Elisabeth Langgässer
Das unauslöschliche Siegel
Elisabeth Langgässer

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IV

Das Päckchen, in welchem Herr Bonmarché den einen der auseinandergenommenen Teile des Medaillons seinem Brief zugefügt und das er dem Gesellen Auvertins übergeben hatte, fiel mit dumpfem Aufschlag in das durchnäßte und erst flüchtig abgetrocknete Gras vor die Füße von Fräulein Hortense. Der Gewitternacht war – wie auf dem Gesicht einer verweinten Frau – das rasche Aufzucken eines Lichtes und gleich danach wieder Regen gefolgt, der einige Tage anhielt; so kam es, daß das Fräulein längere Zeit nicht den Garten betrat und der Bote sich nutzlos angestrengt hatte, den Auftrag auszuführen. Nun stiegen die Schwalben wieder über dem schmalen Baumgang in die gereinigte Luft; ihre eisenblau blitzenden, wendigen Körper schienen sich, Pfeilspitzen ähnlich, in das Sonnenlicht einzubohren, und Hortense, das blasse Stubengesicht mit behandschuhten Fingern beschirmend, wandte sich ihnen zu. In diesem Augenblick war das Päckchen vor ihr zur Erde gefallen und brachte, indem es das zitternde Netz ihrer Wahrnehmung unvermittelt durchstieß, in ihr den Eindruck hervor, als sei ein Vogelkörper am Boden aufgeprallt.

Sie zuckte zusammen, bückte sich dann und hob einen kleinen Gegenstand auf, der in weinrotes Seidenpapier gewickelt und um und um verschnürt war. Ihre Blicke suchten die Hauswand ab, sie erinnerte sich, im Bücken ein Fenster klirren und gleich darauf das hastige Niederfallen einer Rolljalousie gehört zu haben; aber sämtliche Fenster, gleichgültig leer, starrten sie teils verhangen, teils blicklos geöffnet an. Sie überlegte sofort, wer das Päckchen geworfen haben konnte, und wußte, daß einzig der Schneidergeselle, ein unzweideutiger Kuppler, dafür in Frage kam. Sicherlich stand er noch hinter dem Vorhang und beobachtete mit gierigen Blicken, wie das stolze Fräulein Hortense sich verhielt; er sah sie zornig das Päckchen öffnen, seinen Inhalt zertreten und das Billett, das es fraglos enthalten mußte, verächtlich in Stücke reißen. Vielmehr – er würde es sehen, wenn . . . doch sie vermochte es nicht. Mit der Faust die kleine Botschaft umschließend, die sie [das Fräulein fühlte es deutlich] auf keinen Fall ungeöffnet und ungelesen lassen 351 oder vernichten würde, ging Hortense mit scheinbarer Achtlosigkeit wieder dem Hause zu; hier ein geknicktes Ästchen entfernend, dort mit der Schere den blattlosen Kelch einer abgeblühten La-France-Rose kappend, blieb sie endlich, von Herzklopfen überrieselt, an einem der Obstbäume stehen, gegen dessen Stamm sie sich lehnte . . .

Es war etwas Ungeheures geschehen; etwas, das ihre Welt aus den Angeln und ihr trauriges Dasein, den Füßen betender Mystiker ähnlich, vom Boden gehoben hatte. Noch wußte sie nicht, was es eigentlich war; nur, daß sie mit ihrem ganzen Körper den dumpfen, unterirdischen Stoß einer Erschütterung auffing, welche, indem sie den Umschlag des Briefes mit flatternden Händen anriß, sich noch deutlicher wiederholte. Das Medaillon, das die Gemme umschloß, glitt ihr dabei in die Hand; ohne zu überlegen, ließ sie es durch den Halsausschnitt in ihre Bluse fallen, die enganliegenden Stäbe des Mieders fingen es auf und preßten die Kühle des Schmuckstückchens aus Emaille und Stein fest gegen ihre Haut. Der alte Apfelbaum mit der runden, majestätisch verzweigten Krone warf das Licht- und Schattenspiel seiner Blätter auf das Gesicht und die Hände der an ihn gelehnten Frau. Ihrer Vorstellung, von seinen Zweigen geschützt und vor allen Blicken verborgen zu werden, gab er das trügerische Gefühl, es in Wirklichkeit auch zu sein. Hortense hob das Briefblatt aus merkwürdig grobem, fast schülerhaftem Konzeptpapier an die von Hoffnung entfachten und kurzsichtigen Augen, die sich langsam zusammenzogen.

»Mein angebetetes Fräulein Hortense . . .«, las sie – und hatte vorweggenommen, daß diese Worte nicht ein Beginn, Einleitung oder Aufforderung, sondern schon Antwort waren. Denn sie waren es. Dieser Brief war die Antwort – im Weiterlesen glaubte sie, es unwiderleglich zu wissen – auf ihre Herausforderung ›Gott und Benoît –! Der eine von ihnen hatte ihr Antwort gegeben . . . Ein Rotschwänzchen stieß über ihr den Schrei, den gleichsam tonlosen, jähen Schrei der Warnung vor Gefahr aus; oder hatte sie selber, Hortense, geschrien: ohne Laut wie eine gläserne Scherbe, wenn das Licht sie aufblitzen läßt? Doch in sich entzweit und von lauernden Blicken rings umher angetastet, schob sie mit vollem Bewußtsein den Anruf 352 ihrer Instinkte fort und gab sich mit blinder Entschlossenheit einer Täuschung hin, welche sie so gewaltsam in ihr innerstes Leben hineinriß, daß sie zur Wahrheit wurde; zu einer verwandelten allerdings, die nun ihrerseits anfing, Hortense die Gesetze ihrer Wirklichkeit aufzuprägen. Sie unterwarf sich dem eignen Betrug wie ein Frommer dem Glauben sich unterwirft, und ihr sonst so spöttischer, klarer Verstand faßte die folgenden Sätze nur noch als Bestätigung auf.

»Wenden Sie nicht, ich bitte Sie, diese armselig kurzen Zeilen um, in der Hoffnung, den Namen dessen zu finden, der ihr schwacher Urheber ist. Sie werden es jetzt und später nicht wissen . . .« Hortense de Chamant ließ das Briefblatt sinken und horchte nach dem Hause; dann faltete sie den Brief zusammen, blickte sich noch einmal unschlüssig um und steckte ihn mit bewußtem Trotz in die offene Schürzentasche. »Sofort, Papa! Ich komme ja schon!« rief sie und hörte dem Klang ihrer Stimme, diesem fremden, ungeduldigen Jubel einer neugeborenen Seele, wie ein Unbeteiligter zu.

Herr de Chamant, dem dritten Napoleon in Physiognomie und Barttracht ähnlich, lag mit gereiztem Gesicht auf dem Sofa, über dessen Lehne er beide Beine, zwei ausgemergelte, dürre Stöcke mit Gichtknoten, baumeln ließ. »Wo bleibst du? Hast du mich nicht gehört?« schrie er die Tochter hemmungslos an und versuchte sich aufzurichten. Das Zigarillo entglitt dabei seinen schmerzlich geöffneten Lippen und fiel auf den Teppichrand. »Das ist die ganze Hilfe, du Bestie, die ein kranker, elender Vater an deinesgleichen hat«, jammerte er wie ein Kind. Ohne sich zu verteidigen, half ihm Hortense in die Höhe und sagte sanft: »Du weißt doch, Papa, daß du nicht soviel rauchen darfst.« Dann bückte sie sich, hob das Zigarillo, das den Teppich schon angeschwärzt hatte, auf; legte es in die hübsche kleine Majolikaschale mit den Vergißmeinnichtranken, die der Vater, obwohl sie ihr Eigentum war, aus purem Sadismus gebrauchte, und drückte den Aschenkopf aus.

Herr de Chamant sah ihr aufmerksam zu und fragte mit näselnder Stimme: »Von wem hast du eigentlich dieses Schälchen?«

Gewohnheitsmäßig, wie seine Frage schon dutzende Male 353 gestellt worden war, beantwortete sie Hortense. »Ein Souvenir von Mama, wie du weißt, zu meiner Erstkommunion.«

»Richtig«, sagte Chamant befriedigt. »Zu deiner Erstkommunion. Du warst ein reizendes Kind, Hortense, unter dem Spitzenschleier, den Désirée eigenhändig mit Blüten und Myrthenblättchen bestickte«, fuhr er plötzlich hemmungslos fort.

Désirée – – Beide stockten und hielten den Atem an. Dieser Name war heute zum ersten Mal seit Jahren wieder gefallen und verbreitete sich in dem schwülen Zimmer wie der Duft aus einem entkorkten Fläschchen, dessen Inhalt schon längst vertrocknet und nicht mehr bestimmbar ist.

»Sie war damals so alt wie du heute«, begann de Chamant von neuem und blickte die Tochter an. »Zweiunddreißig, nicht wahr, Hortense?«

»Ich bin erst neunundzwanzig, Papa«, bemerkte das Fräulein steif.

»Aber Désirée war viel schöner als du«, sagte ihr Vater grausam. »Du bist verblüht, meine Tochter. Deine Mutter war rund und weich. Wen sie ansah mit ihren Taubenaugen unter der Kinderstirn und den hochgesteckten goldbraunen Haaren, hat sich verliebt in sie. Ich glaube, selbst der junge Abbé, der dich zur Erstkommunion führte, war verschossen in Désirée. Wie hieß er doch gleich? Na, es fällt mir noch ein. Entsinnst du dich nicht, Hortense?«

»Nein«, sagte die Tochter mit starrem Gesicht. »Ich entsinne mich nicht, Papa.«

»Nun schön. Es ist ja auch einerlei«, erwiderte de Chamant. »Er war ein Mystiker: Franz von Sales – aber ohne Franziska Chantal.« Herr de Chamant lachte unglücklich auf. »Vielleicht, daß er hoffte, in Désirées Seele eine solche Schwester gefunden zu haben – ihre Mädchenschwärmerei für das Kloster war ihm bekannt, wie ich weiß. Bah, Benoît Desbord . . . nun ist der Name mir eingefallen«, sagte Chamant befriedigt. »Benoît Desbord – –«, er fixierte die Tochter und zuckte plötzlich zusammen. »An was denkst du jetzt?« fragte er schreiend, mit gellender Fistelstimme. Hortense blickte unbewegt vor sich hin. Ihre Züge blieben vollkommen still, nur ihre Brust, an welcher, ihr fühlbar und anderen verborgen, das kleine Medaillon ruhte, 354 bebte heftiger auf und nieder. »Ich irre mich übrigens. Nicht Benoît, sondern Bernard hieß dieser Desbord, der Désirée verehrte.«

»Und – ?« fragte Hortense mit tonloser Stimme, ohne den Blick zu heben.

»Nichts weiter.« Herr de Chamant zog sich ächzend an dem Arm seiner Tochter ein Stückchen höher, ließ die Beine auf den Boden herunter und griff nach seinem Stock; dann hob er sich unerwartet mit einem Ruck von dem Diwan und trat vor den Kamin. Der schwere Goldspiegel warf das Bild seines Oberkörpers zurück: den degenerierten, verwüsteten Kopf mit den edelgebildeten Schläfen, den sehnigen Hals und die haarige Brust in dem offenstehenden Morgenrock, dessen Teile er jetzt mit zitternden Händen übereinander schlug. »Du glaubst wohl, daß sie mit diesem Desbord –?« fragte er über die Schulter gedreht. »Aber nein, wo denkst du denn hin? Sie ging zu ihm in die Predigt, um dort den Marquis Lafayette zu treffen, der damals als Hauptmann hier in Senlis bei dem schicken, marokkanischen Regiment stationiert war: weiße Röcke auf Taille und rote Stiefel, darüber das lammfellgefütterte marineblaue Cape. Aber auch der war es nicht. Vielmehr: der letzte nicht. Dann kam ein Leutnant. Hernach dessen Bursche, ein Kerl aus Algier –«

Chamant riß dem Fräulein gewaltsam die Hände von den Ohren. »Nun weißt du, warum ich dich einsperren mußte, du Tochter und Ebenbild dieser Hure, die gleichfalls mit einem Benoît begonnen – –«

»Ich denke, er hieß überhaupt nicht Benoît!« rief Hortense mit verzweifelter Stimme.

». . . begonnen hat«, überschrie sie Chamant. »Aber zum Unterschied zu deiner Mutter endigst du auch bei ihm.«

»Benoît hat niemals . . .«

»Ich weiß. Ich weiß«, tobte der Alte weiter. »Auch du hast nicht – und auch Désirée hat nicht – ihr alle habt nicht gesündigt. Nur dein Vater. Höre mir zu, mein Kind, wenn ich jetzt mit dir sprechen werde. Es ist wahr, daß ich mehr als ihr alle zusammen gesündigt habe, Hortense«, sagte er plötzlich sanft. Seinen Blick auf das schaudernde Mädchen heftend, kam 355 er, den Morgenrock fest um seine Hüften ziehend, auf sein zitterndes Opfer zu. »Désirée!« rief er schluchzend und griff blind wie ein Nachtwandler in die Richtung, wo seine Tochter stand.

Hortense wich, bleich wie der Tod, zurück und ballte die feinen Fäuste. »Bist du wahnsinnig?« zischte sie.

Herr de Chamant sank in sich zusammen. »Hilf mir dort in den Sessel«, wimmerte er, »und sage dem Klosterknecht, daß er das Bogcart wieder ausspannen muß, Hortense. Meine Schmerzen sind heute zu stark.« Von ihr unterstützt, ließ Chamant sich nieder und streckte die Beine aus – vorsichtig, als ob Gefahr sei, sie über den steifen Knien unbedacht abzubrechen. »Doch, doch«, wiederholte er, während ihm Speichel und Tränen in seinen Napoleonsbart flossen, »ich habe mehr als ihr alle, ich habe in Gedanken gesündigt und habe mich nicht gescheut, dich mitschuldig werden zu lassen. Wie ein Stück Obst, das der Geizhals in der Schale auf der Kredenz verwahrt, ohne es zu verzehren, habe ich dich mit Gedanken und Blicken so lange angetastet, bis du anfingst, dunkle Flecken zu zeigen; ich habe dich verdorben, Hortense, um deine Mutter in dir zu genießen, und dich in ihre Kleider gesteckt, um Désirée in dir zu haben – aber erst heute weiß ich genau, daß es mir wirklich gelungen ist, dich gleichfalls zu verderben, und daß auch du mir entfliehst.« Er fixierte sie mit steigender Wut. »Du hast einen Brief bekommen. Gib her!«

Seine Tochter griff in die Schürzentasche und warf mit dem Anschein völliger Kälte den Zettel auf den Tisch. »Ein Rezept von Suzette. Wenn du willst, hole ich deine Lupe. Sie schreibt sehr flüchtig und klein.«

»Du lügst!«

»Natürlich.« Das Fräulein lachte. »Ich habe immer gelogen.«

Der Alte blickte sie mißtrauisch an. »Es ist kein Rezept. Es ist ein Brief. Ein Liebesbrief, wie ich vermute.«

»Ja? Willst du lesen, Papa? Ich hole deine Lupe.«

»Ich will nicht lesen. Ich will nicht, hörst du!« schrie Herr de Chamant verzweifelt. »Ich werde auch nicht in die Predigt gehen, wo sich Désirée mit dem Hauptmann trifft, obwohl ich ganz genau weiß, daß die Hure nicht einmal ableugnen wird.« 356 Er seufzte kläglich und sagte: »Désirée. Aber du bist ja Hortense. Unsere kleine Hortense, nicht wahr?, die bald ihren Vater gleichfalls verläßt, wie ihn alle verlassen haben.«

Das Fräulein blickte ihn aufmerksam an. »Gib mir Kleider«, sagte sie rasch.

»So. Kleider? Und neue Hüte?« fragte der Alte höhnisch. »Na, schön. Ich bringe dir alles mit, wenn ich wieder nach Orléans fahre.«

»Oh –«, sagte sie leise und haßerfüllt mit zusammengezogenen Brauen. »Es ist nicht nötig. Mein Freund hat geschrieben, daß er sie herbringen wird.«

»Benoît?«

»Natürlich.«

»Benoît Desbord?«

»Aber nein. Nun verwechselst du wieder die beiden. Es ist ja auch einerlei.«

Sie spielten noch eine Weile quälerisch hin und her. Endlich ermattete Herr de Chamant; seine feuchten, aber farblosen Lippen blieben halb geöffnet und unentschieden mitten im Sprechen stehen; zwei Spinnen von Müdigkeit liefen plötzlich von den Augenwinkeln herunter und gruben, den Nasenflügeln entlang, gespenstische Furchen ein. Er schlief. In dem unausgelüfteten Zimmer mit den Fahnen aus leicht parfümiertem Rauch stieg wieder die Schwüle an; die Langeweile, das dumpfe Gefühl der Ausweglosigkeit. Hortense, in einen Sessel gekauert, zog den Zettel zu sich herüber und setzte ihre Lektüre fort, die vorhin durch den Anruf des Vaters unterbrochen worden war.

»Sie werden es jetzt und später nicht ahnen, wessen Schicksal Sie schuldloserweise besiegelt, wessen Herz Sie entzündet haben. Genug, daß Sie wissen, Fräulein Hortense, wie sehr Sie die Meinige sind. Denn Sie sind es. Ich besitze Sie ganz mit all Ihren Heimlichkeiten: Ihren Wünschen, die sich nach Freiheit sehnen . . .«

»Ja, ja.« Das Fräulein preßte den Brief wie ein Schulmädchen an die Brust und starrte in das Leere. Vor ihren kurzsichtig glänzenden Augen ergänzten sich die Zeilen so schnell und folgerichtig, als habe sie selbst sie geschrieben und schon lange 357 herbeigezogen; doch nicht nur diese Zeilen, sondern das Bild ihres Schreibers auch: Lucien Benoît – nicht der junge Benoît, den sie vor endlosen Jahren geliebt, geküßt und begehrt haben mochte, sondern ein anderer: ein Benoît in dem Ordenshabit der Weißen Väter und der Haltung eines soeben ernannten, inspirierten Novizenmeisters, von dem man sich in Senlis erzählte, daß er unwahrscheinlich große Erfolge bei seinen Zöglingen habe.

[. . . Er steht, den Nacken vornübergebeugt, hinter dem krummen Rücken eines kleinen Bauernnovizen, um diesen Brief zu diktieren, diese enggeschriebenen Zeilen auf grobem Konzeptpapier. Der kleine, sommersprossige Lümmel mit den rotbewimperten hellblauen Augen, die sich – nun hebt er den Kopf in die Höhe – mit listig hingegebenem Ausdruck nach seinem Lehrer hinwenden, schielt ihn erwartungsvoll an. »Haben Sie? Weiter! Weiter!« Der Kleine zieht seine Schnupfnase hoch und tunkt von neuem die Feder ein, um stumpfsinnig fortzufahren: ». . . und muß aus tragischen Gründen ewig unbeantwortet bleiben . . .« Jetzt sieht sie ihn deutlich. Oh, wie er kämpft, um nicht noch mehr von sich zu verraten – ein Wort nur, aus dem sie entnehmen könnte – –. Doch der Schlingel da, dieses kleine Tier, in dessen Macht er sich gibt, fixiert ihn plötzlich, ihren Geliebten, mit unverschämtem Grinsen.]

Hortense warf einen erschreckten Blick auf den eingeschlummerten Vater. »Ich bin von Sinnen«, sagte sie laut. »Das kommt von der Einsamkeit.«

»Nur ein Zeichen der seelischen Einheit zwischen uns beiden erbittet sich mein Herz. Tragen Sie das hier beigefügte kleine Geschenk am Halse, ohne daß ich es weiß. Doch, um nicht zu lügen, ich werde es wissen; vielmehr nicht wissen, sondern nur ahnen – freilich so vollkommen ahnen, daß mein nächster Brief Ihnen Zeit und Stunde ganz genau angeben wird, in der sie es angelegt haben.«

An dieser Stelle hielt Fräulein Hortense mit jähem Erschrecken inne. So war sie als kleines Mädchen erschrocken, als sie lernte: Gott ist allwissend. Gott sieht alles bei Tag und Nacht. Gott sah sie also. Ihr Abgott sah sie mit hunderttausend Augen, die von überall her auf sie niederblickten, sie verfolgten und in ihr 358 Inneres drangen, bis es vollkommen bloßgelegt war. Vorsichtig öffnete sie ihre Bluse an den drei oberen Knöpfen und holte das Medaillon ängstlich mit unruhigen Fingern hervor. Phädra und Hippolyt. Altes Motiv der klassischen Literatur. Sie blickte, mit gerunzelter Stirn in ihrer Erinnerung suchend, was das Dargestellte bedeuten sollte, auf ihre Fingerspitzen.

»Laß sehen!« sagte ihr Vater plötzlich mit weit geöffneten Augen.

Totenbleich, aber gefaßt, wandte Hortense sich dem Alten zu und reichte ihm den Schmuck.

»Hübsch! Hübsch! Eine ganz delikate Arbeit«, murmelte Herr de Chamant. »Ich kann zwar nicht alles genau erkennen . . . Aber magst du mir nicht die Lupe holen – das wolltest du doch schon vorhin. Na, also. Empire. Eine klassische Fabel. Racine. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht: Phädra und Hippolyt. Natürlich. Phädra und Hippolyt – ich entsinne mich noch genau an das Stück, das ich zusammen mit Désirée sah. In der Comédie française, meine Liebe, es war eine Lieblingsrolle der Bernhard. Diese Kälte und Wollust in einem; eigentlich war Désirée noch zu jung, aber wenn nicht der Ehemann seine Frau in Liebesdingen bildet, dann tut es ein anderer. Kennst du den Inhalt nicht? Nein? Das ist schade. Dafür wirft man das Schulgeld heraus. Eine Art von ägyptischem Josef, weißt du. Sie will – er will nicht. Er denkt wohl an Gott. Vielmehr an die Götter in diesem Fall, obwohl Aphrodite bereit ist, den Kuppler für ihn zu machen. Ich sehe dir an: Jetzt erinnerst du dich. Jetzt erinnerst du dich genau. Ob wir beide nicht einmal das Drama zusammen lesen wollen? Mit verteilten Rollen natürlich, du kannst ja den Briefschreiber mit einladen, das gibt dann mehr Abwechslung. Übrigens ein galanter Mann. Er will nichts umsonst von dir haben. Darauf muß man achten, wenn man die Liebe später zum Broterwerb macht. Nein, nein – ich meine es wirklich so – ein selten galanter Mann. Nur, vielleicht . . . gib noch einmal das Medaillon her! Wahrhaftig: es ist nur ein halbes Schmuckstück, man sieht noch deutlich die Ansatzstellen der anderen Medaillonhälfte. Er ist also doch ein Geizhals, Hortense, oder ein ganz raffinierter Bursche, der dich neugierig auf die Fortsetzung macht, welche vielleicht niemals kommt.« 359

Sein boshaftes, scharfes Altmännergesicht – einem Brunnenspeier sehr ähnlich, aus dem mit unaufhörlichem Schwatzen das Wasser herunterläuft, blieb mitten im Plaudern stehen; ein hinterlistiges, lauerndes Licht glomm in den scharfen Augen Chamants, dann sagte er leichthin: »Du wunderst dich, wie? Aber ich hätte wirklich Lust, das Stück zu Ende zu spielen. Verstehst du? Nein. Das verstehst du nicht. Aber du siehst doch, Hortense, daß der Schmuck aus zwei Hälften besteht!« Ihr verständnisloses Gesicht betrachtend, lachte er sie durchtrieben an und rieb sich geschäftig die Hände. »Die andere Hälfte steht noch aus – ich meine: für mich, Hortense. Ich habe das Ende nicht abgewartet und bin in der großen Pause einfach nach Hause gegangen. Aber jetzt spielt man weiter. Der Vorhang geht hoch. Was dahinter ist, weiß kein Mensch. Niemand weiß das. Wir sehen nur immer das Bild auf dem Vorhang, das für jedes Stück gleich bleibt: Apoll und die Musen. Oder das Urteil des Paris – im Hintergrunde Mars. Gut, gut. Ich lasse mich überraschen und mache Blindekuh, wenn du willst, um niemand das Spiel zu verderben, das ein Unbekannter in Szene gesetzt und wieder ins Rollen gebracht hat. Du, ich und der Dritte. Oder du und ich auf der einen Seite; drüben der Briefschreiber und dazwischen der große Unbekannte. Denn der Briefschreiber handelt auch nur im Auftrag, ohne daß er es weiß. Natürlich hat er dir etwas Bestimmtes, wahrscheinlich von diesem Benoît, zu sagen und mir von Désirée. Ich werde also von Désirée hören. Das fühle ich genau. Keine Logik, meinst du wohl? Na, na, na. Eine Logik wie unter Revenants, würde ich selber sagen. Ohne Zeit und Raum. Wenn sie stark genug ist, brauche ich bloß in die Hände zu klatschen, und alles ergibt sich von selbst. Natürlich müssen wir warten, Hortense, bis die andere Hälfte des Medaillons da ist – das Stichwort gewissermaßen.«

Die beiden Verdammten blickten sich an; jeder schien jetzt den anderen für irrsinnig zu halten und diesen Irrsinn für seine Zwecke bewußt gebrauchen zu wollen.

»Es ist gut; du kannst von heute ab tun, was du willst, Hortense. Vielmehr: was du mußt. Nur komme mir nicht mit der Bitte nach neuen Kleidern. Das Schicksal muß Désirée finden können, wenn es jetzt nach ihr sucht.« 360

»Ich bin aber doch nicht Désirée, Vater«, erwiderte Hortense.

»Nein. Du bist beide in einem: Désirée und Hortense. Jedesmal bist du die Maske der anderen, oder die Maske ist du. Als die eine bist du immer pervers, weil du nicht die andere bist, die du darstellst; und das, was du darstellst, Hortense, bist ja nicht eigentlich du. Insofern ähnelst du auch Benoît, einem Mann in Umhang und Röcken und trotzdem keine Frau. Du bist die Verwirrung an und für sich und selber eine Verwirrte; die große Hure bist du, Hortense, die den Völkern den Kelch der Abgötterei, der Wollust und der Trunkenheit reicht, wie die Apokalypse erzählt. Bah –« sagte er plötzlich trocken. »Natürlich auch hier wieder das Symbol als ein Gleichnis für alles, was heute geschieht, und erst am Anfang ist. Der Krieg? Er ist nichts als ein Bruchteil, Hortense, von der Kraft des Satans, der seine Hände über ganz Frankreich deckt. Die Chimären sind ausgewachsen, mein Kind, wie die Tulpenstengel, wenn ihre Blüte am Verwelken ist, und strecken sich lang, um den Samen der Bosheit in weitem Umkreis über das Land zu werfen. In diesem Satansschatten leben wir nicht erst seit heute, und der tiefste Schatten ist nicht einmal dort, wo am Rande getötet wird. Denn der Schattenschoß gebiert immer neu. Neue Söhne und Töchter. Bankerte von Montesquieu und Rousseau. Neue Symbole, Hortense, wie du, und neue Redensarten.« Er wendete sich mit jähem Ruck nach dem offenen Fenster und fragte: »Wo ist die Tafel geblieben, die man unter den Trümmern des Hauses Cenon, das die Deutschen angesteckt haben, damals gefunden hat?«

»Du meinst die Satansmesse, Papa?«

Er gab keine Antwort und sank zurück; seine Lippen bewegten sich ohne Laut, bis endlich ein greisenhaftes Gemurmel sich löste und erstarb.

Hortense hob das kleine Medaillon von dem Teppich auf, wohin es inzwischen den Händen des Alten entglitten war, und steckte es, mit dem Brief zusammen, in ihre Schürzentasche. »Also soll ich das Dogcart für heute wieder ausspannen lassen, Papa?« fragte sie laut und hart.

Herr de Chamant verzog seinen Mund und blinzelte sie an. »Welch ein Unsinn! Wer sagt das? Ich fahre natürlich. Wo soll sonst das Geld herkommen – –« 361

Suzette! Sie wollte am Nachmittag hier sein, dachte Hortense, als er endlich das Haus verlassen hatte, mit plötzlichem Widerwillen. Während ihr Blut das Erlebnis der Liebesnacht mit der Freundin schon wieder auszuscheiden bemüht war, arbeitete ihr Gehirn. Neue Kleider! dachte sie fieberhaft. Neue Handschuhe! Neue Hüte! Ein Paar moderne Knopfstiefelettchen mit honiggelbem Einsatz und schwarzer Lacklederkappe. Aber Suzette ist kleiner als ich. Kleiner und üppiger, wie? Wenn Lucien mich plötzlich auffordern würde, ihn zu treffen? Mit ihm zu fliehen? Sie muß mir helfen. Der große Koffer mit den eingebündelten Seidenstoffen steht immer noch auf dem Hängeboden, ohne verschlossen zu sein. Ein paar Schnitte sind wohl leicht zu beschaffen – Suzette erzählte von neuen Modellen aus Chikago und aus New York . . .

»Komm herein, Suzette! Komm rasch, mein Liebling. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Da bin ich, Hortense. Hast du Sehnsucht nach mir? Ich vergehe vor Ungeduld!« Unfähig, sich noch länger zu zügeln, warf sich das stürmische junge Mädchen, ohne Hut und Handschuhe abzulegen, in die Arme von Fräulein Hortense und überschüttete sie mit rohen, fast brutalen Liebkosungen; ungeschickt, kindlich und drohend zugleich, glich sie bald ihrem Vater und seinen Erpressermienen, bald einer erst eben erweckten Frau, deren Sinne noch hinter der Phantasie ihrer Träume zurückbleiben müssen. »Du zeigst mir doch heute, wie man sich pudert? Und schnüren mußt du mich, hörst du, Hortense, daß mir der Atem vergeht.«

»Gewiß, mein Herz. Aber hilf mir auch, den großen Koffer herunterholen, der mit den eingewickelten Stoffen am Hängeboden steht. Ich will mir neue Kleider und dir die Schoßbluse schneidern, wie das Journal sie beschreibt. Ich will fliehen, Suzette –!«

»Du willst fliehen . . . Hortense? Mit mir?«

»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht. Hör mir zu, mein Liebling. Ich habe ein Briefchen bekommen.«

Das junge Mädchen, starr vor Erstaunen, verschränkte heftig die derben Arme unter der kleinen Brust. »Von deinem Geliebten?« fragte sie, rot und rasend vor Eifersucht. »Von Lucien?« 362

»Von wem sonst? Du sollst lesen. Es ist der letzte der Briefe, die er geschrieben hat«, sagte Hortense sehr ruhig.

»Damals?«

»Nun ja: als Lucien schon gebunden und eingekleidet war. Aber erst heute, Suzette, verstehe ich diesen Brief. Erst heute, wo deine Liebe mich kühn macht und ich wieder zu leben beginne.«

»Ich begreife dich nicht, meine liebe Hortense«, sagte Suzette verwirrt.

»Gib acht. Lucien bemühte sich damals, mir wieder nahezukommen. Er ließ mir schreiben. Ob klaren Geistes oder in einem Anfall von Wahnsinn – ich weiß es nicht, Suzette. Hör zu!« Sie begann, den Brief zu lesen. »Und dies ist das Medaillon, das er mir schickte«, beendete sie den Bericht.

»Und wie hast du darauf geantwortet, he?« fragte Suzette begierig.

»Ich sagte doch schon, daß ich heute erst diese Zeilen begriffen habe«, erwiderte Hortense. »Meine Antwort wird sein«, sie umfaßte die Freundin und begann, die Schluchzende leise und langsam, fast aufmerksam, zu küssen, »in das Leben zurückzukehren.«

Kurze Zeit danach knieten beide Mädchen vor dem geöffneten Reisekoffer und packten die Stoffe aus; die dazwischengelegten Lavendelsäckchen verhauchten – matt und durchdringend zugleich – einen qualvollen Duft von Erinnerungen und unwiederbringlichem Sein. Ein Spitzenfächer entfaltete sich, hinter dem das Gesicht von Fräulein Hortense unwirklich zart wie das einer Sklavin hinter maurischem Gitterwerk aussah, und ein Schnürleib aus scharlachrotem Damast, der tiefschwarz eingefaßt und von langen Fischbeinstäben durchzogen war, kam an das Tageslicht. »Fest! Fester! So fest du nur kannst, Hortense!« sagte Suzette und drehte sich vor dem Aufsatzspiegel nach allen Seiten, wobei sie die Arme über den Kopf hob und die Flammen unter den Achselhöhlen, den Flossen eines Goldfischchens ähnlich, sich leise schlagend bewegten. »Glaubst du, daß ich noch gehen oder mich bücken kann?« fragte sie und stellte das eine Bein auf den Hocker, um den Seidenstrumpf hochzuziehen. 363

Ihre Freundin streifte ihr rasch und geschickt die runden Strumpfbänder über und half ihr in die Schuhe. »Warte!« sagte sie plötzlich und drückte den Bajonettverschluß des Medaillonkettchens auf, legte es rasch der Gefährtin um und wandte dieselbe sich zu. Die warme, vollkommen weiße Haut zwischen den Brüsten Suzettes schauderte an dem Metall. »Hübsch«, sagte Hortense, hob die Gemme zum Mund und ließ das Schmuckstück wieder zurück an seinen Ausgangsort fallen. »Behalte es als ein Freundschaftszeichen. Ich habe es noch niemals getragen und lege es auf dein Herz.«

»Also liebst du mich mehr als diesen Benoît?« rief Suzette und warf sich ihr leidenschaftlich aufs neue an die Brust.

 

»Warum trägst du nicht mehr deine Lourdesmedaille?« fragte die Tante mißbilligend, als die Familie Bonmarché anderntags bei dem Essen saß. Herr Bonmarché blickte angeregt auf und legte das Langustenbesteck, das er gerade zum Mund führen wollte, in seinen Teller zurück. »Nicht die Lourdesmedaille und nicht das Herz-Jesu; selbst den Schutzengelanhänger nicht, Suzette, den deine Mutter dir noch im Sterben um das Hälschen gehängt hat; und nicht die Medaille von dem Papstjubiläum. Charles –«, sie wandte sich, Unterstützung suchend, an ihren Bruder und fegte mit den Spitzenmanschetten ihrer gestikulierenden Arme die Weißbrotkrümel vom Tisch.

»Vielleicht habe ich eine neue und bessere, liebe Tante«, sagte Suzette rebellisch und warf ihren Kopf in den Nacken. »Übrigens ist es nicht nötig, daß du mir nachspionierst.«

»Ganz richtig. Ich bin derselben Meinung«, kläffte Herr Bonmarché. Léontine sah sprachlos von einem zum andern; ihr dickes Kindergesicht drückte Kränkung und gleichzeitig eine Verwunderung aus, die schon an Geisterverwirrung grenzte und sie vollkommen hilflos machte. »Ich bat dich doch bereits neulich, teuerste Léontine, alles zu unterlassen, was das Vertrauensverhältnis zwischen Suzette und mir stören könnte«, fügte Bonmarché tadelnd hinzu.

Seine Tochter blickte ihn aufmerksam an. »Vertrauensverhältnis? Was heißt das, Papa? Ich habe doch kein Verhältnis zu dir«, sagte sie unverschämt. 364

»Nein? Das ist schade. Ich will ja schließlich nur dein Bestes, mein liebes Kind.«

»Natürlich. Ich weiß. Herrn Marcel, zum Beispiel. Und daß ich mich nicht unterstehe, Hortense de Chamant zu besuchen.«

»So? Meinst du?« Herrn Bonmarché dämmerte plötzlich, daß Suzette gelauscht haben könnte. »Nun, was deinen Umgang angeht, Suzette, so bin ich zu der Einsicht gekommen, daß du erwachsen genug bist, um zu wissen, was für dich taugt. Selbstredend«, fuhr er würdevoll fort, »hatte ich anfangs gewisse Bedenken, deine klösterliche Geistesverfassung durch den Umgang mit dieser Dame zu stärken, deren Vater, wie deine Tante mir sagte, demnächst Deputierter der Klerikalen für unseren Landkreis wird. Aber es mag ja sein, daß die Tochter anderer Anschauung ist.«

»Darüber sprechen wir nicht, Papa. Wir tauschen Kochrezepte und Häkelmuster aus«, sagte Suzette heuchlerisch.

»Und weshalb legst du dann plötzlich alle Medaillen, mein Kind, in deine Nachttischlade?« forschte die Tante empört.

»Wahrscheinlich, damit du etwas für deine Neugierde hast«, sagte die Nichte gelassen und brach eine Krebsschere auf. »Doch, um dich nicht allzu sehr zu bemühen, will ich euch nachher gerne zeigen, was ich unter der Bluse trage.«

Herr Bonmarché faltete jetzt sein Mundtuch temperamentvoll zusammen und schlug damit auf den Tisch. »Kein Anlaß, Suzette, und kein Interesse«, sagte er fast pathetisch. »Behalte dein Geheimnis für dich. Vielleicht gewinnt es dadurch an Bedeutung«, fuhr Herr Bonmarché väterlich fort und tätschelte ihren Arm . . .

Der zweite Brief an Fräulein Hortense hatte folgenden Wortlaut: »Geliebteste! Ach, wie sehr quälen Sie mich. Ich hatte geglaubt, durch mein Schreiben Erleichterung zu finden und habe gehandelt wie ein Verletzter, der den Verband von der Wunde abnimmt, die ihn immer heftiger schmerzt. Welche Torheit! Nun quillt das Blut wieder aus, das schon zu fließen aufgehört hatte; es durchtränkt das Tuch, das es aufhalten sollte, und zeigt den Ort seiner Herkunft an, den die Binde verborgen hatte. Unaufhörlich strömt es von neuem nach, es färbt verräterisch seinen Umkreis, und mit Schrecken erkenne ich, daß die Haut, die 365 darüber gewachsen zu sein schien, weniger war als die Knospenhülle, die die Blüte mit Leichtigkeit sprengt. Verzeihen Sie mir! Versuchen Sie gütigst, diesen Brief nicht zu Ende zu lesen, denn ich fühle, daß ich mit jedem Satz nicht nur die verborgene Wunde enthülle, aus der diese Worte fließen, sondern zuletzt auch mich selbst. Ja, ich bin, Geliebteste, so sehr eins mit dieser Daseinswunde, daß ich mich nicht mehr von ihr und der Welt unterscheiden kann. Im übrigen bin ich sicher, daß Sie wissen, wer Ihnen schreibt. Oder wenigstens, daß Sie glauben zu wissen – aber Sie irren sich.« [Diese Satzhälfte: »aber Sie irren sich«, war nicht nur einer der Haken und Sprünge, die das hasenhaft geile Gehirn des ehrenwerten Herrn Bonmarché schlug, sondern entsprang einer Unsicherheit, besser noch: einem Taumelgefühl, das ihn während des Schreibens befallen und ihn um sich selber gedreht hatte. Denn während Herr Bonmarché formulierte, war er von Grund auf ein anderer als der, den er sonst zu leben und darzustellen pflegte; er trat in seinen eigenen Schatten und lebte das durchaus andere Dasein eines Wesens, das ihm erst sichtbar wurde, wenn die Sonne ihm gleichsam im Rücken stand. Möglicherweise ahnte er aber dunkel, daß nur in diesem Zustand jene Verwandlung mit ihm geschehen und ihn ringsherum angreifen konnte, die Herr Quiche ihm vorausgesagt hatte, als er ihm in der rue Mazarin seinen Plan entwickelt und dabei sich selber als den Unbekannten bezeichnet hatte, der als Dritter mitspielen sollte – denn indem er mehr und mehr zu dem wurde, den er in Briefen vorgab zu sein, um so mehr erfüllte sich auch die Floskel: »Ich fühle, daß ich mit jedem Satz nicht nur die verborgene Wunde enthülle, aus der diese Worte fließen, sondern zuletzt auch mich selbst«, mit furchtbarer Realität.]

Wo das zweite Schreiben geendigt hatte, setzte das dritte sich fort. »Fräulein Hortense, ich weiß, daß mein Brief zuviel von Ihnen verlangt hat, als er bat, nicht zu Ende gelesen zu werden; deshalb brach ich ihn ab. Ich bin entmutigt. Ich fühle deutlich, daß der Zeiger des Schicksals die Glücksminute, die meine Sehnsucht sich innig erhoffte, noch nicht oder, ach, schon längst überschritten hat, denn der volle, bebende Anschlag blieb aus, an dem ich gefühlt hätte, daß mir ein Zeichen gegeben worden 366 sei. Sie haben das Medaillon nicht angelegt, Fräulein Hortense. Sie können es nicht angelegt haben – diese Tatsache hätte sich mir gewiß auf den verborgenen Bahnen des Blutes mitgeteilt. Vielleicht sogar haben Sie es verächtlich beiseitegeschoben oder verschenkt oder einfach, fast ohne nachzudenken, zu Ihrem anderen Schmuck geworfen; zu dem kleinen, silbernen Ring beispielsweise, den Sie als halbes Kind einst getragen und ausgewachsen haben.« [Diese Anspielung auf den silbernen Ring war ebenso kühn wie durchtrieben; gleichzeitig aber so plump – denn welches bessere junge Mädchen beginnt nicht mit einem silbernen Ring von zweifelhaftem Wert – daß ein unbetäubter Verstand sie hätte warnen müssen.] »Trotzdem gebe ich es nicht auf, Sie zu lieben und anzubeten. Einem Schützen gleich, der im Schatten stehend seinen Bogen spannt und den Pfeil gegen das Licht abschießt, werfe ich blindlings, geblendet von Ihnen und Ihrer Kostbarkeit, die zweite Hälfte des Medaillons vor Ihre Füße, ohne auf Antwort oder gar Dank zu hoffen. Gewiß: Sie werden auch diese nicht tragen, sondern zur ersten legen, aber das kümmert mich nicht. Diese beiden Hälften, ich schwöre es Ihnen, werden zusammenkommen; sie werden sich küssen, wenn sie bei Ihnen in Ihrem Schmuckkästchen liegen, und sich berühren, wenn sie am Ende zueinander gefunden haben. Denn sie werden sich treffen wie Himmel und Erde, wie Liebe und Liebe oder vielleicht – wer weiß es – wie Liebe und Haß. Das Gesetz ihrer Anziehungskraft zu stören, ist unmöglich, Fräulein Hortense.«

An dieser Stelle des Briefes hatte Bonmarché eingehalten, um zuerst mit prickelndem Wohlgefallen und eitler Autorenfreude den sich steigernden Schwung und die innere Logik seiner letzten Sätze nachzuempfinden und hinter künstlichen Schicksalswolken sich einer Gottheit ähnlich zu fühlen, die sie nach eignem Gefallen aufgetürmt hat und zerstreut – dann aber, je mehr er zu Jupiter wurde, auch dem Gefühl einer Moira, ihrer Unentrinnbarkeit, ihrem Zauber und ihrer Dunkelheit unterworfen, die der Preis für die Wirksamkeit seiner Worte und die Bürgschaft für ihre Realität und Zuverlässigkeit war. Kaum hatte Bonmarché, fast allmächtig, das Spiel gemischt, als er selber bereits hineingemischt worden war; er mußte mitspielen, wenn er 367 wollte, daß die Karten aufgehen sollten. Sie zu zinken oder die eine und andere in dem Ärmel verschwinden zu lassen, hätte jetzt keinen Sinn mehr gehabt, denn der Punkt war erreicht, wo, um zu gewinnen, der Betrüger das begonnene Spiel mit redlichen Mitteln fortsetzen mußte; das heißt, wo er selbst an die Wahrheit seiner Worte zu glauben hatte. Vielleicht einen einzigen Augenblick lang hatte die Wahl ihm offen gestanden, die Gefühle des Briefschreibers vorzutäuschen oder eins mit ihnen zu sein – zumindest aber seine Person in den Postagenten [Herrn Bonmarché] und Lucien Benoît aufzuspalten. Doch seltsamerweise zog er es vor, mit diesem Benoît zu verschmelzen und sein Schicksal mitzuerleiden. »Die subtileren Arten . . . nun, Sie verstehen –«, hatte er Quiche gegenüber geäußert; aber reicht, man frage sich selbst, diese Antwort aus, um Herrn Bonmarchés Haltung genügend zu erklären, die Haltung eines Verbrechers nämlich, der kein Bedenken trug, seine Tochter später mit Belfontaine zu vermählen, obwohl er wußte, daß dieser – seit dem Krieg in Frankreich hängengeblieben und naturalisiert – in Bigamie mit ihr lebte: ein Gespaltener durch und durch bis zum Gürtel, der sich der Stelle, wo diese Spaltung ihren Anfang genommen hatte, nicht mehr entsinnen konnte und sie leiden mußte, bis endlich die Schneide auf den unzerstörbaren Diamanten in seiner Daseinsmitte zu treffen und an ihm zu zerspellen bestimmt war . . .

Hortense wog das Medaillon auf der Hand, das dem dritten Brief beigefügt war. Er wurde an einem der folgenden Tage kurz vor der Dämmerung in das Gras, wo der Goldlack blühte, geworfen und wäre fast übersehen worden, hätte sich diesmal nicht das Papier von dem schlecht umwickelten Schmuck gelöst und ihn dem Abendlicht preisgegeben, das ihn mit letzter Kraft, langsam verlöschend, wie ein magischer Finger berührte und ihn zwergengoldähnlich machte. Das Bindeglied! Aber für wen und zwischen welchen Teilen? Was geschah, wenn sie es gleichfalls verschenkte? Und was, wenn sie es trug? Wen zwang es zusammen? Sie und Suzette? Suzette und Benoît? Ihren Vater und die verlorene Désirée oder – das Fräulein schauderte und fühlte sich einer Gewalt gegenüber, die das sichtbare Zeichen nur dazu brauchte, um Unsägliches darzustellen – sie alle, die 368 wie in der Messe die Christen durch das Gleiche verbunden wurden und sich an dem Gleichen als Miterlöste oder Mitverdammte erkannten? Ob die Medaillonteile in Wirklichkeit zueinanderfanden, wie jener schrieb, den Hortense mit dem Namen ihres Geliebten voreilig bezeichnet hatte, war vollkommen einerlei; es war nachträglich und bedeutete nichts als die Bestätigung einer Verbindung, die in ihr bereits vollzogen war; einer Hochzeit, die schon vorweggenommen, einer Bereitschaft, die ohne Rest schon alles gegeben hatte. Sie würde es tragen . . .

»Sagte ich nicht, daß das Medaillon aus zwei Teilen bestand?« fragte sie leichthin, als es Suzette in einer zärtlichen Stunde entdeckte, und die beiden Schmuckstücke sich mit grillenhaft zartem Geräusch berührten und das zum Erklirren brachten, was, wie Samenkörner aus einer reifen, geöffneten Kapsel, lautlos zu fallen und weiterzuwuchern bestimmt war. »Die Rache der Göttin. Siehst du?« flüsterte ihr Hortense ins Ohr und hielt die Gemme ein Stück von sich weg, um sie der Freundin zu zeigen.

»Ja?« fragte Suzette gelangweilt. Dann preßte sie ihren Mund von neuem auf die Lippen von Hortense de Chamant, die sich unwillkürlich verschmälerten, während ihr Blick, von den flatternden Lidern immer wieder verdeckt, sich wie ein gefangener Vogel bereits zu befreien strebte. »Ich bin aber doch nicht Hippolyt«, sagte Suzette kurz danach. »Oder findest du mich zu spröde, Hortense, oder zu ungelehrig?« In dem eifersüchtig dumpfen Gefühl, ihrer Freundin noch immer nicht zu genügen, setzte Suzette ihre Zärtlichkeit fort, deren kindische Wildheit sich unwillkürlich zu einer Grausamkeit steigerte, die ihrem Wesen im tiefsten gemäß war und nach Ergänzung verlangte.

Hortense, wie von einer Schlafenden, die sich an unruhigen Träumen berauscht, löste sich vorsichtig ab. »Ich möchte mit dir kommen, Suzette«, sagte sie hinterlistig.

Das junge Mädchen bog sich zurück und blickte sie prüfend an; eine Mischung aus hingerissener Wollust und bedrohter Besitzerfreude zuckte wie Wetterleuchten über ihr heißes Gesicht. »Aber wozu denn, Hortense, und wohin?« fragte sie dann gelassen mit erstaunlicher Nüchternheit; ihr gänzlicher Mangel an Geist wie an jeglicher Phantasie, die sich, wenn auch nur leise, von dem Boden der Tatsachen hätte erheben und ins Blaue 369 abstoßen können, machte sie unüberwindlich und klug, wenn es ihr Eigentum galt. Es war ihr daher durchaus nicht gegeben, diesen Ausruf der Freundin nur als einen Seufzer in das Wesenlose zu deuten – was er ja auch, wir wissen es, in Wirklichkeit nicht war – und ihr eigensinniger kleiner Kopf begann sofort, alle Möglichkeiten mit fast männlicher Pedanterie zu durchdenken und an die Stelle zu setzen, wohin sie vernünftigerweise gehörten und ihren Sinn bewiesen. »Hier können wir uns doch am besten lieben. Kein anderer stört uns. Ich weiß, wo du bist«, sagte Suzette naiv.

Ihre Freundin wollte etwas erwidern, schwieg aber plötzlich still. In dem panischen Flimmern der Mittagsstunde war wieder der Aufschlag im Gras zu hören, jenes fast unwirklich dumpfe Geräusch, mit dem sich bereits die erste Botschaft wie ein Engelsturz angekündigt und das Leben von Fräulein Hortense mit sich gerissen hatte.

»Was hast du?«

»Nichts. Nichts.« Hortense zog das junge Mädchen gewalttätig zu sich heran und erstickte seine erstaunten Ruf e in amazonischen Grausamkeiten, wilden Liebkosungen, kleinen Lauten und barbarischen Liebesküssen . . .

»Die Entscheidung, ich fühle es, ist gefallen, meine angebetete Freundin«, las Hortense in dem letzten der Briefe, der ihr Schicksal besiegeln sollte. »Sie haben mein Medaillon angenommen und damit Ihr Los, mich gleichfalls zu lieben und für mich, den jetzt noch Verborgenen, durch die Flammen der Hölle zu gehen. Denn ein anderer Weg ist nicht möglich, mein Fräulein, wenn man der Hölle ein Opfer entreißen und sie um die Beute betrügen will, der sie gewiß zu sein glaubt.« [Dieser Satz war vollkommen unwiderleglich und ergänzte auf merkwürdig logische Weise die Behauptung, welche Herr Bonmarché mit kühner Sicherheit aussprach: daß Hortense das Medaillon angenommen und damit ihr Los entschieden, ihren Weg schon beschritten habe. Der große Hasardeur der Vernunft, welcher Herr Bonmarché war, hatte recht behalten – Hortense war besiegt, ihr Wille befeuert, doch ihre Instinkte berauscht und ihre Einsicht verdunkelt. Darum nahm sie die folgenden Sätze ohne jedes Erstaunen auf; sie eilte ihnen sogar entgegen und war fast 370 enttäuscht, daß nicht mehr von ihrer Tatkraft erwartet, ihrem Opfermut, ihrer Bereitschaft verlangt und von ihnen gefordert wurde als ein vorgeschriebener Gang.] »Sie werden sich also, Fräulein Hortense, das nötige Geld verschaffen, um in der Nacht nach dem nächsten Vollmond mit dem ersten Zug nach Paris zu fahren; genauer gesagt: mit dem ersten Frühzug, der Senlis, soweit ich im Bilde bin, um 3.50 verläßt. In Paris angekommen, begeben Sie sich sofort in die rue Cardinal Mercier zu einem gewissen Herrn Quiche. Diesem Herrn Quiche, meinem Mittelsmann, zeigen Sie nur das Medaillon vor, das Sie unter der Bluse tragen. Herr Quiche wird Sie daraufhin an einen bestimmten Ort geleiten, den ich regelmäßig besuche. Hier werden wir endlich uns wiedersehen, meine geliebteste Freundin, um einander so vollkommen anzugehören, wie mein traurig verpfuschtes Dasein es zuläßt, Fräulein Hortense. Noch immer darf ich mich nicht enthüllen, wir werden uns unter Verkleidungen lieben, um uns nachher von neuem zu trennen und in die Hölle zurückzukehren, die jedem von uns beschieden ist – Sie nach Senlis und ich . . . ach, lassen Sie mich schweigen, um nicht noch mehr zu verraten. Aber die Hölle wird nicht mehr die Hölle und der Himmel, den wir genossen haben, wird nicht mehr der Himmel sein. Eine himmlische Hölle, ein höllischer Himmel ist von da ab der Anteil jener Gestalten, die sich nur in den äußersten Daseinsformen bisher bewegen durften. Wir werden irdisch sein, Fräulein Hortense! Irdisch! Wir unglückseligen Götter vermischen unser erstarrtes Bildnis, dieses Idol unsrer selbst, mit Erde; mit der guten Erde der Isle de France, aus der die Wurzeln der Pappelbäume ihr beständiges Schwatzen und Rauschen ziehen, ihr nachbarliches Geflüster und weithin sichtbares Nebeneinander, das dem Horizont seine Unendlichkeit nimmt, ihn gliedert und heimisch macht. Unsere Mühsal wird voller Behagen, unser Schlaf ohne Träume sein. Wir werden es nicht mehr unschicklich finden, nach dem Essen in den Zähnen zu stochern und uns des Guten noch einmal erinnern, das uns als Nachgeschmack auf der Zunge und unter dem Gaumen blieb. Weil wir nicht mehr unsterblich sind, Fräulein Hortense, werden wir teil an der Losung haben, die uns das ›Carpe diem‹ zur Pflicht und die Zufriedenheit zu dem Maßstab für ein 371 gelungenes Leben macht, das jedermann achten muß. Wir werden Bürger des Reiches sein, um dessen Sicherheit jetzt von unseren Braven gekämpft wird im Namen der Vernunft und der Ehre, der Freiheit und Menschlichkeit. Noch einmal: wir werden irdisch und werden menschlich sein, meine Freundin . . .« Und dann nach weiteren Phrasen und dem Satan vertrauten Redensarten folgte die eigenartige Wendung, die Hortense wieder an den Anfang dieses seltsamen Briefwechsels führte und ihre beleidigten Sinne beruhigte, ihren weiblichen Stolz, den natürlichen Adel ihres noch unvergewaltigten Wesens und die angeborene Klugheit ihres Geistes zum Schweigen brachte: »Wir haben sehr viel gelitten, Geliebte, und dieses Übermaß stillen Leidens, das uns über die Grenze getrieben und abgesondert hatte, gibt uns das Recht, ja sogar die Pflicht, uns von dem gemein menschlichen Schicksal nicht länger zurückzuhalten und unseren Anteil an Lust und Entzücken so vollkommen zu genießen, daß in dem Ausschlag des Pendels unser Leben zu jener Mitte zurückkehrt, die ihm natürlich ist. Unsere Liebe ist also ein Akt der Großmut gegen die Gottheit, die uns unersättlich geschaffen hat, ohne doch unsre Begierde befriedigen zu können. Wir erlassen ihr gleichsam die Schuld an unserem Dasein, Geliebte, und nehmen den Schuldschein zurück, den wir ihr ausgestellt haben.«

Ein Schauder der Liebe und des Entsetzens überflog das Gesicht von Hortense. Dies war Lucien. Ein zerstörter Lucien, der sich vergeblich die Möglichkeit eines behaglichen Daseins der Mitte einzureden versuchte und der nun, durch Himmel und Hölle geschleudert, mit dem letzten Atemzug seine Freundin um Erbarmen und Hilfe bat. Er konnte nicht mehr. Jenes Maß, das nicht eine Gottheit, sondern er selbst sich einst auferlegt hatte, und das ihn so schön, so hippolytenhaft, ach, und in all seiner Kälte begehrenswert und anbetungswürdig für ihr gekränktes, entzündetes Herz gemacht hatte, war zerbrochen wie eine Rüstung, die ihm Ruhe und Selbstbewußtsein gegeben und auch ihr in all ihren Schmerzen ein Maß der Vollkommenheit verbürgt und sie aufrecht gehalten hatte. Lucien, ihr Abgott, wand sich im Staub und war im Begriff, gewöhnlich zu werden und das Opfer zu schmähen und zu verraten, das ihr eigenes 372 armes Dasein bis dahin – sie glaubte, es deutlich zu fühlen – erhöht und gerechtfertigt hatte. Nun wußte sie, daß sie nicht nur um ihn, sondern auch um sich selber kämpfte; vielleicht auch [es durchzuckte sie flüchtig] um ihren unglückseligen Vater, indem sie das Gegenteil dessen vollbrachte, was Désirée getan: zu gehen, um wieder zurückzukehren und die geheiligten Bilder von neuem aufzurichten. Ja, ja, Lucien! Nun würde sie kommen, um, umgekehrt, ihn zu verlassen, bevor er sie besessen, und den übermenschlichen Durst seines Wesens an ihr gelöscht haben könnte. Welche Rache! dachte sie hingerissen. Welche Wollust, die zugleich Pflicht, und welche Grausamkeit, die zugleich die zärtlichste Schonung war!

Ihre Züge spannten sich fieberhaft, das Blut vibrierte und brannte in ihren Fingerspitzen; in ihren weit geöffneten Augen spiegelte sich, schon verwandelt, das mystische Abenteuer der Liebe, dem sie entgegenbebte. Ihre Blicke überflogen das Briefblatt und prägten ihrem Gehirn noch einmal die entscheidenden Sätze ein: ›Sie werden sich also, Fräulein Hortense, das nötige Geld verschaffen, um in der Nacht nach dem nächsten Vollmond . . .‹

Fräulein De Chamant, wie ein Kind, das die Abwesenheit der Eltern benutzt, um auf Entdeckungsreisen zu gehen, lief in das Schlafzimmer ihres Vaters und zog die Nachttischlade heraus, wo er unbekümmert sein Geld hineinzuwerfen pflegte. Dieses Schlafzimmer, das nach dem Fortgang der Mutter seinen Charakter geändert hatte, enthielt die bescheidenen Möbel aus der Junggesellenzeit de Chamants: sein Eisenbett, einen rohen Waschtisch und [dazu wenig passend] den großen, reich eingelegten Schrank seines Vaters, der früher ein Gewehr- und Munitionsschrank gewesen war; früher, als noch der Großvater lebte, ein mächtiger Nimrod vor dem Herrn und ein Säufer und Schürzenjäger dazu – gefürchtet im Wald von Halette. Ein alter Kupferstich an der Wand stellte Paul und Virginie dar; er war der einzige Zimmerschmuck, wenn man nicht das Hirschgeweih rechnen wollte, das Herr de Chamant, wie sich selbst zum Spott, darüber aufgehängt hatte. In der Luft lag wie immer Pfeifenrauch, der selbst durch beständiges Lüften nicht zu vertreiben war; auf dem Nachttisch häuften sich Fachjournale, in 373 die sich Herr de Chamant vor dem Einschlafen zu vertiefen pflegte; die Schubladen klemmten von halb verbrauchten Medikamentenschachteln. Hortense durchwühlte sie rasch und unbekümmert nach Geld, hob eine Zigarrenkiste heraus und schlug den Deckel zurück. Die brasilianische Tabakschönheit auf seiner Innenseite mit den rabenschwarzen, gelockten Haaren, dem nelkenroten Mund und dem arglos dekolletierten Busen blickte sie fröhlich an. Zwanzig Francs . . . fünfzig Francs . . . dazu Kupfer und einige Silberstücke, schon seit Jahren hatte Hortense kein Geld mehr in ihrer Hand gehalten . . . Ob es genügte? Ob es das war, was in dem seltsamen Liebesbrief als ›das nötige Geld‹ bezeichnet wurde? dachte das Fräulein beunruhigt. Ich müßte Suzette darnach fragen, überlegte sie fieberhaft. Nein, nein. Nicht Suzette. Suzette darf nichts ahnen. Mein Vater noch weniger. Einerlei. Hastig stopfte sie alles in ihre Schürzentasche; danach, weil der Platz ihr nicht sicher schien, in das japanische Kästchen mit Luciens Abschiedsbriefen.

 

»Glauben Sie wirklich«, fragte Herr Quiche, »daß Ihr Vögelchen in das Netz geht?« Er blickte Bonmarché spöttisch an und fuhr fort: »Ich frage Sie, woraufhin? Gewiß – Ihre Briefe waren geschickt, aber bedenken Sie, daß die Dame keinen Pfennig ihr eigen nennt, kein Kostüm, keinen Hut, in welchem sie nicht wie entsprungen von einem Maskenball aussieht, den die Midinetten im ›Bateau-Lavoir‹ oder im ›Lapin agile‹ ihren Freunden gegeben haben. Sehr hübsch, nur eigentlich nicht ganz passend für unsre moderne Heloise, die Abälard besucht.«

»Sie wird ihren Abälard gar nicht sehen«, versetzte Herr Bonmarché kühl.

»Gar nicht sehen?« fragte Herr Quiche verblüfft. »Und der Briefschreiber selbst? Wie lange noch soll er im Hintergrund bleiben?«

»Da er nicht existiert – ich meine: nicht so, wie das Fräulein glaubt, daß er existiert – so lange wie Gott im Himmel, der auch nicht existiert«, erwiderte Bonmarché.

»Schon gut«, sagte Quiche, »doch im Hinblick darauf, daß Sie den Scherz in bestimmter Absicht und auf ein bestimmtes Ziel hin in Szene gesetzt haben, bester Charles – –« 374

»So? Habe ich das?« fragte Bonmarché, zog ein Scherchen aus seiner Westentasche und schnitt sorgfältig mit gelangweilter Miene ein Stückchen Nagelhaut ab. »Es kann sein. Aber, wissen Sie, Quiche – diese Dinge laufen, wenn man sie richtig, das heißt, in selbstloser Weise anfängt, auch ohne ihren Urheber weiter . . . verlassen Sie sich drauf.« Er steckte das Scherchen wieder ein und fuhr mit der gleichen Stimme wie eben ohne jeden Gefühlston fort: »Ich weiß natürlich, daß Sie jetzt denken: dieser alte Gauner, dieser Herr Charles, wünscht von hier ab keinen Zuschauer mehr, um entgegen seinen Prinzipien das Täubchen selbst zu verspeisen, das er ins Garn gelockt hat. Aber nein, mein Bester, das stimmt nicht. Ich bin noch immer, auf Ehrenwort, vor der Demaskierung gegangen.«

»Und der Pfaffe? Dieser Lucien Benoît? Soll er zum Segen der Zulukaffer nicht endgültig daran gehindert werden, sein Weihwasser zu verspritzen? Warum geben Sie nicht den beiden Gelegenheit zu einem tête-à-tête, bei welchem sie in flagranti erwischt und an den Pranger der Presse gestellt werden? Hä, mein Freund?« fragte Herr Quiche verbittert.

»Ta, ta, ta. Was heißt: in flagranti erwischt?« fragte Bonmarché ungerührt. »Ich glaube nicht, daß das gelingen wird, mein allerbester Quiche. Zwar ist unser Abälard nicht verstümmelt wie sein Original es war, aber die Keuschheit und das Gebet dieser rasenden Mönche sind schlimmer als eine Kastration. Ich kenne diese Art. Woher?« Herr Bonmarché winkte ab. »Intuition. Lektüre. Was weiß ich? Es ist schließlich einerlei.«

»Und – was wünschen Sie jetzt noch von mir, mein Lieber?« fragte Herr Quiche mit schleppender Stimme und setzte das Einglas auf.

»Nichts weiter, als daß Sie die Dame zu Ihrem ›Nestchen‹ bringen«, erwiderte Bonmarché, »und ihr einige Stunden später meinen letzten – ja, bitte, wirklich: meinen allerletzten – Brief übergeben, der das Ganze aufklären wird.«

»Zu dem ›Nestchen?‹« fragte Herr Quiche mit säuerlicher Miene.

»Ganz richtig. Zu Madame Mamérelle . . .«

»Die schon längst nicht mehr lebt«, ergänzte Quiche und blickte Herrn Bonmarché an. 375

»Bedauerlich. Und wer führt jetzt das Unternehmen weiter? Marguerite?«

»Jawohl – Marguerite und Marie, die ›Zwillinge‹, wie sie sich nennen; erinnern Sie sich, Charles?«

»Flüchtig. Marie ist das Perlhuhn mit der sommersprossigen Haut?«

»Ganz richtig. Und Marguerite das Mädchen mit dem Muttermal auf dem Oberschenkel, das die Form des italienischen Stiefels samt Sizilien und Korsika hat. Außerdem sind noch drei andere da, gleichfalls gelernte Putzmacherinnen, die das Federbordell auf der Höhe halten, wenn der Betrieb einmal stockt.«

»Ich habe den Namen ›Federbordell‹ niemals so richtig verstanden«, sagte Herr Bonmarché.

»Ganz einfach. Die Mädchen fertigen dort sämtlichen Hutputz aus Federn an, die sie in Blumen, Früchte und Vögelchen verwandeln – eine Spezialität des Hauses, nichts weiter, wie es viele gibt, lieber Charles. Dieser Hutputz geht teils an Großbetriebe, teils an Privatkundschaft weiter; manches Mal ist die Nachfrage stark, dann wieder entsteht eine Flaute – das hängt von der Mode ab. Um dieser Unsicherheit zu begegnen, kaschieren die jungen Damen am Abend ihre Werkstatt als einen kleinen Salon, wo man plaudern, ein Glas Chablis zu sich nehmen oder in den dahintergelegenen Räumen eine andere – Spezialität zwanglos genießen kann. Wie Sie sehen: ein hochsolider und anständiger Betrieb. Nicht eines der jungen Mädchen, mit welchem ein Mann sich schämen müßte, am Katherinentag tanzen zu gehen – es sei denn, daß Marguerite allzu oft ihren Rock aufhebt, um den Stiefel zu zeigen, der allerdings einzig ist. Ich frage Sie also noch einmal: was soll das Fräulein Hortense de Chamant unter diesen – Naturkindern, hm? Hat sie das Putzgewerbe erlernt? Oder will sie Pension bezahlen? Auf jeden Fall, bester Herr Bonmarché, ist das ›Nestchen‹ mein Privatunternehmen – kein Absteigequartier. Für solche Experimente habe ich, ehrlich gesagt, zuviel Kapital investiert. Laufkundschaft ruiniert den Bestand und macht sich, ohne zu zahlen, dünne, bevor Marguerite dazu kommt, die Zeche zu kassieren.«

»Wundervoll«, sagte Herr Bonmarché neidlos. »Das ist 376 großartig organisiert. Fürchten Sie nicht, daß ich Ihren Betrieb durcheinanderbringe, Herr Quiche.«

»Schön. Aber was geschieht mit der Dame, wenn sie den Brief empfangen und durchgelesen hat?« forschte der andere hartnäckig weiter, verzog das Gesicht und ließ das Einglas mit geschickter Grimasse fallen.

Herr Bonmarché zuckte leicht mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich bin kein Prophet und lasse mich überraschen. Mein Ziel ist erreicht. Alles andere ist jetzt nur Vergnügen für mich. Ich war Autor und Regisseur zugleich – nun will ich Zuschauer sein.«

»Aber als Autor, Herr Bonmarché, müssen Sie schließlich wissen, wie der fünfte Akt endigen wird.«

»Durchaus nicht! Bis dahin war alles bestimmt und ganz genau festgelegt wie in einem klassischen Stück von Racine . . . hehe, natürlich: wie von Racine – soviel Tote und soviel Liebespaare in so und so viel Stunden. Von jetzt ab wird improvisiert.«

»Wer improvisiert?« fragte Monsieur Quiche mit drohender Fistelstimme, richtete seinen Fettkoloß auf und sah aus gigantischer Höhe auf den mageren Bonmarché.

Der Pfandleiher gab seinem Freund den Blick mit versteckter Bosheit zurück. »Kasperl. Hanswurst. Das Schicksal. Die Götter. Bitte, bedienen Sie sich«, krähte er animiert.

»Besser gefragt: Wer bezahlt?« fragte Herr Quiche brutal.

»Ach so. Na – wer das Vergnügen hat«, erwiderte Bonmarché. »Und das bin natürlich ich. Ich sagte doch schon: die subtileren Arten machen den Kenner erst aus. Ich bleibe in meinem Parkettsessel sitzen und genieße im Hintergrund. Übrigens brauchen Sie nicht zu fürchten, daß das Drama sich hinschleppen wird. Wenn mich nicht alles täuscht, wird Hortense das ›Nestchen‹ schon sehr bald wieder verlassen, um nach Hause zurückzukehren.«

Herr Quiche wiegte ungläubig seinen Kopf in den Speckfalten hin und her. »Nach Hause? Das glauben Sie selber nicht, Charles. Aber lassen Sie uns jetzt ein Gläschen Bordeaux und anschließend in der ›Verwitweten Auster‹ ein kleines Souper zu uns nehmen. Der Wirt hat dort eine neue Methode, den 377 Schinken mit Kräutern zusammen zu rösten, die er vorher in Kognak gelegt hat.«

Seinen letzten – »ja, wirklich: den allerletzten, glauben Sie mir, Herr Quiche!« – also den letzten der Briefe an Fräulein Hortense de Chamant schrieb Herr Bonmarché allen Ernstes in der ›Verwitweten Auster‹ zwischen Sekt und hitzigem Armagnac, den er, schon völlig berauscht, in den ersteren übergoß, und scharf gepfefferten Käseschnittchen, die die Trunkenheit aufheben sollten. Es war schon sehr spät, als die beiden das kleine Lokal verließen – jeder mit einem Mädchen am Arm, das sich nicht abschütteln lassen wollte und immer wieder mit zärtlichen Griffen nach ihren Brieftaschen tastete, bis endlich der muskulöse Herr Quiche den Damen mit Prügel drohte und sie, fürchterlich schimpfend, verjagte.

»Wieviel Uhr?« fragte Bonmarché, plötzlich ernüchtert, und suchte den Himmel ab.

»Es wird gegen drei sein«, erwiderte Quiche.

»Dann macht sich Fräulein Hortense jetzt fertig, um an den Bahnhof zu gehen. Solche Leute, die lange nicht mehr gereist sind, kommen nicht früh genug fort . . .«

 

Er hatte recht. Hortense de Chamant saß wirklich zu dieser Stunde schon vollkommen angekleidet auf ihrem glatt gestrichenen Bett, die Reisetasche zu ihren Füßen, und blickte mit heftig klopfendem Herzen nach der glasüberstürzten Stutzuhr, in der sich das Kerzenlicht spiegelte, während das Wachs mit winzigem Knistern unaufhaltsam herunterbrannte. Es mußte schon dämmern, doch wagte sie nicht die Jalousien zu öffnen, um ihren Vater nicht aufzuwecken, der erst vor einer Stunde von der kalbenden Kuh des Bauern Automne nach Hause gekommen war – übermüdet, aber wie immer mit katzenhaften Schritten, die höchstens die Mäuse der alten, geheimnisvoll riechenden Räume hätten erwecken können. In ihrer Hand lag der Schlüssel des Tores, das vom Garten hinaus auf die Straße ging; sie hatte es nicht einmal nötig gehabt, sich besonders um ihn zu bemühen, denn Herr de Chamant, der ihn, wie sie wußte, immer in seiner Umhängetasche und diese über der Schulter trug, wenn er von Hause fortging, hatte ihn in der 378 Zigarrenkiste, die seine Tochter vor einigen Tagen nach Geld durchwühlt hatte, liegen gelassen . . . vielleicht, als er neuen Tabak in seine Shagpfeife stopfen wollte, vielleicht auch als Antwort auf ihren Diebstahl, den er, wahrscheinlich aus Nachlässigkeit, mit keinem Wort erwähnte, oder – gewagter, doch richtiger und furchtbarer Gedanke – weil er innerlich nicht nur mürbe genug war, der Flucht seiner Tochter zuzustimmen, sondern sogar, von verrückter Hoffnung und uneingestandener Sehnsucht getrieben, sich als mystischen Lohn seiner Großmut Désirées Rückkehr versprach. Als die Stutzuhr wieder zum Schlag ausholte, erhob sich Fräulein Hortense wie ein Mensch, der – sei es aus Trunkenheit, sei es aus Schlaf – seines Gleichgewichts nicht mehr sicher ist, nahm die Kerze von der Kaminplatte fort und trat vor den Aufsatzspiegel ihres kleinen Toilettentischchens, um den Anblick noch einmal zu prüfen, den sie Lucien [sie bebte davor] sehr bald gewähren würde. Die Kerze zitterte, in dem Glas bewegte sich schwankend die Straußenfeder über der Kante des Hütchens, dessen Sammet hier und dort schon zerschlissen und sorgfältig nachgestopft war. Das Gesicht darunter war totenblaß, Hortense stellte hastig die Kerze nieder, hockte sich auf den geblümten Schemel und entnahm einem Töpfchen mit Rouge etwas Farbe, die sie mit flatternden Händen auftrug, um sie dann wieder mit Puder, und den Puder mit Rouge zu bedecken, so daß eine Maske aus Scham und Verzweiflung, Hoffnung und starrer Schönheit entstand, welche wie abgenommen von einer durchaus Fremden und in dem künstlichen Licht trotz der Farbe kalkig und totenhaft war.

»Fort!« sagte sie eilig zu sich selbst und – das offenstehende Töpfchen mit Rouge und den überall abgestäubten, verwischten Puder bemerkend – »Ich komme morgen schon wieder zurück . . . sicherlich aber übermorgen, dann räume ich hier auf . . .« Sie faßte die Tasche und lief aus dem Zimmer, ohne sich umzusehen, huschte den Flur entlang und erreichte, an allen Gliedern zitternd, die Glastür, die das Arbeitszimmer des Vaters zu dem schmalen Garten hin abschloß, und zog die Vorhänge auf. Sofort war das ganze Zimmer voll von irisierendem Rosa; dem Rosa, das auf der Innenseite der Muschel zu finden ist. Die Morgenröte zwischen noch grauen und zartblauen 379 Wolkenbänken, die mit Wasser vollgesogen waren, färbte die Statuette des Eidechsentöters auf seiner Säule neben dem Schreibtisch Chamants, die runde Visitenkartenschale aus Alabaster, den Briefbeschwerer und tönte die Mahagonimöbel mit stärkeren Tinten ein. In dem Garten lärmten, als sie heraustrat, die Finken und Meisen – nicht mehr melodisch, weil schon lange die Zeit der ersten Liebe vorbei und nur noch die Sorge um ihre Brut, die kleinen Warnungsschreie der Eltern und das ungeübte Gezwitscher der Jungen übrig geblieben war; dazwischen krähte von weitem in triumphierenden Tönen ein Hahn, als sei es sein Werk, daß die Nacht vorüber und der Tag gegen alle Erwartung noch einmal gekommen war. Fräulein Hortense ging jetzt rasch durch den Baumgang auf die große Holzpforte zu, rechts und links sichernd, als könne noch immer ein unerwartetes Hindernis ihr plötzlich den Weg verlegen. Sie hörte nicht, daß ihr im Rücken leise das Schlafzimmerfenster Chamants, von Sonnenlicht überschüttet, aufging, und ihr Vater, den dunklen Morgenrock um seine Schultern ziehend, an die Brüstung getreten war. Groß, breit, mit verwilderten Haaren und übernächtigen Zügen, stand er wie ein verlorener Blaubart vor dem Hintergrund seiner purpurnen Höhle und blickte der Tochter nach . . .

Erst, als Hortense die Straße gewonnen hatte, trat sie fester, mit ganzer Sohle, auf und wagte, den Kopf zu heben. Plätze, Winkel und Straßen waren noch ausgestorben. Das Leben der alten französischen Kleinstadt war wie in einen Brunnen gefallen, in dem es mit beharrlicher Bosheit, ohne Hoffnung auf Trost, verweilte. Gewiß: es würde, wie jeden Tag, so auch an diesem Morgen an ächzenden Seilen und Winden heraufgezogen werden: widerwillig, unendlich mürrisch, weil es eigentlich der Vergangenheit und kaum noch sich selbst angehörte, würde es aus der Tiefe steigen, mit allzu schweren Gewichten beladen, die bereits mittags wieder auf dem sommerlich heißen Marktplatz in den Schoß des Vergessens herunterdrängten und das Gras in den Ritzen zur Erde beugten, es ausdörrten und in die Pfeife eines alten, grämlichen Pan mit geschulterter Mistgabel stopften. Eine Katze wischte scheu um die Ecke, einige Straßen weiter klapperte, quietschte und rappelte ein Leiterwagen mit blechernen Kannen, und der grelle Lokomotivenpfiff eines 380 Güterzugs schnitt durch die unbewegte und noch jungfräuliche Stille wie Räder durch frischen Schnee. Diese munteren, mutigen Töne schienen den Bann gebrochen zu haben, der über dem Städtchen lag. Die Gespenster auf dem riesigen Turm der Notre-Dame-Kathedrale streckten die langen Hälse aus zerfließendem Morgengewölk und Dunst über die Steinbalustraden hinaus, um den Clairons-Signalen zu lauschen, die jetzt ihren peitschenden, süßen Klang immer drängender aus unendlicher Ferne in das dumpfe Ohr der Schläfer schickten, die er zu wecken bestimmt war, zu ernüchtern und aufzurütteln. Diese Vampire waren wie immer von weißen Tauben umflattert, eine von ihnen löste sich ab und setzte sich der kopflosen Jungfrau in dem Domgärtchen auf den Schoß: zutraulich, von der Hoffnung belebt, in der Mulde, wo früher das Kind saß, einige Körner zu finden. Blind und taub duldete es die Beraubte, sie gab, was sie hatte – in einen Schlaf von solcher Tiefe versunken, daß nichts mehr sie anrühren konnte. So teilte sie ihr Los mit St. Pierre, der kleinen und älteren Kathedrale, welche, östlich der Notre-Dame gegenüber, unbewegt an dem Marktplatz hockte, krötenhaft breit, ein verzauberter Berg mit romanischen Fundamenten, aus welchen ganz Frankreich stieg: dieses grausam-gemütvolle, weiblich-zarte und bäuerliche Frankreich, verstümmelt von der Revolution, mit kalten Augen und einer Milchbrust, auf welche die kleinen häßlichen Engel der mausgrauen Madonna noch immer in starrer Bewunderung blicken.

Der Platz vor der schlummernden Kathedrale, in der seit dem Ausbruch der Egalité keine Gottheit mehr wachte, war so verödet, daß Fräulein Hortense de Chamant allen Ernstes zu träumen glaubte; er war mit seinen buckligen Steinen wie ein Pygmäengebirge von unübersichtlicher Drohung und tückischer Grausamkeit. Jeder Stein ein vom Himmel gefallener Mond, der Kälte und Verlassenheit barg und den Fuß in die Irre führte. Sollte sie umkehren? Warnte sie das dumpfe Dröhnen der Geisterpferde, das die Leute an Markttagen hören wollten, wenn es den Bauern, die dienstags und freitags ihr Gemüse hier stapelten, aus dem Innern der Kathedrale als Antwort entgegenkam – jener Pferde, welche die Deutschen in dem vorletzten Krieg an dem Chorgestühl angebunden und zwischen dem 381 verkohlten Gebälk getränkt und gefüttert hatten? Zum ersten Mal fühlte sich Fräulein Hortense in eine Einsamkeit aufgenommen, die noch größer war als die ihre; unaufhebbar und unabänderlich, solange sich nicht dieses Volk als Ganzes wieder zu Gott bekehrte. Ihr Herz, das stolze und adelige, dessen Pulsieren sich aus den Herzen ihrer Vorfahren in der Vendée abgelöst und von ihnen die Glut, die Unbedingtheit und den Durst, sich zu opfern, empfangen hatte, überstieg die eigenen, furchtbaren Schmerzen und flammte gleichsam empor wie ein Licht, dessen Docht von dem letzten, schmelzenden Wachs noch einmal die Kraft zu blendender Größe und strahlender Helle empfing . . . »Ja, ja, Lucien«, sagte sie wieder laut; als habe sein dringender Anruf von neuem nach ihrer Bereitschaft verlangt. Zwischen dem ersten und zweiten Ja fielen die beiden Schläge der Turmuhr; es war halb vier, in zwanzig Minuten ging die Kleinbahn nach Chantilly, wo Hortense in den D-Zug umsteigen mußte, der sie zur Hauptstadt brachte. Unwissend, wieviel Zeit ihr noch blieb, hastete sie dahin; noch kurz vor Chantilly pochte ihr Herz in unregelmäßigen Schlägen, und im Vorbeifahren zuckte das Band der verschilften, silbrigen Wasserläufe, die Gestalt eines Jägers mit seinen Hunden, die kurz an der Leine gingen, die Bahnwärtergärtchen mit ihren grellen, flackernden Blumenrabatten und die bärtige, untersetzte Frau, welche die Weichen bediente, deren Handhabung ihr ein Kriegsinvalide gestikulierend erklärte, fast wie in einem Kaleidoskop – rasend und irrsinnig – auf. Die dicke, freundliche Philomene, die einen Tragstall von Hühnern und in der Armbeuge einen Korb frische Eier nach Chantilly brachte, gab Fräulein Hortense an dem Zug nach Paris, als diese, behindert durch ihren Cul, das hohe Trittbrett erkletterte, mit dem runden Knie einen Stoß. Die Hühner, durch diese Bewegung erschüttert, fingen gackernd zu kreischen an. Zwei Soldaten, die an dem Bahnsteig [das Käppi weit nach hinten geschoben, den Daumen in dem Gewehrriemen] sorglos und übermütig stolzierten, riefen Hortense etwas zu. Obwohl das Fräulein sie nicht verstand, krümmte ihr ganzer Körper sich vor Entsetzen zusammen; sie sank in die Polster des leeren Abteils, in welchem das blaue Nachtlicht, gespenstig genug, noch brannte, und preßte die fein 382 behandschuhten Finger krampfhaft zwischen die Knie. Die Bannmeile von Paris, die ihr rasch mit den elenden Hütten der ›Zone‹, dem Schrott und Schmutz ihrer Schrebergärten und dem vergifteten Laubwerk ihrer zerzausten Bäume, die gleichsam in eisernen Blumentöpfen und göttlichen Flüchen staken, entgegenflog, schien den Sinn dieses Zurufs furchtbar erläutern zu wollen; ja, in Bildern und scheußlichen Hieroglyphen noch nackter zu wiederholen . . .

Die große Halle der Gare du Nord – in ihrer eigentümlichen Mischung von Übermüdung und Schlaflosigkeit – war von den Passagieren der ersten Morgenzüge auf drastische Weise belebt: Handlungsgehilfen mit quirlenden Stöckchen und hohen Stehkragen spitzten den Mund einem Abenteuer entgegen, das sie niemals erleben würden; Zöglinge einer Bildungsanstalt marschierten in geschlossener Reihe – ihre Holzköpfe in bukolischen Farben voll mit der Entengrütze liberalistischer Redensarten – unentwegt und bieder dem Ausgang zu; ein alter Abbé mit befleckter Soutane und dicken, dörflichen Schuhen schleppte die perlengestickte, auseinanderquellende Reisetasche an dem Rand der Geleise wie zwischen den Furchen eines staubigen Feldwegs entlang; zwei Nonnen in einem bunten Haufen normannischer Bäuerinnen gingen mit ehrbar starren Gesichtern wie gemästetes Weihnachtsgeflügel dahin; ihre sorgsam eingefältelten Hauben waren wie frisch aus der Schachtel genommen und glänzten in reinstem Weiß. Obwohl die Hitze unter dem Glasdach schon wieder im Steigen war, fröstelte es Hortense. Sie trat vor dem Bahnhof besinnungslos in eine Cafébar, die von Arbeitern und Soldaten erfüllt war, welche mit halbem Oberkörper über der Theke lagen. Ein Korporal führte das große Wort, in der Ecke stand ein Haufen Gewehre, die wahrscheinlich erwarteten, daß ihre Herren sie wieder abholen würden. Der dürre Garçon hörte neugierig zu, ein Nickelhahn dampfte und schlechter, doch überheißer Kaffee ergoß sich in das Kännchen, das er auf einem beschlagenen und flüchtig abgewischten Tablett dem Fräulein herüberschob. Sie setzte die Tasse eilig an ihre Lippen und trank, ein junger Arbeiter, der gerade ein Gläschen Anis herunterkippte, sah mitleidig zu ihr hinüber, klappte sein Taschenmesser auf und schnitt von der 383 Weißbrotstange, die vor ihm auf dem Tisch lag, ein Stück herunter, spießte es an und reichte es Fräulein Hortense.

»Nehmen Sie nur, Madame«, sagte er dann verlegen, »heißer Kaffee auf nüchternen Magen zieht Blasen, wie man sagt.«

Sie blickte ihn verständnislos an, errötete, warf einen Geldschein, ohne ihn zu betrachten, auf die Theke und stürzte hinaus. Das Gewieher der Männer folgte ihr, der Korporal sagte, beleidigt, unterbrochen worden zu sein: »Da hast du es, Jean-Marie. Sie frühstückt doch jetzt bei dem Präsidenten im Elysée-Palast.«

 

»Zweihundertfünfzig Francs. Keinen mehr«, sagte Herr Quiche mit eiskalter Stimme und nahm die Lupe vom Auge fort, mit der er gerade den großen, makellos schimmernden Solitär einer Kravattennadel geprüft und sekundenschnell eintaxiert hatte.

Der junge Mann, dem der Schmuck gehörte, nahm ihn heftig an sich, legte die Nadel in das ausgeschlagene Kästchen zurück und wandte sich, blaß vor Enttäuschung, wieder dem Ausgang zu. »Keinen mehr? Ist das wirklich Ihr Ernst, Herr Quiche?« fragte er brüchig in flatterndem Tonfall und drehte noch einmal den Kopf zu ihm über die Schulter zurück.

In diesem Augenblick zuckte in den Krötenpupillen Quiches ein winziges Feuer auf; die Tür zu dem Versatzraum war plötzlich mit dem charakteristischen Knarren gegangen, das hier die sonst übliche Klingel ersetzte; eine Duftwelle und ein seidenes Rauschen, ein Schleifen, Knistern und Rascheln über huschenden Stiefelchen lief durch den Vorraum und dann auf einen der [durch die Milchglasscheibe abgesonderten] Schalter zu, deren Kunden, diskret verborgen, einander unsichtbar blieben. Der Anblick der Dame, zu der Geruch und Geräusche gehörten, war dem jungen Menschen, so schnell er ihn auch, indem er den Kopf herumwarf, zu erhaschen suchte, entgangen. »Einen Moment noch, Monsieur!« sagte Quiche, indem er mit großer Eile zu dem anderen Schalter und seiner Kundin hinüberwechselte. Nun hörte der junge Mann ein Geräusch, als ob Gerstenkörner in einer Hand aneinander gerieben würden; sodann nach diesen schüchternen Tönen, die fraglos von einer feinen Kette hervorgebracht worden waren, den Aufschlag des Anhängers auf 384 der Platte und dann die unangenehme Stimme des Pfandleihers: »Ich bedaure, Madame. Kommen Sie später wieder. In der Mittagszeit bleibt mein Geschäft geschlossen, aber nachher stehe ich selbstverständlich durchaus zu Ihrer Verfügung.«

»Oh –!« sagte die Dame. Enttäuschung und Schmerz klangen in diesem einfachen Laut zu einer Klage zusammen, die das Herz des jungen Mannes mit Trauer und gleichzeitig derartig mit Wut erfüllt, daß er, jede Rücksicht vergessend, zu Quiche hinüberrief: »Aber Monsieur, warum schwindeln Sie? Ihr Geschäft ist doch durchgehend offen, wie ich von früher her weiß!«

»Heute nicht. Ich erwarte Besuch«, sagte Quiche mit unerschütterter Miene. »Aber wenn Sie warten wollen, Monsieur, so fertige ich die Dame noch ab und schließe dann hinter Ihnen, wenn ich ausgezahlt habe, zu. Dreihundert Francs? Ist es recht?«

»Ja, so. Natürlich. Schon gut . . .«, gab er völlig verwirrt zur Antwort und griff wieder nach der Nadel, die er schon eingesteckt hatte.

»Nein, bitte –«, hörte er jetzt aufs neue die Frauenstimme sagen. »Ich will nichts beleihen . . .« Tödliche Stille folgte diesen gestammelten Worten, in denen Hortense sich preisgab. »Sehen Sie – –!«

Wieder klirrte die Kette; ein feistes Lächeln, unendlich grausam, klang durch die Antwort Quiches: »Aber bitte! Nur keine Hemmung, Madame! Hübsch, sehr hübsch. Ein recht apartes Stückchen. Phädra und Hippolyt, wie?«

Er mußte die Lupe genommen haben, das gewohnheitsmäßige Schaben seines Messerchens an dem Goldrand der Fassung drang zu dem Ohr des Lauschers, welches sich angestrengt vollsog, während sein Hirn, von dem Duft umnebelt, dessen Wellen sich ausbreiteten und verstärkten, zu kombinieren anfing. Nelke, dachte er. Rote Nelke. Eine dunkle Frau mit blauschwarzem Haar und exotisch gespitzten Brüsten. Wie die Seide sich über den Hüften spannt und ihre Formen herauspreßt, die noch ganz mädchenhaft sind! Mein Gott – sie ist ebenso elegant, wie schön und bedauernswert. Ob sie in Not ist? Was führt sie hierher? Vielleicht hat ihr Gatte im Glücksspiel verloren, oder sie ist als 385 Spionin Erpressern ausgeliefert. Eine fremde Agentin, die Geld braucht, um über die Grenze zu kommen . . .

»Sehr gut. Aber hier ist das Schmuckstück auseinandergenommen, Madame. Haben Sie nicht auch die andere Hälfte?« fragte Quiche, der schon längst im Bilde war und die Wonne, Katze und Maus zu spielen, so sehr zu genießen anfing, daß er gegen seinen Auftrag beschloß, das Spiel in die Länge zu ziehen.

»Ich dachte, Monsieur, dieses hier genügt –.« Jetzt drang die Stimme, erstickt von Angst und gefärbt von einem noch unhörbaren und in der Kehle gesammelten Weinen zu dem jungen Lauscher hinüber.

Dieser Schuft! Er quält sie. Er foltert ihr Herz, das nur Zärtlichkeiten gewöhnt ist. Wie sie leidet! Wenn ich ihr helfen könnte . . . Ein Wort noch, und ich erschlage ihn und raube die Kasse aus –!

»Bitte, zeigen Sie noch einmal her, Madame. Doch. Ich glaube mich jetzt zu erinnern. Aber können Sie mir nicht wenigstens sagen, wie die andere Hälfte aussieht, die Sie nicht mitgebracht haben?« fragte Herr Quiche und fuhr, seine Stimme mit Absicht nur um weniges dämpfend, fort: »Man muß vorsichtig sein, begreifen Sie, damit kein Irrtum entsteht. Mein Auftraggeber . . . ich nehme an, daß Sie ihn kennen, Madame – –. Er ist stark und jähzornig, und vor allem muß er im Hintergrund bleiben«, sagte Quiche mit berechnender Stimme und schien von neuem das Schmuckstück unter die Lupe zu nehmen.

Ich habe recht. Sie ist in der Hand einer politischen Bande, die sie festhält, erpreßt und peinigt, dachte der junge Mann. Man müßte sie retten! Ich müßte sie retten –!

»Die andere Hälfte?« fragte Hortense. »Die andere Hälfte des Medaillons ist die Versuchung des Hippolyt durch Phädra und Aphrodite.«

»Ja, richtig. Die Versuchung des Jünglings«, erwiderte Herr Quiche. »Dieses Stichwort genügt mir. Ich habe die Ehre, Sie nach dem ›Nestchen‹ zu führen, wo Monsieur Sie erwarten wird. Erschrecken Sie nicht. Ich gebe zu, daß der Treffpunkt eigentümlich gewählt und der Name nicht sehr vertrauenerweckend für solch ein platonisches Rendezvous ist, wie es mir vorschwebt, Madame.« 386

»Monsieur verkehrt dort – gewohnheitsmäßig?« fragte Hortense mit zitternder Stimme und umkrampfte das Medaillon.

»Ich habe nicht die Befugnis, Madame, über die Lebensart von Monsieur detaillierte Auskunft zu geben«, erwiderte Quiche gelassen und setzte das Einglas ab. Er ließ das Fräulein rücksichtslos stehen, entnahm der Kasse dreihundert Francs und ging zu dem anderen Schalter hinüber; zählte, ohne den jungen Mann eines weiteren Blickes zu würdigen, die Geldscheine vor ihm auf und sagte: »Los, los, ich schließe jetzt ab. Die Bedingungen kennen Sie. Zinsen wie immer – natürlich mit Kriegszuschlag.« Plötzlich beugte er sich vertraulich über die Holzbarriere. »Und auf Ihr nächstes Stück, mein Herr Autor, bekomme ich wohl Tantiemen für meine – Inspiration«, flüsterte er gemein.

Als der Kunde den Raum verlassen hatte, kehrte Herr Quiche wieder aufgeräumt zu Fräulein Hortense zurück. Sie bot einen jammervollen Anblick. Ihr Gesicht war erloschen, das helle Rouge, zwei kreisrunde Flecken bildend, lag abgesondert und viel zu dick auf den hochgeschwungenen Wangenbögen, in dem Nasenwinkel klebte der Puder und ließ die Falten zum Mund herunter nur um so deutlicher sichtbar werden; der Hals stieg mager und unter dem Kinn schon in der Linie erschlafft und gebrochen aus dem ängstlichen Dekolleté der Bluse, die durch eine rührende kleine Brosche zusammengehalten war.

»Gehen wir!« sagte der Pfandleiher munter. »An der Ecke nehmen wir eine Droschke, damit Sie in Ihrem Aufzug kein Verkehrsmittel zu benutzen brauchen, das Sie unnötig fremden Blicken aussetzt«, fügte er taktlos hinzu.

Sie errötete, ließ ihren Schleier von der Krempe des Hütchens herunter und band ihn gewalttätig fest. Sie verließen das Haus und durchquerten den Hof, wo ein schrulliger Antiquitätenhändler alte Grabkreuze aus der Bretagne und den ornamentierten Steinbelag einer abgetragenen Kirche in einem Schuppen gestapelt hatte; der junge Autor, von dem Gewirr und hinter den Namensschildern der rostigen Kreuze verborgen, sah den biedermännischen Rücken Quiches und daneben die zarte, hohe Gestalt einer merkwürdig kostümierten Dame, die dicht verschleiert war. Welch unvorsichtige Maske! dachte der junge 387 Mann besorgt und gleichzeitig schon aufs neue entflammt von seiner Beschützerrolle. Er folgte den beiden bis auf die Straße; Herr Quiche und seine Begleiterin stiegen, ohne sich umzusehen, in einen herbeigewinkten Wagen; der junge Autor, die Hand auf der glücklich geblähten Börse, warf sich sofort in den nächsten und befahl seinem Kutscher, sich dicht hinter dem ersten zu halten. Noch in späteren Jahren, zu Ruhm gekommen und die Seltsamkeiten des Lebens mit erkalteten Sinnen betrachtend, hat der junge Mann nicht den Eindruck vergessen, den Paris ihm auf dieser kurzen Fahrt machte: die schmale rue Cardinal Mercier auf die breitere rue d'Amsterdam und hinunter nach der Gare St. Lazare, Lafayette vorüber, den schmetternden Boulevard Haußmann schneidend, die Opéra streifend und das Gesumse des Boulevard des Capucines überquerend, dann einbiegend in die rue de la Paix bis zur Place Vendôme und von da aus hinein in das zarte, unendlich süße Gewinkel einer dahinterliegenden Straße, wo drei, vier Häuser von reinstem Empire einen kleinen Innenhof bildeten, die winzige Bühne gleichsam eines Kammerspielhauses von zwar morbiden, doch erlesenen Ambitionen . . .

Der Himmel über dem Schauplatz des Dramas, welches dort abrollen sollte, war tief gewitterblau; von dem dunklen, rötlichen Violett der reifen Aubergine; es machte den ganz unwirklichen Eindruck der wassertragenden Atmosphäre, die das luftige Element verläßt, um körperhaft zu werden, und daher gleichsam inmitten einer Verwandlung steht – – Zeus, Vater des Äthers, verleiblichte sich und betrat, von purpurnen Locken umwallt, die irdische Bühne, um sich wie immer einer der Menschentöchter begierdetoll zu vermählen. Die Eierschalenfarbe der Häuser, deren Fenster in kühlem Grün und Altrosa abgesetzt waren, stimmte auf merkwürdig passende Art zu dem Geschehen, dem sie den Rahmen und Hintergrund geben sollten; hätten sich im Verlauf die Gebäude an Schnüren in die Höhe gehoben oder in Wolken verwandelt, denen Blitz und Donner entfuhren, so wäre es, weil bis dahin alles genau berechnet und wie in einem klassischen Stück rundherum einkalkuliert war, nicht verwunderlicher gewesen, als wenn das verborgene 388 Schicksal persönlich in Erscheinung getreten wäre. – Aber beides war nicht der Fall. –

Der junge Autor, während er selbst in dem Fond der Droschke verharrte, sah Quiche und sein schönes Geheimnis in dem linken Seitenflügel des Hauses – »Marguerite und Marie Pimpinelle« – verschwinden, stieg aus und bezahlte; fest entschlossen, die Dame nicht aus den Augen und noch weniger aus dem Sinn zu verlieren, bis er ihre Bekanntschaft gemacht und ihr Vertrauen erworben hätte. Langsam schlenderte er an die Haustür und blickte die schmale Front des Gebäudes mit gemischten Gefühlen hoch. Sollte er warten und diesen Quiche einfach zur Rede stellen, wenn er wieder das Haus verließ? Oder eindringen und nach ihr fragen? Unmöglich! Er schätzte diesen Flügel auf mindestens sechs Parteien, die jede über das Dasein der andern durchaus nicht im Bilde war. »Was wußte er? Weder Name, noch Alter oder Beruf der Geheimnisvollen waren ihm ja bekannt oder konnten erraten werden. Das Beste war also wirklich, zu warten und seine ›Geliebte‹, wie er Hortense bereits in Gedanken nannte, bei dem Verlassen des Hauses kurzerhand anzusprechen, vorausgesetzt, daß der elende Quiche sie nicht wieder begleitete. Diese Vermutung lag nahe, war aber trotzdem nicht sehr wahrscheinlich, denn der junge Autor – wie jeder, der mit Quiche in Berührung kam – wußte, daß der Pfandleiher keiner erotischen Regung [man sprach von ihm als einem Eunuchen] außer der einer allerdings sehr verzweigten Kuppelei fähig war. In der Erinnerung fiel ihm ein, daß er eben beim raschen Vorüberfahren am Eingang der Straße ein Eßlokal nach elsässischer Art gesehen und es aus unerklärlichen Gründen dem Gedächtnis eingeprägt hatte. Es war eines der hübschen, kleinen, sehr kostspieligen Restaurants in ländlicher Aufmachung: mit einem Kamin und viel Kupfergeschirr, rohen Holzbänken, alten Stichen und gewürfelten Vorhängen . . . in Verbindung mit märchenhafter Bedienung und gehörig gepfefferten Preisen. Hier zu warten, wäre bestimmt ein Vergnügen, dachte Camille Deschâteaux; außerdem waren die Fenster sehr tief und gaben den Blick nach der Straße frei, die sich am anderen Ende verkropfte und eine Sackgasse bildete, so daß sowohl Quiche wie der Unbekannten ein anderer Rückweg als dieser unmöglich und ihre 389 Annäherung [da eine Droschke sich erst an der Ecke auftreiben ließ] bereits aus mindestens hundert Metern Entfernung deutlich erkennbar wäre.

Er kehrte also um und trat ein; der Bratenspieß drehte sich vor dem Kamin, von einem Küchenjungen bedient, welcher das angebräunte Geflügel unaufhörlich mit Fett begoß, während ein Kellner rasch und geräuschlos die Weinkarte vor Herrn Deschâteaux legte und ihn, leise flüsternd, beriet. Sofort fiel eine behagliche Stimmung über den jungen Menschen, der von früh an noch nichts gegessen hatte, und das Glas Burgunder auf nüchternen Magen machte ihn glauben, schon an das Ziel aller Wünsche gekommen zu sein.

»Ich bin glücklich«, dachte er, »und das Leben ist reich an Möglichkeiten. Heute oben und morgen unten wie die Schaukel auf einem Jahrmarktsvergnügen – das Bleibende ist man selbst. Alles andre ist nur Traum und Rausch: ein unendlicher Wirbel, in welchem, wenn wir vorüberfliegen, manchmal ein lange Gesuchtes auftaucht – – ein schönes Gesicht, eine zarte Landschaft oder oft nur auch eine Seifenblase in schillerndem Perlmutt. Dieses Vergängliche einzufangen und ihm Ewigkeit zu verleihen, ist der Sinn des Daseins für einen Menschen, der als Künstler geboren ist. Bst! Nichts davon, daß jetzt Tausende bluten und ihr Leben, wie man so sagt, den Acker der Zukunft düngt. Diese Empfindungen, diese Phrasen mögen für Kleinbürger gut sein, die nicht wissen, daß ein einziger Vers, ein einziger Ton imstande ist, ganze Welten von Leid aufzuwiegen und ihren Schmerz zu verklären und wesenlos zu machen. Es ist wahr, daß die Künstler nicht die Person oder den Gegenstand meinen, sondern nur ihre eigne Empfindung, die an den Sachen haftet. Sie kennen die Treue einzig allein als Treue zu sich selbst; besser gesagt: zu dem Dämon, dem sie hoffnungslos angehören. Welch ein Geheimnis! Mit ihm zusammen bilden sie einen neuen Leib, einen verklärten mystischen Kosmos, in welchem, wie für den Christ in der Messe, die Materie verwandelt ist. Der Mensch und die Kunst! Ein gewaltiger Dämon. Der Mensch und die Macht. Ein anderer. Der Mensch und das Geld. Der Mensch und dieWollust . . . lauter Welten nebeneinander, getrennt wie Planeten und doch vielleicht durch ein und dasselbe Gesetz verbunden, 390 das ihre Bahnen sich überschneiden und die Figuren des Lebens sich bilden und lösen läßt. Wahrscheinlich, ich weiß es nicht, ist ihnen allen ein Urdämon übergeordnet, eine Gottheit, die alle einschließt, und dem Künstler auch Macht, dem Mächtigen Geld und dem Reichen Wollust verleiht. Das eine birgt die Verheißung des andern schon in sich wie die acht Seligkeiten, die einander im Schoße halten. Auch ich . . . das weiß ich heute bereits . . . werde nicht nur Visionen, sondern auch Ruhm und Macht über Frauen haben«, träumte er spielerisch weiter und hob das Glas zu dem Mund. »Man muß nur Geduld haben, warten können und das Glück nicht aus den Augen verlieren, wenn es vorüberkommt. Warten. Das ist es. Was tut sie wohl jetzt, und wessen Blicke betrachten sie, um sich hoffnungslos wieder abzuwenden von meinem Eigentum? Denn das ist sie, ohne daß sie es weiß. Ihre Hände, ihr Mund, ihr Geruch, ihre Haare gehören mir, wie mir der Vers gehört, der von ihr inspiriert worden ist.« Ein Zug von Schwermut und Reinheit zugleich trat auf das Antlitz des jungen Mannes, als er innerlich fortfuhr: »Was macht es? Ich könnte bereits auf sie verzichten, ohne sie jemals gesehen, geschweige besessen zu haben . . . die schöne Unbekannte – –.«

 

»Dies also, meine Damen, ist Fräulein . . . der Name tut nichts zur Sache«, sagte Herr Quiche diskret und schob die völlig erschöpfte Hortense zu einem Sesselchen, das inmitten eines Wustes von Stoffen, Federn in allen Formen und Farben, übersponnenen Drähten, Gummiband und mit Seide bezogenen Nadelkissen auf drei goldenen Füßchen stand; das vierte war abgebrochen und ein Holzklotz untergeschoben, der das kleine Rokokomöbel mit der übrigen Zimmereinrichtung versöhnte: den Arbeitstischen, der Leiter, den Regalen und Glasschränken, die die Modelle, und den Schüben, welche das Material in wildem Durcheinander enthielten.

»Billy!« schrie ein besonders großes, rotbraunes Mädchen mit breitem Mund und mächtigen Oberschenkeln. »Du kommst doch immer auf etwas Neues für deine Kunden. Na! Wo hast du sie aufgetrieben, sag, diese komische Großmama?«

Herr Quiche hob abwehrend seine Hände und sagte grunzend: 391 »Ich bitte dich, teuerste Marguerite. Du hast eine Dame vor dir, damit du es nur weißt.«

»Natürlich«, gab ihm die Große in gleichem Tonfall zurück. »Sie hat nur wohl etwas lange in der Mottenkiste gelegen. Simone! Cathérine! Georgette und Marie! Habt ihr schon so ein schönes Modell für Vater Giraud gesehen?« Sie stieß das Fräulein, noch immer lachend, gutmütig roh in die Seite. »Aber gib acht, Tantchen, hörst du, daß der alte Frömmler dir nicht die Preise, wenn er heute hierherkommt, drückt. Eine Garderobe wie deine hat ihren Anschaffungswert, auch wenn sie nicht gerade nach Barbizon passen würde.«

Die blonde Simone, ein ganz junges Mädchen, welches gerade mit der Brennschere eine Straußenfeder in die Form einer Orchideenblüte, sie zupfend und kräuselnd, brachte, fragte aufsässig: »Woher wissen Sie denn, Fräulein Marguerite, daß Vater Giraud heute abend in den Salon kommt?«

»Aha – sie ist eifersüchtig, die Kleine«, erklärte die Geschäftsdame wichtig dem grinsenden Monsieur Quiche. »Giraud hat nämlich versprochen, ein Aktbild von ihr zu malen; natürlich in seiner gewohnten Manier: halbdunkles Zimmer, das Mädchen auf einem Sofa liegend, den Handspiegel in der Linken haltend und mit der Rechten in eine Schachtel Pralinen auf dem Tischchen neben dem Ruhebett greifend – Unterschrift entweder ›Demi-Vierge‹ oder ›Die kleine Unschuld‹; ich sage dir, Billy, ein richtiges Stück für'n Sudelbildermarkt.«

Simone warf wie rasend die Brennschere hin und stampfte mit dem Fuß. »Ich mache das nicht mehr mit, Patron, damit Sie es nur wissen!« schrie sie hysterisch. »Immer dasselbe: wenn einer Erfolg hat, wie beispielsweise dieser Giraud, darf nur Marguerite ihn plündern und ihm die Taschen nach außen drehen – egal, ob er mein Revier ist und das von Georgette oder Cathérine, ja sogar von Marie! Habe ich recht oder nicht?« wandte sie sich an die andern Mädchen und sah sie herausfordernd an.

Sofort erhob sich ein wildes Geschrei, sogar die phlegmatische Cathérine und die fischblütig kalte Marie stimmten gestikulierend ein.

Simone, von diesem Erfolg angefeuert, fegte schlankweg von 392 einem Tisch die Modejournale herunter, hob das Röckchen, stieg auf die Platte und rief mit gellender Kinderstimme: »Ich habe zwar nicht den italienischen Stiefel auf meinem Beinchen wie Marguerite, und auch auf meinem kleinen Popo sitzt mir kein Cul wie dort dieser Dame, sondern alles ist Gott sei Dank echt – aber wer mir in mein Gehege kommt, dem kratze ich rücksichtslos beide Augen mit meinen Nägeln aus!«

»Bist du verrückt?« rief die Große empört, trat auf sie zu und schlug ihr von unten herauf rechts und links fest um die Ohren; es klatschte tüchtig, Simone blieb der Mund vor Verwunderung offen stehen. »Komm herunter, du albernes, kleines Tier«, sagte sie dann und wandte sich ruhig den anderen Mädchen zu. »Habe ich diese alte Schachtel mitgebracht oder Herr Quiche?« fragte sie hoheitsvoll. »Na, na, na. Keine Aufregung, Tantchen.« Sie klopfte Hortense mit ermunterndem Lachen zwischen die Schulterblätter. »Man sieht doch, sie ist heute nacht vergeblich auf Tour gewesen«, sagte sie vorwurfsvoll zu Simone, »und schon lange über die Jahre hinaus, wo man stundenlang hin und her geht, ohne was im Magen zu haben. Marsch, bring ihr ein Gläschen Rotwein, Simone, und ein paar Löffelbisquits.«

Hortense de Chamant stand plötzlich auf und nahm ihren Schleier ab. »Wann wird Monsieur voraussichtlich kommen?« fragte sie Quiche in einem Ton, den ihre Ahnen aus der Vendée gegenüber dem Stallknecht hatten.

Herr Quiche war keineswegs überrascht. »Habe ich nicht gesagt: eine Dame?« wieherte er entzückt. »Das ist Rasse, das verleugnet sich nicht, das hat früher genau so sein Hälschen auf die Guillotine gelegt.«

Die sanfte Georgette, eine Freundin der zornigen, kleinen Simone, blickte sie mitleidig an. »Nehmen Sie sich diesen Unsinn nur nicht zu Herzen, Madame. Wir sind alle gleich. Na, und alt werden wir auch einmal.«

»Das ist wahr. Sie hat vollkommen recht«, sagte die langsame Cathérine mit eingefetteter Kehle. »Nur der Geschmack, das weiß man ja selbst, ist jedesmal verschieden. Und eigentlich ist Ihr Kostüm nicht einmal übel, Madame. Diese Rüschen, diese gestreifte Seide, kaum ein bißchen verschossen, die kleine 393 Mantille aus feinstem Spiegelsamt – das hat Geld, das hat einen Haufen Geld gekostet, ihr könnt es mir glauben, von solchen Sachen verstehe ich etwas.«

»Papperlapapp«, sagte Marguerite. »Darum handelt es sich jetzt nicht. An wen wird Giraud heute abend zahlen? An den Salon oder an die – Dame, die Monsieur Quiche mitgebracht hat?« fragte sie den Patron.

In diesem Augenblick sank Hortense wie eine Puppe zusammen, deren Füße ein Kind auf zu glatter Fläche unverläßlich aufgestellt hat. Sie brach lautlos und leise nach vorne über, ihre Beine, wie ohne Kniegelenk, rutschten unter dem Rock hervor, gespreizt, mit aufwärts gestellten Sohlen, als ob die kleinen, geschnürten Schuhe an den Strümpfen festgeklebt wären.

»Da haben wir es!« schrie die Große erbittert. »Nun kannst du auch zusehen, Billy, wie du fertig mit dieser Sache wirst, die du dir eingebrockt hast. Was mich betrifft –«

»Na, was denn, was denn!« beruhigte sie Monsieur Quiche. »Es handelt sich weder um Vater Giraud, noch um einen anderen Herrn. Dieses Fräulein Hortense de Chamant, wie sie heißt, soll hier eine Nachricht erwarten, besser gesagt: ein Briefchen, das schon in meinem Besitz ist, doch die Dame aus ganz bestimmten Gründen erst später erreichen darf. Sie wird hierauf wieder das Haus verlassen und wissen, daß sie – mon Dieu! – einem galanten Späßchen zum Opfer gefallen ist.«

»Alles, was recht ist«, sagte Simone, die sich noch immer die Backe hielt, und sah scheu nach dem Häufchen Unglück hin, das auf der Erde lag. »Ich möchte ihr nicht dieses Briefchen, von dem Sie da sprechen, Herr Quiche, überreichen – auch nicht auf einem Tablett.«

»Was meinen Sie, Fräulein Marguerite, wenn wir das arme Ding da nebenan auf den Diwan legten?« fragte die sanfte Georgette. »Irgendwo muß sie schließlich bleiben und sich ausruhen. Wie, Herr Quiche?« Schon hatte sie Fräulein Hortense mit ungewöhnlicher Energie unter den Arm gefaßt, um sie kurzerhand hochzuheben; die kalte Marie griff gleichfalls zu, und Cathérine schlug den Vorhang zurück, der den 394 Arbeitsraum von dem Nestchen trennte, das er deutlich genug verbarg.

Plötzlich hatte Herr Quiche es eilig, wieder nach Hause zu kommen. »Das Geschäft, meine Damen. Ich muß jetzt gehen. Hier ist der Brief, liebe Marguerite. Ich denke, du hast nicht nur den italienischen Stiefel samt Sizilien und Korsika auf dem Bein, sondern bist auch nicht auf den Kopf gefallen und wirst wissen, wie man das Frauenzimmer auf gute Art wieder los wird.« Er setzte den Hut auf. »Noblesse oblige. Auf Wiedersehen, Kinder. Und grüßt mir schön den braven Vater Giraud . . .«

Kaum eine halbe Minute danach kam Hortense de Chamant wieder zu sich und schlug die Augen auf. Sie befand sich in einem ziemlich großen, mit Tischen und Stühlen bestellten Raum, der eine Stuckdecke hatte, die in der Mitte eines ovalen, aus Blättern und Früchten bestehenden Kranzes ein farbiges Medaillon trug. Es war ein mythologisches Thema, das ungenau durchdacht, schlecht gezeichnet, doch mit der üblichen Glätte und dem Pinselgeschick des 18. Jahrhunderts rasch hingeworfen war. Man sah eine Göttin, wahrscheinlich Venus, auf einem muschelförmigen Wagen, der von bebänderten Tauben gezogen und von Putten mit Rosen beworfen wurde. Neben dem Sofa hockte auf einem niedrigen Tischchen die sanfte Georgette und blickte Hortense halb ängstlich, halb ehrfurchtsvoll an.

»Geht es Ihnen jetzt besser, Madame?« fragte sie leise und setzte dem Fräulein ein Weinglas an den Mund. »Hier. Nehmen Sie einen tüchtigen Schluck! Das bringt wieder auf die Beine.« Sie stützte Hortense mit geschicktem Griff unter dem Kopf und flößte ihr langsam Schlückchen um Schlückchen ein; ihr Gesicht trug dabei den vernünftigen Ausdruck eines geduldigen, frühreifen Kindes, das es gewöhnt ist, seinen Geschwistern die Nase abzuwischen oder den Vater, wenn er betrunken aus der Schenke nach Hause torkelt, über den Randstein zu führen. [»Hör mal, Georgette«, hatte Marguerite zu ihrer kleinen Gehilfin gesagt. »Da ist der Brief, den sie haben soll, wenn sie wieder bei Sinnen ist. Kein Gedanke, daß wir ihn warm werden lassen, wie der Patron es will. Du gibst ihn ihr – und dann marsch, hinaus! Natürlich in höflicher Form. Solche Sachen mag Quiche alleine machen. Das stört nur und bringt nichts 395 ein.«] Georgette überlegte. Sollte sie es wagen, ihr jetzt den bewußten Brief zu geben und sie dann hinauszubugsieren? Sie seufzte. Ob sie womöglich von neuem in Ohnmacht fiel? Oder rabiat wurde und ihr das Glas ganz einfach an den Kopf warf oder die Spiegel zerschlug? Na, ja. Sie sah recht merkwürdig aus. Eigentlich nicht wie ein Straßenmädchen, aber auch nicht wie, beispielsweise, ihre Tante Yvonne mit der brandroten Tolle, die immer in Schwarz ging, viel betete und ein Knopflädchen in der rue Mazarin hatte, wo Georgette sich bei Prügelstrafe nicht blicken lassen durfte. Es half nichts. »Geben Sie acht, Madame!« sagte Georgette resolut. »Hier ist ein Brief, den mir Monsieur Quiche für Sie übergeben hat. Er wird nicht hübsch sein, denke ich mir, denn was soll schon von diesem Halunken kommen, außer Unglück und Gaunerei. Drauf spucken. Im Grund sind sie alle gleich und geben sich nichts heraus. Na, nur langsam. Regen Sie sich nicht auf und reißen Sie nicht den Umschlag entzwei, vielleicht ist ein Blauer drin.«

Sie nahm rasch das Weinglas und die Karaffe und trug beide auf einem Tablett zu dem äußersten Ecktischchen hin; dabei schielte sie zu Hortense hinüber und zog ihre Schultern ein wie als Kind, wenn Schläge darauf fielen . . .

Als Hortense die erste Hälfte des Briefes nicht eigentlich gelesen, sondern hinter sich gebracht und bewältigt hatte wie einen Weg, der in völlige Dunkelheit mündet, sah sie betäubt von den Zeilen auf und fand ihr Spiegelbild in einem Glas mit schwerem, vergoldetem Rahmen aus abgeblättertem Stuck. Es hing dem Diwan genau gegenüber und zeigte Hortense eine fremde Frau von unbestimmbarem Alter und fleckigem Gesicht. Sie erkannte sich nicht und erst, als sie mühsam das Blatt wieder an die Augen hob, schloß sie aus der gespiegelten Geste, sie müsse es selber sein.

»Um es noch einmal deutlich zu sagen«, an dieser fast beliebigen Stelle setzte sie ihre Lektüre fort, »Sie sind einer Täuschung zum Opfer gefallen, an der Sie nicht schuldlos sind. Ihre Torheit in grotesker Verbindung mit Ihrem Hochmut, der es nicht zuläßt, einzugestehen, daß irgendein Mann, den Sie jemals liebten, Sie könnte verschmerzt oder vergessen haben, hat Sie auf einen Weg geführt, der noch nicht zu Ende ist. Wohin wollen 396 Sie nun? Bedenken Sie doch! Zurückzukehren dürfte unmöglich und mit dem Odium der Lächerlichkeit bereits jetzt schon behaftet sein. Einen Lucien Benoît – welch phantastischer Traum! – gibt es nicht, Fräulein Hortense de Chamant, oder hat ihn vielmehr noch niemals gegeben – – wenigstens so nicht, wie Ihre Wünsche ihn sich erschaffen haben. Sie wären also dem tiefsten geistigen Elend und nicht nur ihm, sondern dem Elend an und für sich, der Verzweiflung, dem Tod und dem Wahnsinn rettungslos preisgegeben, wenn der Partner, welcher mit Ihnen spielte, nicht am Ende doch noch ein Lucien Benoît und also Ihr wirklicher Partner wäre: zitternd vor Schmerz, Ihnen wehe zu tun und gepeinigt von der geheimen Lust, Sie mit Geißeln geschlagen zu haben. Er ist es. Er ist ein Mensch wie Sie: sehr einsam, sehr wollüstig und zu stolz, ein Schicksal anzunehmen, das ihn unter das Maß des Verbrechens erniedrigt, welches ihm möglich ist. Dieser Mensch erwartet Sie, wie die Hölle eine schöne Seele erwartet – glühend, aber unendlich geduldig und seines Sieges gewiß. Wohin Sie sich jetzt auch wenden werden, werden Sie ihm begegnen und ihm überall angehören.«

[»Wie stellen Sie sich das praktisch vor?« hatte Quiche in der ›Verwitweten Auster‹ beim Genuß dieser eigentümlich präzisen, aber mystischen Wendung gefragt – nicht ohne Spannung und in dem Gefühl, in Bonmarché seinen Herrn und Meister gefunden zu haben.

»Vorstellen?« gab ihm der andere achselzuckend zurück. »Überhaupt nicht. Aber das wäre gelogen«, verbesserte er sich selbst.

»Also?«

Herr Bonmarché schwieg und lächelte vor sich hin . . .]

»– Und ihm überall angehören«, wiederholte Fräulein Hortense mechanisch und faltete sorgsam das Briefblatt zusammen, öffnete dann ihr Täschchen, schob es hinein und zog einen weißen Zettel, einen Umschlag und einen Bleistift heraus, den sie mit der Zunge benetzte.

»Wollen Sie etwas schreiben, Madame?« fragte Georgette erleichtert. »Nehmen Sie doch eine Unterlage. Warten Sie. Hier.« Sie legte dem Fräulein ein Modeheft auf den Schoß. »Wissen Sie, eigentlich ist so ein Kerl überhaupt keine Antwort wert«, sagte sie teilnahmsvoll. 397

Hortense blickte starr in das Spiegelglas und schien angestrengt nachzudenken. »Gott hat uns beide getäuscht, Lucien«, schrieb sie dann plötzlich nieder. »Er hat dich weder damals gerufen, noch mir heute Antwort gegeben. Gott ist stumm. Er überläßt uns gefühllos den kindischen Hirngespinsten, die wir in frommem Eifer geknüpft und vor ihm aufgestellt haben, damit er sich in ihnen verfängt und von uns berührt werden kann. Er braucht uns nicht. Weder unsre Bemühung, noch unser Zeugnis für ihn, am wenigsten aber den Lobgesang, den wir ihm schenken wollten. Unsre Leiber sind nichts als Steine in seiner allmächtigen Hand, die er täglich neu aufeinanderschichtet und mit dem Mörtel unserer Tränen und Mühsal untereinander verbindet, um sie morgen wieder zusammenzuwerfen und unter dem Fuß zu zermahlen. Dieser Gott ließ es zu, daß ein dunkler Verbrecher sich Deines Namens und Deiner Gestalt, Lucien Benoît, bediente, um mich fort von Senlis zu locken. Ich glaubte, Dir helfen zu müssen, Geliebter, nicht nur Du selber zu bleiben, sondern der Gottheit die Ehre zu geben, die Dich zum Eigentum auserwählte und mich gewürdigt hatte, der Inhalt Deines höchsten Opfers zu sein. Um diesem Opfer und damit Dir selbst ebenbürtig zu werden, wollte ich heute die Lust, Lucien, die Du mir anbieten würdest, verschmähen; ich wollte Dich Gott zurückgeben, ja, wie Du mich einst unberührt an mein Dasein, an mein trauriges und verwünschtes Dasein, zurückgegeben hattest. Welcher Hohn! In dieser teuflischen Täuschung bin ich heute zum zweiten Mal von Dir verschmäht, weil überhaupt nicht begehrt worden, ach! Und die Möglichkeit, auf Dich zu verzichten, besteht nicht mehr, weil die Wahl nicht bestand, Dich zu lassen oder zu halten, zu binden oder zu lösen, zu wollen oder nicht. Ich bin ein Spott der Hölle geworden, ich habe mich lächerlich, lieber Lucien, und zum Gegenstand eines Mitleids gemacht, das mich mehr beleidigt als Haß. Diese Schmach kann nur mit mir selbst endgültig ausgelöscht werden . . . Doch wie es zu jenem Selbstbetrug kam, sollst Du wissen, damit, wenn mein schreckliches Ende Dir zugetragen wird, Deine Seele, mehr noch: Dein Herz, es begreift und mich vor Jenem entschuldigt, der sich anmaßt, mein Richter zu sein. Lästere ich? Auch ich bin gelästert und mitten in meinem 398 frömmsten Gebet von dem Kehrreim der Hölle angeplärrt worden. Ich bin vernichtet und suche das Nichts als meinen einzigen Trost – –.«

Fräulein Hortense de Chamant, jenes Schreiben mit vollem Namen zeichnend, steckte das Blatt in den gleichen Umschlag, der Bonmarchés letzte Zeilen enthielt, und fügte die übrigen Briefe bei, die sie von ihm empfangen und gleichsam als Ausweis mit sich getragen hatte. »Haben Sie etwas Leim, damit ich zukleben kann?« fragte sie abwesend, nahm ihn entgegen und drückte die Spitze des Umschlags auf die Papiertasche nieder; der Inhalt bauschte sich, hob das Dreieck von den angestrichenen Rändern ab und ließ das Innere klaffen. Der Umschlag selbst war noch unbeschrieben, doch trug seine Rückseite Bonmarchés Namen und die Ortsangabe Senlis; ein Umstand, der von dem Verbrecher in der Trunkenheit unbemerkt geblieben und Anlaß geworden war, daß sich später Lucien Benoît den Zusammenhang deuten konnte. Auch Hortense in ihrer Verwirrung hatte den Absender nicht bemerkt, sondern setzte jetzt in hochmütig hohen, aber zerrissenen Zügen die Anschrift auf das Papier – vielmehr den Namen ›Lucien Benoît‹ und darunter, ungenau, doch unterstrichen: Ordensgebäude der Weißen Väter, Seminar der Missionen. – Sie zögerte und winkte Georgette heran.

»Wollen Sie mir etwas besorgen?« fragte sie knapp und. beherrscht. Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Sie überbringen den Brief einem gewissen Pater Benoît, dem Novizenmeister des Ordens der Weißen Väter hier in Paris, die Straße weiß ich nicht.«

»Einem Pater?« sagte Georgette vergnügt. »Dann brauche ich bloß meine Tante Yvonne in der rue Mazarin zu fragen. Sie hat ein Knopflädchen, Knöpfe und Spitzen, und kennt jeden Kanzelredner. Das ist er nicht? Na, geben Sie her. Ich besorge den Brief schon hin.«

Hortense erhob sich und trat vor den Spiegel; Georgette, wie ein gefälliges Zöfchen, reichte ihr die Mantille und zupfte den Cul zurecht. »Wollen Sie sich nicht noch pudern oder die Lippen markieren?«

»Es ist nicht nötig«, bemerkte Hortense. »Doch. Geben Sie mir 399 mein Täschchen. Den Puder. Das Rouge. Dieses künstliche Licht wird alles übertreiben«, sagte sie unzufrieden. Sie betrachtete sich. Ein gespenstisches Lachen verzerrte ihr Gesicht. ›Bin ich das?‹ dachte sie. ›Und seit wann? Dieser Erzengel ohne Flügel!‹ Sie näherte sich ihrem Spiegelbild und hauchte ein Küßchen darauf. »Lebe wohl!« sagte Fräulein Hortense kokett zu der Dame hinter dem Glas. Fest überzeugt, diese fremde Erscheinung in dem Spiegel zurückgelassen zu haben, veränderte sich, als Hortense das Zimmer, den Arbeitsraum der schäkernden Mädchen und schließlich das Haus verließ, ihre Haltung, ihre Miene, ihre Büste, ihr Gang. Der stolze Bau ihres Körpers zerfiel, ihre Arme schlenkerten in den Gelenken, die Füße schleiften, der Kopf sank zur Seite, die Straußenfeder auf ihrem Hütchen tanzte nun wie der Aufputz unermüdlich trabender Zirkuspferde lächerlich auf und ab.

Als Camille Deschâteaux den zerbrochenen Umriß seiner Geliebten erblickte, welche die Straße entlang kam, durchzuckte ihn das Gefühl, angeredet zu sein, wie ein elektrischer Schlag. ›Welch eine Schauspielerin von Format‹, dachte er hingerissen. ›So verändern Tiere, wenn sie bemüht sind, die Aufmerksamkeit ihrer Feinde von dem Nest abzulenken, den Habitus; so gleicht sich ein Schmetterling welken Blättern und ein Marder mit wellenförmigem Bauch der Bodenerhebung an. Doch vor wem flieht sie? Wen sucht sie zu täuschen? In wessen Auftrag handelt sie wohl? Und welche Aufgabe hat sie zu lösen, die nach Erfüllung verlangt?‹ Er erhob sich brennend vor Ungeduld, zahlte und ging aus der Tür.

Es war kurz nach Mittag; stechende Hitze flimmerte auf den unabgelöschten, bläulichen Steinen der kleinen Straße, deren Buckel und Rinnen noch von der Feuchte eines Gewitters glänzten, das eben, als Hortense an Benoît in dem ›Nestchen‹ geschrieben hatte, heruntergegangen war. Der junge Mann vertrat ihr den Weg. »Madame –!«

Sie blickte neugierig auf und reichte ihm nachlässig, ohne zu zögern, zwei behandschuhte Fingerspitzen. »Ah – Sie sind es«« sagte sie sinnlos. »Kommen Sie mit mir? Das heißt, ich habe nicht viel Zeit . . .«

Während sie sprach, war sie weitergehastet; Camille 400 Deschâteaux, darüber betroffen, daß sein Angriff so schnell Erfolg haben sollte und wahrscheinlich in irgendeinem Hotel augenblicklich beendigt sein würde, lachte kurz und beleidigt auf; gleichzeitig warnte ihn aber ein unbestimmtes Gefühl, diese Frau als Hure zu nehmen. »Wohin denn?« fragte er schroffer, als er beabsichtigt hatte. Sie wischte leichtsinnig seine Frage mit einer Schulterbewegung fort. Wieder war es ihr selber, als ob die gebrochene Schwinge eines Erzengels diese Bewegung vollführt und sie der geronnenen Atmosphäre für immer einverleibt hätte. »Wer bist du?« fragte Deschâteaux nackt und außer sich vor Begierde; seine Stimme, obwohl belegt und leise, klang wie das ferne, gefährliche Brüllen einer gereizten Bestie, die toll vor Erwartung ist. Gleichzeitig drängte er seine Beute in der engen Gasse gegen die Mauer und preßte sich an sie an.

»Wer ich bin?« wiederholte Hortense de Chamant und bog ihren Kopf nach hinten, hob die Arme, nestelte an dem Schleier und nahm ihn zuvorkommend ab. »Eine Chimäre«, sagte sie dann geheimnistuerisch. »Die jüngste Chimäre von Notre Dame.« [Sie meinte Notre-Dame von Senlis.] »Immer zum Absprung bereit.«

Entgeistert starrte Camille Deschâteaux den reizenden Totenkopf an: das zarte Gesicht, entfleischt und vom Schweiß, wie eine Maske von Wachs, überzogen; die halbgeöffneten, girrenden Lippen mit den schönen, schamlos blinkenden Zähnen, die tiefen, dunkelblau schattenden Schläfen, hinter denen der Wahnsinn wohnte, das blicklose Augenpaar.

»Bst – nicht erschrecken«, flüsterte sie und legte dem jungen Menschen die Arme um den Hals.

Diese Bewegung, unendlich zart und hemmungslos in einem, brachte ihn wieder zu sich. Er fühlte fast körperlich ihre Reinheit und ihre Verworfenheit; die Unberührtheit ihres noch spröden und amazonischen Fleisches und den zersprengenden Durst ihrer Träume, die ohne Beispiel waren. In der menschenleeren, glühenden Gasse, an deren wenigen Fenstern die Jalousien der Hitze wegen heruntergelassen waren, standen beide sich gegenüber. »Liebe mich!« sagte sie sanft. »Ich heiße Désirée.« Sie streckte die Hand aus und zog ihn weiter; er überließ sich ihr willenlos mit der Neugierde junger Menschen, die 401 nur sich selber sucht, und für die erbärmlich billige Pointe des literarischen Abenteuers auf die Möglichkeit einer Erfahrung bereits verzichtet hat. Schon begannen seine Gedanken wieder um den eingebildeten Punkt zu kreisen, der seiner Phantasie zu dem Anlaß dieser Begegnung geworden war, und mit der eintönig stumpfen und monotonen Hartnäckigkeit des Fetischisten den Gegenstand anzusaugen, der später in einem Bühnenstück von ziemlichem Raffinement die urteilslose Menschheit begeistern und sogar rühren sollte. Gefiltert durch Brutalität und Talent, ergoß das Schicksal seiner Gefährtin seine tödlich feinen Essenzen in Deschâteaux' Eingeweide, ohne sie anzugreifen; es machte ihn durchsichtig, ohne ihn zu erhellen; geschmeidig, ohne ihn nachgiebig, zart und liebevoll zu machen; feinfühlend ohne Barmherzigkeit, verständnisvoll ohne tiefere Regung, hilfsbereit ohne Anteilnahme und spielerisch ohne Lust. In diesen Stunden, wo Deschâteaux die ›flüchtende Chimäre‹, wie sie sich selber nannte, begleitete und ihren hastenden Füßen ohne Ermüdung folgte, schien es ihm, als ob kein Fleck von Paris damals von ihr nicht berührt worden wäre; er sieht noch heute einzelne Bilder, die, ihrer riesenhaften Entfernung voneinander und ihrer abstrusen Beziehung zu anderen Dingen wegen, unmöglich zusammengehören und sich dennoch für immer magisch verschwistert und wie die Figuren in einem Teppich verbunden haben – –

Den gipsernen kleinen Engel, zum Beispiel, auf der umgestülpten, hölzernen Bütte eines Bateau-Lavoir im Kanal St. Martin und die schräge, trostlos geneigte Fläche eines unbebauten, sandigen Plätzchens in dem Häusergestrüpp des Montmartre, unterhalb Sacre-Coeur; das staubige, schüchterne Blumenrondell mit den unwirklich grellen Mimosenköpfchen in dem Hof des Musée de Cluny; den schimmelfeuchten, entsetzlichen Flecken auf der Mauer eines Althändlerladens in der unmittelbaren Nähe der Place de la Bastille, welcher die Form einer vivisezierten, geöffneten Fledermaus hatte, und das Bistro in der rue de birague, an dessen Ausschank ein fuchsroter Jude mit seinem Kleidersack lehnte und den Apéritif herunterstürzte, während schon seine nackten Zehen unaufhörlich über dem Boden spielten, als ob sie den düsteren Auftrag hätten, ihn 402 beständig hinwegzureißen. Er sieht sich unter den rieselnden Lichtern, die das Blattwerk der großen Edelkastanien im Jardin du Luxembourg auf seine Hände und die Brüste seiner Begleiterin tropfte, als er sie vor den Medici-Brunnen mit kaltem Lächeln liebkoste . . . Doch ebenso sieht er, ganz wie in Träumen, an dem Ostrand des Ungeheuers Paris, wo es schon in den Wirrwarr der »Zone« übergeht, die seltsamen Auslagen seiner Märkte: den Kupfertopf mit der Satyrfratze eines vergnügten Poincaré und die zerbrochene Sèvres-Tasse, aus welcher ein schmutziges altes Weib getrost seinen Rotwein schlürfte; die hellgetupfte, vom Wind bewegte Traube der Krammetsvögel neben den Eichhornbälgen, die an Stangen aufgespießt waren, und die Treppe des Nachtasyls, die noch leer, aber mit Kreidestrichen beschmiert und von den Dauergästen des Elends auf jeder Stufe bereits reserviert und mit Nummern bezeichnet war . . .

Er sieht an der Seite seiner Chimäre die ganze Stadt so, wie Asmodäus auf der Balustrade von Notre-Dame, der bocksbärtige Teufel der Lust, sie seit Jahrhunderten sieht: als einen Silberfisch, eingehüllt in die Haut seiner kostbaren Atmosphäre, die von winzigen Teilchen aus Schmutz und Staub, Feuchtigkeit, Küssen, geflüsterten Worten und boshaften Gesprächen in einem fort flirrt und vibriert; und er hört mit weit geöffneten Ohren das nie endende Summen und Brausen der Tiefe – jenes Orchester, das, ohne doch jemals zu gemeinsamem Musizieren zu kommen, unaufhörlich die Instrumente stimmt, damit sie dem jüngsten Gericht ihren Ton geläutert entgegentragen. Er ist ganz Gehör wie der Engel der Botschaft, aber ach! er hört alles mit gleicher Stärke: den Kanon der jungen Käseverkäufer auf dem gestuften Markt von Montmartre und den schnellen, lustigen Kehrreim des fröhlichen Lumpenhändlers auf dem Boulevard Sebastopol; das blecherne Trällern der Chansonetten: »L'on y danse, l'on y danse« auf der Kellertreppe eines Vergnügungslokals und die leise, verzweifelte Frage der flüchtenden Chimäre nach der Menschwerdung Gottes; diese verrückte und unüberhörbare Frage: »Glauben Sie an die Menschheit Christi, ich meine: an die Menschwerdung Gottes 403 in einem einfachen menschlichen Herzen und einem leidensfähigen Körper, der gequält und geprüft werden kann?«

Dies war, er glaubte sich zu erinnern, an der kleinen, schmutzigen Litfaßsäule auf dem Platz vor Saint Germain l'Auxerrois und später – gelehnt an die über und über mit Plakaten beklebte Holzwand vor dem Langschiff von Saint Martin des Champs – ihr fassungsloses, entsetzliches Weinen, als er sie [stolz auf sein bißchen Wissen] »meine kleine Manichäerin« nannte . . . Ja, dies war komischerweise unter der Bildreklame von Dubonnet gewesen, wo sich ein eckiger schwarzer Golem mit fast mathematisch verkürztem Arm seinen Likör einschenkt. St. Germain l'Auxerrois . . . St. Martin des Champs . . . St. Germain des Prés . . . St. Julien le Pauvre . . . es schien Camille Deschâteaux zuletzt, als ob ihrer beider Weg wie ein Strom, der immer gleich bleibt, während die Dinge ihr Schattenbild in ihm spiegeln, sich an allen Kirchen der Stadt geteilt, Wirbel gebildet und jede von ihnen als eine Frage umschlossen hätte, eine Isle de la cité und ein Schiff, das zuletzt auseinandergeborsten und untergegangen war.

»Glauben Sie, daß es eine Erhörung oder wenigstens eine Antwort gibt? Das heißt: glauben Sie an den Sinn dieses Daseins, oder glauben Sie, daß der Glaube genügt, um unser Leben von allen Wünschen so vollständig zu entleeren, daß sich Sinn und Unsinn aufheben, wie, und der ›Glaube an sich‹ als der offene Mund einer lautlos schreienden, starren Meduse, als der Hohlraum der dritten, schrecklichen Bitte des Vaterunsers und, ach, als das Nichts, aus dem die Schöpfung geworden sein soll, am Ende übrig bleibt?« Gleich darauf jener blasphemische Ausbruch eines Jubels, der sie erzittern machte wie einen apokalyptischen Engel, welcher anbetend niederfällt: »Aber tröstet das Nichts nicht? Ist nicht das Nichts jenes Etwas, das stärker und größer als alle Inhalte ist, also auch stärker als Himmel und Hölle, weil es nicht ist, und daher nicht leiden, nicht beginnen, nicht endigen kann? Ich will Ihnen etwas sagen, mein Herr, aber erzählen Sie es nicht weiter: das Nichts ist größer als dieser Gott mit dem entsetzlichen Trieb zu erschaffen, für den er von seinen Geschöpfen noch Dank und Anbetung erwartet. Warum sind wir nicht Nichts? Die Chimäre weiß es, die 404 geheime Gegengöttin des Schöpfers, die der Mensch auf den Kathedralen erhöht und über die Engel gesetzt hat, über Märtyrer und Evangelisten und über die Mutter Christi selbst, die sich nur wenig von ihr unterscheidet; nur darin, daß ihr Schoß Gott ins Fleisch, während der Schoß der Chimäre den Menschen ins Nichts gebiert. Warum sind wir also nicht Nichts, Deschâteaux? Komm, laß uns Nichts sein! Laß uns den Schoß der Natur und der Übernatur verlassen, dieses Geschwätz, dieses Ammengerede von Geburt und Wiedergeburt. Warum hält uns der Kreis? Nur, weil wir nicht wagen, über den Rand zu treten. Und doch wäre da, wo er endigt, das Glück, die ewige Seligkeit; es wäre das Hochzeitsbett, Deschâteaux, in das wir uns werfen könnten, wenn wir Mut genug hätten, lieber Camille; lieber, lieber Camille . . .«

Und dann sagte sie unter den maurischen Bögen von Sacre-Coeur, dieser Kirche der Frauen, der hysterisch Erhitzten, der Büßer und geistigen Morphinisten: »Ich bin keine Selbstmörderin, Camille, die im Geheimen den Wunsch hat, noch einmal wiederzukehren. Darum darf ich nichts mehr begehren müssen und alles besessen haben.« Hierauf, entblößt von jeglicher Rücksicht, wiederholte sie jene sanfte Bitte, mit der sie Deschâteaux fortgezogen und ohne die geringste Gefallsucht an sich gebunden hatte: »Liebe mich!« sagte sie hoffnungslos. »Ich heiße Désirée.«

Wer weiß, wenn der junge Mensch dieser Bitte entsprochen hätte, – ob nicht ihr Durst nach Vernichtung gestillt und ihr bereits zerbrochener Leib sich wieder zurückgegeben und an dem Entzücken ihres Geliebten gereinigt worden wäre? Doch er vermochte es nicht. Er vermochte sie jetzt nicht mehr zu lieben, weil eine furchtbare Wahrheit in ihm ihre Verkörperung suchte und ihr menschenmörderisch finsterer Kult ihn zum Priester auserwählt hatte; zu der männlichen Entsprechung der Göttin, welche »Chimäre« hieß; »Große Hure«, »Babylon, Mutter der Lüge« und »Schwester der Vernunft!« Sie – die »Verwirrung an und für sich«, wie der alte Chamant ihr Wesen hellsichtig gedeutet hatte, stand für viele gleichnishaft als das Sinnbild der finsteren Aufklärung da, die mit dem Wahnsinn, mit der Verzweiflung und dem Mysterium des Nichts 405 notwendig enden mußte; und die an der Hand von Rousseau die Bühne ihres Jahrhunderts als Schäferin, von Lämmern begleitet, betreten hatte, verwandelte sich heute [von Blutrausch und bösen Opiaten trunken] in eine neue Phädra, die sich und den Liebsten vernichtete und die Sinnlosigkeit auf den leeren Thron und die alten Altäre setzte. Désirée konnte gerettet werden. Hortense de Chamant aber nicht. Wer weiß es, an welchem Zeitpunkt sie der furchtbaren Gnadenwahl Satans freiwillig zugestimmt hatte – und in dem Wasser der Seine untergegangen war?

Denn sie war es schon, ehe noch Deschâteaux sie auf dem Pont Marie stehen ließ und mit einer Hure davonging, die gerade des Weges kam. Sie empfing seine letzten Liebkosungen nicht, um die sie gebettelt hatte, und endete wirklich als Selbstmörderin, als eine einfache, törichte und verzweifelte Selbstmörderin, die keinen Ausweg mehr weiß. Ihr Ende wäre ganz unbedeutend und völlig sinnlos gewesen, wenn nicht gerade der Pont Marie das Andenken jener jungen Prophetin in seinem Namen aufbewahrt hätte, die am Beginn der Revolution, in den Hinfluß der Seine starrend, den vorweggenommenen Weltuntergang von Neunzehnhundertundvierzehn und nicht nur ihn, sondern auch den Ausbruch der deutschen Revolution, kaum zwanzig Jahre nach diesem Krieg, schon damals vorausgesagt hätte. Aber wieviel Selbstmörder hat die Seine und hat auch der Pont Marie schon gesehen, ohne daß doch der Seineschiffer Guillaume, der Hortense de Chamant aus dem Wasser fischte, davon tiefer berührt worden wäre. Hier freilich sah er in ein Gesicht, das er nicht mehr vergessen konnte, weil es mit einem Zeichen gesiegelt und so unverkennbar von dem geprägt war, was der alte Pfarrer von Pointarmé, dem Heimatort des Schiffers Guillaume, den »Kuß des Friedens« nannte. Wahrscheinlich hatte Guillaume schon lange auf dieses Zeichen gewartet, ohne daß er es wußte . . . schon damals, als er in jener hellen und doch seltsam verworrenen Nacht seinen Kahn an einem Pfosten der Isle St. Louis und die Laterne an einem Nagel dieses Pfostens befestigt hatte, bei deren Schein er den Brief des Pfarrers über den Tod seines Bruders las, der nach langem Vagabundieren, um in Pointarmé endlich zu 406 sterben, nach Hause gekommen war. Guillaume, er entsinnt sich noch ganz genau, hatte immer wieder von seinem Brief, der schlecht zu entziffern war, aufgesehen, um Beistand zu erbitten – – zuletzt, als ein Mensch im Priesterrock vorübergekommen war; doch das Gesicht dieses jungen Mannes war so furchtbar müde gewesen, daß es Guillaume nicht wagte. Es war nicht nur müde, es war entleert – so überirdisch entleert von allem wie das Gesicht der ertrunkenen Frau, die der Schiffer aus dem Wasser gezogen und lange betrachtet hatte. Auch es war leer, doch jetzt ohne Hohn und ohne den schwarzen Triumph des Nichts, auf den es noch kurz vor dem Ende verzichtet haben mußte. Es war arm wie das Gesicht einer Nonne und gleichzeitig ohne Geschlechtsmerkmale; es war die Armut, die nichts mehr entbehrt, weil sie das Letzte: sich selbst so hat, als hätte sie nicht . . .

Dieses Schwestergesicht des Lucien Benoît glich gleichzeitig einem andern, das in der Seele von Frankreich gebildet, für kurze Dauer hervorgetreten und an der Schwelle der Revolution untergegangen war. Nun war es wieder im Kommen. Nicht heute oder morgen, aber schon übermorgen; und es glich einem Sternbild, das mit dem Wechsel der Jahreszeit seinen Bogen erhöht und ihn [mächtig gespannt gleich dem Rücken eines brüllenden Stiers, der den Kopf gesenkt und die Füße in den glühenden Sand der Arena gegraben hat] feurig über den Horizont wölbt. Dieses Sternbild und dieser Name, an den dämmernden Himmel geschrieben, hieß:

Josef Benedikt Labre. 407

 


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