Elisabeth Langgässer
Das unauslöschliche Siegel
Elisabeth Langgässer

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Zweites Buch

I

In den tragischen ersten Septembertagen des Jahres 1914, als der Armeestab des Generals von Kluck in dem französischen Städtchen Senlis lag, und der Speer des Kriegsgottes, der nach Paris mit tödlicher Sicherheit zu zielen schien, plötzlich verhalten wurde; in dieser kurzen, glühenden Spanne, wo unsichtbare Gewichte des Schicksals unter nahem und fernerem Donner ihrer eingelassenen Zahlen ledig gesprochen wurden, so daß, was sie wirklich bedeutet hatten, später nicht mehr geprüft werden konnte; in einer Nachmittagsstunde, noch heiß wie der sonnenbeschienene Rainfarn, in dem sich die Eidechsen tummelten – – nahmen zwei Offiziere vom Stab den Weg zu der Kathedrale.

»Kein Wort mehr vom Dienst, wenn ich bitten darf«, sagte der blonde Freiherr von E., dessen tödlich erschöpftes, junges Gesicht seine Konturen der Lockerung hingab und langsam dem furchtbaren Druck der Stirn sich zu verteilen gestattete, zu seinem Kameraden. »Übrigens ist es mir gestern gelungen, den Pfarrer zu überzeugen, daß eine Gefahr für den Turmhelm durch die paar Einschläge rechts und links überhaupt nicht in Frage kommt. Schließlich erwärmte er sich an meinem Interesse und der Sachkenntnis, welche die Salamander Franz des Ersten ebensowenig wie Mariae Aufnahme in den Himmel zu erwähnen vergessen hatte. Mein Gott, von welch einer listigen Zartheit ist die eine und welcher geistigen Inbrunst die andere dieser Skulpturen«, fügte er noch hinzu. »Das Musée de Cluny selbst – – sehen Sie nur!« sagte er leise und blieb entzückt in dem kleinen, umgitterten Domgarten stehen, dessen Moos die Spalten der Pflastersteine mit dem Mantel der Zeitlosigkeit bedeckt und die Torsen einiger alter Figuren, die man hier aufgestellt, besser: zerstreut und der Natur vererbt haben mochte, ihres Felscharakters entkleidet, sie erweicht und mit sinnlichem Leben förmlich durchfeuchtet hatte. Eine kopflose Jungfrau 264 mit breitem Schoß und Schenkeln, die noch den Eindruck des Kindes auf rührende Weise bewahrten, saß wie eine Bettlerin an dem Pfad, welcher wohl von dem Wüten der großen französischen Revolution der Sitz der Vernunft und das Kleinod der Liebe, aber nicht ihre menschliche Würde genommen werden konnte. Von ihrem nur noch gedachten Haupt rieselten übergrünte Haare auf Schultern und Arme herunter, eine Taube setzte sich ihr auf den Fuß und pickte zwischen den Grottensteinen nach dem Samen des Wegerichs.

»Warum ist das Schöne doppelt schön im Zustand der Zerstörung?« fragte der Freiherr von E. erschüttert und fuhr dann mit hastiger Stimme fort: »Können Sie mir das erklären? Ist der Sieg, den es stündlich davonträgt, über die rohe Gewalt, über die dumme Gesundheit und ihre platte Vernunft, an seine Schwäche gebunden? An sein Ausgesetztsein, seine Hilflosigkeit – oder . . .?« Er blickte den anderen an, in dessen nüchternem, gutem Gesicht die Hochachtung vor dem musischen Feuer des blonden Kameraden mit einem Unbehagen – zu vage, um es in Worte zu fassen – kämpfte, und zuckte mit den Schultern. »Nein, sagen Sie nichts. Ich bin überreizt und kann nur noch, wie mir scheint, in Antinomien denken.«

»Wollen wir wirklich den Turm besteigen?« fragte der Hauptmann Falkenberg trocken. »Es muß ja nicht heute sein. Wie ich von früher her weiß, leiden Sie öfter an Schwindel«, fügte er ungeschickt hinzu.

Der andere schnellte empört nach ihm um. »Wenn das wahr ist«, sagte er knabenhaft böse, »wäre es morgen nicht anders; aber es ist nicht der Fall. Wenigstens nicht in Gesellschaft«, stellte er aufrichtig fest. »Und schon gar nicht, wenn – – Sie vorangehen möchten«, beendete er sein Eingeständnis und lachte den Hauptmann durchtrieben an, der dieses Lachen polternd zurückgab, ohne daß seine Augen den Ausdruck uneingestandener Sorge verloren, die ihn bewog, seinem jungen Freund nicht von der Seite zu gehen. »Wir dürfen auch nicht den Küster enttäuschen, der sich von uns eine Sensation, zum Beispiel: daß wir auf den Chimären wie Gassenbuben reiten, ein Sakrileg, einen saftigen Diebstahl oder sonst einen 265 Vandalismus erwartet, dessen Abwehr ihm das Martyrium einbringt, das er sich heimlich erhofft.«

»Scherzen Sie nicht«, sagte Falkenberg ernst. »Seit der Erschießung des Bürgermeisters ist die Bevölkerung fanatisiert und zu allen Dummheiten fähig.«

»Dummheiten – na, unter uns gesagt«, gab ihm der Freiherr von E. zurück, »war diese überstürzte Erschießung –«

»Pardon, mein Lieber. So weit kann nun allerdings meine Bereitschaft, den Dienst zu vergessen, nicht gehen«, sagte der Hauptmann knapp. »Aber wenn Sie mir eine Freude machen und das Versprechen einlösen wollten«, er faßte die Tasche fester, die er unter dem Arm hielt, »auf das hin ich diesen Pack Zettel wie eine Katze ihr Junges Tag und Nacht bei mir trage, will ich gerne mit Ihnen die Jakobsleiter bis zur obersten Sprosse steigen.«

»Ja, so – das gerettete Manuskript aus der Stadtbücherei, diesem Stolz der Provinz, mit Werken aus der Zeit vor der Revolution und den fünfundzwanzig Bänden, man denke, des Kanonikus Afforty!« sagte der Jüngere spöttisch. »Was hat Sie eigentlich angetrieben, unter der Auslage dieser verkohlten und angebratenen Schweinslederschinken – übrigens ist nur der kleinste Teil dem Städtchen verlorengegangen – gerade dieses Stück zu ergattern, aus dessen grob gehefteten Blättern die Straßenkehrer bereits begannen, sich Fidibusse zu drehen?«

Der Hauptmann lächelte vor sich hin. »Wenn ich nur dieser Büchernarr wäre, der ich ja außerdem bin«, sagte er, über sich selbst erstaunt, »hätte ich mich vielleicht anderer Dinge auf dem qualmenden Marktplatz versichert, wohin man in seiner Kopflosigkeit die Bücher ganz einfach hinunterwarf, um sie hernach zu zertreten. Zum Teufel, was für köstliche Drucke – dieses Bändchen Fabeln von Lafontaine in rotem und blauem Saffian, die Maximen des alten La Rochefoucauld in dem Nachdruck von Bozerian, Rousseaus ›Emile‹ ad usum delphini in verschossenem graugrünen Samt mit den eingepreßten französischen Lilien und der schleißenden Spitzenborte, die Ausgabe altprovenzalischer Lieder in Silberschrift auf türkisblauem Grund und Pascals ›Pensées‹ in der Erstausgabe mit dem herrlichen Vorsatzpapier . . . Nun gut – wir Deutsche sind zwar Barbaren, 266 aber Plünderer sind wir nicht. Und daß dieses Bündel stockiger Blätter sich meiner Obhut empfehlen konnte, war nicht zum mindesten jeglichem Mangel an Kostbarkeit zuzuschreiben.«

»Nun, übertreiben Sie nicht, mein Lieber!« sagte der Freiherr von E. belustigt und ging ihm rascher voran. »Die ›Gazette de l'Oise‹, um ein Beispiel zu nennen, hätten Sie doch schwerlich aus der Asche gezogen.«

»Das ist richtig«, sagte der andere leise und kehrte dem Blonden sein sauberes, festes, durchaus nicht schwärmerisches Gesicht mit der unbedeutenden Brauenpartie, den nervlosen Schläfen, dem runden Schädel und den zusammengeschobenen Augen in ruhiger Freundlichkeit zu. »Was mich anzog, war sein geahnter Inhalt. Ich sage: geahnt, denn das Heft ist ja spanisch und nicht französisch geschrieben, noch dazu in der Schnörkelschrift des vorigen Jahrhunderts. Übrigens ein Grund mehr, es in Ehrfurcht meinem Lieblingsbuch anzureihen.«

»Ihrem Lieblingsbuch?« fragte der Freiherr von E.

»Dem Don Quichotte – allerdings. Aber mein bißchen mühsam genug zusammengestoppeltes Spanisch reicht nur zum Verständnis der Überschriften und einiger Kernsätze aus. Ich rechne also mit Ihrer Hilfe bei der Entzifferung.«

»Um was handelt es sich? Belletristik?« fragte der andere rasch.

»Durchaus nicht. Wenn ich richtig verstehe, sind es Essays, die als Ganzes eine – nun, sagen wir kurz und bündig: katholische Philosophie der Geschichte im Auge haben.«

»Also wirklich ein Zwilling des Don Quichotte!« ergänzte der Freiherr von E. »Und Ihre protestantische Seele kehrt sich nicht schaudernd ab?«

»Meine Seele . . .«, der Hauptmann wurde verlegen und wollte weiterreden, als der Küster, der die zwei Offiziere auf dem Bänkchen unter den Salamandern Franz des Ersten erwartet hatte, unter Verbeugungen auf sie zukam und mit dem Schlüsselbund rasselte wie zum Zeichen der Unterwerfung.

»Wünschen die Herren, daß ich sie führe?« fragte er, furchtsam devot.

»Nicht nötig. Aber kommen Sie mit und gehen Sie uns voran. Vielleicht, daß eine Stufe gelockert oder die Turmbalustrade 267 dort, wo wir uns anlehnen, morsch ist«, sagte der Hauptmann ruhig.

Der Küster schoß einen funkelnden Blick gegen die Offiziere; in dem Spätlicht glänzte sein schütteres Haar wie ein abgetragener Fuchsbalg, in dem die Motten waren. Das Kirchenschiff war von Gemurmel erfüllt; eine Schar zusammengedrängter Nonnen mit großen schwarzweißen Flügelhauben betete das Offizium in wellenförmigem Ton. Ihre Gesichter waren so tief in der Umhüllung verborgen, daß, von der Seite gesehen, nicht mehr als ein Schimmer vergilbter Haut, der Bug einer Wange, der zarte Kontur eines bewegten Mundes, ununterschieden wie Schmetterlingsflügel, die sich gleichen, zutage trat.

Als die Herren rasch an ihnen vorüber und nach dem Glockenturm gingen, dessen Tür sich neben der Sakristei am Ende des Kirchenschiffes befand, kehrte der Freiherr von E. sich um und blickte sie aufmerksam an. Vielleicht erwartete er irgendeine Bewegung; die kleinste Drehung hätte genügt, daß er sich angesprochen, beachtet oder getadelt fühlte – doch nichts dergleichen geschah. In der Welt dieser Frauen, unendlich fremd seinen knabenhaften Begierden, ja selbst seiner Ehrfurcht und dem Bemühen, sich ritterlich zu erzeigen, wurde seltsamerweise der Offizier überhaupt nicht wahrgenommen. Er geriet, gewiß ohne Absicht, erst gar nicht in jenes Blickfeld, um welches er sich bemühte, und fühlte sich auf unfaßliche Weise um sein Selbstbewußtsein genarrt. Wie ein Mensch, der mit bescheidenem Stolz vor einen Spiegel zu treten glaubte, sah er sich einer blendenden Fläche von hoher Leuchtkraft, wie er erwartet und fast gefürchtet zu haben schien, mit einem Mal gegenüber . . . Aber ihn spiegelte dieser Spiegel, ihn warf diese Fläche so wenig zurück, wie wenn er körperlos wäre. Gewiß: sie spiegelte. Aber wen? Nach welchen Gesetzen wählte sie aus? Und was oder wer, zum Teufel, dachte der Freiherr flüchtig, wurde imaginär an ihr?

»Finden Sie nicht den Schlüssel?« fragte der Hauptmann geduldig, als der Küster, sichtlich bemüht, den Aufstieg zu verzögern, in seinem Eisenbund kramte. »Übrigens steht die Tür bereits offen, wie ich gerade sehe.«

»Der Herr Abbé hat den zweiten Schlüssel und liebt es, das 268 Angelusläuten dort oben zu erwarten«, sagte der Küster glatt. »Ich darf mich also den Herren empfehlen. Sie werden schon an der ersten Luke seine Gesellschaft finden, denn der Abbé steigt nicht rasch –«

»Nein, nein, François – ich gehe heute nicht mehr hinauf«, sagte eine gebrechliche Stimme, und die zarte, kleine Gestalt des Pfarrers stand wie ein Windhaferstengel unter der offenen Tür. »Selbstverständlich führst du die Herren Offiziere – und gib gut acht auf die lose Platte unter der linken Chimäre; du weißt, sie wackelt bei dem Betreten und kippt den Fuß eines Ahnungslosen wieder zur Treppe hinab. Ein schöner Nachmittag, meine Herren«, fuhr er fort, zu dem Hauptmann gewandt. »Sie werden einen herrlichen Blick über die Ebene haben, über Chaalis und Ermenonville, über die Wälder der Isle de France, wo eine romantische Künstlergilde in der Mitte des letzten Jahrhunderts den Gastwirt von Mortefontaine und Chaalis mit einem Bild oder einem Sonett oder nur einem einzigen Seufzer bezahlt und die Verse des Dichters Gérard de Nerval in die Nachtluft geflüstert hat. Aber das ist kein Thema für einen jungen Krieger«, verbesserte er sich selbst. »Viel eher wird es Sie schon interessieren, daß hier in der Ebene von Compiègne die Jungfrau von Orléans eine Schlacht gegen die Engländer schlug.«

»Nein, nichts von Schlachten, mein Herr Abbé«, erwiderte der Blonde. »Sie müssen verstehen: uns ist zumute, als ob wir für eine Weile die Sanduhr im Rücken hätten. Natürlich wissen wir, daß sie läuft, aber wir schauen nicht hin. Vielleicht läuft sie auch nur«, fuhr er sprunghaft fort, »solange wir sie betrachten, und wenn wir sie nicht im Auge behalten, vergißt sie, uns die Zeit zuzumessen und läßt diese Stunde aus.« Er atmete tief; wie ein Schwert aus Licht spaltete blitzschnell und unerwartet die Erinnerung an den Anblick der Nonnen, die ihn gesehen und doch nicht gesehen, gespiegelt und doch nicht zurückgeworfen und also für eine jähe Sekunde sein Dasein vernichtet hatten, den zitternden Grund seiner männlichen Seele und bedrohte ihre Vernunft. »Verzeihen Sie – ich philosophiere«, sagte er obenhin. »Kurz und gut: wir wollen nichts weiter 269 als . . . schwärmen«, setzte er heftig hinzu. »Und möchten Sie nicht die Freundlichkeit haben, unser Führer dahin zu sein?«

Der Pfarrer trat einen Schritt zur Seite, mitten in eine Lache von Licht, welche die schräge Nachmittagssonne durch das farblose Glasfenster mit der Bordüre des überall und so auch hier wiederholten Ornamentes aus Salamandern warf, und blickte die zwei Offiziere mit schmerzlichem Ausdruck an. »Unmöglich«, sagte er dann betroffen. »Ich bin zu dem Ortskommandanten bestellt, um über die gewährte Bestattung der Füsilierten zu sprechen.« Die Erstarrung der Offiziere bemerkend, ließ er die Hand mit seinem Birett, das er eben hatte aufsetzen wollen, noch einmal heruntersinken und flüsterte: »Schwärmen . . . gewiß. Diese Haine sind wie zum Schwärmen geschaffen. Zum Schwärmen und zum Sterben. Hören Sie«, – langsam hob er die Rechte und legte den Kopf in den Nacken – »was der sterbende Schwärmer von Ermenonville im Scheiden gesprochen hat: ›Liebe Freundin‹, sagte er, ›öffne das Fenster. Die Luft ist so klar und rein. Ach, daß ich noch einmal die Sonne sehe! Mir scheinen die Himmel offen. Liebste Freundin, fühlst du das Nahen Gottes, der mich in den Armen seiner Erbarmung bereit ist, zu empfangen?‹ Armer Rousseau! Nur sechs Monate lang atmete er diese Luft.«

»Und sein Grab ist im Park von Ermenonville?« fragte der Freiherr von E.

»Sein Grab. Oh ja. Aber nicht er selbst. Das heitere Monument auf der Insel mit den hundertjährigen Pappeln ist leer. Der Park ist leer. Seine Schlösser sind leer. Die Einsiedelei. Die Abtei von Chaalis. Der Glaube Rousseaus. Die Verse Nervals . . . Alles leer, meine Herren, und Ihre Kanonen schießen über das Grab und die Wälder noch einmal den letzten Salut. Leben Sie wohl –!« Er verbeugte sich und winkte den beiden gespenstig zu; dann ging er, durchsichtig wie der Flügel einer großen Libelle, davon.

Die Offiziere blickten sich an. »Merkwürdig«, sagte der Hauptmann gepreßt. »Verstehen Sie, was er ausdrücken wollte, und können Sie mir diesen mystischen Unsinn in mein märkisches Deutsch übersetzen?«

»Was soll ich Ihnen noch alles, mein Lieber, bis es dunkel 270 wird, übersetzen?« fragte der Freiherr zurück. »Aber beginnen wir einmal zunächst mit dem spanischen Manuskript. Vielleicht enthält es den Zauberschlüssel für alle anderen Rätsel, um welche wir uns bemühen?« Im Sprechen war er die ersten Stufen der Turmtreppe schon hinaufgestiegen; der Küster wand sich an ihm vorüber und schlüpfte mit der Geschwindigkeit einer Ringelnatter voran. Während die Offiziere ihm folgten, zischte er rasch und geläufig einige Daten herunter, die sich wie Weinjahre, rankenfingrig, um die Biegung der Treppe spannten: Baujahr und Höhe, Jahrhundert der Weihe, Zirkelmaß einer mystischen Hütte unsterblicher Steinmetzgesellen, Zelt Gottes unter den Menschen . . .

Sie stiegen bis zu der Chorgalerie im Inneren der Kirche und gingen unter den Glasfenstern her, die ihre wolkenhaft spielenden Bänder aus Lilien und Salamandern um die zarten Rippen der Spitzbögen warfen, indem sie gewissermaßen ihr Bild aus dem lichtigen Hintergrund lösten und es dem Säulenwald zugesellten, den sie mit Tupfen aus geläutertem, himmlischen Licht belebten, mit Wappenlilien und Tiersignaturen, in welchen die Wirklichkeit sich übertroffen und gleichzeitig ausgelöscht hatte. In der Tiefe des Kirchenschiffs, kaum noch erkennbar und abgenutzt von unzähligen Füßen, gaben die Gräber der Erzbischöfe ihre Namen, den Umriß ihrer Figuren und die lobende Inschrift der schweren Platten immer mehr der Zerstörung preis; umgekehrt wie bei dem Grab Rousseaus waren sie voll von Gebeinen, welche kein Mensch mehr kannte, und verzichteten, ihre Stunde erwartend, gelassen auf den Ruhm. Ein Duft von Weihrauch, zu unbestimmt, um nicht verwechselt zu werden mit dem des Inhalts der Paramentenschränke aus der geöffneten Sakristei, mit dem Hauch der Jahrhunderte, dem Atem der stillen, eingeschlossenen Lüfte und verborgenen Sakramente, begleitete die Besucher, als sie ins Freie traten. Der erste Umgang öffnete sich mit breiter Balustrade, nach weiterem Aufstieg der nächste, dann verengerte sich die Wendeltreppe und gewann die äußerste Höhe unter dem Glockenstuhl.

»Ich bleibe hier auf der zweiten Terrasse und beschäftige mich mit dem Manuskript«, sagte der Freiherr von E. »Es ist Ihnen also unbenommen, bis in die Wolken zu steigen. Lassen Sie 271 ruhig Ihre Tasche zurück und mich selbst in der frohen Gesellschaft dieser kenntnisreichen Chimären. Ich glaube, wir werden uns blendend verstehen, und wo mir ein Wort nicht einfallen sollte, hilft dieser Bursche mir aus.« Er trat zu einer der Sandsteinharpyen, die ihr boshaftes Vogelgesicht über die Schultern zurückgedreht hatte und mit den Zähnen fletschte; die Beine fest an den Körper gezogen, schien sie bereits im Begriff zu sein, sich von dem Turm abzustoßen und ihren Vorsatz nur zu verzögern, um noch ein freches Wort hinzuwerfen, dessen Folgen sie sich, keinen Herzschlag danach, durch den Absprung entziehen würde.

»Nun, gut denn«, sagte der Hauptmann schwankend. »Ich merke, Sie kennen bereits meine Schwäche, mir keinen Gipfel entgehen zu lassen und eine Gegend solange von oben zu betrachten, bis sie mir ihre strategischen Punkte genau zu erkennen gibt. Aber versprechen Sie mir, die Nase auch wirklich auf diese Blätter zu halten und nicht in die Tiefe zu blicken, sonst bin ich nicht beruhigt.«

»Mein Gott, welch eine rührende Sorge«, sagte der Jüngere spöttisch. »Aber wissen Sie denn, ob ich nicht am Ende in einen tieferen Abgrund sehe, wenn ich das Heft hier studiere?«

Der Hauptmann schnitt mit der Hand durch die Luft. »Ich glaubte, Ihr Schwindel sei körperlich«, sagte er kurz und streng.

Der Freiherr von E. errötete leicht. »Sie haben recht. Aber fürchten Sie nichts. Die Balustrade ist breit genug, damit dieses Übel erst gar nicht zur Geltung kommen kann. Überstürzen Sie nichts. Auch ich brauche Zeit,« – er hatte sich inzwischen auf eine Stufe niedergelassen, das Manuskript auf die Knie gelegt und angefangen, darin zu blättern – »mich durch die Tunnelschrift dieser Zeilen, durch ihre Haken und Aquädukte hindurchzuarbeiten.«

»Ich bewundere Ihr Sprachengenie«, sagte der Hauptmann freundlich.

»Keine Ursache. Meine slawische Mutter hat mir mit diesem Sprachengenie, wie Sie es nennen, ihr Unbehaustsein in jeder geistigen Heimat vererbt . . . es sei denn in der des Schönen«, fügte er fast unhörbar hinzu und beugte sich auf das Heft – 272

»Chaalis . . . nein, hier doch, wenn Sie belieben«, schnurrte oben unter dem Turmhelm der Küster und drehte behutsam das Fernglas des Hauptmanns nach dem bezeichneten Punkt. »Sehr alte Zisterzienser-Abtei aus dem zwölften Jahrhundert nach Christus. Im dreizehnten eingeweiht von Guérin, dem Kanzler und Erzbischof. De Guérin . . . Kanzler und Erzbischof König Ludwig des Heiligen, ja. Hier früheste Ausbildung und Verwendung des gotischen Spitzbogenstils. Später weltliche Ordenspfründe. Der erste nichtmönchische Abt war der Kardinal d'Este, Sohn von Alphons d'Este und Lucrezia Borgia. Sein Neffe und Nachfolger, Louis d'Este, bringt Torquato Tasso hierher, der in Chaalis, wie man weiß, sein ›Zerstörtes Jerusalem‹ schrieb.«

»Auszüge aus den Reden und Briefen meines Freundes Donoso Cortés – Entwürfe einer Geschichtsbetrachtung aus divinatorischer Schau«, murmelte, über die Blätter gebückt, der junge Offizier. »Ah, hier ein Motto . . . wahrscheinlich aus einem Brief an den Empfänger der Blätter. Wie heißt er? Da, auf dem Deckblatt: Graf Raczinski. [Eine andere Hand hatte hinzugefügt: ›Gesandter des preußischen Königs am Hofe von Madrid‹] ›Die Schrift mit Blut ist auf dem Marsch.‹ Unterstrichen. Datiert: 10. Juni 1851. Dahinter: siehe, siebenter Brief. Er blätterte. Eins, zwei . . . fünf . . . sechs . . . sieben. Am Rand ein großes Ausrufezeichen. ›Allerdings‹, heißt es hier in dem siebenten Brief, ›das muß ich Ihnen gestehen, ist mein Buch zur unrechten Zeit erschienen. Es ist vor der Sintflut erschienen und hätte nach ihr erscheinen müssen. In dieser Sintflut werden alle ertrinken, außer mir. Das heißt: alle Lehrsysteme, außer dem meinigen. Meine große Zeit ist noch nicht gekommen – aber sie wird es, ich schwöre Ihnen.‹ Dann einige Zeilen darunter: ›Die Schrift mit Blut – –‹. Ein angehefteter Zettel fügt diesem Brief ein paar Worte bei: ›Mein Freund, wo sind jene Tage hin, wo wir, den Häuptern zum Kissen ein wildes Lavendelbüschel, im Ohr den Klang der Dudelsackpfeifen und auf der Haut die glühenden Küsse der Sonne Estremaduras, uns bemühten, erhabene Verse zu bilden, und Toren wurden wie Don Quichotte der Vollkommenheit zuliebe?‹ Unterzeichnet: Manuel José Quintana. Diesen Namen kenne ich nicht.« 273 Den Zeigefinger zwischen den Brief und den angehefteten Zettel geschoben, blätterte er bis zum Daumen zurück und las noch einmal die Worte: ›aus divinatorischer Schau‹. »Ich weiß nicht«, sagte der Offizier, »warum dieser Satz mich erregt.« Er blickte fort von dem Manuskript und an dem Kopf der Chimäre vorbei . . . über die Dächer, die Wiesengräben, die weiten Wälder, in deren Wipfeln die Überfülle des Sommers schon langsam wie schmelzendes Blei sich zu kräuseln anfing und ihren Farben den fahlen Metallton des Herbstes untermischte. Entschlossen holte der junge Mann den saugenden Blick aus der Ferne zurück und heftete ihn von neuem auf die Blätter in seinem Schoß. »Meine Art, mir die Dinge klarzumachen«, las er im folgenden Brief, »ist sehr einfach: ich hebe die Augen zu Gott. In ihm schaue ich, was ich vergeblich suche, wenn ich den Ablauf der menschlichen Taten, Handlungen und Gewalten für mich allein betrachte.«

»Allmählich verrotteten die Gebäude und begannen Risse zu zeigen«, fuhr François, der Küster, fort. »Gleich Jerusalem?« warf der Hauptmann dazwischen. Der andere blickte ihn mißtrauisch an. »Daher der Plan einer Neugestaltung durch den Baumeister Jean Aubert, der leider nur teilweise ausgeführt wurde und bloß geahnt werden kann. Aubert, das Ganze erweiternd, vereinfachend, auswählend, führt alle Linien auf ihren Ursprung zurück. Dem antiken französischen Geist der Synthese, der zusammenfaßt, eingliedert, was zerstreut ist, und die Lösung jedes Problems mit angeborener Leichtigkeit findet, glückt eine Form, die gleichzeitig klar, edel und vollkommen ist.«

»An seinen Freund, den Schriftleiter und Verleger des ›Univers‹ in Paris, Louis Veuillot, am sechsten April 1850: ›Ich danke Ihnen, daß Sie mich gegen die Plattheit von Leuten verteidigt haben, die immer noch an das Heil Europas glauben, als handele es sich um eine Sache, die von selber geht und an der man nicht zweifeln darf. Blicken Sie um sich – –‹. Wieder ein Pfeil, am Rande: Matth. 23, 37-38. Zum Teufel, Einschübe und Zitate!« sagte der Freiherr verzweifelt. »Ein Zettelkasten – Pagina 100 bezieht sich wieder vor und zurück auf Pagina soundsoviel. Folgt eine Entschuldigung, daß der Schreiber, dieser Donoso Cortés, einer Aufforderung seines Freundes, ihm einen 274 Essay zu liefern, nicht nachgekommen ist. ›Es fehlt mir an Zeit. Wenn man schreiben will, muß man Abschied nehmen von dieser Welt. Ich kann es leider noch nicht trotz meines guten Willens.‹ Wieder hat dieser verflixte Raczinski einen Zettel dazugeklebt. ›Tagesplan eines Diplomaten: Empfänge, Vorträge, Gala-Essen.‹ – Armer Donoso Cortés! Wer deinen Lebenslauf schreiben wollte, müßte den Blick von Orden und Titeln, von dem Großoffizier der Ehrenlegion, dem Großkreuz des spanischen Ordens der Katholischen Isabella und dem Titel eines Marquis von Valdegamas, Viceconde von Valle, von dem Staatsrat und Kammerherrn wenden und ihn auf das Bild des Gekreuzigten richten, dem du demütig nachgefolgt bist. Du, der du nach deinen eigenen Worten in den Eingeweiden unsrer Gesellschaft nach dem Lebenskeim suchen wolltest, der fähig ist, sie zu erhalten, und nach dem Krebs, der sich anschickt, sie wuchernd zu verzehren – du Liebhaber zarter und schöner Dinge, du Freund der Dichtkunst und Freund des Dichters Don Manuel José Quintana: dröhnte dir lebenslang in den Ohren das Rasen der Julirevolution im Jahre 34 und schwächte für immer das feine Gefüge deines allzu verwundbaren Leibes das Wüten der Juntas in deiner Heimat, jener Mörder, die keine Rednergabe, nicht Humanität, noch Vernunft bekämpfen, sondern denen nur Macht gegen Macht das Handgelenk brechen konnte? Zurück zu dem Brief: ›Doch es tut nichts. Mein Werk wird zustandekommen – ob früher oder später, denn Sie haben es so gewollt. Nur, ach, ich bin völlig durchdrungen von seiner Unwirksamkeit. Denn die menschliche Ratio ist außerstande, auch nur einen einzigen Menschen in Fragen des Heils zu belehren. Die Beredsamkeit eines Demosthenes und der Zungenschlag eines Cicero haben noch keine Seele gerettet.‹«

Der Küster wiegte sich auf dem Schwung der vorgetragenen Worte: »Antiker, französischer Geist der Synthese . . . Leichtigkeit . . . edel . . . vollkommen . . . klar . . .« und fuhr mit leisem Bedauern fort: »Dann kommt die Große Revolution. Die Abtei wird dem Bürger Romtain überliefert, welcher, um seine Schulden zu decken, alles von Wert verschleudert: Bleifassungen, Marmor, Chorgitter, Schmuck und heilige Gefäße. Zuletzt zerstückelte er die Kirche und verkaufte sie als Baumaterial für 275 ganze zwölf Sous den Karren. So zogen auf den Wagen der Bauern sechs Jahrhunderte Religionsgeschichte unwiederbringlich dahin.«

»›Nur der Heilige Geist‹«, las der Freiherr weiter, »›könnte das Wunder wirken. Doch er wohnt nicht in solch einem elenden Menschen, wie ich es bin, lieber Freund. Er bittet um Ihr Gebet –‹, und darunter wieder die fremde Handschrift, die schon den Namen Raczinskis auf dem Deckblatt erläutert hatte: ›Donoso Cortés, Bekämpfer der Juntas, Staatsrat und Kammerherr und Gesandter der Königinmutter Maria Christiana aus dem spanischen Haus der Bourbonen; nach Paris emigriert und zurückgekehrt nach der glorreichen Restauration der spanischen Monarchie, Erzieher der jungen Thronfolgerin und Gewissen des Königshauses, das er mit folgendem Brief ermahnt. Seltsam: er ist zusammengeklebt mit einem schmalen Streifen, der randumlaufende Worte in roten Buchstaben zeigt. Diese Worte heißen: Nicht Cicero, nicht Demosthenes, nicht der Geist der Antike. Was wird uns retten? Ein Wunder!‹ Und über das erste Blatt dieser Denkschrift ist kreuz und quer das Wort »Rettung« geschrieben. Rettung. Rettung. Rettung. Gut, öffnen wir diesen seltsamen Sesam mit dem Siegelwort ›Rettung‹ auf unseren Lippen – nein, nicht auf den unseren, wahrlich nicht, sondern auf denen der andern, welche mit einem ›sauve qui peut‹ ihren Posten verlassen haben.« Er lächelte hochmütig und verwegen und überflog mit gelangweilter Miene das erste und zweite der Blätter, worauf der Schreiber die Krone Spaniens um ein riesiges Beispiel bat. Wie ersichtlich war, ging es Donoso darum, das Füllhorn der Almosen, das gerade wieder einmal geleert werden sollte – geleert mit der heidnischen Grausamkeit einer ebenso dummen, wie schamlosen Göttin, die sich darin gefällt, zu verschwenden, weil die erhobenen Arme den Reiz ihrer üppigen Brüste vermehren – daß dieses Füllhorn also gelenkt und geleitet und seine Gabe dem inneren Sinn der Barmherzigkeit zugeführt würde. »›Die spanische Nation ist verloren‹«, las der Freiherr einige Seiten weiter, »›wenn nicht eine gewaltige Anstrengung den unheilvollen Strom aufhält, der die wohlhabenden Klassen der Gesellschaft in den Abgrund reißt. Majestät, das sind keine Redensarten. Nur durch 276 das Beispiel des großen Verzichtes ist es denkbar, daß wenigstens dieser Thron dem Toben des Sturmes widersteht. Denn die Armen sind Gottes Freunde, und Gott wird den Thron nicht stürzen lassen, auf dem eine Mutter und Freundin der Allerärmsten sitzt . . . Heute beginnt eine neue Epoche für alle Monarchien. Doch wehe dem Fürsten, welcher noch immer die Zeichen der Zeit nicht versteht. Denn es handelt sich eben einzig darum, den schlecht verteilten Reichtum der Erde richtig zu verteilen. Wenn die Könige dieses Problem nicht lösen, wird der Diktator es tun, indem er die Völker ausplündert, zwingt und andere verarmt. Darum gibt es nur eine friedliche Lösung: den durch gigantischen Egoismus zustandegekommenen Reichtum durch das Almosen zu verteilen.‹ Hier fügt, wie ich sehe, der Graf Raczinski dem Ausdruck ›Almosen‹, stark unterstrichen, ein Fragezeichen bei. ›Almosen‹, schreibt er am Rande, ›setzen ein christliches Weltbild voraus, das es heute schon nicht mehr gibt. Vernunft und Gerechtigkeit lösen die christliche Gnade ab. – Doch ich gebe mich nicht‹, schreibt Donoso weiter, ›gefährlichen Täuschungen hin. Das Amt eines Königs wird mühevoller und schwerer von Tag zu Tag; ja, heute, das kann man wohl sagen, ist das Regieren ein einziger Akt heroischer Selbstverleugnung. Es genügt nicht mehr, daß der König stark, ja nicht einmal mehr, daß er stark und gerecht sei – er muß auch die Liebe haben. Denn die Liebe, erhabene Majestät, ist die Tugend der Heiligen.‹ Dann in riesigen, fordernden Buchstaben: »Heute« – dieses Heute hebt sich wie eine Arche aus dem Strudel der folgenden Sätze – ›können nur noch Heilige die Nationen vor ihrem Untergang retten . . .‹«

»Und weiter? Und dann?« fragte Falkenberg. »Im neunzehnten Jahrhundert?«

»Dann wurde der Park wieder neu bepflanzt. Die verschnittenen Bäume wuchsen nach ihrer natürlichen Form, wie Jean Jacques Rousseau es gewollt und der Absolutismus verhindert hatte: das Abtsgebäude wurde zum Schloß und das Chorgebet zu den Liebesliedern des Gérard de Nerval. Literaten, Maler, Musiker, Dichter gaben sich in dem benachbarten Gasthaus von Mortefontaine ein Stelldichein und bezahlten mit einer Komposition, einem Liedchen, einem Sonett.« Der Hauptmann wandte 277 erstaunt den Kopf und blickte den Küster an, dessen scharf gezeichnetes, dürres Profil einer frommen Harpye glich: die Mundwinkel schneidend heruntergezogen, schien er die kluge Salbaderei, die er herzusagen gezwungen wurde, innerlich zu verspotten und anderer Meinung zu sein. »Wer sind Sie?« fragte der Hauptmann plötzlich und fügte entschuldigend bei: »Sie gleichen mehr einem Historiker, als einem Ministranten.« Der Alte preßte die Lippen zusammen und zwinkerte gegen das Licht. »Ich mache mir manchmal meine Gedanken«, sagte er unfreundlich. »Früher –«, setzte er zögernd hinzu, »war ich Kastellan in verschiedenen Schlössern, zuletzt in dem des Grafen Vallière auf dem Schloßgut von Mortefontaine.« »Mortefontaine – ein seltsamer Name?« fragte ihn Falkenberg. »Diese Gegend ist reich an Seen, Quellen und Wasserlöchern«, erwiderte der Küster, »die von den Abwässern zahlreicher Flüßchen und Flüsse gebildet werden. Die Thève, die Annette, die Nonette und die Oise bewässern die Wälder von Chantilly, von Comelles und den Forst von Halatte. Dabei geschieht es oft, daß ein Teich zu gewissen Jahreszeiten hervortritt und nachher wieder verschwindet. Von anderen bleibt nur noch Quellbett und Name: Mortefontaine zum Beispiel, von welchem einige Leute behaupten, daß er früher ›Bellefontaine‹ hieß. Der Herr sollte Mortefontaine kennenlernen«, fügte er, plötzlich geschwätzig und zutraulich werdend, hinzu. »Seinen Park, seine Hügelchen, seine Ruinen, und wenige Kilometer südlich die Weiler Loisy und Montaby, die den Rahmen abgaben für das Idyll von Sylvia und Nerval. Dies alles hier«, er zog mit der Hand einen weiten Bogen rings durch die Luft, »ist ein einziger großer Garten, in welchem Grafen und Könige ihre Spiele getrieben haben.«

»Die Freiheit ist tot!« Wie ein Manifest an zerschossenen Mauerwänden stand dieser schreckliche, einsame Satz, aus dessen Wörtern die Tinte nach unten geflossen war, über dem nächsten Blatt; dann folgte erst, während der nächste Bogen, den man gänzlich unbeschrieben gelassen und nur mit dem Datum versehen hatte, diese Aufschrift von ihrem Inhalt trennte, ein Auszug aus der berühmten Rede über »Die Diktatur«.

»Ein Garten, sage ich – dieses Land der Herzöge von Valois«, 278 fuhr der Küster fast schwärmend fort. Seine Nasenflügel bebten jetzt leise; vor seinen weitsichtig alten Augen, welche die Ferne von Ort und Zeit in den winzigen Raum der Pupille zu saugen und, fächerförmig entfaltet, hinauszuwerfen schienen, erbaute sich wieder das alte Waldschloß, welches Heinrich IV. bis auf den Turm niedergerissen hatte, erbauten die Schlösser von Pontpoint sich und Pontarmé in der Runde, die kaum eine Stunde Fußweg entfernt und von dem Wachturm des ersteren aus, wenn der Wald sich im Herbst gelichtet hatte, leicht wahrzunehmen waren; das Schloß von Raray und im Forst von Comelles das Schlößchen der Königin Blanche. »Schlösser, Schlösser – – und alte Kirchen, Kapellen und Prioreien«, sagte der Küster versunken und legte die Hand, die bisher den Namen, die er aussprach, ihren Standort verliehen und sie wie Fixsterne auf dem Bogen des Himmelsgewölbes befestigt hatte, auf die eingesunkene Brust. »Aber manchmal, müssen Sie wissen, mein Herr, ist ein Dorf auch weitergewandert, und die Kirche steht ganz allein und verlassen inmitten der Ackerfluren. So ist das zum Beispiel in Montaguy oder in Eve, wo der Glockenturm wie ein Zeigefinger, der nichts mehr zu deuten oder zu drohen hat, aus der grünen Ebene ragt. Aus der weiten, grünen Ebene, Herr, wo der Bauer gedankenlos seine Pflugschar an dem Rand der Lupinenfelder entlangführt und die Grillen im Raygras zirpen . . . Hier die Kirche, so alt wie der Acker selbst – dort drüben die Menschen, welche nach Laune die Flursteine vor- und zurückversetzen und sich immer weiter von ihr entfernen, bis sie es endlich vergessen haben, daß ihr Dorf auf die Gründung der Kirche zurückgeht und nicht etwa umgekehrt; darauf, daß hier oder in Courteuil« – er deutete wieder näher, »in Fleurines, in Rhuis oder Champlieu ein frommer Abt die Gebeine eines Verstorbenen in den Altarstein versenkt hat und über ihnen ein Kloster erbaute, St. Christoph zum Beispiel, zu dem der päpstliche Kämmerer Frankreichs, Waleran, den Grund gelegt hat.« »Sie sprechen, als hätten Sie ihn gekannt«, sagte der Hauptmann lächelnd. »Ich kenne jeden Stein in der Runde«, erwiderte François ruhig. »Auch den Taufstein aus dem 12. Jahrhundert, der die Form« – hier sank die Stimme des Alten zu einem Flüstern herunter – »eines Ziboriums hat.«

»Eines 279 Ziboriums – wieso?« fragte der Hauptmann zerstreut. »Weil das Ziborium in Brotsgestalt Christus – und der Taufstein den anderen Christus enthält, den die gleiche Verwandlung gebiert«, sagte der alte Mann. »Ich verstehe Sie nicht.« Der Hauptmann zuckte bedauernd mit den Schultern und blickte den Küster an. »Wo ist dieser Stein?« »In Raray – eine gute Stunde von hier. Raray liegt im Wald, in Raray steht die Kirche, in der Kirche der Taufstein, und aus dem Taufstein ist vor uralten Zeiten die Isle de France . . . nein, nicht nur die Isle de France entsprungen, sondern ganz Frankreich, das mit dem Siegel, mit dem unauslöschlichen Siegel, mein Herr, aus Gnade bezeichnet wurde.« Der Küster deckte die Hand über die funkelnden Augen und blinzelte gegen das Licht; unter ihm schienen sich die Chimären wie Schatten über das Land zu dehnen, es zu verfinstern und weiterzukriechen – über Wälder und Fluren, Dörfer und Städte – – und weiter, als man annehmen sollte, mit ihrer Zunge hinauszufahren wie Cholera und Pest . . .

»Die Freiheit ist tot –.« In den Händen des Lesers bewegte sich wie der sterbende Flügel eines Schmetterlings, welcher zur Erde taumelt, das weiße Blatt, das die Rede über die Diktatur von dieser Fanfare trennte, und legte sich endlich um. ›Auszug aus einer Rede, gehalten am 4. Januar 1849 – ein Jahr nach der Februarrevolution, der Flucht Papst Pius' IX. und der lächerlichen Begründung der mazzinischen Republik.‹ »Warum war sie lächerlich? Meinetwegen. Ich kenne weder Mazzini noch seine Republik«, sagte der junge Mann. »Nur Pius IX. ist mir ein vager, fast bilderbuchhafter Begriff von meiner ›Großmutter Fürstin‹ her, wie Mademoiselle sie zu nennen pflegte, wenn wir Kinder nach ihrer Meinung vulgär oder allzu herablassend waren. Meine Großmutter schwärmte für ihn – und gleichzeitig, wenn ich mich richtig besinne, für den ertrunkenen Bayernkönig mit den kornblumenblauen Augen und dem weichen, lockigen Haar. ›Um beide war solch ein Glanz, mein Kind‹, sagte sie oft mit entrücktem Gesicht, ›und sie waren beide sehr schön. Noch im hohen Alter war Pius schön, von einem unverlierbaren Charme, der alle bezaubert hat. Sein Geist, seine Haltung, die freie Anmut seiner Bewegungen – –.‹ Schön. Ja, sie war in die Schönheit verliebt, meine Großmutter, so wie auch 280 ich es bin«, dachte der Offizier. »Daß Pius daneben noch der Verkünder des Unfehlbarkeitsdogmas gewesen ist und im Kampf mit dem König von Preußen lag, kam weniger in Frage.« Er lachte leise und blätterte weiter, noch immer den Zeigefinger der Linken an der Rede über die Diktatur, stutzte, heftete seinen Blick in leichter Benommenheit auf ein Briefblatt vom 12. Juni des gleichen Jahres, aus welchem, scharf unterstrichen, das Wort »Preußen« hervorsprang, und las: »Friedlich herrscht Preußen im weiten Raum des protestantischen Nordens. Ohne Wahnsinn kann es nicht mehr verlangen, doch auch nicht weniger. Weniger nicht bis zu jenem Tag, wo der Protestantismus in Trümmer geht und für immer am Boden liegt. Wenn das eintritt, eilt Preußen sehr rasch seinem Verfall entgegen. Denn Preußen lebt nur im Protestantismus, für ihn und durch ihn allein. Darin beruht das Geheimnis seines Ruhmes – doch ist der Protestantismus auch das Mysterium von Preußens Tod.« Der Freiherr schleuderte heftig das Bündel Blätter zu Boden und nahm dann, verwundert und fast belustigt über den jähen Impuls, den diese sibyllinischen Briefe ihm einzuflößen vermochten, von neuem seine Lektüre auf, wo er stehen geblieben war. Eine Fußnote führte ihn weiter zu einem der letzten Briefe des Jahres 52, kurze Zeit vor Donosos Tod. Wieder war das Wort »Preußen« umrandet und unterstrichen. »Denn Sie wissen, ich bin kein Freund dieses Landes und seiner Politik; weder seiner Vergrößerung, noch seiner Existenz. Von seiner Geburt an, das ist mein Glaube, ist es dem Satan geweiht gewesen und wird ihm durch dieses Geheimnis für immer verbunden bleiben.« Dieser Briefstelle hatte Raczinski ein paar Worte hinzugefügt, die zum Teil verkohlt und am Rande gerissen, dazu von Anfang an erst konzipiert, doch nicht genauer ausgeführt waren, als habe sich der Empfänger gescheut, seine Gedanken in jenes Licht der Bewußtseinshelle voranzutreiben, das sie unwiderruflich macht. »Das Geheimnis Preußens – nichts anderes als ein Geheimnis des Satans?« las der Freiherr mit fliegenden Pulsen. »Preußens Größe – der Preis für den Abfall von Gott – das Profil des schrecklichen Fridericus von der Fratze Voltaires überschattet . . . Chimäre der Vernunft. Die Freiheitskriege: Freiheit wofür? Ist Freiheit an sich, ist Größe an sich ein wünschenswertes Gut? 281 Gedankenfreiheit des Protestantismus: Freiheit des Pöbels, das Falsche zu denken . . . Die Diktatur der Massengehirne . . . Zuletzt die Erhebung der rohen Masse über Staat und Autorität. Dann frißt die Freiheit wie eine Schlange am Ende sich selber auf . . .« Ein Kreuz. Dahinter die Worte: ›Die Freiheit ist tot.‹ Datiert: ›Heute. Nur wissen die Hinterbliebenen den Beisetzungstag noch nicht.‹ »Zurück zu dem Januar 49 und der Rede Donoso Cortés' über die Diktatur . . . Noch einmal: ›Die Freiheit ist tot. Sie wird so bald nicht mehr auferstehen, weder am dritten Tage, noch drei Jahrhunderte später. Die Welt eilt mit Siebenmeilenstiefeln der Despotie entgegen, einem Regime, wie gewaltiger und zerstörender es die Menschen noch niemals gesehen haben . . . Sie eilt in die Katastrophe. Was vermag die Katastrophe zu wenden? Ein einziges Mittel. [Doch wird man sie sicherlich nicht vermeiden, wenn man mehr Freiheiten, Rechte und neue Verfassungen gibt.] Welches Mittel also? Ich spreche es aus, obwohl ich nicht mehr an Rettung glaube – es sei denn durch einen besonderen Eingriff der göttlichen Majestät. Dieses Mittel heißt: die Bekehrung der Völker. Doch ich halte sie nicht für wahrscheinlich. Wohl kann ein einzelner Mensch sich bekehren, doch niemals in der Geschichte der Menschheit hat ein Volk als Ganzes den Weg zu Gott wieder zurückgefunden, den es einmal verloren hatte.‹ Ein Fragezeichen am Rande, daneben die Worte: ›Und Israel? Bestand nicht seine Geschichte darin, stets aufs neue zurückzukehren? Die Rückkehr als heilsgeschichtlicher Vorgang. Hat jedes Volk seine Heilsgeschichte, insbesondere aber das deutsche?‹« »Sehr seltsam«, sagte der Offizier. »Mir scheinen die Glocken des alten Heiligen Römischen Reiches aus der Tiefe heraufzuläuten . . .«

»Sie nannten Raray, Fleurines und Ruis, Chaalis oder Champlieu«, sagte der Hauptmann, welcher sich jetzt auf der Balustrade niedergelassen, ein Bein emporgezogen, den Arm mit dem Ellbogen aufgestützt und das Kinn mit der Faust umklammert hatte. »Sie nannten die Isle de France insgesamt, ganz Frankreich – – und müßten doch wohl, wie mir scheint, das ganze Abendland nennen, Köln und Aachen, Trier, Speyer, Worms, Frankfurt und Mainz . . .« Er errötete plötzlich bei dem Gedanken, eine Einheit beschworen und ihre Bezeichnung 282 aufgerufen zu haben, die jetzt besser ungenannt blieb. »Fahren Sie fort«, sagte Falkenberg rasch und sprang jäh von der Balustrade herunter, spreizte die Beine und brachte das Fernglas mit einem Ruck vor die Augen. »Wo fließt die Thève? Und wo mündet sie?« fragte er trocken und barsch.

»Übrigens«, las der Freiherr von E. einige Seiten weiter, »geht es nicht um die Frage der Wahl zwischen Freiheit und Diktatur. Sollte es sich nur darum handeln, so würde ich sicherlich ganz wie Sie selbst auf die Seite der Freiheit gehören. Doch es handelt sich um die schwierige Wahl zwischen der Diktatur der Empörung und der Diktatur der Autorität – um nichts weniger und nichts mehr. Es handelt sich weiterhin um die Wahl zwischen der Diktatur aus der Höhe und jener aus der Tiefe, um Säbel oder Dolch. Nur deshalb, glauben Sie mir, habe ich zwischen Säbel und Dolch den ersteren gewählt, denn er scheint mir charaktervoller.« »Eine Blendlaterne für dieses Dickicht divinatorischer Schau«, seufzte der Offizier, als er neuen Fußnoten nachzugehen und gleichzeitig wegeweisenden Pfeilen nach dem Ausgang zu folgen bemüht war. »Briefe . . . Briefe . . . aus aller Welt als Echo auf diese Rede. Selbst Metternich und Montalembert, Ranke und Schelling – nein, dies war nachher und bezieht sich auf eine spätere Rede, die, wie ich sehe, das Thema der ersten weiterzuführen scheint. ›Aber ich halte es für erwiesen‹, schreibt er an Montalembert, ›daß in der Zeitlichkeit stets das Böse über das Gute den Sieg davonträgt und der Endsieg über das Böse Gott sozusagen persönlich durch einen Eingriff von oben muß vorbehalten bleiben. Daher gibt es keinen geschichtlichen Zeitraum, der nicht mit der Katastrophe, und zwar zwangsläufig, enden wird.‹ Dieser Satz: ›Der nicht mit der Katastrophe, und zwar zwangsläufig, enden wird‹, ist doppelt unterstrichen. ›Was bedeutet für uns diese Katastrophe? Ein Doppeltes, sagte ich Ihnen: den natürlichen Triumph des Bösen über das Gute und den übernatürlichen Triumph Gottes über das Böse durch einen in nichts begründeten Eingriff und freien Liebesakt Gottes gegenüber der Kreatur. Das ist meine ganze Philosophie; besser gesagt: meine ganze Geschichtsphilosophie.‹ ›Hier höre ich 'Manichäismus' rufen‹, schreibt Graf Raczinski daneben. ›Siehe den Brief an die Redakteure von El Pais und 283 Heraldo – im Anhang Pagina neun.‹ ›Ich begründe nicht, ich verteidige nichts, ich nehme nichts zurück‹, entgegnet Donoso Cortés. ›Die europäische Ordnung stirbt und mit ihr die Gesellschaft, die auf ihr gegründet ist. Ihr Fundament ist der Irrtum gewesen, und weil der Irrtum die Kraft zu töten wie die Wahrheit die Kraft zu beleben hat, wird sie rettungslos untergehen. Wenn die Menschen diese Wahrheit besäßen, was sage ich: nur eine einzige Wahrheit, könnten alle gerettet werden. Doch ihr Sturz ist so schwer, ihre Blindheit so tief, daß sie die Wahrheit nicht einmal ahnen, geschweige besitzen können. Daher wird die nächste der Katastrophen, die kommen muß und bald kommen wird, die Katastrophe schlechthin sein. Zwar können einzelne Menschen sich retten, nicht aber die Gesellschaft als Ganzes – denn‹, hier ist der Tintenkiel ausgelaufen und hat mit zornigen Sprenkeln und Kratzern das ganze Blatt gefleckt, ›sie will nicht gerettet werden.‹ Dahinter: ›Kyrie eleison‹. Auf der Rückseite dieses Briefblatts wieder Raczinskis altmodisch große und vor Leidenschaft bebenden Züge: ›In die Tiefe der Mystik bist Du, mein Freund, nach dem Tode Don Pedros hinabgestiegen, um ihn zu finden, den Du von da ab nur noch 'Gott meines Bruders' nanntest. Bei den heiligen Siegelbewahrern Spaniens: der großen Theresia, Johannes vom Kreuz und Ludwig von Granada suchtest Du Trost in der grenzenlosen Nacht deiner Seele, die Dich, den fühlendsten aller Menschen, mit finsterer Kälte umgab. Du weintest um ihn, den geliebten Schatten, der für immer in dem Geheimnis des Abschieds das Geheimnis des Lebens mit sich hinwegnahm und Dir, nach Deinen eigenen Worten, nichts hinterließ als die Wahrheit, den Glauben und seinen Seelenführer. Mit unzähligen Tränen beweintest Du ihn wie der Freund seinen Freund, der Gatte die Gattin, die Mutter das Kind beweint. Aber mehr noch: in ihm beweintest Du alles, was Dich vom Ursprung der Liebe trennte, von jenem Abgrund, der keinen Namen und keine Gestalt außer dieser hatte, die Du umschriebst mit den stammelnden Worten: 'Gott meines Bruders'; den Du Dir schwurst, von nun an zu lieben und anzubeten, um liebend in ihm den Sinn Deines Lebens und den Sinn der ganzen Menschheitsgeschichte wie unter dem Blitz, der vom Aufgang zum Niedergang zuckt, 284 zu erfahren. Dieser Sinn war sehr einfach und schrecklich zugleich: wie die Liebe immer die Liebe ruft und von ihr Antwort empfängt, so ruft die Hölle stets neue Höllen und die Antwort der Hölle hervor. Für uns alle, Donoso Cortés, blicktest Du reiner, zärtlicher Freund der Hölle in das Gesicht. Wann, das ist Dein und ist ihr Geheimnis; denn auch die Hölle teilt sich dem Menschen, wie die Gnade, aus Freiheit mit. Sie sprach mit Dir. Eindringlich, glühend und sanft sprach sie mit Dir, wie eine Geliebte, die ihr Haupt auf das Kissen des Mannes gelegt hat, ihm schmeichelt und ihn ihren Wünschen und Bitten gefügig zu machen sucht. 'Laß', flüsterte sie, 'mich verborgen bleiben und sprich meinen Namen nicht aus. Geh, wenn du willst – ich halte dich nicht. Aber hüte dich, mein Mysterium der Menschheit zu verraten. Sie wird es nicht wissen wollen. Überdies wird nur Spott und Verfolgung dein Lohn sein; selbst die Vernunft steht gegen dich auf im Namen der Religion. Ich kenne da einen gewissen Gaduel bei dem Bischof von Orléans . . .' Der Freiherr blätterte hastig weiter. 'Kontroverse Donoso Cortés' mit dem Bischof von Orléans, Dupanloup, dem Hirten, der unter dem Pelz seines Namens den Namen des Wolfes verbirgt, und Herrn Gaduel, Generalvikar des Bistums Orléans.‹«

». . . Nein, sagte ich nicht schon«, fuhr François fort, »daß die Fischteiche von Comelles durch das Wasser der abgeleiteten Thève gebildet und von ihr aufgefüllt werden? Man kommt von Senlis auf dem Waldkreuzweg, welcher La Table heißt. An dem Forsthaus, dem letzten Teich gegenüber, ist die ›Laterne der Toten‹, ein gotischer Kamin.« Auf den fragenden Blick des Hauptmanns hin: »Was dieser Name bedeutet, kann ich Ihnen nicht sagen«, fügte er zögernd hinzu. »Vielleicht, nach uraltem keltischen Glauben, war es ein Treffpunkt der Seelen, die nicht zur Ruhe kamen. Denn hier« – ein Lächeln geisterte jäh um seinen verschwiegenen Mund – »gibt es vieles, was tot ist und doch am Leben, und am Leben, aber schon tot.« Das mißtrauisch angespannte Gesicht seines Begleiters bemerkend, fuhr er in leichterem Tonfall fort: »Zu meiner Zeit hat sich manches Pärchen an der Laterne der Toten ein Stelldichein gegeben, besonders nach den feudalen Rennen in Chantilly, mein Herr. Die Equipagen hielten am Waldrand, dann stiegen in eleganten 285 Kostümen die schönen Frauen aus; das Straußfederhütchen hoch auf getürmten, mit Schildpattkämmen besteckten Locken, die Schleier überm Gesicht. Die Röcke mit der Linken gerafft, in der Rechten den Sonnenschirm, eilten sie heimlich auf zierlichen Stiefelchen, während das Rauschen ihrer Dessous sie begleitete, der Laterne der Toten zu. Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die Bäume, unter welchen ihr Freund sie erwartete, und malte zitternde Kringel und Tupfen auf ihr hübsches, erhitztes Gesicht. Die Teiche waren mit Kalmus und Wasserrosen bedeckt, in dem hohen Schilf bewegte sich leise ein angekettetes Boot. Aber auch manchen Zweikampf hat die Laterne der Toten gesehen, und aus den Fischteichen zog man alljährlich eine ertrunkene Frau. Wenn ich erzählen wollte, Monsieur, gliche das ganze Städtchen da unten der Rückseite eines Puppentheaters, wo an zahllosen Fäden die Marionetten bewegt und geleitet werden, ohne daß sie es wissen.« »Und wer hält die Fäden, welche Sie sehen, in seinen Händen zusammen?« fragte der Hauptmann, geistesabwesend an seinem Feldstecher drehend. »Ist es Gott oder Satan, ein Künstler, ein Pfuscher, der Zufall, die Moira oder der Zwang, in dem sie begonnen wurden? Ist das Welttheater schon vorgezeichnet – oder ändern wir seinen Ablauf durch Liebe oder Haß?« Der Alte wiegte den Kopf hin und her. »Das Welttheater ändern wir nicht – und es geht uns auch gar nichts an«, sagte er überraschend. »Es spielt allein zwischen Gott und dem Satan, wir selber wählen nur unseren Standort, von dem aus wir mitspielen wollen. Insofern natürlich« – er lächelte schlau – »brauchen beide uns für das Drama, mit dem sie zum Ziel gelangen: der Herrgott unsere Liebe, der Satan unseren Haß.« Der Hauptmann ließ den Feldstecher sinken und blickte den Küster an. Eine ungeheure dumpfe Erregung schien diesen nüchternen Mann zu schütteln, als er François nun fragte: »Und wie« – seine Stimme verfärbte sich und schlug über – »stellen Sie sich den Ausgang des Dramas zwischen Gott und Luzifer vor? Wie . . . so aus der Höhe gesehen . . . steht augenblicklich die Schlacht?« Ohne einen Moment zu zögern, gab der eben noch furchtsame alte Mensch mit stolzer Ruhe zurück: »Wie sie stehen wird bis zum Jüngsten Tag. Schlecht für Gott und gut für den Satan. Ja, wenn nichts weiter 286 als die Erfahrung und die Vernunft voraussagen wollten . . .«, er zuckte mit den mageren Schultern und blickte in die Tiefe. »Nun?« fragte der Hauptmann in brüchigem Ton. »Dann wäre Gottes Anspruch verloren, denn der Satan ist Herr dieser Welt.« »Gott hält es also mit den Besiegten?« fragte der Hauptmann schroff. Der andere blickte still vor sich hin. »Was wir Sieger oder Besiegte nennen, hat damit nichts zu tun«, sagte er unbewegt. »Aber die Glücklichen dieser Erde stehen weiter vom Brennpunkt weg. Die Reichen, die Üppigen und die Sieger, den Lorbeerkranz auf dem Haar.« »Von welchem Brennpunkt?« Der Alte schwieg und schien einem Trommelwirbel zu lauschen, der hart und drohend von unten heraufklang und die Lüfte erbeben ließ. »Von dem Brennpunkt . . . der Liebe«, sagte er endlich und verschränkte die pergamentenen Hände gelassen über der Brust.

»Kontroverse Donoso Cortés' mit dem Wolf im Schafspelz . . .« Der Freiherr eilte darüber hinweg, ohne sich aufzuhalten. Ein Anhang folgte, der den Entwurf zu Donosos Geschichtsphilosophie in kurzen Stichworten und Sentenzen, Erläuterungen und Aperçus in wahlloser Folge enthielt. »Jede große politische Frage umschließt eine große Theologie.« Dieser Satz sprang mit der Zielsicherheit und der ungebrochenen Kraft eines Tigers den Leser schonungslos an. »Die Theologie ist der Zauberschlüssel zu der Geschichte der Völker. Religion als die Grundlage jeder Gesellschaft.« [Zitate aus Xenophon und Rousseau, aus Platon und Plutarch . . .] Er blätterte weiter. »Wer die Geschichte der Völker schreibt, schreibt die Geschichte der Götter und ihre Theogonie. Die Geschichte Indiens . . . Geschichte der Griechen . . . zuletzt die Geschichte Roms. Mit Rom« – so erläutert ein neuer Kernsatz – »erscheint die Fülle der Zeit. Seine Aufgabe: alle Mythologien in seinem Schoß zu vereinen, alle Völker zu unterwerfen, alle Spannungen auszugleichen.« Am Rande: »Bereitet den Weg des Herrn! Jedes Tal soll ausgefüllt, jeder Hügel soll abgetragen werden. Was krumm ist, werde gerade, was uneben ist, werde ebener Weg.« Oben weiter: »Und Stille lag über der Erde.« Dazu Raczinski: »In dieser Schau wiederholt sich die Genesis. Gottes Geist, der über den Wassern schwebt, bringt die neue Schöpfung hervor. Rom stürzt. In 287 seinem unendlichen Fall wird das Antlitz der Erde erneuert. Zwölf Männer verändern die Erdoberfläche durch ihre Theologie.« »Nun folgt, wie ich sehe, im nächsten Kapitel eine diskursive Erklärung dieser Theologie. ›Ein grandioses System‹, fährt Donoso fort, ›das alles enthält und umfaßt: Gott und den Engel, das Universum und das Ebenbild Gottes – den Menschen; die Endursache des Seienden, den Beginn der Geschichte und ihren Verlauf; die Natur der Körper, das Wesen der Geister, die Menschenwege und ihr verhülltes, aber magnetisches Ziel, Geheimnis der Pilgerschaft, Rätsel der Tränen und endlich das Mysterium des Lebens und des Todes.‹«

Der Freiherr legte das Buch auf die Knie und beide Schläfen in seine Hände, die leise zitterten. »Diese Sätze sind furchtbar«, sagte er laut, während er weiterlas. »Sie sind mystisch und einfach, verwickelt und klar, und gleichen Bruchstücken einer Hymne, die vor Zeiten verloren ging –«

»›Gott – Einheit in Indien. Zweiheit in Persien. In Griechenland Mannigfaltigkeit und Vielheit im alten Rom. Einfach in Deinem Wesen und mehrfach in den Personen; mannigfaltig in mancherlei Attributen und vielfach durch die Scharen der Geister, die Deine Befehlsträger sind. Allursache. Unbegrenzte, unkörperliche Substanz. Urheber jeder Bewegung, aber unendliche Ruhe. Alles enthältst Du, Dich enthält nichts – Du, der da waltet über die Engel, die Menschen und Dämonen. In dem höchsten und stillsten Himmel der Himmel steht ein Gezelt, das den Chören der Engel nicht erforschbar, noch zugänglich ist. In diesem unzugänglichen Zelte vollzieht sich von Ewigkeit her die Bewegung der göttlichen Trinität. Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist – dreifach in den Personen und eins in der Wesenheit. Der Heilige Geist ist Gott wie der Vater. Aber Er ist nicht der Vater, sondern der Heilige Geist. Der Heilige Geist ist Gott wie der Sohn. Aber Er ist nicht der Sohn, sondern der Heilige Geist. Der Sohn ist Gott wie der Heilige Geist, aber Er selber ist Sohn und nicht der Heilige Geist. Er ist Gott wie der Vater, doch ist er nicht Vater. Der Vater ist Gott wie der Sohn, aber Er ist nicht der Sohn. Er ist ebenso Gott wie der Heilige Geist. Doch ist er nicht Heiliger Geist. Es weitet sich also die Einheit und zeugt die Verschiedenheit; 288 es schließt die Verschiedenheit sich zusammen und wird zur Einigkeit. Weil Gott Eines ist, ist er Gott. Weil er Gott ist, ist er vollkommen. Weil vollkommen, fruchtbar. Weil fruchtbar, verschieden. Und weil Er verschieden ist, ist er Familie vor dem Beginn aller Zeit. In seinem Wesen ruhen daher die Urbilder aller Dinge. Nach seinem Bildnis ist alles geschaffen, daher ist die Schöpfung Eines und doch Verschiedenheit: Eva aus Adam. Abel aus Adam und Eva. Adam, Eva und Abel zusammen bilden den ganzen Menschen, die menschliche Natur. Diese Namen sind alle göttlich‹. Und mit Großbuchstaben hervorgehoben: ›Die Vaterschaft kommt von Gott. Zwischen der Liebe Gottes und der Willensfreiheit des Menschen gehen die Fäden der Zeit hin und her und wirken den leuchtenden Umkreis der Schöpfung, den wir Geschichte nennen‹.«

Dazu ein Satz von Raczinski: »Die Lichtlilie ist entfaltet.«

Beim Umdrehen fiel aus dem Manuskript ein Skizzenblatt mit der Bildhieroglyphe einer beseelten Lilie in ätherischen Wasserfarben – »Aus dem Gedächtnis gezeichnet nach Philipp Otto Runge«, stand an dem unteren Rand. Drei Kinderpaare umarmen einander auf dem Blütenboden der Krone und schließen sich zum Kreis. In der Höhe ihr Urbild: drei andere Kinder, deren schwebender Reigen über der Blume von dem Morgenstern Licht empfängt. »Oder quillt das Licht aus dem Schoß der Lilie«, sagte der Freiherr betroffen, »die schon vor dem Morgenstern war?« Der junge Mensch ließ die Blätter fallen und richtete sich empor. Ein seltsames Flimmern durchdrang seinen Körper, als ob er über und über bedeckt mit empfindlicher Netzhaut wäre; dann setzte sich dieses Flimmern in Brausen, und das Brausen in einen Strom von Tönen, ein Meer von Gesängen, Hymnen, Chorälen und ununterschiedenen Melodien ohne Hebung und Senkung fort . . . bis endlich der Anschlag der Aveglocke wie der Donner des jüngsten Gerichts ihn erweckte und über ihn fiel. Der Glockenturm schwankte und schien sich zu biegen, während in schwindelnder Tiefe die Körper der kleinen Ministranten von den Seilen über die Erde gehoben und wieder aufgesetzt wurden, und ein Ächzen und Knarren hinauf und hinunter durch die Scharten und Lucken lief. Es läutete. Dreimal abgebrochen, begann die Glocke den 289 ›Engel des Herrn‹ und dann nach dem dritten Anruf in einem fort hinzuläuten. Die ganze Kathedrale schien jetzt gleichzeitig zu vibrieren; jede Gesteinspore war ein Mund, der den Schall der Töne entließ. Die Materie erlöste sich. Ihre Atome enthüllten das Geheimnis der Drehung, das in ihnen wirksam war. Sie kreiste und schien immer rascher zu kreisen und den Freiherrn in einen Wirbel zu saugen, der ihn über die Balustrade schleudern und ins Grenzenlose hinaustragen würde, wo keine Rettung mehr war. Ein dumpfes Gepolter von oben . . . bröckelnder Grieß, ein paar Steine – – »Festhalten!« schrie ihm der Hauptmann zu, indem er mit zwei, drei Sätzen die letzten Turmstufen nahm.

»Haben Sie sich verletzt?« fragte er kurz danach trocken und faßte seine Hand. Sie blutete. In dem Bestreben, das Bewußtsein nicht zu verlieren, hatte der Freiherr mit aller Gewalt seine Faust an den abgebrochenen Flügel jener Chimäre geschlagen, die immerfort auf der Grenze zwischen Dauer und Absprung war. Inzwischen verebbten langsam die Wellen der letzten Glockenschläge, und aus der Meeresflut trat wieder festes, gleichsam gereinigtes Land. Die Sonnenstrahlen fielen jetzt schräg über die Ebene hin; in den tiefen, purpurblau strömenden Schatten, die sich fächerförmig entfalteten, atmete Friede und Schlaf. »Nun?« fragte der Hauptmann und bückte sich; hob, etwas schwerfällig und behindert durch den ausgestandenen Schrecken, das Manuskript von der Erde und legte es auf den Rand. »Hat sich der Einblick gelohnt?«

»Ja – eine wahre Kosmologie«, sagte der Freiherr matt. »Allerdings bin ich noch nicht am Ende, aber den Aufbau der Pyramide deutet ihr Grundriß schon an.«

»Der Pyramide?«

»Ach, nur ein Gleichnis«, gab der Jüngere ihm zurück. »Besser begreift sich das Ganze von einer gefüllten Rose her – der ›rosa mystica‹«, fuhr er fort, »wie die lauretanische Litanei, wenn mich mein Kindergedächtnis nicht trügt, die geistliche Schöpfung nennt.«

»Also brauchte es eine Einweihung, wie, um alles zu verstehen?« fragte ihn Falkenberg.

»Genau wie bei den antiken Mysterien«, sagte der Offizier. 290 »Und da die Politiker keine Mysten, sondern ihrer Natur nach nur Scharlatane sind, wird Donoso Cortés' Geheimnis wohl für immer unbekannt bleiben.«

»Aber Sie übersetzen es mir?« bat der Hauptmann ihn in herzlichem Ton, indem sie den Turm verließen. »Ich habe noch einen herrlichen Weißwein, den mein Bursche kalt gestellt hat, und glaube, die Karten bleiben für heute zusammengefaltet . . . Hier, François –!« sagte er übermütig und versuchte, einen Zehn-Francs-Schein bei dem Schweigsamen anzubringen.

»Dort drüben, Monsieur, ist der Opferstock«, gab der Küster stoisch zurück. »Sie entschuldigen – aber ich muß noch die Tumba für das morgige Requiem richten.« Er zog sein fadenscheiniges Käppchen und ging in die Sakristei.

Der Freiherr blickte ihm starr auf den Rücken und sah dann den Hauptmann an. »Wissen Sie übrigens«, fragte er leise, »daß sein Stiefsohn unter den Füsilierten von neulich gewesen ist? Es fällt mir ein, daß Monsieur l'Abbé gestern davon erzählte . . .«

 


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