Elisabeth Langgässer
Das unauslöschliche Siegel
Elisabeth Langgässer

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V

»Einen schönen Gruß von Herrn Mösinger, und ob Ihr Mann heute nachmittag zum Feuerwerk-Richten käme«, sagte Eugen, der Stift aus der Drogerie, zu Elisabeth Belfontaine.

»Du hast wohl immer noch nicht gelernt, dich anständig auszudrücken?« Herr Belfontaine, seine Hände trocknend, kam aus dem Hintergrunde des Ladens, wo er gerade beschäftigt war, den Weinessig von den süßsauren Gurken des vorigen Spätsommers abzugießen, die nach geheimem Schlemmerrezept eingelegt worden waren, und betrachtete Mösingers Lehrling mit unzufriedenen Augen. »Ob Ihr Mann . . .! Ich bin nicht ›Ihr Mann‹ für dich. Ob Herr Belfontaine . . . muß das heißen. Verstanden? Und nimm das Zeug aus dem Mund, wenn du eine Bestellung hast.«

Eugen fuhr mit dem Finger unter die linke Backe und holte gehorsam ein speichelndes Stückchen Kandiszucker hervor. »Wo soll ich es denn hinlegen? Hä?« fragte er, dummschlau grinsend.

Herr Belfontaine öffnete ruhig die Tür. »In den Straßendreck«, sagte er schneidend. Der Junge ließ mit bedauerndem Ausdruck 151 seinen Klumpen neben den Rinnstein fallen und merkte sich die Stelle. »Nun komm herein –.«

»Einen schönen Gruß«, begann jetzt der Bursche aufs neue.

»Und ob Herr Belfontaine heute zum Feuerwerk-Richten käme«, half ihm Elisabeth freundlich ein und blickte den Gatten an. »Was meinst du? Ob wohl der Boden bis morgen getrocknet ist? Aber das Wetter? Man sagt: Wie der Freitag, so ist auch gewöhnlich der Sonntag – und Friedelchens Laubfrosch sitzt immer noch unten, man kann klopfen, so viel man will.«

»Nun, das ist allerdings ausschlaggebend«, sagte Herr Belfontaine mühsam beherrscht. »Aber sollten sich bis heute nachmittag Barometer und Laubfrosch geeinigt haben, so will ich gerne kommen.«

»Ach«, fragte Elisabeth harmlos, »das Barometer ist also gestiegen?«

»Es scheint so«, erwiderte Belfontaine trocken und verschwand in dem Hintergrund. Er fuhr noch eine geraume Weile in seiner Beschäftigung fort, legte dann seufzend die Schöpfkelle hin und ging zurück zum Comptoir. Auf dem Hauptbuch saß eine junge Fliege mit versonnener Träumermiene und ließ sich von Herrn Belfontaine greifen, ohne den Flügel zu rühren. »Noch unschuldig oder schon raffiniert?« dachte er, böse belustigt, und trug sie zu dem Laubfroschglas hin, das auf dem Fensterbrett stand. Der Insasse, ein verfetteter Bursche, verharrte ohne Bewegung, obwohl ihm Belfontaine seine Beute genau auf das Schnappmaul setzte. »Ein wissenschaftliches Experiment. Gestatte?« sagte er leise und hob ihn, während die Fliege fortflog, auf die oberste Leitersprosse. »Na, also –«, er nickte dem Laubfrosch zu und deckelte wieder das Glas.

Indem er Rechnungen ausschrieb und Briefumschläge frankierte, blickte er immer wieder im Abstand zu dem Wettermacher hinüber und dachte dabei an Herrn Mösingers Ausspruch, der ebenfalls, doch in tieferem Sinne als Adam Adalbert Gully, ein Fortschrittbesessener war. »Laubfrösche, Mondwechsel und so weiter«, hatte er neulich geäußert, als Herr Belfontaine für das Kasinofest die Feuerwerksätze bestellte, »Hunde, die Gras fressen, Bittprozessionen . . . verzeihen Sie, lieber Herr Belfontaine, ich will Sie natürlich nicht kränken«, [er hatte, ganz 152 nebenbei gesagt, jene gläserne Intoleranz des Geistes, der sich selber so vollkommen durchsichtig ist, daß ihm andere Meinungen als die seinen überhaupt nicht vorstellbar sind] – – »all diese Vorgänge bar der Vernunft, von denen man glaubt, daß sie fähig wären, das Wetter vorauszusagen, zu beeinflussen oder zu ändern, sind das, was uns heute im Sprachgebrauch ein Ausdruck wie der von der Art: ›ach, du lieber Himmel‹, bedeutet. Man würde sich schämen, daran zu glauben, wie etwa an einen euklidischen Lehrsatz, aber man kann nicht von ihnen lassen und hält sich, wenn man die Wahl hat, immer noch lieber an seinen Laubfrosch als an das Barometer. Wie erklären Sie das? Die Macht der Gewohnheit! Dagegen kommt kein Quecksilber auf, kein Hygrometer und keine Skala, überhaupt kein Meßinstrument. Jedes Risiko wird in Kauf genommen, jede Unbequemlichkeit gern ertragen um dieser – Gewohnheit willen. Gewohnheit? Neigen Sie bitte Ihr Ohr! Bst! Hören Sie: was ich zu sagen habe, darf man allerdings heute erst flüstern . . .«

In aller Schärfe sah Belfontaine hier den verkrachten Chemiestudenten, wie er sich vorgebeugt, wichtig getan und die Hände gerieben hatte!

»Was nämlich zur Zeit noch Gewohnheiten sind, waren früher Naturreligionen. Das war Mystik, Zauberei und Tabu – daher ihre Haltbarkeit. Aber Mystik wird nur ersetzt durch Mystik. Diese neue Mystik haben wir nun in Form der Naturwissenschaft. Hei, höre ich Sie entrüstet sagen, Mystik und Wissenschaft, dächte ich doch, schließen einander aus? Alles Humbug. Glauben Sie nicht daran. Das Ziel des menschlichen Geistes in jedem seiner Systeme ist Mystik – da beißt die Schlange sich in den Schwanz. Denn der Geist will Macht, und zu Macht gehört Fleisch. Er muß sich also verfleischlichen und ebenbildlich werden. Er muß Furcht und Schrecken erregen – das macht ihn erst populär. Dazu braucht er Priester und Opfertiere, eine Geheimsprache, einen Kult – kurz, eine Religion. Bemerken Sie, bitte, daß alles schon da ist: Katheder-Auguren, die ihre Kollegen am Augenzwinkern erkennen und höchstens noch an sich selber glauben, vielmehr an ihre Methode; Zauberlehrlinge, die den Meister bis aufs Spucken nachzuahmen versuchen, aber am Ende vergessen haben, ›in die Ecke, Besen, Besen!‹ zu 153 rufen; die Vivisektion, deren furchtbare Riten den ungebildeten Laien an Abrahams Schlachtopfer denken lassen; die Kabbalistik der chemischen Formeln, der Lehrbücher, welche den Anschein erwecken, als ob gerade die Welt im Begriffe sei, sich in Kurven, Gleichungen, Koordinaten und Querschnitte aufzulösen – diese ganze Mischung aus Grausamkeit, Kälte und sterilisierten Göttern, die hinter Weihrauchdunst wohnen, um sämtliche Plagen der armen Menschheit als eine neue Spielart des Todes zu diagnostizieren – – verstehen Sie jetzt? Ist das Mystik genug? Aber es ist noch nicht alles.«

Nun hatte Herr Mösinger wie gewöhnlich, wenn er sich anschickte zu dozieren, die Hand an seine Krawatte gelegt und die verwucherten Augenbrauen zum Strich zusammengezogen; ein kurzes, trockenes Räuspern war durch die Raucherkehle gegangen wie das Putzbürstchen durch den Zylinder; dann in dem heulenden Tonfall des geistigen Autodidakten, welcher sein Steckenpferd reitet: »Geben Sie jetzt einmal ganz genau acht«, war er fortgefahren, »und merken Sie auf, zu welchem Ergebnis ich komme. Naturwissenschaft – was glauben Sie wohl, was dieser Ausdruck bedeutet? Sie denken, zehn gegen eins gewettet, daß er sich etwa mit der Parole des alten Rousseau: ›Zurück zur Natur‹ in seinem Ausgangspunkt deckt. Daß diese Tätigkeit eine gewisse Naturschwärmerei voraussetzt: ›Hin an die Brüste der großen Mutter! Hinauf, hinauf strebt's, es schweben die Wolken, abwärts die Wolken, neigen sich‹ . . . na, und so fort. Nicht weiter, mein Bester, nicht weiter! das Gegenteil ist der Fall. Der Naturwissenschaftler ist jener Mensch, der aus der Entfernung Unendlich die Linse auf einen Gegenstand richtet, von welchem er allerdings ganz unleugbar und fatalerweise ein Teil ist. Mit anderen Worten: er wählt einen Standort, wo er einerseits vor dem Irrtum bewahrt bleibt, »den der Gegenstand in sich selber trägt [seine wechselnden Eigenschaften zum Beispiel, die Licht- und Staubschleier seiner Erscheinung, seine Wärme, seine Veränderungen], und schaltet andererseits die größte und gefährlichste aller Fehlerquellen: seine Person, seine Sinnesorgane, mit Hilfe von Präzisionsinstrumenten auf das entschiedenste aus. Wie steht es also? Das, was er sucht, ist keineswegs ein ›Zurück zur Natur‹; ja, nicht einmal die Natur, 154 wie sie ist, sondern die Abstraktion der Natur; die Natur der Natur – und hier, lieber Freund, schließt sich bereits unser Kreis. Was stellt nämlich dieses Fixsternsystem der Naturgesetze anderes dar als einen Versuch, jene Wandelbarkeit der Schöpfung zu überwinden, die man früher mit dem, was wir ›Erbsünde‹ nennen, erklären zu können glaubte? ›Denn die Schöpfung‹, heißt es im Römerbrief, ›ist der Vergänglichkeit unterworfen, doch nicht nach eigenem Willen . . .‹ Dieses: ›doch nicht nach eigenem Willen‹ scheint mir der Schlüssel zu allem zu sein. Man ahnte ein Gesetz, einen Zwang, eine Urschuld, die wiederum selber der Anlaß zu jener Vergänglichkeit war, und deutete sie religiös. Heute hingegen nimmt man den Wandel, sagen wir besser: den Tod, in den Vollsinn des Biologischen auf, das man von hier erst begreift. Man verleibt ihn gewissermaßen dem Geist wie eine Kopfwehtablette ein, die sofort absorbiert werden wird. Tod, wo ist jetzt dein Stachel? Das Naturgesetz ist der Sieg. Gesetz am Anfang, Gesetz am Ende – zurück zur Natur oder los von ihr, gilt im Ergebnis ganz gleich. Jeder menschliche Geist, ich sagte es Ihnen, kehrt an den Ausgang zurück. Jeder Wissenschaftler ein Magier; sein System eine Kosmologie. Hic Rhodus, hic salta – das Sprungbrett ist scheinbar immer die Logik, die reine vorurteilsfreie Vernunft, das Experiment, welches jeder Idiot sich nachzuprüfen getraut. Scheinbar, Herr Belfontaine, scheinbar! Denn der Mensch will betrogen sein. Alles Feuerwerk –. A propos: Feuerwerk. Gibt es ein besseres Gleichnis? Knallfrösche, Leuchtgarben, bunte Raketen – ein chemisches Märchen für große Kinder, welche den Zauber durchschauen und ›ah‹ dazu sagen dürfen; ein aufgeklärtes Vergnügen, wie man nur wenige weiß. Glauben Sie mir, auch diesmal schießt es wieder den Vogel ab; nicht die Tombola, nicht die lebenden Bilder, erst recht nicht die Polonaise. Und am Schluß die Fahne! Die Fahne! Die Fahne!« [Hier war Herr Mösinger, Schaum vor dem Mund, in wahre Delirien verfallen.] »Die größte Erfindung der Pyrotechnik, eine Novität sondergleichen. Ich lasse die Mischung sofort patentieren und biete das Ganze für Heereszwecke den Pioniertruppen an. Kein Manöver, kein patriotisches Fest, keine Feier ohne die Fahne! Nicht zuletzt für den Ernstfall – bedenken Sie doch die moralische 155 Wirkung solcher geglückten Symbole bei einem nächtlichen Sturmangriff! Wer fühlte sich da nicht gestärkt? Welch ein Schauspiel, wenn sie sich langsam entfaltet – Sie wissen doch, daß sie wie eine Rakete herausschießt und sich erst nach Sekunden aufrollt! Worauf das beruht? Mein Geheimnis, mein Trick! Und was darf ich für Sie reservieren?«

»Ich nehme den ›Pot à feu‹ wie gewöhnlich«, hatte Herr Belfontaine ihm erwidert, »das Pfauenauge, den Blumenkorb und einige Leuchtraketen.«

»Gut, gut. Aber kommen Sie nicht zu spät. Wir müssen die Reihenfolge besprechen und die Effekte einiger Bilder durch neue Mischungen steigern. Es gibt da einen Zusatz von Phosphor . . . nun ja, Sie werden schon sehen – –.«

Hier tat Herrn Belfontaines wolkenhaft leichtes und unverbindliches Denken einen Ruck, wie es manchmal in Träumen geschieht, wenn wir zu fallen vermeinen – eine lächerliche Veränderung war plötzlich vor sich gegangen und hatte den Kosmos erschüttert: der Laubfrosch saß wieder unten. Bitte, bitte. Ganz nach Belieben. Er würde trotzdem zu Mösinger gehen, um das Feuerwerk vorzubereiten: das Geheimnis der Fahne reizte ihn mehr, als er sich zugeben wollte. Geheimnis? Nun ja – man konnte schließlich so sagen. Die Welträtsel waren alle gelöst, dafür hatte jeder sein eigenes.

Er selber – das lag sieben Jahre zurück und endigte wie der bewußte Weg mit dem Los in der Gartenkugel; wenn das Los zu gewinnen bestimmt sein würde, so änderte sich, er fühlte es dunkel, zugleich mit dem Glückslos der Weg. Welches Los? Welcher Weg? Was verwirrte ihn da? Ein verborgener Dämon, er fühlte es deutlich, lag an dem Uferrand seines Lebens und saugte ihn zu sich heran. Nicht: saugte. Er gähnte ihn zu sich heran in entsetzlichem Überdruß. Sein Wesen war Feuer: die schwelende Flamme eines langsam wandernden Heidebrandes, der scheinbar sich selber genügt. Seine Stunde: der Mittag – doch auch in dem Blinzeln der harmlos tuenden Gartenkugel, in der flimmernden Hitze über dem Kirchplatz und in dem aufgerissenen Rachen des löwengelben Gewitters hatte er ihn erblickt. Einen Stein ist die Kugel! Gras auf den Kirchplatz! Und eine Träne dem menschlichen Auge, die jeden Zauber 156 hinwegschwemmen konnte, weil er, noch ehe er Form geworden, auf dem feuchten Spiegel verschwamm. Tränen . . . Aber sein Auge war leblos und trocken wie Wüstensand. Eine Empfindung, schon jenseits der Tränen, beherrschte ihn wie den gefangenen Habicht, den der Bauer mit ausgebreiteten Flügeln gegen das Scheunentor nagelt. Er duldete kaum noch den wirklichen Schmerz, er stellte ihn nur auf die schreckliche Dauer unendlicher Wochen und Monate dar und war zugleich Bild und Gericht.

Wie häufig noch würde er sie ertragen, dachte Herr Belfontaine trostlos entrückt, diese tödliche Langeweile des Sommers, wenn das Gras an den Feldwegen knisterte und die Erde der abgeworfenen Haut einer Schlange zu gleichen begann; wenn in den Schlüften und auf den Trümmern zusammengebrochener Weinbergsmauern die rauhe Wollblume ihre gelben, gewöhnlichen Blüten entfachte und die Senkungen dieses baumlosen Landes einem verlassenen Steinbruch glichen, in welchem Kreuzottern spielen. Das Gesetz der Natur – es ekelte ihn. Er war seiner überdrüssig. Und manchmal schien es, als ob die Natur, auch sie, dieses Wechsels, der keiner war, müde geworden sei. Als ob sie seufzte, mitten im Sommer und mitten im Mittag, wenn durch die Lüfte jene leise göttliche Klage ging, von welcher das Volk der Antike glaubte, es sei die Flöte des Pan. ›Denn wir wissen‹, sprach der vermeintliche Partner seiner Selbstgespräche und setzte den Kanon der unabdingbaren Trauer fort, ›daß die Schöpfung bis auf den heutigen Tag seufzt und in Wehen darniederliegt‹. Die Schöpfung . . . die »Natur der Natur«, wie Herr Mösinger kürzlich sagte.

Eine drängende Neugierde zu erfahren, was dieser Ausdruck in einem Gehirn wie dem des Drogisten bedeuten sollte, erfaßte Herrn Belfontaine. Er setzte den Hut auf, ging durch den Laden und bemerkte spröde zu seiner Frau, er habe sich in der Tat überzeugt, daß das Wetter nichts Gutes verheiße und müsse daher mit Herrn Mösinger sprechen, ob man sich nicht am Ende doch lieber auf ein Saalfeuerwerk beschränken oder mit dem bengalischen Licht hinter den lebenden Bildern für diesmal vorliebnehmen wolle.

»Ja, geh nur«, sagte Elisabeth und blickte ihn sonderbar an. Es 157 war die stille Stunde im Laden, kurz hinter dem Mittagessen. Wer jetzt auf die Straße trat, hörte nichts weiter als das leise Geklapper, das aus den Küchen, das Rauschen, das aus den Spülbecken kam, und hier und dort die verlorenen Läufe eines schluchzenden Dienstmädchenlieds. »Geh nur –«, begann sie wieder in eindringlich sanftem Ton. »Ich brauche dich wirklich nicht.«

»Übrigens komme ich bald zurück«, sagte er überzeugend, als habe sie widersprochen.

»Es ist aber besser, du nimmst dir Zeit«, murmelte seine Frau.

»Meinst du?« fragte er, merkwürdig hilflos, und stützte sich, seine Augen schließend, auf die Kante des Ladentischs. In dem Bruchteil einer Sekunde war er sich selber entrissen und trank bis ins Mark seines Daseins den Traumkelch einer Vision . . .

Irgendwo stieg aus verwildertem Garten eine zierlich geschwungene Treppe empor und führte ihn in das gespenstischsüße, mit bläulicher Farbe beworfene Landhaus einer traumhaft fernen Provinz. Er trat durch die Glastür . . . In einem Boudoir stand mit dem Rücken zu ihm eine Frau und stützte die Ellbogen auf den Kamin, worüber ein Spiegel hing. Sie war nackt – –.

»Und frage Herrn Mösinger doch, wie ihm der letzte Beaujolais schmeckte. Ich glaube, er hatte moussiert«, hörte er wieder Elisabeths Stimme und öffnete die Augen.

»Beaujolais?« flüsterte er erstaunt. »Dort also? Nun ja, schon möglich . . . Es wäre immerhin denkbar«, sagte er halbwegs vernünftig und fing sich mühselig auf.

»Am besten sprichst du natürlich mit diesem Tricheur darüber«, meinte Elisabeth.

»Natürlich, ich spreche mit diesem Tricheur«, sagte Herr Belfontaine.

»Er kommt am Montag, vielleicht schon am Sonntag wieder nach hier zurück«, fuhr sie fort und wickelte einen Faden um ihren Zeigefinger. »Wie er mir sagte, besucht er noch einige Kunden – Gastwirte, glaube ich, auf dem Land . . . ich habe nicht weiter gefragt.«

»Dann wird er kein Glück haben«, sagte der Mann. »Welcher 158 Gastwirt in Gaulsheim oder Flomborn legt sich zu seinem eigenen Wachstum noch einen Beaujolais hin?«

»Und wo sind die Gäste, die ihn verlangen?« fragte Elisabeth.

»Nun, Gäste gibt es für jeden Wein und Gelegenheiten genug«, erwiderte Belfontaine. »Hier wird eine neue Straße gebaut, und dort kommt der Schulinspektor; ein Lokaltermin, eine Besichtigung wird irgendwo abgehalten. Überall führt ein Weg in die Welt und läuft auch wieder hinaus.«

»Dann ist es also«, sagte die Frau, »am Ende gar nicht so dumm, daß er die Leute besucht?«

»Kann sein, kann auch nicht sein. Ich muß jetzt fort –.«

»Einen Augenblick, deine Krawatte!« sagte Elisabeth. Sie ordnete sorgfältig seinen Schlips und blickte ihn aufmerksam an, blies ein Stäubchen von seinem Rockärmel fort und las eine Wollspinne ab. »Ich glaube –«, begann sie mit merklichem Zögern.

»Was ist?« fragte Belfontaine schroffer, als er beabsichtigt hatte.

»Ich glaube, es wäre gescheiter, du machtest einen kleinen Spaziergang, anstatt bei Herrn Mösinger Schwefel und Phosphor im Topf durcheinanderzurühren«, sagte Elisabeth mutig.

»Eh ja«, erwiderte er verdrossen. »Dann aber lieber schon einen großen.« Er raffte sich auf zu scherzen, und fuhr mit gespielter Leichtigkeit fort: »Ich könnte übrigens ebensogut wie dieser Tricheur einen Rundgang bei meiner Landkundschaft machen. In Wallerstädten stehen noch zehn Säcke Zucker, in Olmen zwei Fässer Olivenöl aus; die Bäckerei in Marienborn hat zu Weihnachten Orangeade, Korinthen und Zitronade bezogen, und der Gastwirt in Kirchheimbolanden schuldet mir eine Kiste Champagner, zwei Dutzend Flaschen Malaga, Wermut und einige Ingwerschnäpse.«

»Nun«, sagte Elisabeth, sichtlich erfreut, daß er anfing, lebendig zu werden, »diese Dörfer suchst du wohl kaum an einem Nachmittag auf.«

»Gewiß nicht«, fuhr er spielerisch fort. »Man müßte den Abend und noch am Ende den folgenden Tag dazunehmen.«

»Und zum Feuerwerk bist du dann wieder zurück«, sagte sie lachend und schnell. 159

»Nicht übel. Aber will es der Zufall, so bringe ich diesen Tricheur gleich mit. Wie sieht er denn eigentlich aus?«

»Ach, nicht besonders. Ein dicker Kerl mit schmutzigen Fingernägeln.«

»So dick wie Herr Böhmer?«

»Bei weitem nicht! Überhaupt – es war vielleicht falsch, ihn geradezu dick zu nennen. Stattlich hätte ich sagen sollen –.«

»Aber schmutzig, meintest du, wie? Er putzt sich die Hoftrauer unter den Nägeln mit seinem Taschenmesser und schneidet auch den Gervais damit an?«

»Schmutzig? Mein Gott, wie kommst du darauf?« fragte sie, unruhig werdend. »Gewiß – er hat etwas – Sinnliches, weißt du. Ich drücke mich ungeschickt aus.« Sie schloß die Augen, ein Zug von Verzweiflung ging über ihr Gesicht. »Etwas Feuchtes, als wäre die Kopfhaut beständig mit Schweiß beschlagen, wie bei Herrn Schiffenberger.«

»Soso. Er gleicht also Schiffenberger?«

»Ach – wiederum auch nicht. Eher Herrn Gitzler. So um den Mund. Vielleicht auch Böhmer, wie ich schon sagte. Aber höchstens im Wuchs. Oder Gutermuth . . . warum quälst du mich so? Du weißt doch, ich kann keinen Menschen beschreiben«, sagte sie hoffnungslos.

»Wer quält dich? Ich vielleicht? Wenn du dich ärgerst, weil jede Ausdrucksgabe dir mangelt?«

»Mangelt! Schön gesagt: mangelt«, gab Elisabeth zornig zurück.

»Nun ja.« Er lenkte vorsichtig ein. »Du sagst, er gleicht Gitzler, nein: Schiffenberger – nein, Böhmer – nein, Gutermuth – und am Ende . . . am Ende gleicht er noch mir!«

»Da du es selber aussprichst«, sagte die Frau erbittert, »kann ich es ja gestehen. In gewisser Beziehung gleicht er dir auch – –.«

»Dieser dicke Kerl, wie du sagtest, mit den schmutzigen Fingernägeln.«

Sie sahen einander außer sich an; eine wilde, sinnlose Wut stieg Belfontaine in die Schläfen; dann stieß Elisabeth plötzlich ein schluchzendes Lachen aus, das in der Kehle zersprang – gleichzeitig füllten sich ihre Augen mit schmerzlichen Reuetränen.

»Wir sind doch beide ein bißchen verrückt«, sagte sie wie ein Kind. 160

»Schon möglich«, stimmte er fühllos bei und stellte fest, als der Zorn von ihm abglitt, daß auf dem Felsengrund seiner Seele nichts weiter zurückblieb als Ungeduld, Ekel und die Empfindung, im ganzen Umkreis seines Daseins, soweit es noch menschlich war, ausgesondert zu sein.

»Ach, nein, ich liebe dich doch so sehr«, flehte Elisabeth leise; ihre sanfte, hilflose Klage hätte nicht anders lauten und ihn berühren können, wenn sie das Gegenteil ausgedrückt hätte; ja, das Gegenteil wäre weit argloser noch und in gewissem Sinne verständlicher gewesen.

Er schwieg; sie setzte von neuem an und sagte mit hellerer Stimme: »Du solltest dich einmal gründlich erholen; das war ja schon lange geplant. Eine Reise machen, vielleicht in die Schweiz, der Juni ist immer am schönsten.«

»Es muß ja nicht gerade die Schweiz sein«, erwiderte Belfontaine. »Ich kenne da einen Ort an der Loire: vier, fünf Häuser um ein verschuldetes Schloß, dessen Besitzer im Wirtschaftsflügel eine Art von Auberge betreibt. Merkwürdig, daß mir das heute einfällt – ich habe seit ewigen Zeiten nicht mehr daran gedacht.«

»Ach, das war wohl damals, als dich dein Vater als Austauschschüler nach Orléans schickte?« fragte Elisabeth eifrig.

»Ja, ja; er hatte den Ehrgeiz, mich seit dem Stimmwechsel jedes Jahr in ein anderes Internat zu stecken«, erwiderte Belfontaine munter. »Wahrscheinlich dachte er im geheimen einen Politiker, Disraeli, oder Gott weiß was, aus seinem Söhnchen zu machen. Na, ja doch – er hatte den Konsultitel eines Räuberstaates da unten in Kaffeeamerika. Ich habe ihn allerdings gründlich enttäuscht und andere Dinge aus meiner Erziehung, als er hoffte, davongetragen. In Orléans also . . . vor zwanzig Jahren: wer nicht nach Hause fuhr, durfte die großen Ferien mit Herrn Grandpierre, dem jüngsten Lehrer, auf jenem Schloßgut verbringen, während die Schule, um Geld zu sparen, je nach Verlangen für Buchführungskurse und Exerzitien vermietet wurde. Herr Grandpierre . . .« Er verzog seinen Mund. »Da hatte man allerdings, wie man so sagt, den Bock zum Gärtner gemacht.«

»Wieso denn?«, fragte Elisabeth arglos. »Ihr habt wohl nichts Rechtes bei ihm gelernt?« 161

»Nichts Rechtes? Darüber könnte man streiten. Aber mehr als bei diesem Lehrer habe ich wohl mein Lebtag in so kurzer Zeit nicht gelernt.«

»Ein gutes Französisch?«

»O, ja! O, ja!« Herr Belfontaine lachte stürmisch heraus. »Allerdings würdest du sein Patois in keinem Wörterbuch finden. Volkslieder, weißt du und . . . Bräuche«, sagte er dann im Biedermannston und fuhr ihr über die Wange. »Um drei Uhr morgens standen wir auf und liefen, nackt wie wir waren –«

»Nackt, wie ihr wart?«

»Die Nächte waren heiß«, erläuterte er verlegen, »und liefen zu einer Strombucht herunter, wo wir, in hohlen Weiden verborgen, die Angelruten hatten. Dann wurde gefischt, die prächtigsten Kerle, Karpfen zum Beispiel von einer Größe, wie sie nur noch in Zisterzienser-Abteien mit gemauerten Teichen sind. Wenn wir genug hatten, machten wir Feuer und brieten sie in der Asche; eine Flasche mit weißem Bordeaux und einen Topf mit Oliven holten wir gleichfalls aus unserm Versteck und frühstückten wie ein Valois auf der Jagd, das Gesicht nach der Sonne gekehrt.«

»Aber wie kamt ihr später nach Hause?« fragte Elisabeth.

»Ja, so – du meinst ohne Kleider? Ganz einfach«, log er. »Wer morgens verschlief, brachte den andern die Hosen . . .« Er lächelte; eine milchweiße Frau mit mahagonifarbenen Haaren ging über die Sommerwiese und warf ihm ein Bündel zu. Sie war eine Bauernmagd, weiter nichts, aber Diana im Erlengehölz konnte nicht adliger sein. Eine Göttin . . . doch welches weibliche Wesen wäre dazumal seinen hungrigen Sinnen nicht als eine Göttin erschienen? Mythologische Zeiten. Vorbei, vorbei! Er war ein Krämer geworden. »Ich möchte wohl wissen, wo er jetzt steckt, dieser Grandpierre«, sagte Herr Belfontaine. »Vielleicht in Paris als Mitglied der Kammer. Vielleicht als Kantor in einem Dorf. Er hatte eine sehr schöne Stimme und war der musikalischste Mensch, der mir jemals begegnet ist. Wenn Grandpierre auf seiner Blockflöte spielte, war es, als ob der leibhaftige Pan in ihm verkörpert wäre. Er hatte übrigens Haare in Menge, ein schwarzer Ziegenbock, selbst auf den Fingern wuchsen ihm dicke Raupen . . . Ich werde den Weinhändler nach 162 ihm fragen«, schloß er und fügte erheitert hinzu: »Natürlich ist das im Grunde nicht anders, als wenn ich in Deutschland nach einem Herrn Meier oder Herrn Müller fragte. ›Grandpierre‹ ist ungefähr ebenso selten – es wäre der reine Zufall, vorausgesetzt, daß es den gibt.«

»Es gibt ihn nicht«, sagte Elisabeth ruhig. »Nur Vorsehung.«

Belfontaine starrte sie an. »Auch eine Vorsehung, die uns verdirbt?« murmelte er mit gepreßter Stimme und wandte sich zum Gehen.

»Verdirbt? Wieso denn: verdirbt?« fragte sie fassungslos.

»Nichts weiter. Ich dachte an Hiob, den Satan erproben durfte –.«

Er zog die Ladentür hinter sich zu; ihre Glocke schlug an und aus.

 

Auf der Straße und schon im Begriff, dem Städtchen und damit Herrn Mösinger zuzustreben, wurde er angerufen und drehte sich wieder um. Sein Nachbar, der Remisenbesitzer, stand in der offenen Einfahrt und rückte, als Belfontaine näherkam, die Schildmütze aus der Stirn.

»Na, Kleinkopf, was gibt es? Sie haben gerufen?« fragte Herr Belfontaine.

Der untersetzte, knochige Kerl mit den groben, gewöhnlichen Zügen blickte ihn unschlüssig an; seine Augen, welche die Farbe verregneten Schiefersteins hatten, ließen auf einen phlegmatischen Menschen ohne jede Bedeutung schließen.

»So? Habe ich gerufen? Kann sein. Ich wollte Sie nämlich schon lange fragen . . . Sie wissen doch . . . oder wissen Sie nicht –?« Seine Hängebacken, von Schweiß übergossen, färbten sich dunkelrot; unter dem Schnurrbart mahlte der Mund mit den braunen, abgebrochenen Zähnen hin und her.

»Ach so – das Alte. Sie möchten erfahren, ob Sie die Kutschwagen abschaffen sollen und Automobile kaufen? Da müssen Sie andere fragen, mein Lieber. Ich selber kann mir nicht vorstellen, Kleinkopf, daß man beispielsweise im Automobil zu der kirchlichen Trauung fährt. Aber immerhin ist ja unsere Stadt nicht gerade sehr konservativ.«

Der frühere Fuhrmann, ein Händelsucher und als Quartalssäufer geltender Mensch, rückte Belfontaine auf den Leib; er 163 roch abscheulich nach schlechtem Fusel und war vollkommen unrasiert. »Da – sehen Sie nur, Herr Belfontaine«, keuchte er aufgeregt. »Diese Äser dahinten«, er deutete mit dem Daumen nach rückwärts, wo in dem strohbeworfenen Hof, den die Stallungen rings umschlossen, ein Dienstknecht damit beschäftigt war, das Schimmelpaar zu striegeln – »bald muß man sie putzen, bald füttern und ihnen zu saufen geben. Ist das Fressen nicht richtig, so kriegen sie Kolik, daß ihnen die Bäuche platzen; doch wehe, wenn man so einem Luder mal eines über den Kopf gibt: dann kommt gleich der Tierschutzverein gelaufen und macht ein Geschrei daraus. Aber das wäre noch nicht das Schlimmste, lieber Herr Belfontaine.« Der Mann, als ob er sich Luft schaffen müßte, riß an dem Kragen und schob seine Mütze bis in das faltige Genick; die mächtige Glatze, seltsam gehöckert, als triebe die Anstrengung nachzudenken jedesmal einen Buckel heraus, glänzte vor Hilflosigkeit. »Ich fürchte nämlich – ich fürchte eben – – er geht am Ende über mich fort und hat mich nicht mitgenommen.»

»Ich verstehe nicht. Wer geht über Sie fort?« fragte Herr Belfontaine.

»Der Fortschritt!« stöhnte der arme Mann mit jammervoller Stimme. »Jede Nacht, sehen Sie, liege ich schlaflos und denke, was sollst du machen? Sollst du dich umstellen? Ganz oder halb? Und wie ist es in anderen Ländern?« Er seufzte und stieß den gebuckelten Kopf wie ein Käfigvogel nach hinten, der zwischen den engen, verwetzten Stäben ein Stückchen Horizont sieht. »Dieses Nest hier – dieses verfluchte Nest, wo niemand herein- und herauskommt!« Aufs neue faßte er Belfontaine mit fast tierischer Inbrunst ins Auge und fragte, als ob er mit diesen Worten ein unvorstellbar großes Geheimnis seines Daseins zum besten gäbe: »Kennen Sie eigentlich schon den ›Kosmos‹! Das ist eine Zeitschrift, die sehr viel Sternkunde treibt. Wenn ich den ›Kosmos‹ nicht hätte –«, er stockte; seine Unfähigkeit, sich auszudrücken und einen gehobenen Ausdruck für seine Gefühle zu finden, knebelte ihm den Mund. »Das weitet den Blick –«, bemerkte er endlich. »Die Milchstraße, die galaktischen Nebel und die Spiralnebel, meine Güte, die selbst wieder Milchstraßen sind . . . sehen Sie: sowas erhebt den Menschen – ich möchte 164 sagen: es hebt ihn hinaus. Über sich selber. Verstehen Sie mich?« stotterte er entzückt. »Da ist zum Beispiel der Nebel im Schwan und der Pferdekopf in dem Orion –«

»Nun also, der Pferdekopf, lieber Mann!«, sagte Herr Belfontaine trocken. »Selbst in den Sternen begegnen Sie ihm. Wenn das keine Antwort ist!«

Der Fuhrunternehmer glotzte ihn an und fiel in sich zusammen. »Dieses Nest hier! Dieses verfluchte Nest –«, murmelte er aufs neue und schabte den Kopf an dem Kragen. »Ich meine nur, wenn ich den ›Kosmos‹ nicht hätte, wäre ich längst schon wie diese Leute und wüßte nichts von der Welt. Halunken! Biester! Verstockte Beißer!« rief er plötzlich wie rasend dem Schimmelpaar zu und schüttelte die Faust; es machte den Eindruck, als grollte er ihnen, weil sie nicht Flügel hatten wie weiland Pegasus. »Also?« fragte er endlich ruhiger. »Also wie ist es in anderen Ländern? Über dem Weltmeer zum Beispiel? Ich denke: dort ackert und pflügt man schon mit Benzinmotoren?«

»Gut möglich«, erwiderte Belfontaine trocken. »Doch, warum in die Ferne schweifen? Die Tage der Pferdebahn und so weiter sind auch in Deutschland gezählt. Und wollen Sie hören, wie die Franzosen, die den Fortschrittsgedanken erfunden haben, in Wirklichkeit dazu stehen, so kommen Sie doch am Montag herüber und fragen Sie meinen Geschäftsfreund, einen gewissen Tricheur aus Paris, der die Vertretung für sämtliche Weine von Paquet und Söhnen hat. Adieu, Herr Kleinkopf!« Er hob seinen Hut und marschierte den Weinbergen zu.

»Wo hinaus, Herr Belfontaine?« rief ihm Kleinkopf in erwachtem Geschäftseifer nach. »Soll ich das Wägelchen anspannen lassen? Wollen Sie Kundschaft besuchen?«

»Nein, nein – ich gehe in meinen Wingert«, wehrte Herr Belfontaine ab.

Der andere zog sich enttäuscht zurück und warf die Torflügel bei; man hörte, wie sich von innen der hölzerne Riegel vorschob und die Schritte, die sich zum Stall hinwandten, von dem Strohbewurf eingeschluckt wurden . . .

Herr Belfontaine wartete noch ein Weilchen und schlug dann entschlossen den Feldweg ein, welcher von Schlehenbüschen umsäumt, bereits nach der ersten Biegung vollkommen 165 unsichtbar war, um nach der zweiten und dritten aufs neue herauszutreten – nicht etwa deshalb, weil ihn das Buschwerk wieder entlassen hätte, sondern gemäß dem Gesetz dieses Landes: sich auf- und niederzuatmen. »Was, Wingert!« – dachte er wie ein Knabe, der seinem Lehrer entronnen ist, und verschwand in der Bodenwelle. Der Pfad war eng und von Unkraut verwuchert; eine staubhelle Raupe mit haarigem Rücken . . . zu schmal, um von Wagen gespurt zu werden und nur von Fußstapfen, Handkarren, Stöcken und Fahrrädern flüchtig genarbt; hier und dort war eine Brennesselstaude seitwärts niedergeschlagen und fegte den Rain mit gebrochenen Händen wie ein feuriger Hexenbesen. Wo der Schuh in den lockeren Boden einsank, war er sofort überpudert; doch war es kein dürrer, störrischer Sand, obwohl ihm die Quellen, die Wiesen und jegliche Moosdecke fehlten, vielmehr ein Gemisch aus gemahlenem Sandstein und rebendurchzogenem Kalk; das Gewürz der Erde, pulvrig und stark, als ob ihm die römischen Weihgefäße auf Schritt und Tritt beigefügt wären; – und was man zu finden erwarten konnte, waren weniger Blumen und Vogelfedern, als Tonscherben, Knochen und Mauersteine: die Inschrift seiner Geschichte gleichsam, die jenes Volk hinterlassen hatte, dessen Statthalter quer über alle Blätter »was ich geschrieben habe, das hab' ich geschrieben« setzte. Diese Erde hier: sie beschönigte nichts, sondern sprach in der Nacktheit der rötlichen Hügel, in ihrem Dahinfluß, der nur durch die Lanzen der Rebstöcke aufgeteilt wurde, selbst noch das uralte mondene Meer der frühesten Zeitalter aus. Diese Natur – sie nahm nichts zurück, sondern trieb, was von jeher und jederorts in ihrem Bilderschoß ruhte, ohne innezuhalten hervor . . . jeder Stein eine Herme an Handelsstraßen, an Wandelwegen, an Todespfaden, die in die Unterwelt führten. Selbst der Acker schien hier von Mythen genährt und üppiger zu sein. Auf den Halmen strotzten die Weizenähren in grüner, metallischer Fülle; grannenlos, unverborgen und prall wie Demeters Fingerspitzen; es folgten endlose Felder mit Mais – wenn sie blühten, würde, Helmbusch an Helmbusch, sich die seidene Mähne der niederwärts hängenden Griffel aus den sparrenden Lieschen drängen. Obwohl kein Wind ging, entrollten die Schäfte ab und an ihre länglichen Blätter 166 wie wellige Reiterfähnchen; ein unaufhörliches Zischeln und Raunen fuhr durch die lose gewickelten Bänder nach Art der Dämonensprache. Keine Bäume – weder Gebüsch, noch Gehölz – verbargen die sich begattenden Kräfte: die große Mutter, welche verschlafen die Spindel des Weizenkorns drehte, und den Mann, der mit plumpen, verhornten Füßen die Rebenkelter trat. Sie alle – auf kurzen, etruskischen Beinen an ihre Verrichtung gefesselt wie Bauern, welche immer nur eines tun oder lassen – hatten nicht teil an dem Menschen außer mit Hode und Scham. Sie wucherten unterhalb seines Gürtels wie Unkraut am Fuß des Getreides und hatten über den menschlichen Geist keine Verfügungsmacht; doch schürten sie jenes sinnliche Feuer der schwelenden Langeweile, der Trägheit und der ausweglosen Verzweiflung, bis es endlich mit scharfer gespitzter Flamme aus den Lenden nach oben schoß. So war es Belfontaine gestern ergangen, als ihn die Klage des kleinen Mädchens: »Ich habe keine Lust mehr« wie ein brennender Pfeil durchbohrte; als er die Wunde empfing, deren Ränder zugleich verkohlt und ausgezackt waren wie ein zerfallender Stern. Denn sie war nicht scharf abgesetzt, daß man das heile Fleisch von dem kranken noch hätte trennen können – sie hatte einen lockeren Umkreis von giftigem Brand und blätterndem Hautschorf, der weiter und weiter fraß . . .

Die linke Hand auf die Hüfte gestützt, setzte Belfontaine Fuß vor Fuß. Seine Schritte schleppten; als ob mit jedem, den er unbekümmerter vorwärts tat, ein Blutstrahl aus seiner Wunde käme, verfolgte er mühselig seinen Weg und verwünschte die Mittagshitze, den Staub und den erzgehämmerten Himmel, an dem keine Wolke schwamm . . . Vor ihm, auf etwas erhöhtem Gelände, stand ein mächtiger Apfelbaum. Herr Belfontaine ließ sich erschöpft in seinen Schatten fallen und lehnte den Kopf an den Stamm; hierauf, sich nach allen Seiten versichernd, daß kein Mensch in der Nähe wäre, öffnete er den Kragen, legte den Rock ab und schnürte die Schuhe mit kindischem Wohlgefühl auf; dabei hatte er, wie vorhin, als er den Wagenbesitzer in seinen Erwartungen täuschte, die angenehme Empfindung, irgendwem ein Schnippchen zu schlagen.

Er schloß die Augen, aus dem Geäst floß das Dunkel wie ein 167 geschmeidiger Leib und legte sich ihm an die Haut; es trug einen Weiberkopf, listig und zart, und ließ zwischen kühlen, grausamen Lippen die gespaltene Zunge spielen. Herr Belfontaine horchte – die uralte Schlange unterredete sich mit ihm. [». . . Ein gutes Französisch? O, ja. O, ja. Allerdings würdest du sein Patois in keinem Wörterbuch finden . . . du meinst: ohne Kleider? . . . Ganz einfach.«] Er lächelte. Eine milchweiße Frau mit mahagonifarbenen Haaren ging über die Sommerwiese und warf ihm ein Bündel zu.

Nun legte er sich völlig zurück, verschränkte die Arme unter dem Nacken und sah in das Schattenspiel. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung lief durch das leise zitternde Laub, welches hier ein kobaltblaues Stück Himmel, nicht größer als eine Handfläche, freigab; dort einen Funken glühenden Lichtes spielerisch einfallen ließ. Eine Landschaft, gänzlich unähnlich dieser, welche Herrn Belfontaine hier umhüllte, erbaute sich wie aus Traumelementen und verging, indem sie entstand:

O, die dryadischen Haine der Loire! Ihre Blutbuchen, Faulbäume, Trauerweiden, von lasterhaften Nymphen bewohnt, deren Brustwarzen bohnenförmige Perlen und deren künstlich gedrehte Locken bronzierte Metallfäden waren. Das schwarze Vließ auf den Hüften des Hirten, seine wolligen Finger über den Ringen der sinnlich klagenden Flöte! Herrn Grandpierres Finger . . . sie spielten deutlich vor seinem inneren Auge und hoben sich auf und nieder. An dem Zeigefinger der rechten Hand saß ein breiter unechter Ring mit lüstern blitzendem Stein. Diese Hand war schmutzig – aber vielleicht war es auch nur der Schatten der Haare, der gegen das sonderbar leichte Gelenk hin noch dunkler und dichter wurde. Oder täuschte er sich, und der Zeigefinger gehörte dem Herrn Tricheur? Wie hatte Elisabeth ihn beschrieben? ›Nichts Besonderes, ach; so ein dicker Kerl mit schmutzigen Fingernägeln.‹ Es war ja auch einerlei. Belfontaine seufzte und entsann sich eines Gesellschaftsspieles, wobei im Wechsel von drei, vier Paaren sich Hand über Handrücken legte; die unterste Hand herausgeschnellt wurde und über die oberste kam, bis endlich, in immer kürzerer Folge, die Hände einander ablösten, deckten und sich miteinander vertauschten. Auch seine eigene war im Spiel und die 168 des Täuferjohannes, deren Deutefinger, hager und haarig, sich von den anderen abzuzweigen und mit einwärts gebogenem Rücken auf einen Menschen zu weisen schien, der jetzt noch verborgen war. Auf Herrn Tricheur? Auf wen sonst? Ganz sicher auf Herrn Tricheur. Gut, gut. Er würde ihn beiläufig suchen und, wenn der Zufall es wollte, ihn beim Kassieren des Wermuts an einem Wirtshaustisch finden, wo Herr Grandpierre, vielmehr Herr Tricheur, seinen Pfefferminzschnaps tränke . . .

»Ah, guten Tag, mein lieber Herr Grandpierre!«

»Pardon, Tricheur ist mein Name.«

»Pardon, Herr Tricheur. Guten Tag, Herr Tricheur. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen –.«

»Gesehen? Aber, mein Herr, wir kennen uns überhaupt nicht!«

»Scherz beiseite, Herr Grandpierre. Das Schloß an der Loire! Und jenes brandrote Mädchen, das Sie ›gentil coquelicot‹ nannten?! Na, na – Sie werden sich doch erinnern? Natürlich erinnern Sie sich!«

»Ho gai! Vive la Rose! Ho gai! Franc cavalier! Sie sind Herr –«

»– Belfontaine, wenn Sie erlauben. Lazarus Belfontaine. In Orléans nannte man mich Lazare. Le pauvre Lazare. Sie wissen . . .«

»Richtig, richtig. Le pauvre Lazare. Und wie lange, wenn es erlaubt ist, zu fragen, liegen Sie schon im Grabe?«

»Sieben Jahre. Herr Grandpierre. Genau sieben Jahre bin ich in diesem Städtchen begraben.«

»Dann ist es allerdings höchste Zeit, daß Sie den Aufenthalt wechseln. Etwas anderes . . . eine Reise, hm? Vielleicht begleiten Sie mich nach Paris? Die Jahreszeit ist jetzt günstig. Wie bitte? Sie finden es jetzt schon zu heiß? Aber, mein Lieber, ich sage Ihnen: der Mai ist die beste Zeit! Und wenn es Ihnen zu warm werden sollte, so fahren Sie nach Deauville.«

»Na, dann schon lieber nach Mont Saint Michel!«

»Warum nicht auch nach Mont Saint Michel? Ich lasse gern mit mir handeln. Kommen Sie! Kommen Sie! Zögern Sie nicht! Eine solche Gelegenheit kehrt nie wieder. Ich habe das im Gefühl.«

»Abgemacht! Fahren wir nach Paris!« Herr Belfontaine gähnte, sprang auf die Füße und rieb sich erschrocken die Augen. 169 »Großer Gott, nun bin ich gar eingeschlafen. Ein Glück, daß mein Kopf in dem Schatten lag, ich hätte mir sonst am Ende einen Sonnenstich holen können . . .«

*

Als Herr Belfontaine ziemlich spät in der Nacht mit der Lokalbahn zurückkam, sah er, daß durch die Rolladenritzen von Herrn Mösingers Laboratorium noch ein unruhiger Lichtschein drang. Er klopfte an; die erleuchtete Werkstatt gab ein dumpfes Pochen zurück. »Sind Sie es, Belfontaine? Eine Sekunde! Ich schlage nur noch den Fahnensatz fest«, rief Herr Mösinger ohne Erstaunen. Das Hämmern verstummte nach kurzer Zeit und wurde von Pantoffelgeklapper, dann dieses von dem Knirschen und Schnappen der Türschlösser abgelöst; es war ein ganzes System durchdachter Sicherungen, das an Herrn Mösingers Haustür dem Spieltrieb seiner Erfindernatur und seiner beständigen Bürgerangst vor Einbrechern, Mördern und ähnlichen Leuten in gleicher Weise diente.

»Guten Abend, Herr Mösinger! Nichts für ungut, daß ich jetzt erst bei Ihnen erscheine. Ich war über Land und habe dort alte Schulden von meiner Wirtskundschaft einkassiert. Man kann sich natürlich dann hinterher nicht gleich wieder losmachen, wie? Ein Gläschen Schnaps muß das mindeste sein. Noch besser eine Bouteille«, sagte Herr Belfontaine, töricht lachend, und torkelte über die Schwelle. »Aber, wenn Sie vielleicht einen Kaffee hätten –?«

»Welche Frage! Sie wissen doch, daß ich immer einen Kaffee bereitstehen habe«, erwiderte Mösinger spitz.

»Aber gewiß, mein Lieber, gewiß!«, beeilte sich Belfontaine zu versichern. »Sie leben ja nur davon.«

»Nicht ich, Herr Belfontaine. Doch mein Gehirn, meine Entdeckungen leben davon wie das Kind von der Muttermilch.« Belfontaine nickte und sah ihn an. Von dem grünblauen Gaslicht der Flurlaterne, die an Messinghaken aufgehängt war und beständig zu schaukeln schien, überflackert, machte ihm Mösingers nächtlicher Anblick zum ersten Mal, seit er ihn kannte, einen komisch-gespenstischen Eindruck. Der studierte Drogist mit der starren Frisur aus aufwärts gesträubten Haaren, welche die eigensinnige Stirn wie eine Wichsbürste überragten, den 170 steif gestärkten Manschettenröllchen, der harten Hemdbrust, dem weißen Kittel, dem die scharfen Stehkragenecken jede Spur von Verbindlichkeit raubten, glich heute, völlig verwandelt, einer Ballettfigurine aus einer romantischen Oper: theatralisch und märchenhaft. Er trug einen auffallend weiten Schlafrock von kaffeebrauner Farbe mit palmenähnlichen Arabesken, auf denen sich knallbunte Papageien mit heftig gebogenen Schnäbeln und Federhelmen wiegten; darunter ein Nachthemd aus schwerer Seide, das ein Spitzenjabot verzierte, und an den nackten gelblichen Füßen feuerrote Pantoffeln auf hohen Hacken und bis an den Rist emporgezogenen Laschen, die über der Schnalle, welche sie hielt, leicht umgebogen waren. Das Sonderbarste an ihnen waren jedoch ein Paar Sporen, die jeden Schritt, den Herr Mösinger machte, mit ihrem Klirren begleiteten.

»Sie hatten sich wohl schon zu Bett gelegt?« fragte Belfontaine unbehaglich.

Herr Mösinger stellte rasch einen Fuß vor und fragte: »Mit diesen Dingern? Aber nein! Ich hätte dann wohl schon lange kein ganzes Federbett mehr.«

Belfontaine lächelte krampfhaft zurück. »Ich verstehe. Sie haben Besuch.«

»Eine Hofdame aus dem Dixhuitième«, flüsterte Mösinger wichtig und hielt ihn am Ärmel fest.

Er ist verrückt, dachte Belfontaine mit unverhohlenem Schrecken. Ein Irrer! Dazu in der Nacht. »Dann will ich nicht stören«, sagte er laut.

»Pst, pst, etwas leiser – sie schläft bereits.« Herr Mösinger tänzelte vor ihm her, die Sporen klirrten; auf seinem Gesicht lag, als er sich umdrehte, eine geheime, schreckliche Schadenfreude. »Geben Sie sich keine Mühe, mein Lieber«, sagte er dann in vernünftigem Ton. »Der Türschlüssel funktioniert erst, wenn man das Sicherheitsschloß auf die richtigen Buchstaben einstellt. Es ist alles genau überlegt.« Er betrachtete ihn mit offenem Hohn, der seine schwarzen funkelnden Augen gefährlich aufglühen machte. »Glauben Sie, daß ich ein Lustmörder bin, Ritter Blaubart oder dergleichen? Leider nein. Aber kommen Sie jetzt und stehen Sie nicht wie ein Straßenmädchen unter der Gaslaterne.« 171

Belfontaine folgte ihm widerstrebend in sein ›Laboratorium‹, wie Mösinger stolz einen Holzverschlag hinter dem Laden nannte, welcher gleichzeitig Lagerraum war und bis an die Decke hinauf mit Chemikalien, Tiegeln und Mörsern, mit Werkzeugen, Waagen, Büchern, Gewichten und Reagenzgläsern vollgestopft war. Aus unerfindlichen Gründen hingen überall Drähte lose herunter, indessen das kalte, kalkige Licht einer Karbidlaterne diesen Raum mit schneidendem Licht erfüllte.

Herr Mösinger trat an den Arbeitstisch und hantierte dort zwischen Behältern mit Kalium, mit Schwefel, Phosphor und Schießbaumwolle an einer Kaffeemaschine; schob mit dem Fuß einen Hocker heran und schenkte seinem Besucher ein.

»Darf ich bitten? Hier ist Zucker und Milch. Sie trinken ihn schwarz? Ausgezeichnet. Ich habe Kirschwasser hier.« Er öffnete einen Wandschrank, holte die Flasche heraus, gab einen Schuß in den Kaffee und servierte ihn mit der Grandezza eines ältlichen Edelmanns.

Unvermittelt lachte er auf. »Sie waren wohl noch niemals Sie selbst?« fragte er Belfontaine plötzlich.

Der andere setzte die Tasse ab und blickte ihn argwöhnisch an. »Wie meinen Sie das? Ich verstehe nicht recht.«

»Aber natürlich verstehen Sie mich, Sie würden doch sonst nicht ausweichen wollen«, versetzte Herr Mösinger mild.

»Ich weiche nicht aus«, sagte Belfontaine kurz.

»Doch, doch. Denn Sie haben ja Angst.« Der Mann mit den Sporen lächelte leicht, wobei er die Oberlippe emporzog und längliche Vorderzähne entblößte, die ihm die huschende Physiognomie einer traurigen Ratte gaben. »Und zwar haben Sie Angst vor sich selbst. Bitte, bitte – ich kenne das ganz genau. Ich beobachte das schon lange. Es fängt damit an, daß einer sich nachahmt, als ob er sein eigenes Spiegelbild wäre und voller Furcht darauf achtgibt, jede Bewegung genau so zu machen, wie er annimmt, daß er sie machen würde, wenn sie von dem, der er eigentlich ist, seinem Spiegelbild vorgemacht wäre.«

»Hören Sie auf!« schrie ihn Belfontaine an. »Ich werde noch verrückt. Erst empfangen Sie mich in solch einem Aufzug und dann –«

»Dieser Zustand drückt sich dann ferner in Selbstgesprächen 172 aus«, dozierte Herr Mösinger ungerührt weiter und legte die Hand ans Jabot. »Der betreffende Mensch wiederholt sich. Er wird zu seinem eigenen Echo und erschrickt, wenn sein Mund etwas ausspricht, von dem er glaubt, daß es nun und nimmer von ihm selber gedacht sein konnte. So wird er, wie ich behauptet habe, allmählich zu seinem eigenen Nachhall und zum Spiegelbild seiner Person.«

Er faßte zeremoniell nach seiner Kaffeetasse, trank, hob sie wieder umständlich ab und spreizte den kleinen Finger fort, indem er sie niedersetzte.

»Kurz und gut: der eben geschilderte Mensch entfernt sich von dem, der er ist, indem er den er zu sein vermutet, nachzuahmen sich müht. Und das Ergebnis? Je mehr er sich nachahmt, desto weiter entfernt er sich auch. Das Spiegelbild tritt zuletzt aus dem Rahmen, macht sich selbständig, winkt seinem Urheber zu und geht als Geistererscheinung seines bisherigen Daseins unter allerlei Faxen davon.«

»Und was wird aus dem Urheber, wie Sie ihn nannten?« fragte Belfontaine, Schweiß auf der Stirn.

»Was soll aus ihm werden? Er bleibt zurück. Er fällt in ein Loch, man bedeckt ihn mit Erde, man wälzt einen Stein über ihn.«

»So, so, man wälzt einen Stein über ihn«, murmelte Belfontaine matt. »Und es besteht keine Möglichkeit, wie, daß diese getrennten Teile wieder zusammenkommen?«

»Aber nein«, sagte Mösinger ungeduldig. »So wenig wie Sie Tote zum Leben erwecken können.«

»Ich nicht.«

»Nun ja, und wer sonst? Das Komische ist nur, daß dieses Phantom von der Mehrzahl der Leute, die ihm begegnen, für wirklich gehalten wird. Ganz klar, denn die meisten sind selber Phantome, eine vergnügte Gesellschaft entsprungener Phantome, die miteinander essen, und trinken, und sogar Kinder zeugen, ohne darauf zu kommen, daß dem anderen etwas fehlt.«

»Und das wäre?« forschte Herr Belfontaine spöttisch; er glaubte, jetzt klar darüber zu sein, daß ihn Mösinger ängstigen wollte, und war fest entschlossen, sich keinesfalls von diesen 173 Phantastereien, wie er sie innerlich nannte, ins Bockshorn jagen zu lassen.

»Sehr einfach. Was unsren Phantomen fehlt, ist eben das, was sie erst dazu macht, und woran man mit Sicherheit merken kann, daß sie nichts als Phantome sind.«

»Nun, nun. Sie spannen mich auf die Folter«, sagte Herr Belfontaine kalt.

»Die Tiefe, mein Lieber. Die Tiefe fehlt. Man könnte genau so gut sagen: die dritte Dimension. Dieser Mangel macht aber ihr Wesen aus; das Wesen der Mangelwesen, wie ich es nennen möchte. Gespenstische Sache, wie? Ins Geistige übertragen: sie haben keine Erinnerung. Theologisch: keine . . . hm, Reue. Die Träne fehlt. Genau wie beim Tier. Aber das führt uns ab.«

»Sehr interessant«, sagte Herr Belfontaine höflich. »Und Sie können natürlich jedes Phantom sofort als ein solches erkennen?«

»Ich?« sagte Herr Mösinger, sichtlich erstaunt. »O, nein. Wofür halten Sie mich? Wenn überhaupt, so gibt es im Grunde eigentlich nur zwei Menschen, die das einwandfrei feststellen könnten.« Herr Mösinger setzte sich auf den Tisch, zog – das Knie mit beiden Händen umschließend – ein Bein empor, legte das Kinn darüber und wippte mit der Schuhspitze langsam und spielerisch auf und ab; seine Augen über dem dunklen Nest der verschlungenen Hände waren jetzt glühend und mit der Wachsamkeit eines Raubtiers auf seine Beute gerichtet. »Der eine – verzeihen Sie bitte, daß ich wieder zu Ausdrücken greife, die eigentlich theologische sind; aber sie sprechen den Sachverhalt unmißverständlich aus – der eine ist der ganz große Sünder; der andere – scheußliches Ammenwort – der ganz große Heilige. Ihnen beiden ist nämlich die Furchtlosigkeit vor der Erinnerung eigen; das macht sie so verwandt. Dies und die Gabe der Unterscheidung, die dem Bürger vollkommen fehlt. Und da ich weder der eine noch der andere bin, lieber Belfontaine, sondern mich einzig darum bemühe, ab und zu ich selber zu sein, traue ich mir diese Fähigkeit, Phantome zu sehen, nicht zu.«

»Und warum erzählen Sie mir das alles?« fragte ihn Belfontaine. 174

»Weil ich unvorstellbar allein bin«, erwiderte der Drogist verdrossen. »Und daher ab und zu einen brauche, der mich anhört, Herr Belfontaine.«

»Aber die Hofdame aus dem Dixhuitième?«

»Genügt nicht. Sehen Sie her.« Er öffnete wieder den Wandschrank, schob einige Tassen und Gläser beiseite und holte das Überbleibsel einer vermorschten Puppe mit wackelndem Köpfchen heraus, blies über die Spitzenbesätze der seidenen Rokokorobe und trug sie an den Tisch. »Marquise de Lamotte. Entschuldigen Sie, daß die Dame sich nicht verbeugt. Ihr Kopf sitzt seit der Hinrichtung lose; Sie wissen ja: die Revolution! Die Place de la Concorde, und so weiter . . .! Man spricht nicht gerne davon. Am besten tun wir schon beide, als ob unser Kopf gar nicht anders säße –.« Er griff sich mit einem Ruck an den Hals und schien ihn zurechtzurücken; dabei, nicht ohne Sadismus, brachte er ein Geräusch hervor, welches das Knirschen der Wirbel auf unvorstellbar gespenstische Weise nachzuahmen versuchte. »Ein eigentümlicher Zustand, wie?« fragte er Belfontaine leise. »Aber nicht einmal unangenehm. Natürlich: manches gelingt nicht ganz. Wenn ich zum Beispiel, wie eben, über die Lunge zu rauchen versuche, kommt das Zeug an der Kehle heraus. Auch beim Trinken muß man vorsichtig sein – überhaupt bei jeder Art Tätigkeit, die den Anfang am Kopf macht und unterwegs eine sprunghafte Störung erfährt. Am besten läßt man beides getrennt und braucht den Kopf nur zum Denken und den Körper für die Verdauung. Das heißt: man denkt ohne Körper und lebt von den Schultern abwärts wie ein aufrecht gehender Bock. Übrigens glaube ich, daß die Menschheit bereits auf dem Weg dazu ist.«

»Eine fürchterliche Entwicklung«, sagte Belfontaine angeekelt.

»Fürchterlich? Aber wieso denn? Glauben Sie mir: Sie merken es gar nicht. Plötzlich sind Sie entzwei.« Er kicherte, ließ die Hände der Puppe leicht gegeneinander klappen und hob ihren Reifrock empor. »Süße Wäsche. Nur leider schon sehr zerfallen. Ja, ja – die galanten Damen . . . ›Wissen Sie, lieber Herr Mösinger‹, hat sie neulich zu mir gesagt, ›diese Trennung‹ [bemerken Sie bitte, wie delikat sie den Vorgang ihrer Hinrichtung ausgedrückt hatte!] – ›diese Trennung war eigentlich gar nicht so 175 schlimm. Als ich es merkte, war es vorbei. Und als es vorbei war, wußte ich nicht mehr, wie es früher gewesen ist.‹ Was sagte ich Ihnen? Es fehlt dieser Art die – Erinnerung. Und warum? Weil zu der Erinnerung Zeit gehört. Wenn aber die Zeit vorbei ist, ist die Möglichkeit, sich zu erinnern, fort; damit die Möglichkeit, etwas zu ändern, denn um mich zu ändern, müßte ich wissen, daß ich früher anders gewesen bin. Das Schlimmste aber: es kann die Zeit so plötzlich zu Ende gegangen sein, daß das Geschlecht, dem das widerfährt, seine eigene Zeit überlebt. Das ist die Hölle, mein Lieber. Oder besser: jene Enklave der Hölle, die in unser Leben hineinragt – in die einzelne Seele, das einzelne Dasein, die ganze Generation.« Herr Mösinger stellte gedankenverloren die Puppe auf den beladenen Tisch und ließ ihre hilflosen Füße zwischen den Tassen tanzen. »Ich denke manchmal«, flüsterte er, »man müßte für diese unwiederbringlich und für immer zu Ende gegangene Zeit einen anderen Namen finden.«

Herr Belfontaine blickte ihn fragend an.

»Gnade!« sagte der andere dumpf und nahm die Puppe zurück. »Die Zeit ist die Gnade schlechthin, mein Lieber. Alle Sünde ist daher Zeitvertreib und das Ende die Langeweile. Die Hölle, glauben Sie mir, muß entsetzlich langweilig sein.« Herr Mösinger lachte gezwungen auf. »Ich dilettiere in Theologie; zur Abwechslung auch in Chemie und Physik – wie es sich eben ergibt. Der geborene Universaldilettant . . . aber lassen wir mich beiseite.« Er schlug einen anderen Ton an und fragte leichthin: »Wo waren Sie heute? Hat sich Ihr Ausflug gelohnt?«

»Ja und nein«, erwiderte Belfontaine. »Ich habe zwar einiges ausgerichtet, doch das, was ich eigentlich wollte, verfehlt. So pflegt es ja meistens zu gehen. Am Ende hatte ich das Gefühl, im Kreis gelaufen zu sein . . . Übrigens läßt meine Frau Sie fragen, wie Ihnen der letzte Beaujolais schmeckte. Sie glaubt, er habe moussiert.«

»So, so – ich verstehe nicht viel davon und trinke einen Wein wie den andern; aber es ist schon denkbar, daß meine Kopfschmerzen kürzlich von diesem Beaujolais kamen. Es geht eben nichts über Kaffee. Ich brühe gleich neuen auf.«

»Bitte, so stark wie möglich«, sagte Herr Belfontaine. 176

»Mokka double – ganz wie Sie wollen. Mokka triple, wenn das nicht hilft. Sie sehen merkwürdig müde aus. Hat die Hitze Sie angegriffen?«

»Es will mir scheinen, als hätte ich Fieber«, murmelte Belfontaine. »Ein Zustand zwischen Wachen und Träumen, das heißt – ich glaube, noch niemals im Leben so klar bei Bewußtsein gewesen zu sein und gleichzeitig so . . . so . . . gestört. Stellen Sie sich doch bitte vor, daß ich in diesen elenden Dörfern, die gar keine Ausdehnung haben, irre gegangen bin.«

Herr Mösinger blickte ihn aufmerksam an.

»Nun ja – es war rein wie verhext. Ich vermute«, fuhr er geheimnisvoll fort, »man hat mir absichtlich falsche Auskunft an jeder Ecke gegeben.«

»Ganz klar«, stimmte Mösinger mitleidig bei. »Aber Sie sollten für Ihre Nerven wirklich mal etwas Richtiges tun. Meinen Sie das nicht auch?«

Belfontaine winkte ärgerlich ab. »Weibergeschwätz. Das gleiche hat meine Frau erst gesagt.« Er stutzte und fragte ihn argwöhnisch aus: »Ach so – Sie sind im Bunde mit ihr? Gestehen Sie es nur!«

»Ich bin im Bunde mit der Vernunft«, entgegnete Mösinger würdevoll und fügte besorgt hinzu: »Hat Sie denn mein Gerede am Ende so angegriffen? Aber Sie können durchaus beruhigt sein, verehrter Herr Belfontaine. Es ist eine schlechte Gewohnheit von mir, ab und zu wie die Gänsehirtin im Märchen in einen Eisenofen zu kriechen und Entlastungsgespräche zu führen.«

»Sehr interessant. Und dann war ich der Ofen?« fragte Belfontaine, halbwegs beruhigt, die seltsame Gänsehirtin.

»Nun – allzu wörtlich, mein Lieber, ist das natürlich auch nicht zu nehmen.« Herr Mösinger, wieder in Eifer geratend, fiel aus der Rolle des höflichen Lügners in seine wahre Natur zurück und gab sich der stoischen Wahrheitssuche mit fanatischer Wollust hin. »Nicht jeder Ofen hat einen Zugang; beziehungsweise: nicht jeder Mensch bietet ihn mühelos an. Es gehört dazu eine gewisse Zerstörung«, fuhr er schonungslos offen fort. »Ein Riß, eine Wunde, eine Verletzung; nicht größer, als daß eine Maus hinein- und herausschlüpfen könnte.« 177

»Hoffentlich«, sagte Herr Belfontaine böse, »habe ich Ihrer Mäuseseele ein gutes Echo gegeben!«

»Echo! Was – Echo! Du lieber Gott«, erwiderte Mösinger voll Verachtung, ohne beleidigt zu sein. »Merken Sie denn überhaupt nicht«, fragte er ungerührt weiter, »daß ich umgekehrt selber Ihr Echo war, hm? Und daß die falsche Auskunft der Leute in diesen ›elenden Dörfern‹ nur deshalb falsch war, weil Sie sie falsch verstanden oder sich eine andere Antwort im stillen erwartet hatten? Doch – wonach suchten Sie eigentlich?« forschte er ungeniert.

»Wonach? Sie wollen wissen, nach wem?« erwiderte ihm Herr Belfontaine mit seltsamer Leidenschaft. »Genau gesagt: nach dem Vertreter der französischen Weinfirma ›Paquet und Söhne‹, die mir den Beaujolais aufgehängt hat – in Wirklichkeit aber nach einem Lehrer, den ich in Orléans kennenlernte und mit welchem ich meine Sommerferien vor zwanzig Jahren in Vieux-Noyers, einem Nest an der Loire, verbrachte . . .«

»Ich verstehe nicht«, sagte Herr Mösinger mild, »was jener Lehrer mit dem Vertreter von ›Paquet und Söhne‹ zu tun haben soll. Oder glauben Sie, daß er ihn zufällig kennt, diesen Herrn . . . nun, wie heißt er denn gleich?«

»Tatütata.« Belfontaine winkte ab. »Ein französischer Meier.«

»Was sagen Sie?«

»Oder Müller. Na ja doch – ein Sammelname, wie jeder Franzose ihn kennt. Jeder kennt ihn. Jeder ist ihm begegnet, mit ihm verschwägert, befreundet, verfeindet und hat mit ihm angestoßen . . . Prost, Mösinger! Dieser Kirsch ist vortrefflich. Geben Sie mir noch ein Gläschen gesondert und zeigen Sie mir die Fahne. Ich bin jetzt in der Stimmung dazu, Ihre Erfindung zu würdigen. Ich bin überhaupt in der Stimmung, alles mit Wohlwollen zu betrachten und in mein Herz zu schließen. Seid umschlungen, Millionen –.« Mit einem schluchzenden Laut brach er ab und starrte den anderen an. »Einen Freund . . .« Er wiegte den Kopf hin und her, legte die sorgsam gepflegten Hände auf beide Oberschenkel und stieß aufs neue, während sein Antlitz vollkommen unbewegt blieb, einen tiefen Klageton aus. »Einen Freund«, wiederholte er mehrere Male. »Einen ganz 178 gewöhnlichen Freund, wie jedermann ihn hat oder mindestens haben könnte. Aber ich finde ihn nicht.«

»Merkwürdig«, sagte Herr Mösinger trocken.

»Was ist merkwürdig?«

»Daß Sie darunter leiden. Ich zum Beispiel würde für nichts in der Welt meine Einsamkeit aufgeben wollen, die eine Teilhabe an dem Genie ist; ja, an dem göttlichen Geist.«

»Wenn man einsam ist, braucht man noch kein Genie, erst recht nicht ein Gott zu sein«, erwiderte Belfontaine rauh.

»Nach der christlichen Auffassung sicherlich nicht«, stimmte der andere bei. »Der Teufel ist einsam. Gott ist dreifaltig. Doch selbst der Teufel sucht sich Gesellschaft – nur Herr Mösinger sucht sich keine.« Er lachte sein staubiges, fühlloses Lachen und trank Herrn Belfontaine zu. »Sie kommen auch noch auf den Geschmack« sagte er munter, »und dann –«

»Dann?« fragte Belfontaine ihn gespannt.

»Dann werden Sie finden, daß nichts auf der Welt ein so angenehmes Leben verbürgt wie gerade die Einsamkeit. Oder, halt – es mag bei Ihnen auch so sein, daß Sie die Einsamkeit, die Sie umgibt, überhaupt nicht mehr fühlen, weil nämlich inzwischen Ihr Dasein so vollkommen wunschlos wurde, daß kein Platz mehr für die Erinnerung bleibt, für die Sehnsucht, den Seufzer, die Melancholie oder wie Sie es nennen wollen . . . Asphodeloswiese –.« Er trank und schwieg. »Aber Sie schlafen ja wohl?« Er betrachtete seinen traurigen Gast mit unverhohlenem Ärger, erhob sich, räumte die Teller und Tassen, indem er sie einfach beiseite schob, fort und fing, als wäre kein Mensch in der Werkstatt, aufs neue zu arbeiten an.

Asphodeloswiese . . . Herr Belfontaine atmete tief. Dies also war der Fleck seiner Träume – tausend Klafter hinunter. Er sank . . . und sank . . .

Eine Wiese, ein Strom, eine schattige Bucht. Ein Mensch mit dem Angelgerät auf der Schulter, den vollen Eimer in seiner Rechten, kommt früh am Morgen nach Hause. Der Eimer scheppert; von weitem klappern zwei andere mit. Die Magd, den Tragbalken über den Schultern, ist aus dem Stall gekommen und setzt die Milcheimer auf den weißen, ausgetretenen Stufen nieder, die in das Bauernhaus führen. 179

»Was gefangen, Herr Belfontaine?«

»Große und kleine. Da – nimm ihn, ein Dicker. Der ist für dich. Drei Schuppen davon in den linken Schuh, dann geht das Geld nicht mehr aus.«

»Ein Schälchen Milch?«

»Warum nicht, Marguerite? Schön warm ist die Milch!«

»Und fett, Herr Belfontaine, fett wie Öl.«

Er trinkt. Ein paar Tropfen verlorene Zeit fallen träg auf die Erde herab. Laue Luft. Laues Wasser. Die Sonne steigt. Wird es heiß werden? Nein. Auch die Sonne ist lau und schwimmt in einem gestaltlosen Himmel von schläfrigen Sommerwolken. Ein fernes Dengeln über dem Strom – wie friedevoll, ach! . . . So dengelt der Tod zwischen Heuschnitt und Grummet die Sense. Schneide nur. Schneide. Ich bin auf dem anderen Ufer, und das Gericht ist vorbei . . .

»Sind Sie zufrieden, Herr Belfontaine?«

»Wer fragt mich da? Ach, Sie sind's, Tricheur! Warum denn nicht, Herr Tricheur? Ich bin vollkommen glücklich. Was will ich mehr: mein Sparkonto wächst, mein Birnenspalier trägt haufenweise die schönsten Früchte, die neue Rose ist preisgekrönt worden und führt den Namen ›Reine de la Loire‹ in sämtlichen Katalogen; man hat mich zum Ehrenmitglied des Blumenzüchtervereins ernannt, und die staatliche Gartenbauschule ist mit der Bitte um Ableger an mich herangetreten. Jedermann schätzt mich und achtet mich hoch, die Zahl meiner Freunde ist schon Legion . . . Warum lachen Sie, Herr Tricheur?«

»Ich lache nur über das Wort ›Legion‹, mein ehrenwerter Herr Belfontaine. Legion. Natürlich. Auch wir sind Legion.«

»Wer: wir?«

»Ihre Freunde. Was meinten Sie sonst? Oder darf ich mich nicht dazu zählen?« Herr Belfontaine stöhnte leise im Traum. »Mein Freund . . . mein allergeliebtesterFreund . . .«, flüsterte eine zärtliche Stimme und schmolz in Schwermut dahin. Laue Luft, laues Wasser, ein Dengeln über dem Strom, das immer härter wurde . . .

»Ich glaube, ich habe mich meiner Zukunft – ich habe mich meiner Zukunft erinnert«, stammelte Belfontaine mühsam und 180 versuchte den widersinnigen Satz, wie ein Trunkener seine Späße, hartnäckig zu erläutern. »Das heißt, ich habe . . .«

»Kommen Sie zu sich«, sagte Mösinger überdeutlich und hörte zu klopfen auf. »Wir gehen jetzt auf den Hof hinunter und probieren die Fahne aus. Die frische Luft wird Sie munter machen – –.« Seine feste, knochige Hand packte den anderen kräftig an und zog ihn zu sich empor. »Können Sie stehen?«

»Ich bitte Sie!« entgegnete Belfontaine ärgerlich. »Überanstrengung, weiter nichts. Ich bin zuviel in der Sonne marschiert – nun zeigen sich die Folgen.« Er fuhr ein paarmal, sich männlich räuspernd, mit Daumen und Zeigefinger hinter dem Stehkragen her. »Andiamo!« sagte er dann mit lässiger Großartigkeit.

Sie verließen das Haus durch die Hintertür; auch hier schnappten Sicherheitsschlösser zurück, klirrten Ketten, drehten sich singend und sirrend ausgetüftelte Schlüssel, bevor sie ins Freie kamen. Die kurze Mainacht, welche erst eben die zitternde Stadt überwältigt und ihre leichte, süße Betäubung wie einen purpurblau fließenden Trunk in die Gehirne ergossen hatte, hellte sich schon wieder auf; sie verteilte sich, äußerster Wollust ähnlich, die gleichmäßig alle Glieder durchdringt, und hob das Haupt ihres Opfers, wie Luna den schlafenden Hirten, zu neuer Entzückung empor: der Täuschung des menschlichen Geistes, sich in geschlechtlicher Liebe, und der geschlechtlichen Liebe, sich im Geiste wiederfinden zu können, entsprach nun der Anblick des sinkenden Mondes, der zögernd unter den Horizont ging und sich bereits mit der Dämmerung mischte, um gleichsam die Dämmerung selber mit seinem Schein zu verführen, der von drüben geborgt worden war. Alles war ungewiß, nichts war verbürgt, und das eine im andern enthalten; ja, selbst die künstliche Helle der stockigen Gaslaterne, die über die bröckelnde Mauer des unregelmäßigen Hofes ragte und die Laubkrone einer vereinzelten Linde zu theatralischer Würde erhob, indem sie die Blätter mit Vitriolgrün schicksalhaft übergoß, war bemüht, die Verwirrung des Lichtes nach Kräften mitzuspielen. Wie kleine, gehämmerte Zwergenschilde traten, mit Krötenhaut überzogen, die Buckel der Pflastersteine hervor; ein leerer, offenstehender Schuppen wölkte von Schwärze und brodelte leise, 181 während der Wind seinen nichtigen Inhalt aus Kohlenstaub, Holzmehl und alten Papieren vergeblich nach Formen durchwühlte . . .

»Aufgepaßt!« rief Herr Mösinger wichtig und klatschte in die Hände; es war, als wisse er rings um sich eine große Zuschauermenge: Kopf hinter Kopf mit Eidechsenaugen und spitzen, unsichtbar machenden Hüten; gebäumte Ottern mit Spinnwebkronen; kleine Knochenklappern, die, Bein an Bein, sich zu Inkuben zusammenfügten und anderes Mainachtgesindel, das in Erwartung der kommenden Dinge in dichten Haufen erschienen war, die Hälse reckte, sich zankte und stieß und mit vogelhaft frechen Sprüngen einander begattete. Eine Fledermaus wischte das häßliche Flugbild ihrer flatternden Häute über den Himmel und kehrte, kaum daß sie verschwunden war, mit verdoppelter Eile zurück; dabei verstärkte der Eindruck sich, den Belfontaine von ihr hatte: als sauge sich ihr dämonischer Schatten, welcher noch eben ein Spuk, ein Hauch, ein Umriß, ein Garnichts gewesen war, mit wachsender Wirklichkeit voll . . .

Inzwischen hatte Herr Mösinger den Fahnensatz unter Erläuterungen in der Mitte des Pflasters niedergelegt und rätschte jetzt, auf der Erde kniend, mit dem Rücken gegen den Nachtwind, ein Hölzchen und noch ein zweites an; ein drittes, viertes und fünftes, um die Zündschnur in Brand zu setzen; dann lief das Feuer die Schwarzpulverseele der umwickelten Hanfschnur entlang und schlug seinen scharfen, glühenden Biß in Herrn Mösingers Fahnensatz ein.

Der Erfinder, aufs höchste erregt, packte die Hand des Besuchers. »Jetzt!« keuchte er. »Jetzt!« Was er ausdrücken wollte, ging in dem Knallen und Knattern der explodierenden Mischung unter, die sich trichterförmig erhob; dann, unter weiterdauerndem Dröhnen, entfaltete sich eine riesige Fahne von unheilverkündendem Rot und blieb, während Feuer, Schwefel und Phosphor ihren geisterhaften, lebendigen Leib unter heftigen Schüssen speisten, wie über Schlachtfeldern stehen . . .

Die beiden Männer starrten empor, solange das Schauspiel währte. Ein grauenhaftes Entzücken verzerrte ihre Züge, die von der höllischen Lichtflut erhellt, ja sogar schmerzlich 182 veredelt, entrückt und über den dumpfen Zufall hinausgehoben waren. Allmählich löste die Fahne sich auf. Sie verlor an Dichte und Körperlichkeit, um an Ausbreitung zu gewinnen und wie ein langsam verlöschender Seufzer über den Himmel zu wehen, den sie mit falschem Morgenrot schminkte, bevor sie endlich verging.

»Nun?« fragte Herr Mösinger, langsam in sich zusammensinkend.

Herrn Belfontaines Blick, der – obwohl alles vorbei war – noch immer ein leeres Erstaunen festhielt, kehrte flatternd zur Erde zurück.

Die beiden maßen sich mit den Augen. »Nun?« drängte Mösinger wieder. In seiner Stimme, unüberhörbar, war ein drohender Unterton.

»Außerordentlich! A la bonheur!« spendete Belfontaine Beifall.

Herr Mösinger, stürmisch erheitert, schnickte eines der roten Pantöffelchen fort und fing es mit der Hand. »So etwas schüttele ich aus dem Ärmel«, sagte er unbescheiden, hustete staubig, wie seine Art war, und zog auch den andern Pantoffel ab; hierauf, seine nackten, hornigen Zehen wie ein Baumaffe über dem Pflaster spreizend, begann er mit beiden Schuhen zu spielen, indem er sie abwechselnd hochwarf, in der Luft aneinander vorüber und wieder zurückwirbeln ließ. Darüber löste die Schnur sich auf, die seinen Morgenrock hielt, und Herr Mösinger stand – oben Rokoko, unten baumwollbiberne Unterhosen – von den knallgelben Papageien umflügelt, wie ein Zauberkünstler auf Urlaub da: verlassen und lächerlich.

»Genug der Illusionen, mein Lieber!« sagte Herr Belfontaine grausam und genoß es, für Herrn Mösingers Späße, die sein Innerstes bloßgelegt hatten, Rache nehmen zu können. »Gehen Sie jetzt zu Bett und vergessen Sie nicht, ein Hustenbonbon in Ihren Mund zu stecken. Mit den Mainächten ist nicht zu spaßen –. Übrigens: komme ich hier heraus?« Er deutete auf eine kleine verrostete Eisenpforte, die der Hofmauer eingefügt war.

»Wenn Sie den Riegel zurückstoßen wollen«, sagte Herr Mösinger mürrisch und zog mit betonter Korrektheit seinen Morgenrock eng um den dürren Körper – schon glich er wieder jenem 183 Drogisten mit hohen Stehkragenecken und steifen Manschettenröllchen, welcher statt chemischer Analysen einen Farben- und Brustpulverhandel betrieb, im Winter Rattengift und im Sommer Fliegenpapier verkaufte. Er ließ den Besucher rücksichtslos stehen und wandte sich unhöflich ab. »Gute Nacht – und kommen Sie gut nach Hause!« sagte er merkwürdig spitz.

Herr Belfontaine ging nach der Pforte und versuchte den Riegel zurückzuschieben, plagte sich eine Weile vergeblich und stolperte schließlich, das Tor verwünschend, über einen behauenen Stein; schlug mit ihm endlich den Riegel heraus und wollte den Stein schon zur Erde werfen, als sein Blick auf ein Ornament fiel, welches den Rand verzierte. »Das ist doch –«, murmelte er betroffen. »Natürlich, hier sind noch die Mauerreste der alten Synagoge, und dieser Brocken gehörte dazu; das kann ja ein Blinder sehen.« Er schlüpfte eilends zum Tor hinaus und warf es hinter sich zu. »Dieser Narr, dieser Mösinger«, dachte er noch, »versichert sein Haus mit den kunstvollsten Schlössern und läßt es gleichzeitig offen. Nun ja, mir kann es einerlei sein –.« Er lief die kurze Gasse entlang, die man Altschul-Reuel zu nennen pflegte, ein schmales, darmähnliches Straßengebilde, das sich sackartig aufblies und blind in einem Grasplätzchen endigte, das von vier, fünf Häusern umstanden wurde, die ihrerseits wieder mit offenen Höfen und übermauerten Gängen in dahinterliegende Gassen führten: in die ›Schächte‹, den Rabbihof und die ›Rosen‹, wo das kümmerliche Bordell des Städtchens sich eingenistet hatte und aus verhangenen Fenstern den Lichtschein der roten Pufflämpchen schickte. Zwei Ratten liefen mit grellen Pfiffen Herrn Belfontaine vor die Füße und verschwanden im Hof eines Kohlenhändlers, wo, an den schwarzen Halden vorüber, die nur durch einen Bretterverschlag vor dem Zugriff der Diebe gesichert waren, der Weg den Brandmauern des Bordells und der früheren Schächte entlangging, dann umbog und wieder auf andere Gassen und unregelmäßige Plätze führte, deren jeder ein Traumdelta ältester Namen und schlangenförmiger Niederungen aus vorgeschichtlichen Zeiten zu sein schien – tot, abgelagert vom Gang der Moräne und trotzdem durch seine Art und Weise, wie er kreisend in sich zurücklief, noch etwas von Flut bewahrend . . . 184

Hier also war das frühere Ghetto, dachte Herr Belfontaine wieder, und daß diese Häuser von etwas anderm als von Gespenstern bewohnt sein sollten, war einfach nicht vorzustellen. Dieses wolkengraue Gebäude zum Beispiel: schief, abgeblättert, mit großen Flecken und einer Glasscheibe, die so verschmutzt war, daß der Schuh- und Kleiderhaufen dahinter in der ungewissen Art, sich zu häufen und übereinanderzuschieben, fast etwas Menschenähnliches hatte und je nach der Blickrichtung bald einem Körper, an dem das Leichenhemd mitverwest, glich; bald einem Säufer im Rinnstein oder einem Ertrunkenen – –. Was beherbergte diese Höhle wohl andres als einen Haufen von Haderlumpen, die um Mitternacht Arme und Beine hoben, sich aufblähten und die Bewegungen machten, die ihre verschollenen Herren ihnen früher beigebracht hatten?

Herr Belfontaine trat neugierig näher und klopfte an die Scheibe. »Guten Tag, Herr Villon! Guten Tag, Herr Rimbaud! Guten Tag, Herr Till Eulenspiegel! Immer lustig? Immer noch unterwegs? Was ich fragen wollte: sind Sie vielleicht einem gewissen Herrn Jean Baptiste aus Ihren Kreisen begegnet? Mittelgroß, mager, mit grauen Haaren und einer eigentümlichen Art, den Zeigefinger hinauszustrecken, als ob er auf das Lamm Gottes . . . persönlich hinweisen müßte –? Ich laufe schon einen geschlagenen Tag beständig hinter ihm her. Sie finden das lächerlich? Na, ich auch. Aber sehen Sie: ich bin eben treu. Ein treuer Freund wie es keinen mehr gibt. Anhänglich. Liebebedürftig . . .«

Noch immer starrte Herr Belfontaine wie gebannt in die Schaufensterscheibe. Plötzlich zuckte er heftig zusammen und trat in den Häuserschatten. Eine Hand bewegte den Kleiderhaufen und schlug ihn wie einen Vorhang zurück – dann erschien mit gepeinigter Miene der schlaflose alte Manasse und blickte sich suchend um. Sein Mund bewegte und öffnete sich zu unhörbaren Rufen: »Hat jemand geklopft?« schien er lautlos zu fragen und krümmte die Hand um das Ohr. Alles blieb still. Er zuckte verloren mit den ausgemergelten Schultern und rührte mit einer Gebärde jahrhundertealter Verlassenheit seine traurige Ware an. Getröstet, begann er die Hosen und Jacken umzuhängen, warf hier einen gefälligen Schlips über ein verbrauchtes Jackett und setzte dort einem Kleiderbügel eine stolze 185 Melone auf. Sein Werk mit Wohlgefallen betrachtend, entschloß er sich, auffallend ungern, wieder zurückzukriechen und stieß dabei einen Stock um, der polternd zu Boden fiel. Er hob ihn auf, betrachtete ihn und schob ihn in einen Korb, der Regenschirme enthielt. Der Stock ragte hoch aus ihnen heraus; sein Griff, dessen Biegung geglättet war, als hätte ihn eine Hand geführt, die ihn, außer im Schlafe, nicht losließ, schien aus edlerem Stoff als das übrige Stück, ja, demselben gleichsam nur aufgesetzt oder geliehen zu sein. Der alte Manasse nahm ihn heraus und betrachtete ihn entzückt; fuhr ein paarmal seine Biegung entlang und hatte dabei einen Ausdruck von greisenhaftem Behagen in seinem toten Gesicht. Er schloß die Augen, stützte sich auf die Krücke und tastete prüfend weiter – bei dieser Bewegung, die mit der Kraft eines Blitzes an Herrn Belfontaines Augen vorbeiging, enthüllte sich die Herkunft des Stockes und das Schicksal des Blinden, der ihn geführt und im Tode verloren hatte, so unbeschreiblich deutlich, daß für den Mann vor dem Fenster nichts mehr zu hoffen war.

Er hastete weiter, stumm und verstört; was er suchen wollte, wußte er nicht; noch weniger, was er verloren hatte, und am wenigsten, was ihn trieb. Indessen zerfiel mit dem wandernden Mond und dem huschenden Wechsel von Nacht und Morgen die Welt um ihn immer mehr. Die schemenhafte Tücke der Dinge, eine Art von Verabredung, die er schon früher an ihnen beobachtet hatte, ließ ihn aufs neue den Weg verfehlen und jagte ihn im Kreis. »Ein Labyrinth!« sagte Belfontaine zornig und stampfte mit dem Fuß. »Welch ein Schmutz! Wie häßlich selbst in der Nacht! Dieses Stadtviertel taugt zu nichts weiter, als abgerissen zu werden.« Als ob sich dieser vernünftigen Einsicht die Häuser nicht länger mehr widersetzten und nachzugeben schienen, flammte plötzlich ein tiefschwarzes Fenster auf und brannte der furchtbar verschimmelten Mauer ein grelles Feuermal ein. Fast gleichzeitig kamen Schritte heran, und ein Mensch in ungewöhnlicher Eile näherte sich dem Zeichen. Das Fenster wurde zurückgeschlagen; irgend jemand – ob Mann oder Frau, war nicht zu unterscheiden – beugte sich weit hinaus.

Herr Belfontaine wandte sich, auskunftsuchend, dem Schall der Schritte entgegen. »Bitte –«, begann er. Sein Herz blieb stehen. 186

Mit dem merkwürdig schleifenden Gang und der Haltung einer angeschossenen Krähe lief, eine Hand auf die Brust gelegt, der Pfarrer über den winzigen Platz und blieb vor Belfontaine stehen. »Warum haben Sie nicht auf mich gewartet?« fragte er hastig und fügte hinzu: »Wo ist sie? Gehen Sie mir voraus! Aber langsam, damit ich nicht falle – ich habe das Allerheiligste bei mir . . .«

Herr Belfontaine trat aus dem Schatten und beugte zitternd das Knie. »Herr Pfarrer . . . wie können Sie ohne Begleitung . . . oder wissen Sie nicht, wo Sie sind?« flüsterte er entsetzt. Jetzt erst erkannte der andere ihn. »Sie sind es, Belfontaine? Gut!« sagte er geistesabwesend. »Dieses Fenster dort muß es wohl sein. Ich hatte keine Zeit mehr zu fragen, der Mann war gleich wieder weg. Eine Frau liegt im Sterben. Kommen Sie mit!« Im Sprechen lief er schon weiter, Herr Belfontaine neben ihm her.

Nun verschwand die Gestalt in der Fensteröffnung, die Haustür wurde geöffnet, und ein Mann mit fleckigem Halstuch und offenstehendem Hemd, der gerade den linken Hosenträger über die Schulter zog, trat in roher Verstörung heraus. »Sie hat schon zum zweitenmal Blut gekotzt«, erläuterte er brutal. »Diese Frauenzimmer sind alle krank«, fügte er wie zur Entschuldigung in milderem Tonfall hinzu. »Eine Treppe hoch, links . . . die Tür steht nachts immer offen. Sie können den Weg nicht verfehlen.«

Der Geistliche war schon davongeeilt, Herr Belfontaine hörte ihn vorwärts tasten und nahm in dem finsteren Hausflur einen flüchtigen Lichtschein wahr. Der Mann mit dem fleckigen Halstuch wandte sich Belfontaine zu. »Na und Sie? Sie wollen wohl warten?« fragte er unverschämt. »Nichts zu machen. Die kommt nicht mehr hoch. Zwei Häuser weiter gibt es noch mehr von dieser elenden Sorte.« Belfontaine schwieg, der andere wurde verlegen und blickte ihn aufmerksam an. »Oder sind Sie der Doktor? Ich kann nichts dafür«, verhaspelte er sich. »Sie hat schon vorher Prügel bezogen, ich kam gerade dazu. Man weiß ja: so eine verträgt nichts. Meine Alte zum Beispiel nimmt anderes hin und ißt ein Stück Brot dabei. Adjö! Empfehle mich. Viel Vergnügen.« Er schlenderte in dem Bewußtsein, seinen 187 schlechten Eindruck verwischt zu haben, mit betonter Langsamkeit weiter und schoß dann, kaum um die nächste Ecke, wie ein Pfeil auf der Sehne davon.

Herr Belfontaine lehnte fahl an der Hauswand. »Gott im Himmel«, flüsterte er mechanisch, während sich seine Gedanken verwirrten, »der Kerl hatte recht. Man müßte sofort einen Arzt . . . vielmehr, man hätte zuerst einen Arzt und dann einen Geistlichen holen müssen. So ist die Reihenfolge im Kopf jedes vernünftigen Menschen. Aber ich kann ja nicht fort, ich muß für den Pfarrer Schmiere stehen und hier in der Haustür bleiben, damit ihn keiner entdeckt. ›Allons, marsch, mein Lieber‹, werde ich sagen, wenn irgendein Kunde daherkommt, ›ich habe für diese Nacht schon gezahlt. Jawohl, jawohl, für die ganze Nacht. Zwei Häuser weiter gibt es noch mehr von dieser elenden Sorte . . .‹ Inzwischen stirbt das Mädchen natürlich, bevor man den Arzt geholt hat. Verfluchte Sache! Was ist nun schlimmer?« Er zuckte zusammen, die Hand des Pfarrers berührte seine Schulter.

»Gehen wir!« drängte Mathias.

»Ist sie tot?« fragte Belfontaine ihn erschrocken.

»Ich habe ihr noch gerade die letzte Ölung gespendet. Gott liebt die Sünder wie seinen Sohn«, sagte der Pfarrer einfach.

Herr Belfontaine atmete merklich auf. Arzt, Leichenschau, Polizei und so weiter blieb ihnen nun glücklich erspart. Ihre Kolleginnen würden die Tote am nächsten Morgen finden – diese Damen hielten ja immer wie Pech und Schwefel zusammen. Alles andere ergab sich von selbst – und daß der Mann mit dem Halstuch sich Zeugen herbeizitierte, schien vollkommen ausgeschlossen. Übrigens, wenn man es richtig bedachte, war das Mädchen einen Berufstod gestorben – nicht anders, wie wenn ein Bettler im Straßengraben verdirbt.

»Ich bringe Sie noch nach Hause, Herr Pfarrer«, sagte Belfontaine aufgemuntert und fügte in unerklärlicher Spannung, stehenbleibend, hinzu: »Was dachten Sie eigentlich, als Sie mich trafen? Ich meine: gerade hier? In diesem verrufenen Viertel . . . Sie wissen . . .«

»Ach, ist das ein verrufenes Viertel?« fragte Mathias zerstreut. 188

Herr Belfontaine starrte ihn zornig an. »Nun, Ihre Unkenntnis – bitte, Herr Pfarrer, nehmen Sie es nicht übel – in allen Dingen des täglichen Lebens ist wirklich bemitleidenswert. Haben Sie denn überhaupt nicht bedacht, welche Folgen es für Sie haben konnte, ganz ohne jede Begleitung hierhergekommen zu sein? Wenn jemand Sie in das Haus gehen sah – welch entsetzliches Mißverständnis! Ihr guter Ruf wäre hin gewesen, wäre vollkommen hin gewesen durch dieses Ärgernis!«

Der Geistliche blickte ihn offen an. »Ich glaube, es ist nun einmal mein Schicksal, Ärgernis geben zu müssen«, sagte er mit entwaffnendem Lächeln. »Oder sollte das Ihrem Scharfsinn bisher entgangen sein, wie?«

»Ich – nein, gewiß nicht – ich wollte Sie auch nicht kränken . . .«, stotterte Belfontaine blutübergossen, ». . . so wenig ich meinerseits glaube, daß unser Zusammentreffen Sie nötigt, von mir etwas Schlechtes zu denken.«

Nun lachte der Pfarrer offen heraus. »Das wäre ja auch ein schöner Dank für Ihre Schutzengelrolle. Aber, wenn Sie noch ein übriges tun und mich wirklich nach Hause begleiten möchten – ich bin nämlich wie die Katze, die den Weg zurück nicht mehr findet, wenn sie sich nicht umgedreht hat. Und zum Umdrehen fehlte mir vorhin die Zeit.«

»Mit Freuden«, sagte Herr Belfontaine rasch. »Nur habe ich mich selber verlaufen, als ich Mösinger durch die Hoftür verließ – wir hatten nämlich gerade einen Feuerwerksatz zum Kasinofest im Freien ausprobiert.«

»Wenn ich nicht irre, war hier das Ghetto?« fragte der Geistliche höflich.

»Es war nicht nur. Es ist es auch noch«, erwiderte Belfontaine. »Von der Altschul ist freilich nichts übrig geblieben als eine Gasse, die ›Altschulreuel‹ und ein Gemäuer, das ›Rabbihof‹ heißt – soviel ich weiß, hat ein Judenpogrom vor etlichen hundert Jahren den Rabbi samt seiner Altschul von der Erde hinweggenommen. Aber trotzdem leben noch immer einige Althändler hier, ein Pferdemetzger, ein Pfandleiher, ja . . . und was dieser Gewerbe mehr sind. Die neue Synagoge natürlich hat damit nicht das geringste zu tun, und wenn wir vor ihren drei 189 Kuppeln stünden, so wäre es mir ein leichtes, mich von dort aus zurechtzufinden. Allerdings müßte zuvor einer kommen, der wieder Feuer in ihr Gestühl wirft, damit wir die Richtung haben . . .«

»Merkwürdig«, sagte der Pfarrer betroffen, »mir war doch vor einer Stunde, als ob ich den Widerschein eines Brandes am Himmel gesehen hätte.«

»Das haben Sie auch, Herr Pfarrer«, sagte Belfontaine ausdrucksvoll. »Ich erzählte Ihnen doch eben, daß wir zur Probe den letzten Satz des Feuerwerks ausprobiert haben.«

»Nein«, widersprach ihm der Geistliche heftig, »unmöglich, daß das ein Feuerwerk war. Ich sage Ihnen, es war ein Brand –«, er zitterte plötzlich am ganzen Leibe und packte mit geschlossenen Augen Herrn Belfontaine an der Hand.

»Beruhigen Sie sich! Es ist, wie ich sagte«, tröstete Belfontaine überlegen und fühlte erschrocken, daß ihm der Pfarrer bewußtlos entgegensank. Im nämlichen Augenblick faßte er zu, stemmte den Rücken gegen die Hauswand und hielt den Körper seines Begleiters, der vollkommen hölzern und merkwürdig steif war, wie einen gefällten Baum mit beiden Armen umfaßt. »Wie furchtbar! Er scheint also wirklich an Epilepsie zu leiden«, schoß es ihm durch den Sinn. »Genau die gleiche Erscheinung wie gestern, als die Bauern ihn aufgesucht haben. Nun, hoffentlich kommt er bald wieder zu sich, denn wenn er auch nur ein Häufchen Knochen und etwas Haut drüber ist, fällt es doch schwer, einen leblosen Körper solange aufrecht zu halten. Aber hinlegen möchte ich ihn natürlich auf gar keinen Fall, denn er hat ja noch immer das Allerheiligste bei sich.«

Ein langer, eigentümlicher Schauder, dem, wie das Fieber dem Schüttelfrost, eine glühende Hitze folgte, durchfuhr ihn bei diesem Gedanken.

»Nur ruhig, ruhig«, sagte er sich. »Was ist schon weiter dabei! Mein Gott – wie sein Herz an die Rippen schlägt . . . oder täuscht mich nur meine Einbildungskraft, und ich fühle das eigene schlagen und höre wie unter Wasser diesen dumpfen, donnernden Ton?«

Herr Belfontaine stützte sich fester an und zog den Leblosen höher hinauf; der Kopf des Pfarrers, sein farbloses Haar, die 190 tödlich erblaßte Wange lag nun auf seiner Schulter und schien um Erbarmen zu bitten. Belfontaine blickte darüber hinweg und hatte, wie in der Kirche, die sonderbare Empfindung, als solle ihm wieder ein Zeichen gegeben, eine Botschaft mitgeteilt werden, deren Dringlichkeit keinen Aufschub zuließ, keine Entschuldigung, nichts, was sie schwächen oder wesenslos machen könnte. Er starrte und starrte – – Leuchtfeuer flammten, das dumpfe Donnern brandete mächtig, in immer stärkeren Stößen, an sein Bewußtsein heran . . . schon hatte er das Gefühl, als ob Worte, eine Anzahl von scharf unterschiedenen Worten, wie Speere über die Brandung geschleudert und in sein Herz gebohrt würden, wo sie sich zitternd im Aufsprung wiegten und noch die winzige Spanne nach rechts oder links besaßen, bevor sie zur Ruhe kamen . . . Dann fühlte er, wie sich der Pfarrer bewegte, und bot seine ganze Willenskraft auf, sich von keiner wie immer gefärbten Empfindung niederzwingen zu lassen.

»Nun, nun – es geht schon. Es geht schon besser«, behauptete Belfontaine trocken und drängte den wieder Entspannten an einen Mauervorsprung, wo er ihn niedersetzte.

Der Geistliche seufzte und murmelte leise: »Sie sagten, daß es ein Feuerwerk war?«

»Natürlich war es ein Feuerwerk!« erwiderte Belfontaine. »Und zwar war es die Figur einer Fahne, die sich erst in der Höhe aufrollt, und dann wie ein großes, entfaltetes Feuer über den Himmel zieht. Sie müssen sich eine Bewegung denken«, belehrte er den Pfarrer voll Eifer, »die kreisend in sich zurückläuft; gewissermaßen ein Rad, dessen Drehung den explodierenden Pulverkörper eine ganz bestimmte Form anzunehmen und ihn ihr zu entsprechen zwingt. Die Kant-Laplacesche Welttheorie, um einen Vergleich zu gebrauchen«, fuhr Herr Belfontaine schwärmerisch fort und berauschte sich an den eigenen Worten, »ad oculos demonstriert.«

»Nicht übel«, sagte der Pfarrer schwach. »Keine Feuersbrunst, eher ein Weltenbrand – genau so habe ich es empfunden . . .« Er taumelte, als er sich endlich erhob, und mußte den anderen unterfassen, um auf den Füßen zu bleiben.

»Vielmehr eine Spielerei und nichts weiter«, sagte Belfontaine 191 in beruhigendem Ton. »Eine kleine, kosmische Spielerei, die nichts zu bedeuten hat.«

»Ich glaube«, sagte der Pfarrer ruhig, »sie hat heute schon mehr zu bedeuten als Sie denken, Herr Belfontaine. Aber gehen wir. Gehen wir jetzt. Die Laternen verlöschen bereits.«

Sehr viel rascher, als beide vermutet hatten, fanden sie aus dem Gewirr der Gäßchen, die hinter ihnen wie spielende Schlangen, deren Bewegung vorübergehend von einer höheren Macht gestört war, wieder zusammenkrochen; sich paarten, bekämpften, fressend verzehrten und dem uralten Chaos der Nacht zu huldigen versuchten . . .

»Also, vergessen Sie nicht das Fest!« sagte Belfontaine vor dem Pfarrhaus und lüftete den Hut.

»Nein, nein, Herr Gitzler holt mich ja ab«, versetzte Mathias freundlich. »Und wer A sagt, muß auch B sagen, nicht?«

»Dann bin ich ja wirklich gespannt, wie Sie es anstellen werden, mit den Wölfen zu heulen, Herr Pfarrer«, erwiderte Belfontaine. »Denken Sie übrigens immer daran, daß die Hälfte der Mitglieder schwarz gekugelt und die andere Hälfte vielleicht nur deshalb für Sie entschieden hat, weil es sie reizt, einen Geistlichen zwischen den Zähnen zu haben.«

Der Pfarrer verzog den Mund zu einem schmerzlichen Lachen. »In diesem Fall sind sie übel beraten. Ich bin in jeder Beziehung ein magerer Bissen, Herr Belfontaine. Das weiß jedermann, der mich kennt.«

»Wahrscheinlich noch immer nicht mager genug, um Sympathie zu erwecken. Oder – Haß . . .«, fügte Belfontaine überstürzt, fast gegen den eigenen Willen hinzu. »Habe ich recht oder nicht?«

Der Pfarrer verschränkte die mageren Finger und preßte sie so heftig zusammen, daß das Blut aus den Knöcheln wich. »Ja – manchmal ist mir selber zumute, als ob ich ein Stein des Anstoßes wäre, über den man zu stolpern verdammt ist«, sagte er unbewegt. In seine Augen, die weit geöffnet und fast ohne Lidschlag waren, trat jenes übermenschliche Wissen, das ihn von Trost und Enttäuschung abschied und den Engeln zum Bruder machte. 192

 


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