Kurd Laßwitz
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Kurd Laßwitz

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Undine

Es war Anfang September. Ein warmer Abend senkte sich über die ausgedehnten Parkanlagen von Weidburg. Das neue, schloßartige Gebäude, worin das geologische und das chemische Institut untergebracht waren, stand verwaist. Die Studenten befanden sich in den Ferien, auch die Assistenten hatten sich jetzt auf die Reise begeben. Nur im zweiten Stockwerk, wo Professor Sohm, der Leiter des geologischen Instituts, wohnte, gönnten die geöffneten Fenster der Abendluft freien Zutritt.

Sohm lehnte an dem Eckfenster seines Studierzimmers. Die kräftig gebräunte Farbe seines Antlitzes, der flotte Schnurrbart und der freie Blick seiner grau-blauen Augen ließen ihn jünger erscheinen, als seinem Alter entsprach. Schon als er vor fünf Jahren nach Weidburg berufen wurde, hatte er gehofft, sich hier eine Häuslichkeit zu gründen. Aber eine schwere Enttäuschung in der Person seiner erwählten Braut, einer Ausländerin, die er auf seinen wissenschaftlichen Reisen im fernen Osten kennen gelernt hatte, warf einen tiefen Schatten auf die ersten Jahre in Weidburg. Erst allmählich hatte er sich wieder zur Ruhe durchgearbeitet und die alte Heiterkeit seines Gemüts zurückgewonnen. Da lernte er Wera Lentius kennen. Das junge, schöne Mädchen, das, nach dem Verlust ihrer Eltern ganz alleinstehend, still und zurückgezogen sich mit eisernem Fleiße ihren Studien widmete, hatte bald seine aufrichtige Wertschätzung errungen. Seitdem er dann Gelegenheit gefunden, ihr persönlich näher zu treten, eroberte die Liebenswürdigkeit ihres harmonischen Wesens sein ganzes Herz. Es lag über ihm wie ein stilles Glück, das er sich nicht auszumalen wagte. Und als er ihr einen Anteil an seiner Arbeit anbot, wußten beide, daß dies zu einer Entscheidung führen mußte.

Nun erblühte sein Leben in einer neuen Jugend. Neben der besonnenen Strenge seines theoretischen Schaffens barg sein Inneres ein warmes Poetenherz. Das bewahrte ihn vor der Einseitigkeit, die dem Gelehrten in seiner notwendigen Beschränkung auf spezielle Aufgaben so leicht droht. Das glühte in einem unaussprechlichen Glücksgefühl auf in der holden Zärtlichkeit, die ihm Weras Nähe gewährte. Und die Beobachtung, wie bei dieser leidenschaftlichen Liebe sie zugleich eine gemeinsame Lebensarbeit selbstlos verband, erfüllte ihn mit tiefem Vertrauen in ihre Zukunft. Im Herbst wollten sie sich in ihrem gemeinsamen Heim vereinigen.

Und nun war doch wieder eine unklare Sorge in seiner Seele aufgestiegen.

Sohm spähte über den freien Platz, über den Wera kommen mußte. Es war die Stunde ihres gemeinsamen Spazierganges, der sie fast regelmäßig durch die Anlagen zu Geheimrat Röteleins führte. In der am Hügelabhang reizend gelegenen Villa, die Rötelein mit seiner Familie bewohnte, pflegten sie als ständige Gäste die Abende zuzubringen.

Sohm sah nach der Uhr. Dann setzte er sich in den Lehnstuhl ans Fenster und stützte den Kopf in die Hand. In den letzten Tagen hatte sich seine Besorgnis um Wera ernstlich gesteigert.

Es war ihm unbegreiflich – seit zehn Wochen, seitdem Wera von ihrem kurzen Erholungsaufenthalt in den Alpen körperlich gekräftigt zurückgekehrt war, hatte er in ihrem Verhalten eine eigentümliche Veränderung bemerkt.

In dem ersten Augenblick des Wiedersehens, als er sie leidenschaftlich in seine Arme zog, war es ihm aufgefallen, wie sie seine Liebkosungen erwiderte. Fast als wenn sie sich einen Zwang antun müßte! Es ließ sich nicht definieren, es ließ sich nur fühlen.

Er hatte sie mit ihrer Schwerfälligkeit geneckt. Sie hätte wohl zu viel Gletscherluft geschluckt? Die müßte wieder herausgekocht werden.

»Ach, wenn wir das könnten!« hatte sie einmal lächelnd gesagt. Aber in diesem Lächeln lag ein Hauch von Schwermut. Und dieser Zug, der ihr sonst fremd gewesen war, kehrte von Zeit zu Zeit wieder, ja er war immer stärker geworden. Wenn er mit Fragen in sie drang, ob sie etwas beschwere, wich sie mit Scherzen aus. Er bemerkte, daß sie es möglichst vermied, mit ihm unbeobachtet allein zu sein. Und doch konnte er nicht einen Augenblick daran denken, daß ihr Liebe gegen ihn erkaltet sei. Im Gegenteil, durch hundert kleine Aufmerksamkeiten bewies sie ihm, daß sie nur ihm zum Gefallen und zur Freude leben wollte. Sie war liebenswürdiger und freundlicher wie je, ihre geistige Regsamkeit und Lebendigkeit hatte sich noch gesteigert, und in Gesellschaft erregte sie das allgemeine Entzücken. Wie unbeschreiblich anmutig war sie bei jenem Reigen gewesen, an dem sie mitwirkte, als Röteleins ihr kleines Sommerfest gaben. Das war ein Schweben, das fast schwerelos erschien. Und dann wieder – an andern Tagen erschien sie hastig und unstet, als ob sie von einer geheimen Unruhe umhergetrieben würde – –

Aber alles dies, sagte sich Sohm zum Troste, war ja wohl nur eine vorübergehende Erregung des Brautstandes, das wird sich wohl geben. Eine andere Veränderung in Weras Gedankenleben verursachte ihm viel ernstere Bedenken.

Ihrer chemischen wissenschaftlichen Arbeit zwar widmete sich Wera mit voller Hingabe, und ihre Analysen schritten glücklich vorwärts. Daneben aber hatte sie sich jetzt mit philosophischen Spekulationen beschäftigt, die nicht selten zu lebhaften Debatten zwischen den Verlobten führten. Sie las mit Vorliebe naturphilosophische Schriften, die Sohm zu stark in das Gebiet der Phantasie hinüberzuschweifen schienen. So hatte sie sich ganz in Fechners »Zend-Avesta« hineingedacht. Und wenn Sohm mit seinem wohlwollenden Humor über die Belebung und Beseelung der Erde scherzte und sie nur als einen tiefsinnigen poetischen Einfall gelten lassen wollte, so vertrat Wera hartnäckig den Standpunkt, daß die ganze Natur in Wirklichkeit lebe, fühle und empfinde.

Jetzt, während Sohm auf Wera wartete, zogen viele ihrer kühnen Behauptungen an seiner Erinnerung vorüber. Wollte sie ihn mit ihren Aufstellungen nur necken, wenn sie allen Ernstes davon sprach, daß in Fels und Berg, in Fluß und Meer, in Wolken und Wind nicht bloß ein allgemeines Naturleben webe, sondern daß ein individuelles Bewußtsein diese Natureinheiten beseele? Aber warum kam sie so oft und eigensinnig auf diese phantastischen Vorstellungen zurück, denen sie doch früher nicht nachgehangen hatte? Er konnte sich eines Unbehagens bei dem Gedanken nicht erwehren, daß sie nicht mehr so vollständig in allen Fragen eines Sinnes seien. Und bei aller Achtung vor der Freiheit der Überzeugung fürchtete er doch eine Gefahr für ihr gegenseitiges Verständnis, wenn sich Wera wirklich in jene mystische Gedankenwelt mehr und mehr einspinnen sollte.

Seine Stirn verdüsterte sich.

Da schlug die Klingel zweimal an. Weras Zeichen an der Haustür.

Sofort hatte Sohm seinen Hut ergriffen und war die Treppen hinabgeeilt.

Als er die anmutige Gestalt erblickte, als die leuchtenden dunkeln Augen unter dem großen Hute hervor ihn freundlich grüßten und er die zierliche Hand in der seinen hielt, waren alle verdrießlichen Grübeleien verflogen. Wie konnte man ihr zürnen?

Das Brautpaar schlug den gewohnten Weg zur Röteleinschen Villa ein, wo es schon von der Familie zur Abendtafel erwartet wurde.

Nach Tische, die Dunkelheit war längst angebrochen, saß die kleine Gesellschaft auf der Veranda am Ende des Gartens. Der Blick reichte über die Anpflanzungen der Vorstadt und den Fluß bis an das ferne Gebirge, das die weite Ebene begrenzte. Darüber am Horizonte hatten sich Wolken getürmt, in denen das Wetter leuchtete. Mitunter sprang ein stärkerer Blitz mit feuriger Spur blendend hervor.

Das muntere Gespräch war verstummt. Man beobachtete das wunderbare Feuerwerk der Natur und die langsam sich verändernden bizarren Formen der Wolken. Wera hatte ihren Platz verlassen und sich dicht an das Geländer gestellt. Ihr Schattenriß hob sich deutlich von dem Hintergrunde des Himmels ab. Bei jedem Blitze bewegte sich ihr Kopf wie mit einem leichten Gruße.

»Schauen Sie nur, wie entzückend Ihre Braut aussieht,« bemerkte Frau Rötelein leise zu Sohm.

Er nickte glücklich, während seine Augen auf Weras Gestalt ruhten. Ein doppelter Blitz züngelte mächtiger als die früheren aus der dunkeln Wolkenmasse.

»Geduld, Geduld!« murmelte Wera leise vor sich hin. »Wartet nur, ich besuche euch wieder. Dann sollt ihr merkwürdige Dinge hören.« Sie hob unwillkürlich den Arm, wie man jemand Lebewohl winkt, und schritt zur Gesellschaft zurück.

Sohm ergriff ihre Hand und zog sie auf den Stuhl an seine Seite. Alle saßen still und warteten auf einen neuen Blitz. Aber die Erscheinung wiederholte sich nicht. Die hochgetürmte Wolke wurde sichtlich kleiner.

»Ich glaube, Fräulein Lentius,« sagte Rötelein scherzend, »Sie haben das Wetter beschworen. Mir war es gerade, als wenn Sie vorhin etwas geraunt hätten, gewiß einen Wetterspruch.«

»Halten Sie mich für eine Hexe, Herr Geheimrat?« fragte Wera lachend.

»Wer weiß?« neckte Rötelein weiter. »Natürlich im besten Sinne. Vielleicht sind Sie so ein Elementargeist, eine Sylphide oder eine Undine.«

»An so etwas glauben Sie ja gar nicht,« antwortete Wera.

»Aber Wera glaubt daran,« rief Suse Rötelein dazwischen. »Denke Papa, neulich hatte sie gesagt, die Berge und Flüsse und Wolken und so weiter hätten auch Seelen. Nicht wahr, Herr Sohm?«

Wera schwieg, da sie wußte, daß Paul das Thema nicht liebte.

Sohm hätte auch die Frage lieber überhört, aber da die lebhafte Suse sie nochmals wiederholte, so sagte er:

»Ich meine, Wera denkt nur an eine Allgemeinbeseelung der Natur im Sinne Fechners, dagegen läßt sich doch höchstens einwenden, daß sie Sache des Glaubens bleibt.«

»Nein, nein, sie sprach von Elementargeistern. Nicht wahr, Wera? Weißt du, ich komme nur darauf, weil Papa dich eine Undine nannte. Es war neulich, als du dazu kamst, wie ich Fouqués Undine las.«

»Und da habe ich gerade gesagt, daß diese Undine eine ganz unhaltbare Figur ist und daß es solche Elementargeister gar nicht gibt.«

»Ja, aber andere,« behauptete Suse hartnäckig.

»Ach,« sagte Frau Rötelein, »schelten Sie mir nicht die Undine, ich mag das Büchlein so gern.«

»Verzeihen Sie, Frau Geheimrat, ich will weiter nichts gegen das Buch sagen, obwohl es nicht mein Geschmack ist. Der Dichter mag meinetwegen auch solche Produkte des Volksaberglaubens beleben. Aber diese Art Romantik kann uns doch heute nicht genügen, wir leben nun einmal alle in einer ganz andern Naturauffassung, wir wissen zu viel von der Natur und den physischen Bedingungen des Menschen. Ich wiederhole, das Märchen braucht sich darum natürlich nicht zu kümmern. Wenn wir aber von Elementargeistern sprechen, an deren wirkliche Existenz wir glauben sollen – und ich will gar nicht leugnen, daß ich es tue –«

»Aha!«

»Ja, aber doch nicht an Sylphiden und Undinen, nicht an Wesen mit menschlichen Leibern, die im Wasser leben sollen, und so weiter. Solchen Koboldspuk gibt es nicht in der Natur. Und dann diese unmögliche Psychologie! Undine soll keine Seele haben! Was soll man sich darunter vorstellen? Das Wesen lebt und denkt und will und fühlt doch, es ist eine Bewußtseinseinheit, also muß es auch eine Seele haben, wenn man dem Worte überhaupt einen Sinn geben will. Meine Elementargeister haben selbst Seelen, aber sie haben keinen Menschenkörper. Sie sind mehr oder weniger einheitliche Naturformen, wenngleich anders organisiert als unser Nervensystem. Aber dadurch bedeuten ihre Veränderungen auch für sie ein bewußtes Erlebnis. In diesem Sinne rede ich von Elementargeistern als von einem Bewußtsein der Existenz bei elementaren Gewalten. Und da sollte auch der Dichter einsetzen. Da könnte er die Natur, die wir in Erkenntnis und Technik entgöttern müssen, wieder im Gefühle lebendig machen.«

»Nun,« sagte Rötelein, »wenn Undine behauptet, sie hätte keine Seele, so müssen Sie ihr diesen Verstoß gegen die psychologische Terminologie nicht so übel nehmen. Sie hatte doch keine Reifeprüfung abgelegt. Sie versteht eben unter Seele nur das, was sie eine unsterbliche Seele nennt, und was sie bei den Menschen gewinnen will.«

»Und was ist das für eine Seele? Wie zeigt sich das? Daß sie recht mitfühlsam und zärtlich und geduldig und gehorsam ist, so recht unterwürfig fügsam und so recht langweilig – dazu lohnt es sich ein Mensch zu werden mit einer unsterblichen Seele? Diese ganze mittelalterlich-kirchliche Auffassung vom Seelenleben kann mich nicht interessieren.«

»Sie können doch,« erwiderte Rötelein, »vom Dichter nicht mehr verlangen, als der Zeit entspricht, in die er sein Märchen verlegt. Wenn Ihnen aber die Auffassung dieser konventionellen Ritterzeit nicht zusagt, so hindert Sie nichts, sich diese sogenannte unsterblichen Seele als das zu deuten, was wir uns heute darunter denken. Ich meine als das, was das Menschenbewußtsein über alle Natur hinaushebt, jene zeitlose Bestimmung, ein Selbstzweck zu sein, eine sittliche Idee zu vertreten.«

»Eine Persönlichkeit also,« sagte Wera nach kurzem Schweigen. Sie nickte langsam mit dem Kopfe und fuhr dann fort: »Das läßt sich hören. Ein Wesen, das sich selbst bestimmt, das sich seiner Selbstbestimmung und Verantwortung bewußt wird. Das wäre freilich eine herrliche Aufgabe für einen Elementargeist, eine höhere Stufe, die zu erreichen ich ihm gönnen möchte.«

»Na, Schatz,« sagte Sohm lachend, »werde nur nicht gar zu feierlich. Ich bekomme schon Angst. Bei der nächsten Analyse redet am Ende das Quellwasser aus deiner Flasche: Erlauben Sie mal, was destillieren Sie mich da? Ich bin eine freie Persönlichkeit und wünsche meinen Selbstzweck in flüssigem Zustande zu erfüllen.«

»Das brauchst du gar nicht zu befürchten,« antwortete Wera ernsthaft. »Als Wasser oder Dampf bleiben die Elemente eben Elementargeister; wenn sie Persönlichkeiten werden sollen, müßten sie erst einen Menschenleib erwerben.«

»Aber ich bitte Sie,« sagte Rötelein, »was wir am Menschen seine Persönlichkeit nennen, kommt doch nicht den Elementen zu, die seinen Leib zusammensetzen, sondern dass ist die Bestimmung, um derentwillen dieser Leib eine Einheit bildet.«

»Ja,« verteidigte sich Wera, »aber diese Einheit ist an die physische Einheit des Nervensystems gebunden und kann sich nur in dieser als Selbstbestimmung bewußt werden. Die Elemente erleben sich freilich selbst und mögen dabei in ihrer Art Gefühle und Vorstellungen haben, die nur der Märchendichter in unsre Sprache übersetzen kann. Sollen sie aber nicht bloß symbolisch, sondern in Wirklichkeit zum Verständnis des Menschenwesens kommen, so gehört dazu ein Zellenleib mit seinem Gehirn –«

»Aber Wera,« fiel Sohm ein, »nimm mir's nicht übel – man darf doch diese Phantasien nicht zu ernsthaft nehmen. Ich fürchte, du verlierst dich da in Spekulationen, die wir als Naturforscher besser beiseite lassen.«

Wera schwieg verstimmt.

»Stören Sie doch Ihr Fräulein Braut nicht,« sagte Rötelein heiter. »Sie wollen sicherlich nicht sagen, Fräulein Lentius, daß so ein Quantum Wasserdampf sich in unser Nervensystem schleichen und an unserm Bewußtsein teilhaben könne, und sich dabei doch noch erinnern, daß es einmal eine Wolke gewesen sei? Vorausgesetzt, – was ich ja für meine Person zugebe – daß diese Naturgebilde überhaupt ein Bewußtsein besitzen.«

»Verzeihen Sie, Herr Geheimrat,« entgegnete Wera, »das will ich gerade sagen. Ich meine, daß so ein Elementargeist unter besondern Umständen wirklich einmal zur Vernunft gelangen könne, ohne seine Zugehörigkeit zum Reiche der Naturgewalten zu verlieren.«

»Um Himmelswillen, Wera!« rief Sohm entsetzt. »Da riskiert man schon eher, daß der Mensch seine Vernunft verliert!«

»Paul!«

»Schatz, sei nicht böse – aber aus deinen Worten kann man wirklich nicht entnehmen, daß du uns zum Besten haben willst.«

»Das will ich auch nicht. Ich spreche im Ernste – Paul, du brauchst kein so finsteres Gesicht zu machen. Denn sieh mal, das weißt du ja, daß wir im Ziele einige sind. Wir alle betrachten die Natur als ein Mittel, die unendlichen Zwecke der Vernunft mehr und mehr zu verwirklichen. Wir wollen die Natur unterwerfen, damit Kultur herrsche; wir wollen die Naturnotwendigkeit in den Dienst der Freiheit stellen. Nicht wahr?«

»Gewiß, Wera. Aber dazu brauchen dir deine Elementargeister nicht. Der Weg geht durch die Naturwissenschaft und Technik. Das einzige Mittel ist die Erkenntnis der Gesetze.«

»Siehst du, Paul,« sagte Wera und faßte seine Hand, »auch darin sind wir völlig einig. Aber nun kommt das, was du nicht leiden kannst – und da wage ich augenblicklich gar nicht mehr, es zu sagen.«

»Nun haben Sie mich aber neugierig gemacht,« mischte Rötelein sich ein. »Jetzt müssen Sie schon Farbe bekennen! Ich weiß nämlich nicht, wozu Sie noch Ihre biedern Elementargeister brauchen, wenn Sie das Recht der Naturwissenschaft voll anerkennen.«

»Wenn sie nun aber einmal da sind –«

Sohm machte eine ungeduldige Bewegung.

»Na, na,« sagte Rötelein gemütlich, »wir glauben ja freilich nicht daran. Vielleicht meine Frau manchmal so ein bißchen, wenn's gerade paßt. Aber wir können ja einmal ganz hypothetisch sprechen. Angenommen, es gäbe solche geheimnisvollen Naturseelen – was wollen Sie damit erreichen?«

»Eine Abkürzung des Weges zur Kultur.«

Röteleins sahen sie erstaunt an. Sohm wußte, worauf Wera hinauswollte. Er spottete:

»Abrichten will sie Wera zu wissenschaftlichen Haustierchen, Kultureseln!«

»Nenn's, wie du willst,« erwiderte Wera heftig. »Ich sage, warum soll das Wissen um die großen Ziele der Kultur allein im Menschen lebendig sein, warum sollen nicht auch Geister andrer Art daran teilnehmen und die Arbeit fördern lernen?«

»Aber, liebes Fräulein,« entgegnete Rötelein ernsthafter, »das ist eigentlich gar nichts so Neues, sondern nur ein modernisierter Ausdruck für einen längst überwundenen Standpunkt aus der Kinderzeit der Naturforschung. Das geht in die Zeit vor Paracelsus zurück, etwa in die Magie des Agrippa von Nettesheim. Und alles, was wir errungen haben, verdanken wir den Männern des 16. und 17. Jahrhunderts, die uns gezeigt haben, daß die Erkenntnis nur von außen ansetzen kann und sich mit psychologischen Träumen nicht abgeben darf. Sie werden uns doch nicht um vier Jahrhunderte in der Kulturgeschichte zurückschrauben wollen.«

»Nein, Herr Geheimrat. Damals wäre meine heutige Idee nur ein Traum gewesen wie der der Magie. Damals wagte man sich an das Beginnen, ohne eine Ahnung, wie es durchzuführen sei. Aber ganz ebenso unfruchtbar tastete man damals auf experimentellem Wege. Man setzte vertrauensvoll einen Blumentopf auf die Waage, um die Nahrungsaufnahme der Pflanze zu beobachten, ohne zu wissen, daß die damaligen Mittel der Messung in keiner Weise für die erforderliche Präzision ausreichen konnten. Man wußte überhaupt nicht, was man messen sollte; und wenn man imstande gewesen wäre, die Elementargeister in Dienst zu nehmen, man hätte nicht gewußt, was man ihnen auftragen sollte. Aber heute wissen wir Bescheid und können ein Erkenntnismittel zu Hilfe nehmen, das damals unbrauchbar war. Heute haben wir die experimentelle und mathematische Naturwissenschaft und laufen nicht mehr Gefahr, der Mystik in die Arme zu fallen. Wir können uns aber neue Hilfsarbeiter für die Erkenntnis heranziehen.«

»Nun sagen Sie mir bloß, verehrtestes Fräulein, wie Sie das machen wollen?«

»Nun, beschwören lassen sie sich nicht, weder von Faust noch von sonst jemand. Auch als Intelligenzen sind sie nicht über- sondern untermenschlich. Daß man Kommendes vorausberechnen kann, verstehen sie nicht. Aber sie sind individuelle, bewußte Wesen und vermögen dabei rein physisch vieles, was der Mensch nicht leisten kann. Wenn ihnen nun der Mensch einen direkten Auftrag gäbe, z. B. einer Luftströmung, ihren Weg über unzugängliche Landstrecken zu beschreiben –«

Jetzt brach Rötelein in ein herzliches Lachen aus. Sohm hatte, um sich durch seinen Unwillen nicht zu einer unfreundlichen Unterbrechung hinreißen zu lassen, seinen Platz verändert. Jetzt trat er wieder hinzu.

Rötelein rief lustig:

»Sie sind wirklich kostbar, Fräulein Lentius! Jetzt möchte ich bloß noch wissen, in welcher Sprache Sie den Wind befragen wollen.«

Wera erhob sich und sagte trocken: »Dazu brauche ich natürlich einen Dolmetscher. Das wird eben der Elementargeist sein, der ein Mensch geworden ist. Und der wird sich finden.«

Rötelein lachte noch immer.

Sohm bezwang sich und ergriff Weras Hände.

»Weißt du, Schatz,« sagte er, »bis dahin wollen wir doch lieber Frieden schließen, denn so lange kann ich unmöglich mit dir schmollen, obwohl du uns gründlich zum Besten gehabt hast. Und ich fürchte, wir werden auch hier nicht auf deinen Dolmetscher warten können, denn es ist ziemlich spät geworden.«

Wera stand stumm. Sie hatte sich zu weit hinreißen lassen – und dennoch, sie mußte doch einmal die Menschen zu überzeugen suchen – –

»Nein, nein,« rief Fräulein Rötelein. »So dürfen Sie noch nicht gehen. Auf Ihre Geister lassen Sie uns noch ein menschliches Gläschen trinken. Wir sind ja ganz von unsrer Undine abgekommen.«

Suse streichelte der Freundin die Hand. Wera zwang sich zu einem Lächeln. Sie sah ein, daß es vergeblich war, von dem zu sprechen, was sie im Innersten bewegte.

»Ach,« sagte sie, indem sie sich wieder setzte, »ich wünschte, wir wären gar nicht auf diese unglückliche Wassertante geraten.«

»O, im Gegenteil,« rief Rötelein, indem er Wera sein Glas entgegenhielt, »ich möchte Ihre köstlichen Fingerzeige nicht vermissen. Es wäre doch nett, wenn heutzutage so ein Elementargeist der Undine nachahmte, um, falls nicht zu einer unsterblichen Seele, so doch zu einem Menschenhirn zu kommen.«

»Nun laß einmal unsre Wera zufrieden,« sagte Frau Rötelein, indem sie Wera zärtlich die Wange klopfte. »Wenn jetzt eine Undine käme, würdest du sie doch nicht als Elementargeist anerkennen, und einen Ritter können wir ihr auch nicht zum Gemahl verschaffen.«

»Na, heutzutage,« scherzte Rötelein weiter, »würde ihr der Ritter auch nichts nutzen; es müßte mindestens ein Professor sein. Sie soll ja wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen. Am besten wäre ein Geologe. Aber freilich, unsrer ist schon vergeben.«

»Wenn Sie mich meinen,« sagte Sohm jetzt ebenfalls heiter, »ich habe Gott sei Dank mein Elementargeisterchen; um des Gehirns willen braucht das nicht zu heiraten.«

Er drückte Weras Hand und sah sie zärtlich an. Wera erwiderte den Druck mechanisch. Es durchzuckte sei ein Gedanke, der sie im Augenblick alles vergessen ließ. Mit Gewalt versetzte sie sich wieder in ihre Umgebung. Und halblaut sagte sei vor sich hin:

»Es ist ja doch Unsinn.«

»Das Heiraten?« neckte sie Frau Rötelein, die ihre Worte verstanden hatte.

»Ja, von der Undine, meine ich.«

»Ach so!« sagte Sohm lachend.

»Wie soll sie dadurch zu einer Seele kommen? Das könnten doch höchstens –« Wera brach ab.

»Ihre Nachkommen, meinen Sie?« rief Rötelein. »Das sollte ich auch meinen. Der Romantiker hat natürlich an irgend eine mystische Einwirkung durch die Ehe gedacht.«

»Da will ich doch einmal den Dichter in Schutz nehmen,« mischte sich die Hausfrau ein. »Mann und Frau leben sich eben ineinander ein. Manchmal kann es ziemlich lange dauern. Aber nach und nach stellt sich durch die Gewohnheit eine Übereinstimmung des ganzen Seelenlebens ein, und eine solche Anpassung ist sicherer als eine Vererbung. Man lernt sich verstehen.«

»Und Sie glauben,« fragte Wera etwas zögernd, »daß sich in der Ehe manche Fähigkeit, ich will sagen, ein Verständnis für gewisse Tiefen des menschlichen Bewußtseins erst ausbildet, das nur durch eine solche Verbindung zu gewinnen ist?«

»Ganz sicher.«

»Es ist ein zu kompliziertes Ding, so ein Menschenhirn. Schlimmer als alle Schluchten des Hochgebirgs. Man denkt, man hat in jedes Winkelchen geguckt, und dann gibt's immer noch Windungen, wo man doch nicht hineinschlüpfen kann.«

Sie erhob sich und reichte Rötelein die Hand.

»Ja, Schatz,« sagte Sohm, »wir wollen gehen. Du bist heute dunkel wie unser Heimweg.«

Und der Heimweg war nicht nur dunkel, er war auch schweigsam. Arm in Arm schritten sie dahin und wechselten doch nur wenige Worte. Beide waren mit ihren Gedanken beschäftigt.

Sohm war unzufrieden mit Weras lebhaften Auseinandersetzungen. Ihn ängstigte die eingehende Hingabe Weras an diese Vorstellungen, die sie sichtlich zu einer ganzen Theorie ausgesponnen hatte. Er wollte es vermeiden, darauf zurückzukommen.

Wera rang innerlich schwer mit ihrer Aspiraseele. Sie fühlte, daß sie binnen kurzem eine Entscheidung treffen müsse. Aber wie?

So waren sie bis an Weras Haustür gelangt.

Sohm öffnete und neigte sich dann zu Wera zu einem Abschiedskusse.

Da schlang sie plötzlich beide Arme um seinen Hals und küßte ihn heiß und leidenschaftlich wie noch nie seit ihrer Rückkehr aus dem Gebirge.

Sie lehnte das Haupt an seine Wange und schluchzte:

»Sei nicht traurig, Geliebter, behalte mich lieb!«

Noch ein inniger Kuß, und sie war im Hause verschwunden.


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