimme und sagte mit Nachdruck:

»Verzeihen Sie, meine Damen und Herren, ich bitte Sie dringend, vermeiden Sie den Weg, jedenfalls hinter der Stelle an der Barriere, wo er aus dem Wald tritt. Oben im Steinbruch hinter der Schiefklippe wird gesprengt. Darüber liegt brüchiges Gestein und es kommen manchmal ganz unvermutet Felsblöcke nachgestürzt. Auch die Förderbahn ist nicht ohne Gefahr zu überschreiten.«

Dann schwieg er wieder hartnäckig, und als das Fräulein von Okeley ihn direkt fragte, ob er ihr nicht einmal den Tunnel zeigen wollte, sagte er höflich aber bestimmt:

»Bedaure, gnädiges Fräulein, aber es ist nicht möglich.«

Seltsam, wie mir das alles so einfiel! Die Leute werde ich nun alle zu Gesicht bekommen. Ich wollte also nach dem Hotel gehen. Und nun, ich weiß nicht, auf einmal fühlte ich in mir einen merkwürdigen Widerspruch. Meine Wera-Erinnerung und meine Aspiraseele wollten nicht recht stimmen. Gerade diese Arbeiten am Tunnel wollte ich doch sehen, sie hatten mich ja vornehmlich zu dem Wunsche angetrieben, die Menschen und ihr Werk genauer kennen zu lernen. Und das gerade sollte ich als Wera nicht dürfen? Und ich bekam eine unwiderstehliche Lust, nun doch hinzugehen.

Hatte ich noch Zeit vor Tische? Aber, ich besaß ja eine Uhr. Ich zog sie hervor. Sie zeigte 9 Uhr 15 Minuten. O, das war noch viel Zeit, wenn ich auch mit meinen Werabeinen bis zum Tunnel noch eine gute halbe Stunde brauchte. Um 12 Uhr mußte ich zu Hause sein, denn ich mußte mich noch umziehen – Komisch, was man als Mensch für Rücksichten zu nehmen hat! Als Mensch!

Wie gleichgültig sind all die kleinen Mühen gegen das große, große Glück! Ich hielt die Uhr noch in der Hand. Was ist das für ein Wunderwerk! Ich führte sie ans Ohr und lauschte ihrem leisen Ticken. Ich drückte die Lippen auf das kleine, glatte, glänzende Ding – – Es war mit ein heiliges Symbol der Menschenmacht! Ich konnte denken, an was ich wollte, ich konnte stehen und gehen und schaffen, ich konnte schlafen – das kleine Ding an meinem Gürtel arbeitete und wachte für mich, es zählte den unaufhaltsamen Schritt der unendlichen Zeit. Den gleichmäßigen Umschwung des Erdballs trug ich in der zierlichen Kapsel, das Maß des Weltalls gehörte mir – – Losgelöst von allem Schwanken wogender Wolkenseelen und flüchtiger Menschenneigung zeigte mir der kleine unbestechliche Richter das große, milde Antlitz des Gesetzes.

Ihr glücklichen Menschen! Wohin ihr blickt, was ihr berührt, die Falte des Kleides, die haftende Nadel, hier der stützende Stock – spricht euch nicht jede Kleinigkeit zu jeder Minute von eurer Größe, von dem kunstvollen Werk der gemeinsamen Arbeit, das euch entlastet von der Anstrengung der eignen Hand, euch frei macht für immer neues Schaffen? Denkt ihr nicht daran? Und ich bin ein Mensch!

In meiner Seligkeit hatte ich kaum gemerkt, wie der Weg unter meinen Füßen dahinflog. Ich hatte den Ausläufer des Langbergs überquert, der Schmalbrück vom Tal der Festina trennt. Plötzlich stand ich am Ausgang des Waldes.

Ja, es war schön. Dicht vor mir stürzte der Langberg steil ab zur Schlucht, zwischen den braunen und grauen Felsen schimmerte blühendes Gesträuch, unten donnerte die Festina schäumend zu Tale. Und gegenüber aus dem Walde des Berghangs trat eine hellgraue, gerade Linie und zog sich aufwärts am Rande der Schlucht, verschwand hinter einem Felsvorsprung und lief dann ebenso glatt quer über den tosenden Fluß, getragen von einem zierlichen Bogen, dessen Gitter in der Sonne glänzte wie von Elfenbein geschnitzt. Als gäbe es für sie kein Hindernis, so drang diese Linie durch Wald und Fels und freie Luft, und unter ihr in der Tiefe brauste machtlos die wilde Festina.

Ich hatte den hellen Streifen schon oft von oben erblickt, ich war unter der Brücke hinweggerast in den Wogen des schäumenden Flusses, aber erst hier von der Seite sah ich die gewaltige Größe und die schlanke Eleganz des wunderbaren Baus – und ich sah mit andern Augen – denn du warst ja jetzt auch mein Werk, du eisernes Menschheitsband – ich bin ein Mensch!

Oder bin ich vielleicht noch mehr? Was hindert mich dieser Balkenverschlag und diese Warnungstafel? Links läuft der Weg an der trümmerbesäten Berghalde talaufwärts, schräg vor mir auf dem steilen Abfall des Langbergs grüßt mich die morsche Schiefklippe. Dort, wo die Brücke an der diesseitigen Bergwand endet, sah ich Menschen beschäftigt. Hammerschläge, Maschinenklappern hallten herüber. Dort ist der Eingang zum Tunnel. Schmal nur ist der Pfad. Ich eilte ihn aufwärts. Ich hörte nicht auf den Warnruf meiner Weraseele. Ich war doch wohl mehr als ein Mensch, denn ich fühlte keine Schwere. Es war, als ob Aspira mich auf Wolkenschwingen trüge und meinen Schritt beflügelte.

Da ein schmales Schienenband, steil vom Berge kommend, quer über den Weg. Wieder eine Warnungstafel. Was tut's? Hinüber! Ich schritt vor. Da sah ich, wie sich unmittelbar vor meinen Füßen zwischen den Schienen ein Draht vom Boden hob, und zugleich donnerte und rasselte es vom Berge, ein kleiner, schwer mit Steinen beladener Wagen kam herabgeschossen – ich springe noch über den Draht und will vorwärts eilen, aber das Kleid hat sich irgendwo verfangen – ich sinke ins Knie – ein Menschenschrei hallt von drüben – und sehe den Wagen unmittelbar vor mir – unvergeßlich prägt sich der Moment mir ein – ein großer, breiter Felsblock vorn auf dem Wagen, der mich zermalmen mußte – aber dieser Felsblock – –

Es mußte wohl alles in mir, was Wera war, in diesem Augenblick bewußtlos sein vor Schreck, aber ich war ganz Aspira – – Dieser Felsblock grinste vergnüglich und blies mich an wie ein Sturmwind; der riß mein Kleid los und warf mich vorwärts über die Schiene hinaus – hinter mir polterte der Wagen vorüber, es klang mir wie ein Lachen aus dem Rasseln und Knattern: »Das war ich, das war ich! Dein Freund vom Langberg! Gib acht, Aspira! Das war ich, das war ich!«

Und im Augenblick darauf hatte ich mich emporgerafft. Ich war wieder Wera und mußte mich erst besinnen, was geschehen war. Ich hatte mir keinen Schaden getan, nur ein Stück vom Saum des Gewandes war abgerissen. Der Hut lag neben mir auf dem Wege. Ich hob ihn auf.

Vom Tunnel her auf dem steinigen Pfade kam in großen Sprüngen ein Mann angerannt –unbekümmert um seine gesunden Glieder schwang er sich bergabwärts – er trug einen staubigen Arbeitskittel und einen unbeschreiblich verbogenen Strohhut – und noch ehe er mich erreicht hatte, rief er atemlos:

»Um Gotteswillen, Fräulein Lentius, sind Sie verletzt?«

»Nein, nein, ich danke, es ist gar nichts.«

Nun stand er vor mir und hatte den Hut abgenommen. Ich sah, wie er tief atmete und das bleiche Gesicht sich rötete. Jetzt erst erkannte ich in ihm den Ingenieur Martin.

»Gott sei Dank!« sagte er. »Ich sah, wie Sie hängen blieben. Es ist mir fast unbegreiflich, daß Sie sich noch losreißen konnten – – Gott sei Dank,« sagte er noch einmal leise.

Nun fühlte ich mich beschämt. »Ich war sehr unvorsichtig,« sprach ich. »Es tut mir furchtbar leid, wenn ich Sie erschreckte.«

Er hatte sich gebückt und untersuchte das Gleis. Ich sah, daß er ein Stück Stoff ablöste, aber ich weiß nicht, wo es hinkam. Dann drehte er sich wieder nach mir um und begann:

»Sie sind zum Glück nicht an dem Draht hängen geblieben, sondern nur an der zweiten Schiene. Das Kleid hatte sich in dem Stoß festgeklemmt. Immerhin, es ist mir unbegreiflich, woher Sie die Kraft nehmen konnten, sich noch weit genug zur Seite zu werfen – die Wagen laden breit über die Schiene hinaus – Sie hätten mindestens gestreift werden müssen.«

Ich war wieder ganz ruhig und mußte jetzt lächeln. »Sie nehmen's mir hoffentlich nicht übel, daß ich noch hinüberkam?«

»O, gnädiges Fräulein, – ich war nur so sehr erschrocken, als ich Sie stürzen sah – man muß doch versuchen, sich klar zu machen –«

Er sah ganz rührend au, als müßte er sich entschuldigen. Ich gab ihm die Hand und sagte:

»Ich muß wirklich um Entschuldigung bitten. Sie haben uns noch neulich Mittag gewarnt, und ich habe mich eigentlich straffällig gemacht –«

»O, ich bitte, ich bin ja nur froh, daß –«

Er schwieg verlegen. Da sagte ich:

»Und wissen Sie, ich bin gar nicht durch eigne Kraft losgekommen. Wenn nicht der Langberg –« Fast hätte ich mich verplaudert, aber ich hielt noch inne.

»Wie meinten Sie?«

»Ich glaube – ich denke, es war der Luftdruck –« wie war ich froh, daß mir das einfiel – »der Luftdruck vor dem Wagen hat mich noch rechtzeitig zur Seite geschleudert.«

Ich sah seinem Gesicht an, daß er dieser Erklärung nicht beistimmte. Da er aber nichts sagte, so sprach ich weiter:

»Da ich nun doch einmal so leichtsinnig bis in Ihr Gebiet vorgedrungen bin, wollen Sie da nicht die Güte haben, mich nun auch bis an das Ziel zu lassen und mir die Arbeiten im Tunnel zu zeigen?«

Er schwieg wieder eine Weile. Es tat mir eigentlich leid, daß ich etwa verlangte, was er offenbar nicht gern tun wollte. Aber ich war hartnäckig und schwieg auch. Endlich begann er:

»In den Tunnel können wir jetzt wirklich nicht hineingelangen. Die erste Attacke ist noch nicht beendet, wir sind noch beim Schottern – d. h. beim Herausschaffen des gesprengten Gesteins – so lange ist es für Sie nicht möglich in den Tunnel zu gehen, die Förderwagen versperren den Weg. Vor Mittag werden wir mit dem Ausräumen nicht fertig.«

»Ich hätte so gern einmal die Bohrmaschinen gesehen und die ganze Einrichtung.«

»Nun,« sprach er zögernd, »bis zum Eingang könnte ich Sie schon führen. Da könnten Sie immerhin allerlei sehen, obwohl – eigentlich –«

Er machte eine Pause. Auf einmal sah er mich mit einem leuchtenden Blicke an und sagte treuherzig:

»Ich bring's halt nicht übers Herz, daß ich Ihnen schon wieder Adieu sagen soll. Aber werden Sie nicht zu müde sein?«

»Müde?« Ich lachte. »Das kenne ich nicht.«

»Aber der Sturz, der Schreck?«

»Kommen Sie nur!« rief ich übermütig und sprang den Weg hinauf, den er herabgekommen war. Zum Glück fiel mir gleich ein, daß ich ein gelehrtes Menschenfräulein bin. Ich blieb stehen und drehte mich um, war aber doch ein wenig erschrocken, als ich sah, wieder hoch ich schon über ihm stand.

Er hatte inzwischen meinen Bergstock herbeigeholt und kam mir schnell nach. Ganz ernsthaft schüttelte er den Kopf und sagte:

»Sie sollten nicht so eilen. Hier ist der Stock. Geben Sie mir Ihre Mappe.«

Ich wollte nicht. Den Stock brauchte ich nicht und mit der Mappe wollte ich ihn nicht belasten. Aber ich weiß nicht – er nahm mir die Mappe aus der Hand, gab mir den Stock und schritt rüstig neben mir her, und ich – sagte gar nichts. Es versteht sich alles von selbst, dachte ich wieder – oder dachte ich gar nichts?

So gingen wir schweigend weiter. Immer lauter dröhnten die Hammerschläge am Brückenkopf und das Klopfen auf den Steinen, daneben ein tiefes Summen – –Der Weg wurde breit und zertreten. Wir schritten über Schienengeleise, zwischen Bauhütten und Schuppen hindurch, an Arbeitern vorbei, die mich verwundert ansahen – vor uns lag die Tunnelöffnung.

Plötzlich blieb der Ingenieur stehen und fragte mich:

»Kennen Sie die Körnbachschlucht?«

»Freilich,« rief ich. »Sie haben ja die ganze Schlucht abgedämmt, es ist ein See entstanden, und das Wasser kann nur noch durch den Spalt im Körnstein, wenn es nicht durch Ihr finstres Abflußrohr –«

»Sie kennen die Gegend so genau? Sie waren wohl schon häufig hier? Aber ich glaubte nicht, daß Touristen je bis an den Körnstein kämen. Von einem Spalt weiß ich übrigens nichts.«

»Er ist ja auch –« ich wollte sagen, »unterirdisch«. Doch zum Glück besann ich mich. Ich hatte mich schon wieder verplaudert. Was sollte ich über meine Lokalkenntnis sagen? Wera war ja erst seit zwei Wochen hier und noch nie am Körnstein gewesen.

»Ich hörte nur davon reden,« behauptete ich kühn. »Bitte, erklären Sie mir –«

»Am Körnstein ist unser Sammelbassin für die Druckleitung. Sehen Sie, durch dieses 110 Zentimeter starke Rohr strömt das Wasser aus dem Körnbach zu uns herab. Und hier« – er öffnete die Tür zu einem Hause – »sehen Sie die Turbinen, die dadurch getrieben werden. Diese hier erzeugt die Preßluft, die durch jene Röhrenleitung gedrückt wird. Durch die Preßluft treiben wir unsre Bohrmaschinen und lüften zugleich den Tunnel. Die Turbine im Nebenraum – hier können Sie ruhige herantreten – ist mit einer Drehstrommaschine gekuppelt und erleuchtet uns den Tunnel.«


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