Elisabeth Langgässer
Das unauslöschliche Siegel
Elisabeth Langgässer

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Epilog 1943

Das Pfarrhaus von A. Es ist Winter; ein schwarzer, naßkalter Abend mit ständig sich drehendem Wind. In dem Arbeitszimmer des alten Pfarrers ist ein Teil der früheren Fresserrunde um den häßlichen Tisch versammelt, von dessen traurig mißhandelter Platte eine graugrün verschossene Sammetdecke ihre Fransen [ach, schon wie lange!] herunterhängen läßt.

 
Personen

Der Pfarrer Mathias
Der dicke Böhmer, kurzweg der »Dicke« genannt
Der dünne Kiebich, genannt der »Dünne«
Der große Gitzler, genannt der »Große«
Der kleine Rübsam, genannt der »Kleine«

 
Und späterhin:
Der Kaplan des Pfarrers, ein Sanitätssoldat, der von der Ostfront gerade auf Urlaub kommt
Der unsichtbar Anwesende

 
Außerdem:
Die drei Feuerwehrmänner – Sidrach, Misach und Abdenago;

 
Zuletzt:
Die Haushälterin des Pfarrers
Die Küchenschwester Eustachia

Der Dicke. Wie schlecht hier wieder verdunkelt ist! Wann werden Sie endlich die Tüte mit den Heftzwecken aus der Tasche kramen, statt hier am Bücherregal zu stehen und die Kempner Väterbibliothek mit Gewalt durcheinander zu schieben?

Der Große. Aber Sie sehen doch, daß sich dahinter eine Rolle Papier eingeklemmt hat. Schwarz, undurchlässig, wie ich es brauche. Nun kann ich damit die schlechten Stellen der Pappstücke übernageln, die irgend ein frommer Idiot an dem Fenster eingesetzt hat. 502

Der Kleine. Und überdies sind sie viel zu kurz. Das beste wären Schnappjalousien. Habe ich recht oder nicht?

Der Dünne. Sie haben natürlich immer recht. Wer selber zu kurz geraten ist, Kleiner, merkt überall, wo es fehlt . . . Warum knallen Sie jetzt Ihren Hut auf den Tisch? Drehen Sie lieber das Licht ab, damit wir den Einsatz herausnehmen können, bevor der arme Mathias ein Protokoll bezieht.

Der Kleine. Lächerlich. Dieses Zimmer liegt tiefer als der Garten mit seiner Brombeerhecke. Höchstens, daß man das Licht von oben her sehen könnte. Was meinen Sie, Großer?

Der Große. Ganz ausgeschlossen. Von oben her sieht man kein Licht Eine einzige Birne. Heruntergezogen und ringsherum abgeschirmt; ein winziger Schein auf der Nasenspitze des Pfarrers und auf dem Brevier. Laßt ihm das Lichtchen. Laßt ihm das bißchen elende Helligkeit für sein Brevier, das er heute noch unbedingt zu Ende beten muß. Von oben her sieht man kein Licht.

Der Dicke. Von oben her – – ?

Der Dünne. Nun: von oben her . . .

Der Kleine. . . . oben her – ?

Der Große. Sieht man kein Licht. Die Erde ist dunkel. Das mysteriöse neue Geschöpf mit den metallenen Cherubflügeln, die von oben bis unten mit Augen bedeckt sind, den ausgeklügelten Meßgeräten in seinen Eingeweiden und den beim Aufschlag zerplatzenden Toden, die wie Zuckerhüte geformt sind, welche es . . . Vogel Rock, der den Kot herunterfallen läßt . . .

Der Dünne. Halt! Halt! Sie setzen das Tier zusammen wie der Seher auf Patmos seine Gestalten, die man, kaum daß man anfängt, ihre Vorstellung festzuhalten, schon wieder vergessen hat. Also aus Elementen, die nicht zusammengehören Beschränken Sie sich lieber darauf, einen bestimmten Vergleich ohne Abschweifung durchzuführen und entscheiden Sie sich 503 für den Vogel oder meinetwegen auch für den Cherub, wenn Ihnen das passender scheint.

Der Große. Ich entscheide mich jetzt noch für gar nichts, sondern ich warte ganz einfach ab, wofür sich meine Bilder entscheiden, Sie trauriger Allopath. Oder mischen Sie denn nicht selber tagsüber den Widerspruch an und für sich mit Ihren Arzneien zusammen, in der Hoffnung, daß es gerade er ist, aus welchem die Heilung kommt?

Der Dicke. Er hat recht. Laßt den Großen nur immer in Widersprüchen reden. Um so besser, je paradoxer; um so einleuchtender, je dunkler und um so genauer, je mysteriöser seine Vergleiche sind. Ich, der ich selbst in die Breite gehe, ich wenigstens finde . . .

Der Kleine. Daß der Große endlich sein Satzlabyrinth auseinandernehmen und einen Punkt, einen Aussichtspunkt gleichsam, versteht ihr, dahinter setzen sollte.

Der Große. Einen Aussichtspunkt setzt man nicht an das Ende, sondern genau in die Mitte des Labyrinthes, Kleiner . . . oder noch besser: man steigt in ein Flugzeug und betrachtet das Labyrinth von oben – aber ihr wollt mich ja, wie ich merke, nicht aussprechen lassen. Oder?

Der Dünne. Vollkommen vergeblich zu hoffen, daß wir heute zu Rand kommen werden. Wir fangen noch nicht einmal an.

Der Große. Ich, für mein Teil, glaube, daß schon das Rollfeld ein gutes Stück unter uns liegt, ihr habt es bloß nicht bemerkt.

Der Dünne. Ich sage noch einmal, daß es vergeblich, vollkommen vergeblich ist. Oder sehen Sie über sich, unter sich oder neben sich einen festen Punkt in diesem schwarzgrauen Brei? Wir wissen noch nicht einmal ganz genau, ob wir uns wirklich vorwärts bewegen, wie uns das dröhnende, leere Geplärr der Propeller einreden möchte.

Der Kleine. Manchmal glaube ich ganz im Ernst, daß das ptolemäische Weltsystem wieder im Kommen ist. Findet ihr das nicht auch? 504

Der Dünne. Darum handelt es sich im Augenblick nicht. Aber ich habe das dunkle Gefühl, daß irgend jemand die Meßinstrumente überall abmontiert hat.

Der Kleine. Eine schöne Bescherung. Was sollen wir machen? Wenn wir jetzt an die nächste Brandmauer stoßen, hat es uns nichts geholfen, zu glauben, daß das ptolemäische Weltsystem wieder im Kommen ist. Überhaupt: Systeme! Ich habe sie satt. Es fehlt an dem festen Punkt.

Der Dünne. An dem Scheinwerfer!

Der Große. Scheinwerfer hin und her. Den Scheinwerfer brauchen wir erst, wenn wir landen – doch zwischen Abflug und Landung ist nichts, woran wir uns halten könnten. Der Dünne hat recht: wir wissen nicht einmal, ob wir uns vorwärts bewegen . . . geschweige, daß wir die Richtung kennen, welche wir einschlagen müssen, um an das Ziel zu gelangen.

Der Kleine. An welches Ziel? Soweit ich im Bild bin, hatten wir doch noch niemals ein Ziel, wenn wir zusammen kamen; sondern umgekehrt: das Ziel hatte uns und zog uns wie der Magnetberg das Schiff . . .

Der Dünne.  . . . das Luftschiff –

Der Kleine. Unsinn. Das Schiff. Wie war das übrigens mit dem Magnetberg? Hat der Magnet ihm nicht alle Schrauben und Nägel aus seinem Holzbauch gezogen und es dadurch zum Scheitern gebracht? Man sollte sich nicht auf die Technik verlassen. Das trojanische Pferd und das Weltsystem des Ptolemäus sind immer noch besser dazu geeignet, an die Dinge heranzukommen als die modernen Kreiselgeräte, mit denen man uns foppt.

Der Dünne. Er läßt nicht ab von seiner Idee.

Der Große. In Gottes Namen. So mag er doch auf seinem trojanischen Pferd in die Mitte des ptolemäischen Weltbilds, dieser neue Don Quichotte, reiten. Er kommt schon wieder zurück. Aber findet ihr es nicht eigentümlich, daß wir jetzt schon zum zweiten Mal an ein Bild aus dem 505 orientalischen Sagenkreis stoßen – zuerst an den Vogel Rock und hernach an den Magnetberg – –?

Der Kleine. Immer noch besser, nur an ein Bild, als an die Brandmauer anzustoßen, die der Dünne uns prophezeit hat!

Der Dicke. Ich, für mein Teil, ich suche schon krampfhaft nach einer zuverlässigen Planke, auf der ich davonschwimmen könnte.

Der Dünne. Sie schwimmen auch so. Ihr Fett wird Sie sicher bis an das Ufer tragen.

Der Große. Aber wollt ihr mir denn nicht lieber helfen, diesen seltsamen Zufall aufzuklären . . .

Der unsichtbar Anwesende. Es gibt keinen Zufall!

Der Große. . . . aufzuklären, durch den der Vogel Rock auf die Spitze des Magnetbergs gekommen ist? Ich glaube nicht, daß es Absicht war, wie?

Der Kleine. Ist es Absicht, wenn sich ein Reimpaar findet? Viel eher könnte man häufig sagen, es sei eine Mesalliance.

Der Dünne. Es sollte dem Kleinen verboten sein, immerfort abzuschweifen!

Der Kleine. Wer sagt denn, daß ich abgeschweift bin? Wahrscheinlich trabt mein trojanisches Holzpferd geradewegs auf euch zu.

Der Große. Übrigens weiß ich jetzt selber die Antwort nach dieser Unterbrechung. Der Vogel Rock, der Magnetberg und der verschollene Belfontaine, über den wir uns unterhalten wollten, sind alle drei aus derselben Familie –

Der Dicke. Oho!

Der Große. Nämlich drei Orientalen. Und da stets ein Wort das andere gibt . . . 506

Der Dünne. Ganz natürlich. Diese Rasse hält immer wie Pech und Schwefel zusammen.

Der Kleine. Ich finde das durchaus nicht natürlich, wenn ein Berg, ein Mensch und ein Vogel zusammenhalten, Dünner!

Der Große. Trotzdem ist diese Verbindung schon einmal vorgekommen. Denkt an den Ararat, denkt an Noë und die Taube, die Noë ausgeschickt hatte, als der Regen zu Ende war.

Der Dicke. Der Regen hört überhaupt nicht mehr auf . . . die Finsternis, die wir Verdunkelung nennen . . . und die zuerst in den Köpfen begonnen und mit Schnappjalousien, schwarzem Papier und schlechter Pappe geendet hat; das Wasser . . . die Flut, in welcher wir treiben –

Der Kleine. Ich kann es nicht mehr über mich bringen, in offenen Flüssen zu baden, seitdem ich auf einen Eselskadaver getreten bin, in welchem die Aale wühlten und wimmelten!

Der Dicke.  . . . die Flut des Jammers, die Flut der Tränen, die Sintflut – vermehrt um den eigenen Speichel, den der Ekel über das freche Gezücht der Zeitungsschreiber hervorbringt – –

Der Kleine. Die Aale! Die Aale in dem Kadaver!

Der Große.  . . . vermehrt um den Todesschweiß und um das Wasser, das die Blase der Sterbenden austreten läßt.

Der Dünne. Und das Chaos. Vergeßt mir das Chaos nicht! Dieses Chaos aus aufgeweichter Materie –

Der Dicke. Aus aufgeweichten Begriffen. Wie?

Der Dünne. Begriffe sind keine Materie, Sie alter Manichäer. Oder wollen Sie damit sagen, daß nur eine Scheinwelt aufgelöst wird; Versatzstücke gleichsam, und eine Fassade aus lauter Papiermaché? 507

Der Kleine. Ich kann euch versichern: die Luftschutzkeller unserer Propagandisten sind durchaus nicht von Papiermaché.

Der Große. Und ich – – ich sage euch, daß kein Pompeji und Herkulanum das Chaos so gründlich klarmachen können wie ein paar Plüschmöbel, die auf der Straße unter offenem Himmel stehen, mit Kalkstaub bedeckt, von der Mine geschlitzt, auf alten, abgebrochenen Füßen oder grausam auf den Rücken gedreht, während aus ihren hilflosen Bäuchen das Eingeweide quillt. Und dann von oben ein feiner Regen, eine Frau steht da und sagt: die Sprungfedern rosten. Oder: wie gut, daß Oma das nicht mehr erleben mußte.

Der Dicke. Erzählten Sie nicht auch etwas von Betten?

Der Große. Ganz richtig. Das Paradies der Betten. Das Paradies nach dem Sündenfall, wenn die vordere Hauswand eingestürzt ist und das Schlafzimmer –

Der Dünne. . . . aus geflammter Birke, an jeder Seite ein Nachttisch mit Glasplatte, über den Betten das obligate Heidekrautbild: blühende Heide, mein Gott heißt Natur – und schon wieder kein Präservativ zu haben – –! Aber, bitte, fahren Sie fort.

Der Große. . . . wenn die vordere Hauswand eingestürzt ist, und das Schlafzimmer wie eine Puppenstube, ein Bühnenbild, das nach der Rampe zu, nach dem Tertius gaudens hin, offen steht, allen Blicken ausgesetzt wird.

Der Kleine. Eine Frau im Unterrock, die soeben von dem Postboten überrascht worden ist!

Der Große. Diese Interieurs, ob sie Schlafzimmer sind oder Küchen und Badezimmer, haben alle etwas Intimes und Unanständiges an sich, sobald sie von der Vernichtung [in flagranti gleichsam!] betroffen und öffentlich bloßgestellt sind. Sie ähneln den schrecklichen Träumen, wißt ihr, in denen man plötzlich merkt, daß man nackt ist und nicht einmal mehr das berühmte Feigenblatt hat, um sich zuzudecken – überhaupt nichts mehr außer jener Gebärde, mit welcher Adam und Eva ihr Geschlecht zu verhüllen suchten. 508

Der unsichtbar Anwesende. Vor wem zu verhüllen?

Der Große. Schon wieder! Es muß ein Bauchredner unter euch sein, der mir ständig dazwischenquasselt.

Der Dicke. Es war das Geräusch der Propeller, nichts weiter, das uns unaufhörlich begleitet.

Der Kleine. Die Propaganda!

Der Dünne. Die Wahrheit von morgen –!

Der Große. Einerlei, was es auch war. Ich bin von Berlin nicht zurückgekommen, um mich hier verspotten zu lassen. Ich bin nicht umsonst an der furchtbaren Ecke im Norden stehengeblieben, an die Brandmauer angepreßt wie eine Katze, als der schiefe Balkon heruntersauste –

Der Kleine. Die Brandmauer! Hört ihr? Nun sind wir doch noch an die Brandmauer angestoßen – –!

Der Große. . . . heruntersauste und mich unter Mörtel und einer Wolke aus Kalk begrub. An dieser Ecke – ich muß es sagen! – dieser Ecke an der Iranischen Straße, wo ich plötzlich das Halleluja von Händel, jenen Lobgesang himmlischer Heerscharen, hörte, den irgendeine zerrillte Platte, von der letzten Nadel gepeinigt, hervorzubringen suchte.

Der Dünne. Gott sei Dank – eine Orientierung in Regen und Dunkelheit. Das Grammophon aus dem Eckhaus an der Iranischen Straße . . . diese Ecke . . . das Halleluja von Händel als trigonometrischer Punkt.

Der Dicke. Ich verstehe nicht, wo das Grammophon herkam. Gerade hier –

Der Große. Sie meinen wohl: hier – aus dem jüdischen Krankenhaus? 509

Der Kleine. Was mich betrifft, so verschmerzte ich eher das Grammophon und das Radio als meinen Goldfischteich! Oder wißt ihr nicht, daß auch Hunde und Katzen, Fische und Schildkröten, Papageien oder Kanarienvögel – also alles, was nur das Leben ein wenig erheitern könnte – den Juden entzogen wurde? Ganz abgesehen von Milch und Eiern, Geflügel und Früchten, Fleisch, Zuckerwaren –

Der Große. Und das Klopfzeichen aus dem Radio! Denkt an das Klopfzeichen aus dem Radio an unseren Kerkerwänden! Hier spricht England – –!

Der Kleine. Aber mein Goldfischbassin! Begreift ihr denn nicht, was ein Goldfischbassin . . .

Der Dünne. Welches Glück, daß der Kleine jetzt endlich festsitzt und in einem fort nach dem Wasserfloh schnappt, den Ihr Stichwort ihm eingeflößt hat. Doch sollten Sie nicht, was das Eckhaus betrifft, einer akustischen Täuschung zum Opfer gefallen sein?

Der unsichtbar Anwesende. Hier spricht ein Toter! Hier spricht ein Zeuge! Hier spricht die Innere Stimme!

Ein heftiger Windstoß, danach ein Brausen, das in Orgelspiel und in das Halleluja von Händel übergeht.

Der Große. Stellt das Radio ab! Seid ihr verrückt geworden! Natürlich auf der englischen Welle – ich dachte es mir schon.

Der Pfarrer (bewegt lautlos die Lippen und fährt, die halb erloschenen Augen auf das Brevier des Tages gesenkt, mit dem Finger die Zeilen entlang). . . . et in saecula saeculorum. – Amen.

Das Orgelspiel und der Sturm verebben, das Halleluja verklingt in der Ferne, es tritt völlige Stille ein.

Der Große (beginnt zu singen. Bald psalmodierend . . . bald in dem Tonfall der Bänkelsängerlieder). Auch ich bin Zeuge. Verflucht soll sein, wer das Eckhaus im Norden vergißt!

Die Anderen. Verflucht und vergessen in Ewigkeit. 510

Der Große. Das Haus des Jammers, in welchem die Kranken auf schmutzig bezogenen Betten liegen und gegen die Wände starren . . .

Die Anderen. Verflucht und vergessen in Ewigkeit.

Der Große. Dieses Haus, von Gerüchten des Schreckens erfüllt: heute noch geht ein neuer Transport, ein Sammeltransport mit Frauen und Kindern nach Auschwitz und Birkenau. Sagt nicht Auschwitz, sagt lieber Theresienstadt, und wir wollen zufrieden sein! Theresienstadt soll ein Kino haben, Theresienstadt ist sehr schön. Ihr kommt nicht dorthin, ihr zweihundert Menschen, doch ihr braucht nicht zu Fuß zu gehn. Zweihundert Menschen, damit die Wagen, die Viehwagen, voll sind – hineingestoßen! – wir fahren ganz ohne Schein. Wir fahren nach Osten, wir fahren nach Polen in das endlose Grauen hinein. Wir vielen Verdammten, wir fahren zu vielen, wir Privilegierten selbzweit, wir fahren nach Auschwitz, wir fahren nach Polen . . .

Die Anderen. Verflucht und vergessen in Ewigkeit.

Der Große. Auch ich bin Zeuge. Verflucht, wer das Eckhaus im Norden Berlins vergißt! Das Haus der Alten, die ganz zufrieden auf den Bänken im Innenhof sitzen und die Brotkruste, eingespeichelt mit Tränen, von Backe zu Backe schieben. Ob heute Besuch kommt? Wer soll schon kommen? Ich habe von Eiern geträumt. Eier bedeuten Ärger, ach Gott, und ich hatte einen so schönen Laden, ein Bijouteriegeschäft. Ich auch! Eine Feinplätterei in Neukölln. Jedes Jahr auf die Sparkasse fünfzehntausend, dazu die Zinsen geschlagen, rechnen Sie drei Prozent. Heute erst habe ich wieder von Läusen – Läuse bedeuten Geld – geträumt; Geld . . . Geld . . . und es juckt mich der Daumenballen – – oder ob das bloß Wanzen sind? Die Sonne scheint warm und sie plaudern, sie mauscheln, sie gehen jetzt an den Küchenfenstern und den großen klebrigen Kesseln entlang, an deren Rand noch die ewigen Rüben vom Mittagessen her sitzen. Mein Sohn in Chikago, ja, Gott sei Dank, meine Tochter in Tel Aviv . . . und mein Magengeschwür wird zusehends schlechter, ich gehe schon vollkommen schief. Eine Stimme ruft von der vierten Station: Exitus! Macht sie bereit! Sie haben es hinter sich, haben den Lohn – – 511

Die Anderen. Verflucht und vergessen in Ewigkeit.

Der Große. Auch ich bin Zeuge. Verflucht, wer das Eckhaus im Norden Berlins vergißt. Das Haus der Kinder, der altklugen Zwerge, mit dem Judenstern auf dem Kleid. Lauter Sterntaler, erst vom Himmel gefallen, und schon schmutzig, erkaltet und stumpf. Sie schreien, sie toben die Gänge hinunter, sie lachen, wie Blechnäpfe lachen könnten, wenn sie zusammenstoßen. Ihre Augen werden das Meer nicht sehen oder das Hochgebirge, die Köpfe der Knaben werden rachitisch und die Becken der Mädchen verengert sein, wenn sie älter geworden sind. Aber wie sollten sie älter werden, diese Kinder – alt wie der Westerwald – die jetzt schon am Ende sind? Sie wissen alles: es gibt kein Geheimnis und keinen Schleier für sie. Sie ahnen bereits, daß ihr bloßes Dasein als Verbrechen gilt, und der Schoß ihrer Mutter bedeutet für sie die Pforte des Todes, weil er fruchtbar gewesen ist. Diese Kleinen: wer freut sich im Grunde mit ihnen? Wer hat Geduld, wenn sie zänkisch und boshaft, wenn sie diebisch und lüstern sind? Wer erträgt ihre Fehler, außer der alten, schrecklich mißhandelten Puppe, die ihnen unter zerrauften Locken zuzulächeln versucht, oder das Holzpferd, das aus dem Stierkampf der ungezogenen kleinen Knaben auf nur drei Beinen zurückgekommen und völlig erblindet ist? Wer tröstet sie, wenn sie mit Steinen beworfen oder verhöhnt werden, weil einem Mistfink ihre Nase nicht mehr gefällt? Wer gibt ihnen ihren gerechten Anteil an Liebe und Fröhlichkeit? Man lehrt sie mißtrauen, man lehrt sie sehr gründlich und ganz von Herzen hassen, man lehrt sie den elenden Hochmut der Abgesonderten. Man sagt ihnen: ›Sara‹ bedeutet Fürstin und ›Israel‹ Gottesstreiter, die anderen aber heißen ›Gojim‹, und wenn eure ›Mamme-Loschen‹ euch ausstößt, so tut ihr besser daran zu jiddeln – ihr, deren Väter das Mittelhochdeutsch nach dem Osten getragen haben. Man lehrt sie hassen, man lehrt sie die Horra, es dröhnt in den Gängen und schreit, sie hopsen wie Böcke zu fremden Gesängen, und Tel Aviv ist sehr weit. Sie tanzen die Horra bis zum Ermatten, ihr Vater schreit in Lublin, ihre Mutter weint sich die Augen aus, und sie träumen sich fort von Berlin. Man lehrt sie hassen, man lehrt sie die Horra, es dröhnt in den Gängen und schreit. Geduld! Ihr tanzt bald zu der Gaskammer hin – –

Die Anderen. Verflucht und vergessen in Ewigkeit.

Der Große. Auch ich bin Zeuge. Verflucht, wer das Eckhaus im Norden Berlins vergißt! Das Haus und das Zimmer der jungen Mädchen auf der 512 traurigen Säuglingsstation, wo die Kleinsten den Kopf noch nicht heben können, obwohl sie ein Jahr alt sind. Dort leben die jungen Mädchen und hüten als Helferinnen und Kinderschwestern, was mager und faltig wie eine Alraune im Gitterbettchen liegt. Sie sagen: ›süß‹, und sie meinen sich selbst; ihre jungen fünfzehnjährigen Brüste, die den ausgewachsenen Häkelpullover – sag, seh ich nicht aus wie Marika Rökk? – mit ihrer Frühreife sprengen; ihre sorgsam polierten Fingernägel, die sie heimlich fortwährend schneiden und feilen und mit dem ausgetrockneten Rest einer Schminke zu färben versuchen; ihre Wüstenaugen, die flink und verstohlen in alle Ecken schweifen und doch immer voll Schwermut sind. An der Innentür ihrer Kleiderschränke haben sie Adolphe Menjou und Willy Fritsch angeheftet, und in dem Wäschefach unter den alten, zerfledderten Magazinen verbirgt sich der Liebesbrief, den ein Soldat ihnen postlagernd zugestellt hat. Denn sie legen heimlich den Judenstern ab, wenn sie zum Stelldichein gehen, belügen und bestehlen einander und borgen sich gegenseitig das Haarnetz oder den Lippenstift aus. Sie besuchen den Filmpalast, und sie treffen den Freund in der winzigen Kaffeestube, wo ein paar wackelnde Stühle neben der Theke stehen. Sie lassen sich graugelbe Kuchenstücke mit falschem Eierschaum, Amerikaner und Limonade spendieren und rauchen Zigaretten. So leben sie fast wie die anderen Mädchen in diesem verruchten Viertel und lachen oft ganz ohne Grund.

Sie lachen, wenn oben im Irrenbau ein Verrückter sich austobt und zuckt. Sie lachen, wenn eine schwerkranke Frau in die Schüssel mit Kohlrüben spuckt. Sie lachen über den Sabbat der Alten mit seinem Geplärr und Verbot. Sie wissen genau, wie rasch sie erkalten, doch sie glauben nicht an den Tod. Sie sagen: ›ich flitze!‹ Sie sagen: ›SS? Die sind Männer wie alle‹. Sie geben sich keß. Sie geben sich Haltung, sie sagen: ›bye! bye!‹, wenn der Wagen schon vorfährt mit Jammergeschrei. Und ihr zartes Gelock, ach, wie bald geht's verloren, ihre Unschuld – wem tat sie schon leid? Sie werden gestempelt, geschändet, geschoren – –

Die Anderen. Verflucht und vergessen in Ewigkeit.

Sirenengeheul. Die Sirene ertönt zuerst in der Ferne und springt dann auch auf das Städtchen über; ihre gräßlichen Tonwellen – alarmierend und gleichzeitig furchtbar vertraut – heben und senken sich unaufhörlich, um endlich auszuheulen.

Der Pfarrer.. (sieht unerwartet nach oben, senkt dann die Augen von neuem und betet gleichmütig weiter). 513

Der Große. Eine Stunde früher als sonst. Sehr dumm. Ob wir diesmal nach unten gehen?

Der Kleine. Wie immer. Wir bleiben natürlich oben. Oder glaubt ihr, das lächerliche Gewinkel mit den paar Holzstützen und dem Wirrwarr der Gas- und Wasserrohre . . .

Der Dicke. . . . ohne Ausstieg wie eine Mausefalle . . .

Der Dünne. . . . mit der Indianeraxt und dem Pickel, den noch keiner wirklich gehandhabt hat . . .

Der Große. . . . der Alchimistenküche von heute, sprich: Luftschutzapotheke . . .

Der Kleine. Das Beste an ihr ist das halbe Pfund Zucker, obwohl mir bis heute noch nicht recht klar ist, wozu es eigentlich dient!

Der Dünne. Sie meinen den Würfelzucker? Mein Gott. Natürlich, um bei Vergiftungen die Tropfen einzunehmen, .welche – –

Der Große. Still doch. Sie kommen. Man hört das Geräusch der rasch sich nähernden Flugzeuge. Ich finde nun wirklich selber, wir sollten das Licht ausmachen. Er tut es, zwei Stühle fallen um. Welch babylonisches Durcheinander in dem Wohnraum der Westeuropäer! Wären wir beispielsweise in Japan –

Der Dicke. Bomber! Nun sind sie genau darüber.

Der Dünne. Worüber?

Der Dicke. Sie fragen: worüber? Na – über Babylon!

Ein dumpfer, heftiger Schlag an der Haustür.

Der unsichtbar Anwesende (ruft mit lauter Stimme). Sind Sidrach, Misach und Abdenago hier? 514

Der Große. Wahrscheinlich Leute, die unterwegs sind und rasch in den Keller wollen. Jeden Augenblick kann eine Bombe fallen. Wir müssen die erste Welle vorübergehen lassen. Übrigens bin ich fest überzeugt, daß wir kein Angriffsziel sind.

Der Dicke. Vorbei. Die erste Welle ist fort. Ich schalte das Licht wieder ein.

Er tut es, das Licht in der Birne flammt auf und beleuchtet drei Feuerwehrmänner in altassyrischer Kleidung, die unter ihnen sitzen. Sie tragen hohe, zuckerhutförmige Helme und haben Täfelchen, die an Schnüren von dem Hals auf die Brust herunterhängen – mit einer Inschrift in Keilbuchstaben, die niemand lesen kann. Ihre Hosen, so weit sie die Tunika frei läßt, sind unten zusammengeschnürt.

Der Pfarrer (nickt ihnen höflich zu und beschäftigt sich wieder von neuem mit dem Text in seinem Brevier).

Der Große. Guten Abend. Darf ich die Herren bitten, ein wenig zusammenzurücken? Der Raum ist ziemlich eng.

Der Kleine. Wenn niemand etwas dagegen hat, setze ich mich in die Ofenecke. Ich friere fürchterlich. Doch vielleicht möchte einer unserer Herrn Besucher – ?

Misach (für alle). Sehr liebenswürdig. Aber wir danken. Wir finden diese Temperatur gerade angenehm. Sie müssen wissen, daß wir soeben aus dem Feuerofen des Nebukadnezar gekommen sind, mein Herr.

Der Große. Ich dachte es mir. Sie haben noch alle den Brandgeruch in den Kleidern, diesen widerwärtigen, öden Geruch einer ausgegangenen Pfeife. Er ist mir noch vollkommen deutlich von meiner Berliner Reise her in dem Gedächtnis geblieben – übrigens finde ich ihn am schlimmsten bei Häuserruinen, die naß geworden oder an Schlacken- und Kohlenhalden, die durch platzende Heizungsrohre unter Wasser gesetzt worden sind. Aber, sagen Sie – brennt es denn in der Nähe? Man hat keinen Einschlag gehört.

Der Dicke. Still doch! Das Licht aus! Die zweite Welle ist schon im Anflug begriffen. Die Birne erlischt, in den Täfelchen fängt die Keilschrift magisch zu glühen an. Sie lautet, wie zu erwarten war: Mene, Tekel, Upharsin. Das war eine Bombe. 515 Jetzt wieder! Aber was kann man, zum Teufel, außer den paar Kasernen, eigentlich bei uns suchen? Noch eine! Sicherlich hat sich der Tommy nicht richtig orientiert.

Sidrach. Verzeihung, ich verstehe Sie nicht. Diese Stadt hat doch rings einen mächtigen Gürtel von Rüstungsindustrie?! Nehmen Sie nur die Deutschen Werke, die Mannesmannwerke, Borsig, und wie sie alle heißen – – ganz abgesehen von all den kleinen versprengten Ablegern hier und dort im Innern der Stadt . . . Warum schweigen Sie? Warum sind Sie so still? Was ist Ihnen in die Glieder gefahren? Haben Sie etwa Angst?

In der Umgebung schlägt hart und deutlich Bombe um Bombe ein. Man hört das Fensterglas klirren, die Türen aus ihren Fassungen treten, von der Decke kommen Brocken herunter, die Luft ist mit Kalkstaub erfüllt.

Misach. Kein Grund zur Aufregung. Bleiben Sie ruhig und setzen Sie sich hin! Zu Sidrach und Abdenago. Diese Herren konnten natürlich nicht wissen, daß das Flugzeug, in welchem sie sich befanden, in der Hauptstadt Nebukadnezars gelandet und jetzt mitten in Babylon ist.

Eine neue Bombe. Die Ziegelsteine tanzen vom Dach herunter und klirren am Boden auf. Der Luftzug fegt scharf durch das offene Zimmer, über dem jetzt die nackten Dachsparren stehen; ein glühendroter, von Rauchschleiern schwarz gezeichneter Himmel hebt sich hinter den Balken ab.

Abdenago. Warum wußten sie das eigentlich nicht? Haben sie denn den großen Aufmarsch in all diesen Jahren nicht mitgemacht und wurde vor ihren Augen nicht die scheußliche Bildsäule aufgerichtet, die man überall sieht, wo man geht und steht, von allen Himmelsrichtungen her, allen Orten, in allen Gerichtsgebäuden und auf allen Versammlungsplätzen?

Sidrach. Und haben sie nicht mit eigenen Ohren den betäubenden Lärm von Horn und Flöte; von Zither, Leier und Harfe gehört? Von Sackpfeifen, jeglichem Saitenspiel und aller Art von Oboen: Hat nicht der Herold mit kräftiger Stimme allenthalben zur Anbetung aufgerufen – unermüdlich und dauerhaft?! Und sind nicht Satrapen eingesetzt worden, Vorsteher, Statthalter, Rechtsgelehrte, um diesen Götzendienst einzuführen und mit Gewalt schmackhaft zu machen? 516

Der Große. Ich glaube, jetzt fange ich an zu verstehen. Doch warum drücken sich beide Herren so – altertümlich aus? Übrigens sind wir hier – abgesehen von der ungemütlichen Situation – ganz und gar unter uns. Sie können also ruhig »Trommeln und Pauken« statt »Flöte und Saitenspiel« für das Schmettern der Leibstandarte sagen; »Propaganda und Radio« für diesen Herold mit der unermüdlichen Stimme – ganz abgesehen von Ihrem Nebukadnezar, der, soviel mir bekannt ist, von Zeit zu Zeit gleichfalls auf allen Vieren kriecht; zwar nicht, um Kräuter, Gras oder Früchte, sondern Teppiche zu verspeisen, und dessen Name – Ein furchtbarer Einschlag. Totenstille. Vollkommene Finsternis.

Der Dicke. Lebt ihr eigentlich noch? Hat einer von euch eine Taschenlampe? So redet doch ein Wort! Das elektrische Licht geht von selbst wieder an, die drei Feuerwehrmänner sind fort, das Zimmer ist unverändert. Gott Sei Dank. Die Flugzeuge sind vorbei. Es ist gut vorübergegangen.

Der Dünne. Das nennen Sie gut vorübergegangen? Ich habe mich noch niemals im Leben so unbehaglich gefühlt.

Der Kleine. Das kommt daher, weil uns der Große so gründlich von seiner Reise erzählt hat.

Der Große. Man könnte nicht aufhören zu erzählen, wenn man einmal begonnen hat. Stellt euch ein Kaleidoskop vor, in welchem die Bilder einander jagen und erst durch die immer raschere Drehung der Trommel miteinander verschmelzen und den Gegensatz aufheben, der ihrer Bindung zu widersprechen scheint. So denke ich beispielsweise an die springende Wasserfontäne aus den geplatzten Rohren, die sich inmitten des Flammenmeeres wie der Lobgesang der drei Jünglinge im Feuerofen erhob.

Der Dünne. Unterlassen Sie bitte diesen Vergleich, der mich im Hinblick auf das Erlebnis, welches wir eben hatten, noch schwanken und schlottern macht!

Der Große. . . . oder an die gestörte Alte, die unaufhörlich mit ihrem Besen über den Fußboden hin und her ging und den Schmutz von dem Rand in das Freie fegte; von dem zweiten Stock auf die Straße hinunter . . . mechanisch in jahrelang eingeübtem, durchaus vernünftigem 517 Arbeitsrhythmus, und die überhaupt nicht davon irritiert, geschweige, davon behindert wurde, daß die Vorderwand vollkommen fehlte.

Der Kleine. Sie war also doch nicht geistesgestört, sondern der Prototyp einer Hausfrau, die den Staub, den die Katastrophe verursacht, viel tragischer empfindet als die Tragödie selbst.

Der Dicke. Ich wiederum meine, daß ihre Haltung an ein gespenstisches Wesen erinnert – an einen weiblichen Golem, zum Beispiel, oder an eine Parze, die mit dem mythologischen Besen die Penaten zum Haus herausfegt.

Der Dünne. Jede Hausfrau, mein Lieber, ist stets die Mischung aus einem mechanischen Golem und einer besentragenden Parze – merken Sie sich das, bitte!

Der Große. . . . oder an jene winzig kleine, grauschwarz gekleidete Frauenfigur, die ich von einem Fensterplatz in der Stadtbahn beobachtete – der Zug fuhr gerade stakelnd und stotternd in der Höhe des dritten Stockwerks vorüber – als sie in schwindelerregender Tiefe durch ihren zerstörten Hausgarten ging, ein Körbchen in ihrer Linken tragend, in der Rechten ein Küchenmesser, und sich immer wieder nach Brennesseln, Melde und jungem Löwenzahn bückte. Sie glich einer Ameise, flink und fleißig, wie sie da wimmelte . . . grenzenlos einsam und abgeschnitten von ihrem Bau . . .

Der Dicke. Hören Sie auf! Eine Parze, ein Golem, ein sonderbares Insekt – möchten Sie nicht diese Menagerie noch um die Evakuierten vermehren, die jetzt unsre friedliche kleine Stadt und die Ortschaften überschwemmen? Sie haben aus Friedenau oder Steglitz ihre Ecke, die Ecke am Grünkramhändler oder am Milchladen, mitgebracht und sammeln sich, wie sich gierige Fliegen um einen Tropfen Honig –

Der Kleine. Kunsthonig!

Der Große. Um einen Tropfen Kunsthonig sammeln, an dieser schrecklich vertrauten Ecke, ohne die sie so wenig leben könnten wie ihr Vorbild ohne die Wärme, die Fäulnis und den Kot. 518

Der Kleine. Gott behüte uns vor den Evakuierten! Es sollte tatsächlich so etwas wie einen Exorzismus gegen ihr Dasein geben.

Der Große (fährt unbewegt fort) . . . oder an die entsetzlich verstörte, wild galoppierende Herde, die sich, sobald die Sirene ertönt, in den Schutz der Flaktürme drängt.

Der Dünne. Diese Flaktürme haben Sie »Jahwe« genannt?

Der Große. Im Anschluß an den 90. Psalm finde ich keinen besseren Namen für diese Schutzgötter unserer Zeit und ihre, wie man behauptet hat, vollkommene Sicherheit.

Der Dicke. Ein Jahwe, der über Parzen und Fliegen, Ameisen und mechanischen Wesen eine Glocke aus Sicherheit bildet; eine Landschaft aus Trümmern, Schutthaufen, Balken und gähnenden Ruinen, die den Hintergrund abgibt für diese Gesellschaft entfesselter Gespenster . . . gestürzte Sinnbilder: Engel und Palme und die lastentragende Karyatide – – wo aber bleibt der Mensch?

Der Große. Ich sehe ihn nicht. Die Bewegung scheint ihn aufgesogen zu haben.

Der Dünne. Wie meinen Sie das: die Bewegung? Und welche Art von Bewegung? Von woher geht sie aus?

Der Große. Ich meine die Bewegung an sich. Zunächst: den Aufmarsch. Die Formationen. Den Gleichschritt und die Parade. Hier war der Anfang. Dann kam der Treck. Die Umsiedelung. Der Rückmarsch der Deutschen. Die Balten wanderten und die Wolhynier. Die Tiroler, die Auslandsdeutschen. Auf der ganzen Welt fing der Deutsche wieder zu wandern an. Der ewige Jude unter den Völkern, der Stachel im Fleisch der Völkerfamilie, das eingekapselte Stück Dynamit, das steckengebliebene kleine Geschoß begann, sich in Bewegung zu setzen, und näherte sich der Aorta wieder, um die Schlagader zu bedrohen. Zuletzt der Krieg; die Atomisierung; der große Zyklon, der jegliche Bindung vernichtet und hinfällig macht. Der Bombenkrieg, der die Stätte der Ruhe unter den Trümmern begräbt; das steinerne Haus, den ererbten Besitz, den 519 Platz, der mit Zirkel und Winkelmaß vermessen worden ist. Wo ist das Ende dieser Bewegung, und wie hört sie auf? Dieser schäumende Schmelztiegel aller Völker – wann wird er zur Ruhe kommen?

Der Dicke. Dieser Schmelztiegel über dem magischen Dreifuß in der Zauberküche des alten Chronos – wann wird er überkochen?

Der Dünne. Und wird aus dem Zerfall der Atome die Verwandlung des Zeitalters steigen? Die Verwandlung des Menschen, den diese Bewegung in den Strudel der Atomisierung gezogen und scheinbar vernichtet hat?

Der Dicke. Wie heißt das Ferment, durch welches die Mischung, die Masse, auszukristallisieren und neue Formen, neue Gestalten zu bilden imstande ist?

Der Große. . . . das Eidolon, welches langsam heraufkommt und das Ziel dieser Wallfahrt den Heimatlosen, den Vertriebenen, unfreiwilligen Bettlern und widerwilligen Büßern einer Gesamtschuld kenntlich zu machen und zu umschließen vermag?

Der Pfarrer (hat sich plötzlich erhoben und steht – die halb versinkenden Augen in die Ferne gerichtet – mit dem Anschein äußerster Spannung auf wankenden Füßen da. Seine Lippen bewegen sich unaufhörlich, ohne doch einen Laut zu entlassen, dann ruft er, ein kurzes, stürmisches Klopfen beantwortend) Herein!

Der Kaplan (ein einfacher Sanitäter tritt, einen Strom von Kälte verbreitend, mit fröhlichem Lachen hinzu). Da bin ich. Ich habe ihn endlich gefunden, den mysteriösen Bettler, den Pilger, den Mann an den Wegerändern, den Magneten und das ewige Thema, um welches schon immer eure Kolloquien und beschwörenden Anrufe kreisen . . .

Der Große. Wen? Sprechen Sie rasch! Wen haben Sie endlich an den Wegerändern gefunden?

Der Kaplan. Ich bin erstaunt. Wen sonst als den Freund, den verschollenen Belfontaine? Das heißt ich habe jetzt seine Spur in Litzmannstadt gefunden und einen Menschen gesprochen, der ihm dort begegnet sein will. 520

Der Dicke. Es wollen ihm viele begegnet sein – in der Ukraine, in Polen und westlich von Smolensk. Jedesmal wurde sein Alter verschieden angegeben, bald trug er Pilger- und Bettler-, und bald Soldatenkleidung; hier wurde er als typischer Jude, dort wieder als ein Mensch geschildert, dem selbst der kleinste Zug dieser Rasse nicht nachzuweisen war. Wenn man dann etwas genauer fragte, war die Antwort fast immer die gleiche: nämlich, daß er ›nicht eigentlich‹ alt und ›nicht eigentlich‹ jung zu nennen, nicht stark und nicht mager, nicht groß und nicht klein, nicht auffallend, aber trotzdem nicht zu verkennen sei.

Der Kleine. Wer ist er also in Wirklichkeit? Woher kommt er? Wo geht er hin?

Der Dünne. Wie heißt er, in dem sich der Mensch von heute wie in einem Spiegel erkennt?

Der Große. Wie heißt der Heilige unserer Tage, das mystische Eidolon? Und wo taucht er zum ersten Mal auf?

Der Pfarrer (mit einfacher Stimme, als spräche er von einem Bekannten). Er heißt
        Josef Benedikt Labre
geboren im Pas de Calais.

Der Große. Wann geboren?

Der Pfarrer. Im Zeitalter der Vernunft, dem 18. Jahrhundert.

Der Dünne. Also ein Zeitgenosse Voltaires.

Der Pfarrer. Als Montesquieu starb, war er sieben Jahre. Diderot hat ihn ein Jahr überlebt. Der ›Contrat social‹ und ›Emile‹ wurden zu seiner Lebzeit geschrieben, das d'Alembert'sche Prinzip entdeckt, die Kritik der reinen Vernunft beendet, Werther und Goetz publiziert.

Der Dicke. So starb er also noch vor dem Ausbruch der Französischen Revolution. 521

Der Pfarrer. Ein halbes Dutzend Jahre vorher.

Der Kaplan. Saturn auf der Zeitenschwelle!

Der Pfarrer. Legen Sie Ihren Tornister ab und mit ihm den mythologischen Ausdruck für diesen armen Pilger und Bettelmann, Herr Konfrater. Er wird Ihnen und uns dadurch nicht klarer – dieser Benedikt Labre, welcher sein Brot allerdings mit Vorliebe auf der Schwelle der Gotteshäuser verzehrt hat; dieser ewige Wallfahrer, Wanderer, Wandler zwischen den Heiligtümern Europas – zwischen Amettes und Loretto, Einsiedeln, Assisi und Rom.

Der Kleine. Man sollte sein Brot nicht im Hocken essen; auf jeder Treppe, auf jedem Baumstumpf und Kilometerstein. Aber ich bin ganz fest überzeugt, daß diese Art von Ernährung die Mahlzeit von Morgen ist. Oder sieht man nicht heute schon, wie die Menschen zum großen Teil aus dem Rucksack leben; im Gehen essen, im Stehen trinken – –

Der Dicke. Erläutern Sie jetzt noch die Stehbierhalle und wenden Sie dann auf der Stelle Ihr trojanisches Holzpferd um!

Der Große. Ich glaube, wir tun nicht recht daran, den Kleinen zurückzuweisen.

Der Kaplan. Übrigens wird dieser Benedikt Labre mir wieder erinnerlich. Er kommt aus Nordfrankreich, ein Sohn der weiten und fast immer verhangenen Ebene, über welcher zu allen Jahreszeiten ein perlgrauer Schimmer liegt – ein Tränenschleier, ein Hauch der Sehnsucht nach Ferne und Abenteuer; nach Freude [wir sind ja nahe bei Flandern!], nach tiefer, unersättlicher Freude, welche gleichzeitig immerwährenden Wechsel und ewige Dauer sucht, und nach der Fremde, nach kühnen und edelmütigen Taten, nach den Blumen des Bösen, dem Blut des Drachen und der Befreiung der Jungfrau durch Demut und Heldentum.

Der Große. Nach dem Meer, nach dem Ruderschiff und nach der Küste, die jenseits der Meerenge liegt! 522

Der unsichtbar Anwesende. Hört! Hört! Hier spricht England! Hier spricht König Artus zu Artus' Tafelrunde!

Der Kaplan. Von jetzt ab werdet ihr Lanzelot heißen, Erek, Durmant und Gawein. Wer auszieht, kehre zu sich zurück; Mündung und Quelle sind eins!

Der Große. Zog Labre als Pilger aus oder als Bettler? Oder als beides zugleich?

Der Pfarrer. Er zog als Büßer aus und in einem als Pilger und Bettelmann.

Der Dicke. Und wofür büßte er?

Der Pfarrer. Für die Gesamtschuld des europäischen Menschen. Für die Schuld der Könige und der Kärrner; der Herrscher, der Unterdrückten; der Philosophen, der Dichter, der Künstler und Mathematiker büßte der Arme im Geist. Herangewachsen, suchte er unaufhörlich Gelegenheit zur Buße wie Parsifal den Gral. Er suchte sie in den strengen Orden der Trappisten und Zisterzienser, wo er vorübergehend Habit und Klostername erhielt; er suchte sie früher schon bei den Karthäusern in Neoville, wie in Sept Fontaines – –

Der Kleine. Sprechen wir noch von Labre oder Lazarus Belfontaine?

Der Pfarrer. . . . bis eine heftige, schmerzhafte Krankheit seinen plötzlichen Austritt erzwang.

Der Kaplan. Lassen Sie mich jetzt weiter berichten. Es ist alles vollkommen klar. Er wurde zum Bettler. In ärmlicher Kleidung, die Mahnung des Evangeliums befolgend, hatte er weder doppeltes Schuhwerk, noch mehr als einen Mantel und keinen Mundvorrat. So zog er dahin . . .

Der Große. Ich sehe ihn deutlich. Er ging, den Rosenkranz in den Händen, die einsamen Feldwege, welche von Regen und Hagel ausgewaschen, von der Hitze gedörrt, von Kälte vereist und von den Wagenspuren der Bauern tief eingesunken waren. Vor dem Eingang der Ortschaften blieb er 523 stehen und bückte sich, um eine Gelberübe aus dem fetten Boden zu ziehen oder aus ein paar grünen Schoten eine Handvoll Zuckererbsen zu lösen, einen Apfel im Grasgarten aufzuheben, eine heruntergefallene Birne, die schon weich und wurmstichig war. Dann konnte es ihm öfter geschehen, daß ein Bauer ihn mit Prügel und Peitsche von seinen Beerensträuchern vertrieb, der Hund ihn verbellte, die Knechte und Mägde mit Steinen nach ihm warfen.

Der Dicke. Doch es kam wohl auch vor, daß die Bäuerin den Pilger, den Heimatlosen, mit ihren Bitten belud: ihrem Wunsch nach einer reichlichen Ernte, nach Erlassung des Pachtzins, Bewahrung der Tiere vor Rotlauf oder Staupe und der Hoffnung auf Leibeserben.

Der Pfarrer. Vergeßt nicht, daß er sich nachts von dem Küster in die Kirche einsperren ließ. Dort betete er, wenn im Winter der Frost die Fenster mit Eisblumen überzog, er betete neben den aufgebahrten, langsam erstarrenden Toten; er betete, und er hing so fest wie die Fledermaus in den Dachsparren hängt, so zusammengefaltet, so unablöslich mit Leib und Seele und jedem Nerv in seinen Gebeten, betrachtend und büßend – daß man ihn oft erst mit scharfen Essenzen zum Leben erwecken mußte.

Der Große. Aber außer von diesem erhabenen, unendlich gesammelten, mystischen Beten – was wissen wir im Grunde von ihm? Wie hat er sich von anderen Pilgern und Wallfahrern unterschieden? Und was macht ihn so gegenwärtig?

Der Kaplan. Ich weiß es. Dieser Franzose aus dem Lande der Beharrung schlechthin, der Kleinbürger, Bauern und Rentnernaturen, eroberte sich die Heiligtümer in Savoyen, der Schweiz und Deutschland, an der Mittelmeerküste, in Rom. Wie andere Forscher früher reisten, um die West-Ostpassage zu finden, das magische Indien, das weise China, und dabei völlig anderes fanden, als sie erwartet hatten, so reiste Labre – bedenkt: ein Jüngling, dessen Vater in dem Dörfchen Amettes einen winzigen Kramladen hatte! – mit den Schwingen des Zugvogels, der sich im Ozean auf Klippen und Felsenriffen zur Ruhe niederläßt, zu den Wallfahrtsorten von ganz Europa und ahnte nicht, daß die Unruhe selbst, die geheime Bewegung des Kontinents, die Völkerwanderung unserer Tage, ihm ihre Flügel geliehen hatte, um gegenwärtig zu werden. Ihm, der in den härtesten Klöstern des Landes eine Stätte gesucht hatte, 524 welche in Einem Zelle und Grab umschloß, befahl der heilige Geist, sich von allem außer eben den Fittichen abzulösen, außer dem Reisemantel, der flatternd von seinen Vogelschultern herabhing, und den Schnürensandalen, die seine Zehen, die hornigen, beschützten. Er verwandelte ihn in reine Bewegung; er zehrte, wie Sturm an dem Bleibenden zehrt, an seiner Erscheinung; er nahm ihn sich selbst und verhüllte ihm, während er ihn vorantrieb, die eigentlichen Ziele; er blendete ihn und stürzte den Seher in tiefe Dunkelheit. So entblößte er ihn von dem eigenen Ursprung, von seinem Vaterhaus und von dem Land, das ihn geboren hatte, ohne ihn mit einem anderen jemals entschädigt zu haben, er machte ihn heimatlos – staatenlos würden wir heute sagen –, er verbot ihm an Eigentum alles außer dem Almosen, ja selbst sein Gebet verwandelte er in Stille; in ein Schweigen, das jedes Zwiegespräch ausschloß und nur von dem Auf- und Niederflackern der Ewigen Lampe skandiert war.

Der Pfarrer. Mehr noch. Wie jedem Mystiker vor ihm und jedem vollkommen Armen mochte ihm Gott auch zuletzt noch den Trost seiner Gegenwart und die Hoffnung auf Erhörung genommen haben. Er machte ihn so vollkommen einsam, daß, als ihn die Kirche ein Saekulum später zu der Ehre der Altäre erhob, die wenigsten Christen eigentlich wußten, wer dieser Heilige war. Er wurde nicht volkstümlich – weder in Frankreich, wo Gambetta und sein gefährlicher Anhang die Gemüter damals viel mehr erhitzten als der arme Narr von Amettes; noch in Rom, wo die Kinder, als sie ihn sterbend auf den Stufen von San Martino al Monte, seiner Lieblingskirche, gefunden hatten, riefen: Ach, der Heilige stirbt! Der Heilige ist tot! Er blieb anonym, und keine Legende heftete sich an ihn; er wurde aufbewahrt wie ein Vorrat in dem Ölkrug der Witwe; ein Obolus unter der Zunge der Toten, von dem man vorher nicht wissen kann, welchen Wert er im Notfall besitzt.

Der Große. Welche Notwendigkeit an der Wende der Not – –!

Der Pfarrer. Eine Sanduhr, die im Verborgenen laufen und erst, wenn die Weltenstunde erfüllt war, in der Hand der Geschichte emporgehoben und allen Blicken gezeigt werden sollte . . .

Der Große. Gezeigt, nicht als der Zustand der Leere, sondern – weit furchtbarer noch – als der Zustand der stattgehabten Entleerung . . . 525

Der Kaplan. . . . die aber, indem sich die Hälfte der Sanduhr ihres Inhalts entledigte . . .

Der Pfarrer. . . . in Freiheit und in der Liebe Gottes, bedenkt diesen Unterschied wohl!

Der Kaplan. . . . die andere Hälfte im Stillen bereichert und bis oben hin angefüllt hatte.

Der Kleine. Ich, für mein Teil, sehe das Bild jener Frau, von welcher der Große gleichfalls erzählte, die nach dem Luftangriff ganz verstört aus ihrem Keller heraufkam, während es oben schon brannte, und einen Teller in ihrer Hand trug, auf welchem ein marinierter Hering, von einigen Zwiebelringen umgeben, wie ein freundliches Stilleben lag. Dieser Hering, dieser silberne Fisch, zuckt, während ihr Vergleich um Vergleich für euren Heiligen findet, jetzt wieder in meinem Gehirn. Er bewegt seine Flossen, schlägt mit dem Schwanz und ist in aller Stummheit bemüht, zu sagen, er sei noch da.

Der Dünne. Was hatte sie? Einen Fisch, sagen Sie? Einen Fisch, den sie aus dem Keller herauftrug, aus dem Dunkel, aus der Vergessenheit als einzigen Besitz? Den verschütteten Fisch, den verlorenen Fisch, den die Finsternis schön zu bedecken glaubte; das Zeichen, in welchem die Sonne in den Osterfestkreis tritt?

Der Dicke. Nicht mehr lange. Der Fisch hat den Widder, und der Wassermann wird in dem nächsten Äon wieder den Fisch ablösen – –.

Der Dünne. In dem nächsten Äon. Wird es den Äon des Wassermannes geben, und wie sieht der Wassermann aus?

Der Große. Er steigt schon empor. Er steigt aus den Fluten wie Christus aus dem Jordan nach seiner Wassertaufe. Ein getaufter Äon, bis zu den Hüften von schäumenden Wogen umhüllt; ein Haupt, dem die nassen, purpurnen Locken bis auf die Schultern rollen; ein Angesicht, das sich begierig nach den zerreißenden Wolken und der flammenden Taube dreht. 526

Der Kleine. Aber ich fürchte, inzwischen müssen wir alle den Weg des Treck und der Völkerwanderung gehen; den Weg der Flüchtlinge und der Bettler, der Habenichtse, der Heimatlosen, den Weg, den vor uns das Salzfaß und die Essigflasche gegangen sind, die während des Bombardements von dem Küchentisch auf den Steinboden schlugen und ihren Inhalt vermischten; den Weg der Dinge, an denen wir hängen, und die wir unter den Trümmern des Hauses mit Hacke und Hand unter Stöhnen und Seufzen herauszugraben versuchen – diesen Gemüsewolf unserer Mutter, das Waffeleisen, die Nähmaschine, obwohl sie verbogen ist. Mit Töpfen, Tiegeln und Pfannen beladen, die Betten in Laken fest eingebunden und über den Auflagen kreuz und quer die Sprungfedermatratzen, ziehen wir jetzt noch dahin. Auf die Erde gebückt und trotzdem bemüht, unsere Last zu bewahren, verlieren wir zu unserem Glück Stück um Stück dieser Habe; Stück um Stück dieser alten Sünden, deren Schuld uns erst vergeben sein wird, wenn wir der trüben, schmählichen Lust an ihrem falsch gebrauchten Besitz ganz abgeschworen haben.

Der Große. Inzwischen aber – ich fahre fort – was wird uns bleiben in jenem Büchlein, dessen blauer Pappdeckel, eingerissen, verschmutzt und befleckt von häufiger Benutzung, die Aufschrift ›Mein Hab und Gut‹ trägt?

Der Kaplan. Was dürfen wir tragen außer der Habe, die zuerst uns getragen hat – außer der Liebe Gottes und dem Kreuz, mit dem das Geheimnis der Liebe untrennbar verbunden ist?

Der Pfarrer. Gepriesen sei das unbrennbare Holz, das dauerhafte und harte Holz, das Holz des Kreuzes inmitten der brausenden Feuerflamme!

Die Anderen. Gelobt und gepriesen in Ewigkeit.

Der Pfarrer. Gepriesen sei alles, was Teil hat an der Natur dieses Holzes: die Türpfosten unserer Häuser, die der Engel des Herrn bezeichnete, damit sie für unseren Auszug aus Ägypten geöffnet blieben; die Schwelle, welche uns noch so lange, als es notwendig sein wird, geleitet und hält, damit wir sie überschreiten können, bevor sie einstürzt und sinkt; der Dachstuhl, in welchen die Brandfackel fallen, und der Estrich, auf welchen 527 sich der Kanister mit Benzin und Phosphor ergießen wird, um unser irdisches Teil zu verzehren und den Pilgerpfad sichtbar zu machen inmitten der Finsternis.

Die Anderen. Gelobt und gepriesen in Ewigkeit!

Der Pfarrer. Gelobt sei der Wind, der die Flamme emporträgt und sich mit seinem dämonischen Sausen ihrem furchtbaren Atem vermischt.

Die Anderen. Gelobt und gepriesen in Ewigkeit!

Der Pfarrer. Gelobt sei das Wasser, gelobt sei der Regen, gelobt sei der Hagel, der Schnee und die Schmelze, die das Feuer löschen, wenn es den Auftrag zu Ende geführt hat; welche das Haus, diesen erweiterten Leib des Menschen, aufzulösen beginnen; es durchsickern und es mit tausend Tropfen wie eine Harfe umspielen, auf welcher die göttliche Weisheit des Ursprungs wieder zu tönen beginnt.

Die Anderen. Gelobt und gepriesen in Ewigkeit!

Der Pfarrer. Gelobt sei der schwache irdische Raum, der wie ein Zelt inmitten des Ackers von dem Feldhüter aufgeschlagen und, wenn die Ernte eingebracht wurde, zusammengefaltet wird. Gelobt sei, die ihn durcheilt bei Nacht und bei Tag: die allmächtige Zeit. Gelobt sei der Schöpfer in seinen Geschöpfen und sein Honig, die Gnade in irdenen Töpfen –

Die Anderen. Gelobt und gepriesen in Ewigkeit!

Von fern und nah hört man jetzt die Entwarnung, die von allen Sirenen aufgegriffen und begierig weitergesagt wird. Dann endlich senkt sich der Dauerton wieder und verschwindet wie ein Gerinsel im Gully, wenn der Regen sich ausgetobt hat. Die alte Haushälterin des Pfarrers geleitet ihren frommen Besuch, eine Küchenschwester des Klosters, mit der Taschenlampe hinaus. In dem Hausflur bleiben beide noch stehen und warten geduldig das Ende der langen Entwarnung ab. 528

Die Haushälterin. Ich glaube, Schwester Eustachia, wir dürfen jetzt schlafen gehen.

Schwester Eustachia. Aber vergessen Sie nur nicht, den Kamillentee für den bösen Finger heute abend noch überzubrühen. Sie könnten auch ein Seifenbad machen, wenn Sie gute Kernseife hätten und nicht dieses schlechte Tonstück, dessen Schmutz man hinterher abwaschen muß, wenn man glaubt, gereinigt zu sein. Haben Sie übrigens das Rezept für die Bratlinge ausprobiert?

Die Haushälterin (ihren Finger betrachtend). Er geht sicher ganz bald schon von selber auf. Die Eiterbeule ist gelb. Meinen Sie das Rezept für die Klopse aus aufgequollener Grütze, die mit frischer Blutwurst vermischt und alsdann in der Pfanne gebraten wird? Ich habe in solchen Sachen kein Glück. Diese Dinger halten mir nicht zusammen, sondern verlaufen im Nu.

Schwester Eustachia. Sie dürfen natürlich das Mehl nicht vergessen, ein paar gute Eßlöffel voll. Roggenmehl rösten Sie vorher an, damit es mehr ausgibt, verstehen Sie, dazu eine Prise Pfeffer und Salz, eine fein gewiegte Zwiebel darunter und etwas Majoran. Ganz einfach –

Die Haushälterin. Das meinen Sie so. Aber ich sagte Ihnen ja schon: ich habe damit kein Glück. Wie Gott will. Der letzte Namenstagskuchen ist mir auch wieder sitzen geblieben. Ohne Backpulver geht es nicht.

Schwester Eustachia. Welch ein Unsinn! Ganz einfach: ein Teelöffel Natron und zwei Löffel Essig darunter – Sie sollen sehen – –

Die Haushälterin. Ich kann mir nicht helfen: ohne Backpulver geht es nicht. Wie Gott will. Ein Glück, daß Hochwürden alt ist. Er schmeckt und sieht fast nichts mehr. Dazu das wenige Fett, liebe Schwester, wie soll man da kochen können? Nicht ein einziges Mal, daß mir nicht der Kohlrabi unten im Topf anhängt. Wie Gott will. Das Leben wird immer schlechter, man freut sich fast auf den Tod. Für morgen habe ich Trockengemüse in Wasser eingeweicht – Wirsingkohl – aber ich merke bereits, daß die Strünke nicht aufquellen wollen. Unsere Einmachgläser, ach Gott, hat Hochwürden schon im November verbraucht, als die 529 Evakuierten kamen. Ich habe auch früher nicht gut gekocht – aber jetzt schmeckt alles wie Stroh. Wie Gott will. Wir haben es bald überstanden, der Geistliche Herr und ich . . . Ach so, Sie müssen nach Hause, Schwester? Ich schließe ja schon auf. Fünf Treppen hinunter, fallen Sie nicht, es ist eine ungerade Zahl. Gute Nacht –. Sie wendet sich mühsam um und geht in die Küche zurück. So ist das. Wir werden alle nicht jünger, auch die gute Eustachia nicht. Wenn ich bedenke, wie frisch sie noch war, als sie hier in das Kloster eintrat, und die Oberin Maura noch lebte. Das waren Zeiten! Wie sagte sie doch, die heiligmäßige Schwester Maura, wenn sie in Schweickert's Laden hereinkam, und die junge Frau Belfontaine ihr den Korb voll Zucker und Weizenmehl packte? ›Guten Tag – das Jesuskind kommt auf Besuch, was verdirbt denn schon wieder im Laden?‹ Alle tot – Elisabeth und Elfriedchen, und von Herrn Belfontaine weiß kein Mensch mehr, wo er geblieben ist. Wie Gott will. Ob ich wirklich den Finger noch bade? Er geht sicher von selber auf. Wie Gott will. Heute Nacht kommt kein Angriff mehr. Der Mond ist im Untergang.

 

Ende

 


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