Elisabeth Langgässer
Das unauslöschliche Siegel
Elisabeth Langgässer

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Drittes Buch

»Da geht er«, sagte Abbé Le Roy zu dem lächelnden Belfontaine und blickte von dem Fenster seines geräumigen Arbeitszimmers im Pfarrhause von Senlis dem Küster François auf den Rücken, der, beladen mit Kirchenwäsche, unter den Arm ein paar Bücher geklemmt, über den Hof stolzierte. Er seufzte. »Sehen Sie nur seinen Gang – ist er nicht der vollendete Hochmut und dabei immer noch besser als die steinerne Miene, vor welcher man unwillkürlich immer wieder zusammenrutscht. Eigentlich müßte ich ihn ja hassen, aber Sie wissen, Herr Belfontaine, daß mir solche Gefühle nicht liegen. Überdies ist er absolut unentbehrlich und unersetzbar für mich«, wehrte er einen Vorschlag ab, den er schon kommen fühlte. »Er kennt das Rituale im Schlaf und hat die Heiligentage im Kopf wie ein päpstlicher Kammerherr. Das Missale schlägt er mit zwei, drei Griffen, fast möchte ich sagen: mit dem Elan und der unüberbietbaren Eleganz des Taschendiebes auf, er weiß genau, welche Farbe gilt, und im Zweifelsfall entscheidet er so, wie Fénélon, mit Molina gepaart, entschieden haben würde.«

»Sehr gut. Er nimmt Ihnen vieles ab«, erwiderte Belfontaine. »Sie können sich Ihren Liebhabereien in aller Ruhe widmen, und treibt er es einmal gar zu arg, so weisen Sie ihn ganz einfach in seine Schranken zurück.«

»Zurückweisen? Nein, das kann ich nicht«, erwiderte Le Roy mit ängstlichem Gesicht. »Sie haben recht: er erleichtert mir vieles. Aber nun ist er wieder böse, weil ich, anstatt seinen Vortrag über die Art, wie er morgen den Hochaltar herrichten möchte, geduldig anzuhören, das überseeische Päckchen aus Indochina geöffnet habe, das mir mein Freund – Sie wissen: Herr Nue, der Schmetterlingsforscher in Battambang! – soeben zugeschickt hat.«

»Eine neue Sendung? Zeigen Sie her!« sagte Belfontaine angeregt.

Gleich darauf beugten sich beide Herren über einen besonders schönen, tropischen Schmetterling von erstaunlicher Spannweite; 408 seine Flügel von majestätischer Bläue waren erdbraun geädert, das obere Paar von dem dunkleren Rand aus mit zwei flammendweißen Bändern gezeichnet, die, Blitzen ähnlich, schräg in das Blau der unteren Flügel stießen. »Der große Atlas! Sehen Sie nur«, sagte Le Roy entzückt. »Diese Reinheit und Tiefe der Farben ist selten und findet sich eigentlich nur noch bei Fischen und Edelsteinen.«

»Also bei jenem Teil der Natur, der fast etwas – Künstliches hat«, erwiderte Belfontaine.

»Richtig«, sagte der Pfarrer lebhaft. »Etwas Künstliches. Oder könnte man nicht auch – Künstlerisches sagen?« setzte er seine Betrachtung fort und verfiel in das rhapsodierende Schwelgen aller Naturanbeter. »Die Natur als Kunstwerk; ihr Schöpfer als Künstler, der sich selbst in der Harmonie aller Farben und Formen offenbart.«

»Ja, ja, ja«, sagte Belfontaine leicht gelangweilt und fügte taktvoll hinzu: »Eigentlich meinte ich ›künstlich‹ mehr im Sinne von Baudelaire. Doch warum nicht? Der Schöpfer als Künstler und gleichzeitig als Ästhet und Genießer seiner eigenen Produktion.«

Die runden Wangen von Abbé Le Roy überflog eine kindliche Röte. »Sie treiben alles zu sehr auf die Spitze, mein lieber Herr Belfontaine«, sagte er unsicher. »Wenn man Sie hört, wird sofort eine halbe Ketzerei aus meinen Redensarten.«

»Aber nein!« wehrte Belfontaine freundlich ab. »Sie wissen doch selbst, wie sehr ich Ihre Betrachtungsweise, Ihre Weltoffenheit und Ihre Beziehung zu allem Schönen schätze. Und darum begreife ich eigentlich kaum, warum Sie sich nicht mit François verstehen, diesem Fanatiker und Ästheten des kirchlichen Rituale.« Er sah wieder in den Hof hinunter, wo der Küster, in die Betrachtung einer Magnolienblüte versunken, stehen geblieben war; vielleicht aber war es nicht diese Blüte, die seine Bewunderung fesselte, sondern er meditierte nur wie ein Inder, dem jeder Gegenstand, wenn er ihn wunschlos und hingegeben betrachtet, zum Weltenschoß zu werden vermag.

»Da kennen Sie aber François schlecht, wenn Sie ihn einen 409 Ästheten nennen«, erwiderte Le Roy. »Er weiß zwar alle Baustile, Schlösser und historischen Punkte der Isle de France aufzuzählen – dieser uneheliche Sprößling des Grafen von Mortefontaine – aber das alles ist ihm nur Vorwand, um daran sein unerschöpfliches Thema von den ›Masken des Satans‹ zu entwickeln, mit welchem er mich verfolgt und peinigt . . . ob ich hören will oder nicht.«

Herr Belfontaine lachte herzlich auf. »Und was meint er mit diesen Masken des Satans?« fragte er den Abbé.

»Nun – so ziemlich alles, was heute besteht«, entgegnete Le Roy. »Der moderne Staat: eine Maske des Satans. Der Nationalismus. Das Militär. Die Zivilisation.«

»Also huldigt Ihr Küster wohl einem mystischen Bolschewismus?« fragte Herr Belfontaine. »Sieben Jahre nach einem gewonnenen Krieg ist dieser Sparren vielleicht verzeihlich, zum mindesten ungefährlich.«

»Bolschewismus?« sagte Le Roy versonnen und spießte den großen Atlas vorsichtig auf eine Nadel. »Das wohl weniger. Aber ›mystisch‹ würde ich gleichfalls sagen. Ein mystischer Unsinn, wie er in vielen französischen Pfarrhöfen wuchert; besonders natürlich in der Bretagne, wo François' Mutter her war.«

»Aus St. Malo? Dol? Oder Mont St. Michel?« fragte Herr Belfontaine lebhaft. »Ich kenne diese Gegend.«

»Nein. Aus dem Arcoat. Aus Quimper, wo die meisten Leute den Kopf auf die linke Schulter legen wie ihre Kathedrale den Chor, der nicht richtig ausbalanciert ist. Das wissen Sie nicht? Ich dachte immer, die unterrichtetsten aller Franzosen seien die Eingebürgerten, wie? Und das sind Sie doch schon eine Weile!«

»Natürlich, aber erklären Sie endlich –«

»Warum der Chor dieser Kathedrale sich auf die Seite neigt? Passen Sie auf. Man sagt, um den sterbenden Christus am Kreuze nachzuahmen, der das Haupt auf die Schulter legt. Doch das ist Unsinn. In Wirklichkeit hat der Boden zu wenig Widerstand«, fügte er trocken hinzu. »Na, lassen Sie. Jeder Pfarrer hat den Küster, den er verdient. Übrigens, wenn mich nicht alles täuscht, werden Sie wohl das nächste seiner Opfer sein, Belfontaine.«

Der andere, ehrlich erschrocken, hob abwehrend beide Hände. 410 »Um Gottes willen – warum und wieso? Als ein Mann, der das Bestehende liebt und in Frankreich das Land der Ordnung verehrt, des Maßes, das immer wieder errungen, und der Mitte, die – wie von Atlas der Himmel – mit angestemmter Schulter getragen und auf dem Nacken wie eine Kugel, die weder nach rechts, noch nach links herunterrollen darf, behütet worden ist, kann mich François doch eigentlich nur mit Unbehagen betrachten. Ich biete ihm keinerlei Haftmöglichkeit für seine Theorien, die zur Voraussetzung eines haben, ohne daß es weder Revolutionen, noch Kriege geben kann. Dieses eine, das mir vollkommen fehlt« – Herr Belfontaine strich sich genußvoll über die glattrasierten, bläulich glänzenden Wangen – »ist, schlicht und einfach gesagt, die Unzufriedenheit. Oder positiv ausgedrückt, Herr Abbé: ich bin zufrieden. Ich wünsche daher keine Veränderung.« Mit auf dem Rücken gefalteten Händen wandelte Belfontaine hin und her . . . von dem Fenster bis zu dem köstlichen Schreibtisch in der Mitte des Arbeitszimmers, der reich mit Elfenbein intarsiert war, und wieder zurück zu dem Fenster, an dessen Kreuz er sich schließlich lehnte – gelassen, mit einem behaglichen Lächeln von ruhiger Freundlichkeit.

»Es ist wahr!« rief der Abbé Le Roy mit entzückter Bewunderung aus. »Sie sind der zufriedenste Mensch, den ich kenne, ohne ein Spießer zu sein. Sie sind harmonisch. Um einen Vergleich von grotesker Überspitzung zu brauchen: undenkbar, sich vorzustellen, mein Freund, daß Sie den Kopf auf die Schulter legten, wie der Chor der bewußten Kathedrale, von der wir eben sprachen; ich meine damit – natürlich cum grano salis –« haspelte er verlegen, »Sie sind im Gleichgewicht, wie . . . wie eine griechische Statue«, platzte Le Roy heraus. »Und gleichwohl sind Sie von Fleisch und Blut. Ein zärtlicher Gatte, ein guter Bürger, ein Kunstkenner und ein Mann von Geschmack bei Bildern und bei Weinen«, setzte er konventionell hinzu und nahm den eigenen Überschwang mit dieser Phrase zurück.

»Und bei alle dem glauben Sie, daß sich François für meine Person interessiert?« fragte ihn Belfontaine.

»François – ach, lassen wir diesen François. Verraten Sie mir lieber, ob Sie schon immer so waren. So gleichgewichtig, so überlegen, so harmonisch – und so zufrieden. Ich frage das nicht 411 aus Neugierde, nein. Mein Interesse ist rein psychologisch und vollkommen absichtslos. Ist dieser Zustand mühsam errungen oder schon angeboren? Hatten Sie Zeiten, wo Sie zerrissen oder gar unglücklich waren?« fragte Le Roy wie ein praktischer Arzt, der sich bei einem Patienten nach dem Zustand seiner Galle erkundigt: Wann hatten Sie Schmerzen? Bei welchen Speisen? Trug eine Aufregung dazu bei, die Krämpfe auszulösen?

Herr Belfontaine sah ihn offen an. »Darauf zu antworten, lieber Freund, ist mir leider gar nicht gegeben. Natürlich hat man eine Entwicklung. Jede Jugendzeit kennt ihre tragischen Possen, ihre Maßlosigkeit, ihren Überschwang und ihre Sehnsucht, die sich an Dingen oder Personen berauscht die unerreichbar sind. Doch, ich glaube, das meinen Sie nicht.«

»Nein«, setzte Le Roy von neuem an. »Diese typischen Phasen kehren schließlich in jedem Leben wieder –«

»Und an die anderen, werter Freund, erinnere ich mich nicht.« Das verdutzte Gesicht des Abbé betrachtend, sagte Belfontaine lächelnd: »Es ist so. Wenn es mir nämlich schmerzlich oder auch nur verdrießlich wäre, würde ich sagen: ich leide . . . ich leide an einem Erinnerungsausfall, der ganze Wegstrecken meines Daseins in völlige Dunkelheit hüllt. Ich meine das natürlich nicht so«, fügte er hastig hinzu, »als ob ich nicht dazu fähig wäre, meinen ›Lebenslauf‹, wie man das nennt, lückenlos nachzuzeichnen. Etwas anderes ist der Fall. Ich lebe gewissermaßen nur in zwei Dimensionen; auf dem Schnittpunkt zweier Koordinaten, der nichts als ›Gegenwart‹ heißt. Selbstverständlich kann ich jede der Linien beliebig nach rückwärts verlängern und dazu ›Vergangenheit‹ sagen oder nach vorwärts und diese Richtung mit dem Namen ›Zukunft‹ bezeichnen; doch diese Vergangenheit, diese Zukunft haben beide die Dimension der Tiefe, das heißt, jene seltsame Zauberkraft nicht, die die Vergangenheit zu dem macht, was man – Erinnerung nennt, und die Zukunft in Sehnsucht verwandelt. Ich lebe die Gegenwart. Ruhig und zufrieden, lebe ich trotzdem mit allen Poren den glücklichen Augenblick.«

»Sie sind zu beneiden«, sagte Le Roy und stieß einen Seufzer aus. »Ein kleinerer Geist als Sie, mein Freund, würde ohne 412 Spannungen gleichsam verfetten oder an Langeweile förmlich zugrunde gehen.«

»Ohne Spannungen? Aber wo denken Sie hin! Das gibt es doch schon rein körperlich nicht. Man fühlt sich an jedem Tag anders, das Blut läuft bald schneller, bald träger dahin und ist mit immer anderen Stoffen, wie ein Strom mit wechselnden Gütern, beladen, die ihre Reize, feiner und gröber, an alle Organe abgeben und diese Organe wieder aufeinander umstimmen; sie gleichsam mit Hunden hetzen, mit Geißeln und kleinen Skorpionen schlagen, um sie nachgiebig, munter, geschmeidig und muskulös zu erhalten. Und diesem körperlichen Kalkül, das sich immer wieder mit Zucken und Flimmern und winzigen Ruderschlägen wie ein Glockentierchen ins Gleichgewicht setzt, entspricht ein geistiges, lieber Freund, das nicht weniger aufregend ist. Denn Ihre Umgebung und was sie anfüllt: die Dinge, und wie sie einander stoßen und sich miteinander vertragen; Linien, die nach Ergänzung verlangen, und Farben, die sich beißen; das hüpfende, unverschämte Stakkato des goldenen Lichtchens hier auf dem Flügel Ihres barocken Engelköpfchens über dem gravitätischen Einband von Pascals Briefen, das ihrem braunen, gesättigten Hinströmen über der Tiefe Antwort gibt wie ein flacher Kiesel, welcher das unzerstörbare Wasser mit hüpfendem Aufschlag peinigt: diese Umgebung, sage ich, die beständig leise verändert wird, weil Sie selber verändert sind, Abschied nehmen und neue Gäste empfangen, wie zum Beispiel heute den großen Atlas und morgen den Brief, dessen Marke Sie unter der Lupe prüfen, ob ihre Zähnchen unverletzt sind. – Sie ist nichts weiter als Atmosphäre, die Sie ein- und ausatmen, Herr Abbé, eine geheime Chemie aller Teile, aus welchen Sie selber aufgebaut sind; eine Materie, die den Gesetzen der Anziehung, Abstoßung und Vernichtung, also dem schöpferischen Vollzug Ihrer Persönlichkeit unterliegt und die Welt als ein Netz von Verflechtungen ausweist [zwar nicht von groben Kausalgesetzen, sondern nach Art des Webstücks, wo das sausende Schiffchen des Selbstbewußtseins immer neue Verbindungen schlägt!]; einen Gobelin, in welchen Sie selbst unaufhörlich hineingewirkt werden; kurzum: als etwas, möchte ich sagen, das gleichzeitig innen und außen ist und seinen 413 Überschuß unaufhörlich an den Gegenpol abgibt, ihn auffüllt und wieder von ihm empfängt. Eine Bewegung, die dazu dient, Ruhe und Gleichgewicht zu verbürgen; paradox gesagt: dieses Dasein als stehende Bewegung; als etwas, das ganz in sich selber und für sich selber ist, tätig und ruhend in einem, doch ohne Bezogenheit.«

»Also weniger noch als ein blindes Pferd, das, den Göpel bewegend, im Kreise geht?« fragte Le Roy naiv.

»Mein Gott, Herr Abbé, wie stümperhaft muß ich mich ausgedrückt haben!« rief Belfontaine entsetzt. »Das blinde Pferd – als ein Bild des Daseins – handelt doch unter dem Zwang, während das Leben, wie ich es verstehe, schlechthinige Freiheit ist! Nicht Freiheit: wozu . . . sondern Freiheit: in sich – ein künstlerisches Spiel!«

»Und Gott als der Künstler, nicht wahr?« sagte Le Roy befriedigt. »Unser Gespräch, welch geheime Logik, kehrt wieder dahin zurück, wo wir es begonnen haben. Trotzdem: das blinde Pferd unterm Göpel will mir noch nicht aus dem Sinn. Es bewegt sich. Doch aus der Entfernung Unendlich, also von drüben, betrachtet, bewegt es sich auch wieder nicht. Es geht im Kreis, es kommt nicht voran; dieser Kreis auf den Erdradius umgerechnet, wäre so winzig, daß man bereits von dem nächsten Fixstern aus sagen müßte, es trete auf einem Punkt. Und damit wäre doch eigentlich der Anspruch unseres Daseins, als »stehende Bewegung« begriffen zu werden, erfüllt. Aber Sie haben recht. Dieses Wesen handelt aus einem gewissen Zwang und aus einer Bezogenheit. Nicht auf den Göpel bezogen, o nein, sondern beispielsweise auf jenen Brunnen, dessen Wasser es durch die auf den Göpel übertragene und vervielfachte Kraft unaufhörlich zutage bringt. Seine Bewegung geht also doch nicht nur einfach – im Kreis. Sie geht in die Tiefe . . . dorthin, wo der Schnittpunkt der beiden Koordinaten, von dem wir gesprochen haben, wie ein Stein in den Brunnen fällt. Ich weiß, das ist mathematisch falsch: ein Punkt ist kein Körper, Herr Belfontaine, aber alle Vergleiche hinken.«

»In welchen Brunnen?« fragte zerstreut, mit einem Perlmuttmesser spielend, das er auf- und zuklappte, Belfontaine und blickte vor sich hin. »Ich glaube, wir dürfen doch diese Bilder 414 von dem blinden Pferd von dem Göpel und dem Brunnen, aus dem er das Wasser heraufholt, nicht allzu sehr pressen, mein Freund.«

»Natürlich nicht«, sagte Le Roy erschrocken und zog sich sofort zurück. »Es sind nur Bilder, nichts weiter. Sogar theologische Bilder, was die Sache nicht besser macht. Bei dem blinden Pferd an den blinden Glauben und dem Brunnen an die Taufe zu denken . . .«

»Ist allzu billig, verehrter Freund«, sagte Belfontaine mit wieherndem Lachen, »besonders, wenn man – nun fahre ich fort – aus diesen Bildern den Pferdefuß Ihrer gestern von mir verweigerten Bitte deutlich herauskommen sieht. Aber gut. Ich gebe nach, Herr Abbé. Ich willige in die Patenschaft ein, die Sie mir angedreht haben. Wo ist eigentlich dieser kleine Bastard, den man den unglückseligen Nonnen unseres geistlichen Krankenhauses als Geschenk auf die Schwelle legte?«

»Nun – immer noch, wo er gefunden wurde. Zwar nicht mehr auf der Schwelle, sondern im Hospital. Ich habe mich, als ich heute morgen in der Kapelle die Messe las, von dem Befinden des winzigen Burschen persönlich überzeugt und festgestellt, daß eine Nottaufe, bah, überhaupt nicht in Frage kommt. Er ist munter und kräftig, mit schwarzer Wolle [die allerdings, wie mir die Pflegerin sagte, später noch ausfallen wird] auf seinem runden Köpfchen, das für den marokkanischen Fez seines Erzeugers schon jetzt wie geschaffen zu sein scheint. Eine Landplage, diese schönen, großen, tapferen Kolonialsoldaten, deren Garnison noch verstärkt werden wird, wie man mir neulich sagte.«

»Aber sie stellen doch wohl unleugbar das französische Imperium höchst eindrucksvoll durch sich dar«, erwiderte Belfontaine. »Wenn man einem von ihnen zur Nacht unter der Laterne begegnet, glaubt man sich auf die tragische Bühne eines Welttheaters versetzt, das gleichwohl die Elemente der Buffonerie und der »Comedia de la capa y espada« nicht auszuschließen scheint. Was wollen Sie? Frankreich ist Kunst und Geist, und seine Lenden sind müde geworden, die Erde ist erschöpft. Also muß es auch seine Kinder nehmen, woher sie ihm kommen: durch Einbürgerung, durch Emigration von draußen und aus 415 den Kolonien; kurzum, durch eine künstliche Zeugung, die in dem Schmelztiegel seines Wesens zur Über-Zeugung wird. Und darum ist es vielleicht doch nicht ganz unangebracht, Herr Abbé, wenn ich für diesen kleinen Franzosen den Taufpaten mache, obwohl – –« [ein Donnerschlag in der eigenen Brust ließ ihn – glücklicherweise unhörbar, doch ohne zu zögern oder innezuhalten – fortfahren: »dieser ganze Mumpitz mir widerwärtig und im besten Fall einerlei ist – –« Doch, weil auch dieser innere Donner zum großen Teil nur Theaterdonner und also fast ein Genuß für ihn und eine Spiegelung seiner selbst war, glaubte Belfontaine jene Worte wie ein Schauspieler vor der Rampe ›beiseite‹, aber für seinen geistlichen Freund vernehmbar gesprochen zu haben, und blickte mit leichter Verlegenheit den harmlosen Pfarrer an].

»Ich wußte es ja«, sagte dieser befriedigt, »daß Sie mir meine Bitte nicht abschlagen würden, Herr Belfontaine . . . um so mehr, als sich eine große Verpflichtung daraus nicht ergeben wird.«

»Oh – warum nicht?« erwiderte Belfontaine eifrig. »Eine Pflicht übernehmen, heißt für mich, sie gewissenhaft auszuführen. Etwas bloß in effigie darzustellen, hätte höchstens für eine Hinrichtung Reiz – und so schlimm wird es ja wohl nicht werden, obwohl mich als einem Menschen der Ratio bei diesen symbolischen Reinigungsriten etwas Unbehagen beschleicht.«

»Das sind keine Reinigungsriten, mein Freund. Noch viel weniger eine symbolische Handlung«, sagte der andere steif.

»Ich weiß. Ich weiß. Es ist, mit Salz auf der Zunge und Speichel in den Ohren, eine mystische Neugeburt. Aber Sie geben doch zu, Herr Abbé, daß dieser Teil der erhabenen christlichen Liebeslehre nichts zu tun hat mit ihrem höchsten Gebot – mit der Regelung der Beziehungen der Menschen zueinander und zu der Obrigkeit; ja, daß sogar der natürliche, mit uns geborene und nur verdeckte ›Contrat social‹ des französischen Wesens von diesen sakramentalen Riten wie der Geist eines Seneca oder Plotin von den sonderbar wilden Mysterien ihrer Zeit überschattet wird. Das Taufbecken unserer Kathedralen ist jedesmal eine Mithrashöhle mit dämonischen Tieren am Grunde; mit Wasser, in welchem die mystische Hochzeit der Elemente durch Hauch und Feuer und durch die Eingießung heiliger Öle wie 416 vor Jahrtausenden dargestellt wird – aber haben wir denn eine Religion oder eine Mythologie? Jetzt habe ich Sie erschreckt, Herr Abbé, ohne daß ich es wollte. Doch, sehen Sie, diese Dinge bedrohen meinen Verstand. Das heißt, sie würden ihn sicher bedrohen, wenn ich sie mehr als symbolisch oder gleichnishaft nehmen wollte, nämlich als Wirklichkeit. Nein, nein. Auch das trifft die Sache nicht ganz. Denn eine Wirklichkeit sind sie ja wohl; ein Bilderschatz auf dem Grund der Psyche; Münzen mit uralten Zeichen und Herrschergestalten geprägt, die der Verstand, ach, nur allzu gerne wie ein Falschspieler auf den Tisch wirft, um Schulden damit zu bezahlen, für die diese Münze nicht gilt.«

Le Roy sah den anderen pfiffig an und entfaltete dann seine Meinung wie eine japanische Trockenblume, die man ins Wasser gelegt hat. »Auf dem Grund der Seele, sagten Sie eben und sprachen von einem Bilderschatz mit uralten Zeichen, Herr Belfontaine, der demnach fraglos, mein lieber Freund, in Ihrer Erinnerung lebt.«

Herr Belfontaine seufzte nachsichtig auf. »Nun gleichen Sie ganz einem Missionar mit listigen Äuglein und heißen Backen, die sich gleich triumphierend aufblähen werden, während der Mund sich zuspitzt, um in die Trompete zu stoßen. Denn mit dem Wörtchen ›Erinnerung‹ glauben Sie mich gefangen und hinunter in das Verlies der dritten Dimension geworfen zu haben, mein Freund. Aber halt, Herr Abbé. Auch hier müssen wir unterscheiden. Die Erinnerung nämlich, welche den Vorrat an seelischen Realitäten hütet, die da Chimäre, Licht, Feuer, Drache, Harpyen oder wie sonst noch heißen, gehört mir nicht, wie meine Hand mir gehört oder das Haus meines Schwiegervaters, das auf mich überschrieben ist. Besser noch: diese Erinnerung besitze ich nicht zu eigen« – hemmungslos sprach Herr Belfontaine weiter, ohne zu überlegen – »wie der Christ seine Schuld, seine Reue, seine Sünde und seine Buße besitzt, für die eine durchaus andere Form von Gedächtnis gilt, sondern gleichsam als Sippenbesitz; als etwas, das ich in einer Schicht meiner Seele, wo diese Seele zur Sippenseele und dieses Gut zum Gemeingut wird, mit anderen Menschen teile. Die Erinnerung – oder meinen Sie nicht – hat wie alles auf dieser Erde ihren Januskopf, Herr Abbé.« Das sprachlose Staunen des armen 417 Le Roy bemerkend, das sich mit furchtbarer Eile auf der törichten Landschaft seines Gesichts wie Mondlicht, wenn plötzlich die Wolken zerreißen, auszubreiten begann, veranlaßte Belfontaine, rasch beide Teile des Vorhangs zusammenzuschlagen, die [ohne seine Absicht] den Ausblick auf jene Bühne weithin eröffnen sollten, welche der Marokkaner am Anfang mit ›capa y espada‹ recht harmlos betreten hatte. »Na, lassen wir diese Spitzfindigkeiten«, sagte er liebenswürdig. »Wieviel, Herr Abbé, darf ich heute dem kleinen Lazare in die Windeln binden? Und ist es recht, wenn ich diese Summe allmonatlich an die frommen Schwestern, die ihn aufziehen, überweise?« Er zog sein Scheckbuch, schraubte die Kappe des Füllfederhalters herunter und setzte eine beträchtliche Summe, vor sich hinträllernd, auf das Papier. »Das berührt natürlich nicht, Herr Abbé, Ihre Stolgebühr, die ich auf andere Weise Ihnen erstatten möchte – das linke Spitzbogenfenster in dem Chor unsrer Kirche ist nämlich noch immer, wo das Salamanderband von dem Einschlag der feindlichen Kugeln getroffen wurde, durch gewöhnliches Glas ersetzt.«

»Und Sie wollen –«, fragte Le Roy überrascht und verklärte sich wie ein Kind.

»Ja. Da ich endlich den richtigen Mann für diese Arbeit gefunden habe, möchte ich unbescheidener Weise den Stifter dazu spielen . . . zwar nicht mit Krallenkrause und Umhang und dem Stoßdegen an der Seite, sondern nur mit meinem eigenen Namen in der Ecke des Bogenfensters.«

»Ich danke Ihnen im Auftrage der Kunst und unserer ganzen Gemeinde«, sagte Le Roy pathetisch. »Und wo wohnt dieser Glasmaler? Sagen Sie!« forschte er wißbegierig.

»Sie werden erstaunt sein. In einem Flügel der alten Behausung von St. Symphorien im Walde von Pontpoint. Ich entdeckte ihn eigentlich nur durch Zufall; bei einem Spaziergang, welcher mich neulich in die Nähe dieses Gemäuers führte, das da zwischen den Bäumen auftaucht wie der Hexenturm vor Joringel, der seine Jorinde sucht. Ach so – Sie kennen die beiden nicht. Ein deutsches Märchen. Jorinde, die Braut, wurde in eine ›Zükith‹ verwandelt, eine Nachtigall, die Joringel erlöst, indem er 418 die Hexe mit einer Blume, auf deren Grund ein Tautropfen liegt, berührt und unschädlich macht.«

»Mit der Blume oder dem Tropfen?« fragte der andere gründlich.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich mit beiden. Aber wir schweifen ab. Da also, in der zerfallenen Burg von St. Symphorien –«

»Pontpoint, sagten Sie?« unterbrach ihn Le Roy und fügte hinzu: »Ich kenne dort nur die kleine Kapelle der Johanniter und eine Kirche des Heiligen Gervasius. Aber erzählen Sie lieber von Ihrem Glasmaler, he! Ist er alt oder jung? Wo hat er gelernt und haben Sie Entwürfe gesehen, mit denen er sich als der Könner erweist, dem ein so subtiles Geschäft wie diese Renovation kann übertragen werden?«

»Zu viele Fragen auf einmal«, sagte Herr Belfontaine und lächelte zurück. »Nein, er ist weder alt noch jung . . . Wie soll ich es Ihnen erklären? Am ehesten könnte ich sagen, er habe Daniels Alter, den wir uns eigentlich immer als Jüngling und gleichzeitig als den Propheten mit Flammenaugen denken und feuerflüssigem Bart. Zeit spielt in diesem Gesicht keine Rolle –.«

»Das bedeutet also, er lebt wie Sie dem glücklichen Augenblick?« fragte Le Roy befriedigt und blickte Belfontaine an.

Dieser, ohne zu wissen warum, fühlte sich, wie sehr häufig, von Le Roy mißverstanden und verstummte peinlich berührt. Aber eigentlich hat der Abbé ja recht, dachte er gleichzeitig. Welch ein Unsinn, diesen braven Mann mit einem Propheten – und warum gar mit Daniel? – zu vergleichen. Wie komme ich dazu? Trotzdem erwiderte er pedantisch: »Man müßte eher sagen, er lebe außer der Zeit.« Er zog seine Uhr. »Zeit hin, Zeit her. Ich muß gehen, mein Freund. Madame nimmt es übel, wenn ich allzu unpünktlich bin.«

»Aber laufen Sie nicht François in die Hände!« rief Le Roy ihm gut gelaunt nach.

Natürlich war der Küster der erste, der Belfontaine schon auf der Treppe, wie gerufen, entgegenkam; doch sah er nicht auf, sondern war in ein Buch, das er dicht vor die Nase hielt, so vertieft, daß er im Halblicht des Treppenhauses den Pfarrer vor sich glaubte und mit mechanisch gemurmeltem Gruß sein Käppchen lüftete. »Poulain behauptet –«, sagte er leise und blickte starr vor sich hin. 419

»Nun, was behauptet er denn, François?« fragte ihn Belfontaine.

Der Küster fuhr wie gestochen zurück und bäumte den dürren Körper wie eine Ringelnatter, öffnete ohne Laut seinen Mund und schloß ihn wieder, indem er die Lippen mit einem kurzen, zischenden Ton zwischen die Kiefern preßte.

»Na, na, na –«, machte Belfontaine achselzuckend und ging die Treppe hinab.

Auf der Straße quoll ihm gesättigtes Licht, durchfunkelt von Vogelstimmen, und ein Schwall von paradiesischen Düften, der aus frischer Erde, strotzendem Laub und dem Hauch der Glyzinien über der Mauer sich selbst zur Wonne gemacht war, unvermittelt entgegen; es drang auf ihn ein, überschüttete ihn und warf ihm sein Nessushemd über, durchbohrte ihn mit glühenden Pfeilen, die Elementargötter [ihre Köcher mit geduldiger Eile leerend] in seine Poren schossen, und durchtränkte ihn gleichzeitig mit dem Salböl dieses fürstlichen Frühsommertages, welcher sich zu vollenden und darzustellen strebte. Jedes Mittel und jeder Gegenstand waren ihm dazu recht: wie Midas verwandelte er in Gold, was sein tastender Finger berührte, und in Kaskaden aus fließendem Licht das zitternde Laub, die Büsche in Quellen, die blühenden Stauden in angehaltene Springbrunnen, in Strahlen und entfächerte Regenbahnen. Es war ein Licht, das gleichzeitig alles bebrütete und löschte; eine Fasanhenne, golden gesprenkelt, die über ihrem Nest saß und nichts duldete außer ihren Eiern und der Wärme, die sie verbreitete: unwiderstehlich, mit wachsender Stärke und sich selbst genügender Lust.

Vor welcher Zeit, dachte Belfontaine, oder welcher Ewigkeit hatte er diesem Feuerkörper im Zelt des Jahres geheimnisvoll beigewohnt? Er entsann sich: ein Weg lief durch niedrigen Weizen, ein blauer Feldstein glühte sich aus, seine Schuhe waren voll Staub. Aber trotzdem war dieser Körper wie Tau; er war frisch wie Wasser, flimmerte, blitzte und ging, als er ihn ins Auge faßte, mit Gedankenschnelle vorbei. Eine Weile noch, und er sah ihn von neuem unter mächtigen Apfelbäumen, in einem Grasgarten, dessen Pfade in etwas gespiegelt waren wie einem gläsernen Ball. Hinweg und fort und gleich wieder da – – Siebenmal zuckte ein Bild in ihm auf, das sich kaum 420 zu erkennen gegeben hatte, als es schon wieder verschwand. ›Begreifst du mich?‹ ›Nein.‹ ›Erinnerst du dich?‹ ›Ich weiß nicht, was Erinnerung ist, denn ich lebe dem Augenblick.‹ Herr Belfontaine nahm seinen Hut ab und wischte den Schweiß von der Stirn. Der erste, wirklich glühende Tag spannte sich über dem Städtchen, aber jetzt noch ohne die Schrecken der Ermüdung und Langeweile, der dumpfen Hitze, des stehenden Bachbetts und der gärenden Sinnlichkeit. Er war heiter und königlich; jung wie das Laub, dessen Grün noch nicht nachgedunkelt hatte, und stark wie uralter Wein.

»Heute!« sagte Herr Belfontaine laut und genoß mit diesem Wort einen Zustand, der ihn bereits seit Jahren erfüllte: das Gleichgewicht all seiner Kräfte, seine Gesundheit, welche spielend – dem Ball des Jongleurs vergleichbar – über jeden Muskel hinrollte, den mühelosen Besitz des Verstandes, der im Einklang mit seinen irdischen Gütern, einer reizenden Frau, einem schönen Haus und der fraglosen, ruhigen Anerkennung all seiner Mitbürger war.

»Heute!« sagte er noch einmal und ließ sich für einen Augenblick auf dem Bänkchen neben der kopflosen Jungfrau in dem kleinen Domgarten nieder, wobei er die unbestimmte, doch angenehme Empfindung hatte, in ihrem gedankenlosen ›Immer- und Ewigdasein‹ schon von jeher gespiegelt zu sein . . . Auch sie war ohne Erinnerung; wie? Oder stellte sie vielleicht dieses Wort in der Abwesenheit ihres Hauptes dar, das ein Fehlendes immerfort anzurufen und um Ergänzung zu bitten schien wie der leere Stock einer Gartenkugel, die plötzlich von einem Steinwurf zerschmettert worden war? Nun wußte er, was, die Frage: ›Begreifst du mich?‹ bedeutet und worauf sie abgezielt hatte. Natürlich wußte er. »Heute . . . . [habe ich dich gezeugt]« ergänzte eine innere Stimme – wie zum Spaß aufs neue von Donner begleitet als einem Requisit. »Zu billig«, dachte Herr Belfontaine. »Schlechtes Theater. Als ob ich nicht wüßte, daß heute mein Tauftag ist. Na also! Was weiter? Auf diesen folgt wieder ein anderer Tag, eine Reihe von Tagen ohne Ermüdung und ohne Langeweile, eine Kette von glücklichen Augenblicken, die glatt und sinnlich wie kleine Brüste, wie Jadekugeln, wie schimmernde Perlen durch die fühlsamen 421 Finger gleiten, welche nichts festhalten mögen, weil das nächste Vergnügen schon lockt. Nichts zu erwarten und nichts zu erraten verlangen, den Schleier der Maja nicht aufheben wollen, ist, wie ich fest überzeugt bin, der Glückseligkeit letzter Schluß. Ich brauche dazu keinen Laubfrosch und kein Hygrometer; mich peinigt nicht die verrückte Frage nach der ›Natur der Natur‹, die mit dem Gesetz der Sünde beginnt und bei vernünftigen Menschen mit dem Fallgesetz endigen muß. Gesetz am Anfang, Gesetz am Ende, wie Herr Mösinger einmal sagte; dazwischen bleibt Raum genug für die Freude, besser ausgedrückt: den Genuß. Einen schönen Tag wie den heutigen müßte man eigentlich feiern, man sollte essen und trinken und Freunde um sich haben. Ob ich Grandpierre heute einmal mit Suzette bekannt machen soll? Denn er wird kommen, obwohl ich ihn nicht erwarte und sein Kommen nicht einmal wünsche, weil er mir gleichgültig ist. Wenn ich könnte, würde ich ihn ganz einfach wie eine Klette vom Ärmel lesen, aber er weiß zu viel. Er ist, ob ich will oder nicht, mein Gedächtnis; ein Tresor, zu dem ich den Schlüssel verloren, ein Geheimkonto, von dem ich nicht ahne, wie hoch ich es bereits überzogen, eine Forderung, die ich blind unterschrieben und in cumulo anerkannt habe. Natürlich habe ich nichts zu fürchten, denn Grandpierre ist mein Freund. Ich verdanke ihm alles . . . angefangen von der Entführung nach Frankreich, kurz vor Ausbruch des Krieges; dieser lustigen Reise an die Loire, die schließlich [wahrscheinlich im Einverständnis mit Grandpierres geheimen Plänen] mit meiner Internierung in Saint-Germain endigte. Doch nicht genug: auch die nette Bekanntschaft mit meinem Schwiegervater habe ich ihm zu verdanken . . . oder glaube wenigstens, daß sie auf ihn als den Anstifter dieser Sache zurückgeht, die mir später das Haus und den Garten und nach meiner Einbürgerung die Postagentur, und natürlich vor allem meine Suzette eingebracht hat, – diese ehrbare, launische kleine Frau, die ich zwar nicht als erster, ich möchte es schwören, besessen habe, und deren erotische Wünsche in umgekehrtem Verhältnis zu den Erfahrungen stehen, die sie in ihrer Ehe gemacht hat, vielmehr gemacht haben kann . . . Wenn mich nicht alles täuscht, werden Grandpierre und Suzette aneinander Gefallen finden – vorausgesetzt, 422 daß er nicht bereits wieder seinen Beruf gewechselt hat und diesmal zum Beispiel [schauderhafte, doch unabweisbare Vorstellung] als Leichenbeschauer kommt. Aber was gilt es? Vielleicht wird er mich diesmal mit seinem Besuch verschonen, der eigentlich keinen Sinn mehr hat, da ich seit dem letzten Mal von ihm weiß, daß mein äußeres Leben jetzt ganz und gar in Ordnung gekommen ist. Elisabeth ist nicht mehr, Gott sei Dank. Die schleichende Grippe, die sie sich kurz nach dem Weltkrieg bei der Pflege Elfriedens holte, als dieses Kind mit der langen Nase, diese häßliche, kleine Vorsehung, starb, hat sie endlich hinweggerafft. Wer erinnert sich jetzt noch an den Besitzer von ›Schweickert Nachfolger‹, he? [Er ist verschollen. Bei einem Versuch, von dem Internierungsgelände zu fliehen, ist er erschossen worden.] Vielleicht noch Mathias. Bah, lächerlich. Oder hieß er eigentlich nicht Mathieu? Ich entsinne mich nicht genau. Was hat mich angetrieben, zum Teufel, daß ich gestern abend Le Roy gegenüber von ihm gesprochen habe? Weg damit! Der Abbé ist zu dumm, um die Bedeutung dieses Gesprächs auch nur annähernd zu begreifen,. und der Tag Heute ist viel zu schön, um Grillen nachzujagen. Sollte wirklich dieser Tricheur noch kommen – – was sage ich.: dieser Grandpierre! – so wird er mich schon irgendwo finden; ich werde ihn zum Souper einladen und meiner Frau vorstellen; wir werden von alten Zeiten plaudern, von dem Wirtschaftsflügel des Schlosses Trois-Hêtres und der Diana im Erlengehölz, die eigentlich eine Kuhmagd mit mahagonifarbenen Haaren, in Wirklichkeit aber, wer weiß es, eine Urenkelin von Königen war, deren einer sie zwischen dem Halali und dem Sonnenuntergang zeugte . . .« Herr Belfontaine erhob sich elastisch und eilte angeregt weiter. Ich darf nicht vergessen, dachte er, die Blutegel für meinen Schwiegervater bei Louarment mitzunehmen. Charles bildet sich allen Ernstes ein, daß dieses Gewürm aus dem Tümpel, welchen die kleine Nonette auf den sumpfigen Wiesen bildet, eine größere Saugkraft habe, als die ganze Zucht von Paris. Daraus macht Louarment ein Geschäft und setzt in dem Hinterzimmer seiner verwinkelten Apotheke den Erlös für die Blutegel wieder in Morphium und Haschischpaste um, die Bonmarché ihm besorgt. Eine Hand wäscht die andre. Warum auch nicht? Ob Louarment 423 ein Süchtiger ist und Bonmarché dunkle Geschäfte mit Schmuck und Rauschgiften macht, geht mich im Grunde so wenig an – – als ob Suzette, wenn ich einmal tot bin, einen Geliebten hat. Oder soll sie dann etwa keinen haben? Eigentlich wäre es sogar besser, sie hätte jetzt schon einen und ersparte mir, Gott im Himmel, die Ablehnung ihrer Launen, die mir manchmal fast unbequem sind.

»Pardon!« Ein großer, hellblonder Mensch mit breiten Schifferschultern, wiegendem Gang und hängenden Armen hatte Belfontaine angestoßen, indem er ihn überholte.

Dieser Kerl, dieses seltsame Individuum, dachte Herr Belfontaine ärgerlich, kreuzt heute bereits zum zweiten Mal meinen Weg und rempelt mich dabei an. Ein Fremder. Ich werde Louarment fragen, woher er eigentlich kommt.

»Das kann ich Ihnen nun auch nicht sagen«, entgegnete kurz darauf Louarment. »Soviel ich weiß, wohnt er im Henri IV. Wenigstens fliegt er dort Abend für Abend total besoffen heraus. Hier sind die bestellten Blutegel. Na? Sind sie nicht schön und kräftig und fett wie in Salatöl gewälzt?« Er hielt das Gläschen gegen das Licht und schnalzte mit der Zunge; dann drehte er sich zu Belfontaine hin und fragte, während sich seine Züge in wilder Erwartung spannten: »Haben Sie . . . . mitgebracht – – – Hat er Ihnen das Päckchen ausgehändigt? Bitte, machen Sie rasch!«

Der andere betrachtete ihn mit wissenschaftlicher Neugier und sagte dann kalt: »Mein Schwiegervater kommt erst Ende der Woche wieder herein. Hat's nicht so lange Zeit?«

Bei seinen Worten sank Louarment verzweiflungsvoll in sich zusammen. »Ich werde wahnsinnig, Belfontaine. Bedenken Sie doch, daß ich nur noch eine einzige große Ampulle habe, die höchstens drei Spritzen enthält. Eigene Rezepturen wage ich nicht mehr unterzuschieben, weil ich glaube, daß mich das Syndikat bereits überwachen läßt. Sie müssen mir helfen. Hier sind die Tiere. Fahren Sie heute noch nach Paris und sagen Sie Bonmarché –«

»Papperlapapp. Es war nur ein Scherz. Morgen kommt er ja selbst.«

»Sie sind ein Engel. Vielmehr ein Teufel, mich so gefoltert zu 424 haben. Nun, solche Dinge verstehen Sie nicht. Dazu sind Sie zu ehrenhaft. Aber ich muß mir jetzt gleich eine Spritze setzen, entschuldigen Sie, damit ich munter werde.« Er sägte mit flatternden Händen die Glasspitze der Ampulle ab, riß den Rock herunter und knöpfte das Hemd auf, wobei seine unbehaarte, dunkel getönte Brust, mit den Narben unzähliger Stiche gezeichnet, fast schamlos zum Vorschein kam. »Sehen Sie«, plauderte Louarment nachher mit angeregtem Ausdruck, während das Gift schon langsam zu wirken und ihn zu erheitern begann – »diese Laster: Morphium, Opium und Haschisch, zieht sich ein Kolonialapotheker wie das Trinken mit Leichtigkeit zu. Die Gelegenheit bietet sich mühelos und immer wieder an, und endlich gibt man nach. Zum ersten Mal hat man vielleicht nur die Öde damit betäuben wollen, die den Menschen inmitten einer Natur, die ihm feindlich ist, überfällt. Dann fühlt man sein Selbstbewußtsein gesteigert; das Machtgefühl, das die Droge verleiht; die geistige Durchdringung der Räume, die eben noch grenzenlos schienen, läßt einen das Leben leichter ertragen, als es ohne sie möglich wäre. Wer lebt ohne Hilfe? Keiner von uns und die am wenigsten, die mit der Herrschaft über andere Menschen spielen. Auch die perversen Formen der Liebe kommen alle nur aus der Lebensangst und sind nichts als ein Notbehelf. Selbst Charles – oder wissen Sie eigentlich nichts von Ihrem Schwiegervater?« fragte er mit gespieltem Takt und betrachtete das erstaunte Gesicht seines Besuchers mit großem Behagen, ohne die Absicht zu zeigen, sich näher auszudrücken.

»Nein«, sagte Herr Belfontaine förmlich, »und ich wünsche auch nichts zu erfahren. Schon, daß ich hier Zeuge des Lasters bin, dem Sie sich unterwerfen, ist mir peinlich und ekelhaft.«

»So. Peinlich«, murmelte Louarment und drehte die Glasphiole mit den Blutegeln zwischen zwei Fingern versonnen hin und her. [Wenn er wüßte, dachte er, daß diese Tiere nur dazu da sind, wie Charles mir sagte, um sich an den nackten Körpern von ganz jungen Mädchen anzusaugen, die Bonmarché für das genossene Schauspiel, das ihre Qual ihm bereitet hat, mit billigem Schmuck belohnt.] »Peinlich und ekelhaft, sagten Sie?« fuhr er vollkommen unbeleidigt fort. »Aber Sie kennen nicht 425 diesen Zauber der ›künstlichen Paradiese‹, wie Baudelaire sie nennt. Diese marmornen Träume, metallenen Kräfte und gläsernen Gedanken; diese Silberadern, das Sonnengeflecht und der Mondsee inmitten des Körpers aus kalten Edelsteinen. Verstehen Sie mich richtig: ich meine einen Zustand und keinen Inhalt, Herr Belfontaine; eine Entrückung, ein Außersichsein, das von keiner Zerstörung berührt werden kann, weil es unzerbrechlich wie Diamant ist, vollkommen hart und unteilbar – es sei denn durch sich selbst.«

»Unzerbrechlich bis zu dem Zeitpunkt, wo die Droge zu Ende ist, wie?« gab ihm Belfontaine spöttisch zurück.

»Auch Ihre Droge, mein Lieber, wird einmal zu Ende sein«, sagte Louarment plötzlich verfinstert. »Nur wissen Sie es nicht.«

»Ich habe noch nie eine Droge gebraucht.«

»Nein?« fragte der andere wieder höflich und zog seinen Schlips zurecht. »Und doch habe ich das Gefühl bei Ihnen, als ob Sie eigentlich ganz und gar von einer Droge lebten und total künstlich ernährt sind. Ja. Stellen Sie sich das vor!«

»Sie sind unverschämt und verrückt zugleich«, sagte Herr Belfontaine grob. »Die Kolonien haben sehr wenig von Ihnen zurückgelassen.«

»Gewiß, das weiß ich«, gab Louarment zu. »Und wenn ich dann einem Menschen begegne, der so vollkommen ist wie Sie: vollkommen ehrenhaft und geachtet, gesund und heiter, ohne Exaltationen vernünftig bis zur Gespenstigkeit und sich selbst durchschaubar wie Fensterglas, das man eben erst abgewischt hat – dann, lieber Belfontaine, muß ich sagen, daß ein solches Leben die Säfte, mit denen es sich erbaut, nicht aus der Erde zieht; aus gemeinem Dreck mit Wasser vermischt, aus verschmutztem Blut, das immer aufs neue gezwungen ist, sich im Hindurchgang der Herzkammer wieder zu reinigen; aus Rausch und Tränen, Schmerzen und Wonne . . . aus all diesem Zeug, das uns sterblich macht und unüberwindlich zugleich. Halt! Ich glaube, nun weiß ich, woraus Sie leben und wie das Pulver heißt, Belfontaine, das Sie sich unter Husten und Krächzen die Kehle hinabgeschüttet und einverleibt haben, du lieber Gott, wie allopathisches Gift. Vernunft . . . na, habe ich recht 426 oder nicht?« fragte er triumphierend und blickte den anderen an.

Herr Belfontaine lachte mitleidig auf. »Ist das alles? Ist das die ganze Erkenntnis, die Sie gewonnen haben, mein armer Louarment?«

Von seiner Hellsichtigkeit wie ein Besessener angetrieben, sprach der Süchtige ungerührt weiter. »Geben Sie acht, nun sehe ich Sie wie früher die Photographen unter dem schwarzen Tuch. Von mir bleibt nichts übrig als bloß zwei Beine und ein spitzer Hintern, der sich herausstreckt, während die Finger der rechten Hand nervös mit dem Abzug spielen. Keine Angst! Diese künstlichen Arrangements, wie Sie eines darstellen, Belfontaine, sind keinesfalls zu verfehlen. Übrigens ist meine Linse sehr scharf und stellt wie die futuristische Kunst zugleich das Dahinterliegende dar; besser: das Interieur. Natürlich. Ich dachte mir's. Großer Gott – Sie tragen in ihrem Eingeweide eine Synagoge herum. Selbstverständlich keine aus Holz und Lehm wie die armen, kleinen Dinger in Gorki oder in Sabludowo, schief von der Schneelast im Winter und geborsten von Sommerhitze, mit Rissen und Sprüngen und voll Gesumse, voll Schnattern, Drehen und Wiegen und dem ewig rinnenden Lobgesang über verfilzten Bärten – o nein! Eine Reform-Synagoge. Einen Koloß aus Beton, sehr modern, sehr schlicht, sehr künstlerisch empfunden. Keinen Sabbath, am liebsten auch kein Hebräisch, kein Zeremonialgesetz. Sie fragen: was bleibt, Herr Louarment? Sehr viel. Die Hauptsache nämlich: der Kultus der Vernunft. Na, glauben Sie immer noch nicht, mein Lieber, daß das ein künstliches Paradies in der Art wie das von Baudelaire ist – ganz ohne Haschisch und Opium, aber ebenso gnadelos?«

»Gnade –!« erwiderte Belfontaine heftig und wollte fortfahren, als dieses Wort ihn, allzu unvorsichtig gebraucht, mit schneidendem Licht übergoß. Er erlitt eine kurze, heftige Blendung, die augenblicklich vorüberging und ihn für ebenso kurze Weile einer purpurnen Finsternis überließ, aus deren kochendem Schoß Fontänen von längst vergessenen Formen – oder waren es Töne, Düfte, Gefühle? – herausgeschleudert wurden, die gleich darauf wie Gewölle, das ein mächtiger Raubvogel auswirft, von dem aufs neue entbrannten Licht verzehrt und 427 verschlungen wurden. Dieses Gewölle inmitten des Lichtes und die tosende, eifervoll leckende Flamme, die es blitzschnell in sich verwandelte, nahm Belfontaine vollkommen deutlich und mit solcher Schärfe der Wahrnehmung auf, daß er unwillkürlich die Augen schloß, um jene Bilder, die eigentlich eines und also im Grunde unteilbar und ununterschieden waren, noch einmal hervorzurufen. Doch es gelang ihm nicht. Nur ein zarter, sich mit großer Eile verbreitender Schmerz [gleich wie Ringe auf einem Wasserspiegel] war ihm zurückgeblieben; eine Berührung mit wanderndem Feuer, welches so schonend war, daß es, die tieferen Schichten belassend, über das eben Ergriffene hinging wie eine Reinigung.

»Hiob«, hörte er Louarment sagen, »der sich mit einer Scherbe den Schorf des Zweifels und der Vernunft von seinen Schwären kratzte – –« Der andere mußte bereits eine Weile zu ihm gesprochen haben, ohne daß Belfontaine es gehört oder begriffen hatte . . . »Hiob, sagte ich, nannte später, als er wieder zu Kindern gekommen war, seine Töchter ›Schminkhörnchen‹, ›Wohlgeruch‹ – also so etwas wie ›Soir de Paris‹ – und ›Täubchen‹ –womit er wohl ausdrücken wollte, daß am Ende der Prüfung die Freude stand; eine kindliche, paradiesische Freude, die das Gegenteil unserer künstlichen ist und sich nicht schämt, mit Worten zu spielen, die uns lächerlich vorkommen mögen.« Herr Louarment lachte mißtönend auf. »Schwamm drüber. Und vergessen Sie nicht, Ihren Schwiegervater daran zu erinnern –«

»Daß Sie nur noch eine Ampulle haben«, sagte Belfontaine ungeduldig. »Meinetwegen. Adieu, Louarment!«

 

Er nahm seinen Hut und ging. Auf der Straße stellte er seine Uhr nach dem Schlag, der langsam und abgewogen von dem Turm der Kathedrale herabfiel, und ging nach der Richtung des alten Schlosses ohne besondere Eile weiter – ein Mann, dessen kluge Vermögensverwaltung und fast bescheiden zu nennender Anspruch an den äußeren Rahmen des Daseins ihm erlaubte, ohne die Peitsche eines Berufes zu leben. ›Eigentlich sollte ich wieder einmal Suzette einen Strauß mitbringen‹, dachte er menschenfreundlich, ›und sie von der Post abholen; wir könnten in dem Hotel des Arènes zu Mittag speisen und 428 erst zu dem Tee wieder nach Hause kommen. Das 'Beefsteak' versieht den Nachmittagsdienst auch ohne meine Frau. Tee!‹ – dachte er gleich darauf verächtlich und rümpfte seine Nase. ›Welche Französin trinkt nachmittags Tee?! Doch das ist auch eine ihrer Launen, mit denen sie sich apart und großstädtisch vorkommen mag. Tee! Seit das englische Hauptquartier den 'Grand Cerf' mit seinem Besuch beehrte, muß die unglückselige Léontine als Sklavin ihrer verteufelten Nichte den Samowar bedienen. Noch immer setzt Suzette alles durch, was ihr hübsches Köpfchen sich vornimmt. Sie ist der energischste kleine Drache, den man sich denken kann. Rücksichtslos, egoistisch und hart . . . aber sanft und spielerisch wie eine Katze, wenn es gilt, zu dem Ziel zu gelangen, das ihr die angewandte Mühe und den Einsatz zu lohnen scheint. Insofern ist sie natürlich die ideale Geschäftsfrau, wobei es im Grunde ganz gleichgültig ist, welcher Art diese kleinen Geschäfte sind, welche Suzette betreibt. Ich bin fest überzeugt, daß sie neben dem Postamt, dessen Agentur sie für das Bedürfnis ihrer Kleinstadterotik, das heißt ihrer Sucht, Sensationen mitzuerleben, unbedingt notwendig hat, sich auch noch an Bonmarchés Pfandgeschäft in der rue Cardinal Mercier beteiligt, ohne daß jemand es weiß. Um so besser für mich. Sie braucht keinen Freund für ihren Anspruch an Schmuck und Toiletten, den sie selber befriedigen kann . . . Eigentlich‹, dachte er amüsiert, ›kenne ich meine Frau sehr wenig. Das mag wohl der Grund dafür sein, daß wir beide so gut miteinander leben. Zwei Höllenbewohner können einander nicht fremder und gleichzeitig nicht vertrauter sein, als ich und Frau Belfontaine.‹

Noch immer erheitert, betrat er den Laden von Cailleux und Cadot. »Ich brauche ein großes Arrangement – am liebsten weißen Flieder und Rosen«, sagte er zu der Tante des jungen Philippe Cadot, der wie immer nicht anwesend war, sondern sich in Chantilly mit seinem Schlips in dandyhaft müden Farben und mit der parvenuhaften Sucht zu wetten in den Pferdeställen herumtrieb.

Die alte Dame hob ihr Lorgnon wohlwollend an die Augen und wackelte mit der hochgetürmten, vermotteten Frisur. »Madame hat wohl heute Geburtstag, wie?« sagte sie mütterlich. 429

»Madeleine!« Ein schüchternes, kleines Mädchen mit zigeunerbraunen mageren Armen stellte geschickt den Strauß zusammen und umwickelte ihn mit Bast.

»Nehmen Sie das Bukett gleich mit?« fragte Madame Cadot nebenbei, indem sie die Blüten mit dem Zerstäuber verschwenderisch unter Wasser setzte und mit Seidenpapier umhüllte.

»Ja, gewiß. Nein, warten Sie. Schicken Sie lieber den Strauß mit einem Billet nach Hause. Ich habe noch eine Besorgung zu machen«, sagte plötzlich Herr Belfontaine. Er trat an das Pult, entnahm einem offenen Kästchen Karte und Umschlag, besann sich kurz und schrieb dann: »Liebe Suzette . . .« Über die Schulter zurückgedreht, fragte er hastig: »Wie spät ist es? Also noch zwanzig Minuten, bis das Postamt geschlossen wird.« Dann zerriß er die Karte. »Komm her, mein Kind«, sagte er zu der Zigeunerin, »und gib genau acht, was ich sage. Du bringst den Strauß auf die Postagentur und bittest Madame, mit dem Essen ohne mich anzufangen. Ich habe noch eine Besprechung vor und komme erst später nach Haus.«

Als der Kunde den Laden verlassen hatte, riß die alte Cadot der Kleinen den Strauß wie eine Furie aus den mageren Fingern und sagte: »Keine Rede davon, daß du jetzt schon hinläufst. Zuerst wird der Kranz für den toten Herrn Vincent und die Siegerschleife mit Maiglöckchen, Veilchen und Mimosen fertig gebunden, welche mein Neffe bestellt hat. Auf die Post kommst du früh genug.«

Die kleine Zigeunerin blickte bedenklich nach dem recht erheblichen Trinkgeld, das Herr Belfontaine auf die Kante des Ladentischs hingelegt hatte, und sagte schnüffelnd: »Ich weiß nicht genau, ob der Herr nicht am Ende nachkontrolliert –?«

»Mit der Uhr in der Hand, du Schneegans, wie?« fauchte die Alte zornig. »Marsch, los! In deinen Verschlag! Junge Beine laufen den Weg zur Post in genau zwei Minuten. Bis dahin bleiben noch achtzehn, in denen du arbeiten kannst.«

Sie hatten beide nicht völlig unrecht, denn Herr Belfontaine blieb in der Tat eine Weile, über den eigenen Wankelmut bestürzt und erstaunt, auf der Straße stehen, bevor er sich endlich entschloß, bei Herrn Duval, dem jungen Wirt und Besitzer des Hotel des Arènes zu Mittag zu essen – – und die kleine 430 Zigeunerin schlüpfte gerade noch wie ein Mäuschen durch die offene Tür der Postagentur, als Suzette schon die Ärmelschoner herabnahm und im Begriff stand, ein windschiefes Pappschild mit der Inschrift ›Geschlossen‹ aufzuhängen, das weiteren Briefmarkenkäufern den Eintritt verwehren sollte. Sie konnte allerdings nicht verhindern, daß ein auffallend hellblonder junger Mensch mit breiten Schultern und wiegenden, gorillahaften Schritten die Gelegenheit nützte, sich, als sie herauskam, durch die heftig klappernde Tür zu drängen, deren ausgeleierter Mechanismus mit banalem Getöse hinter ihm zuschlug und seine Dreistigkeit und deren Erfolg bestätigte.

Es war der gleiche Mann, unverkennbar, welcher Belfontaines Mißfallen und Erstaunen auf sich gezogen hatte, als er ihn heute zum zweiten Male anstieß und überholte. Er war es auch, der ihn vor zehn Minuten aus dem Gastzimmer des Hotels des Arènes in die Küche zurückgetrieben hatte, weil sein Anblick – der Fremde hatte die Arme unverschämt breit auf der Tischplatte liegen, eine ausgetrunkene Flasche Wein und einen Aschbecher vor sich, der mit Stummeln angefüllt war – Belfontaine merkwürdig reizte und zugleich unsicher machte.

»Was ist das für ein Bursche, Etienne?« hatte er hastig den jungen Herrn Duval gefragt und mit einer schnickenden Kopfbewegung durch die Glastür in die Stube gedeutet, als ob keiner von allen Mittagsgästen, welche zur Zeit in dem braunen, vollen, von Rauch und Essensdunst leicht verwölkten Speisezimmer der alten Auberge anwesend waren, in Frage käme und gemeint sein könnte wie der.

Der Wirt, in eine Berechnung vertieft, die seinen Weinflaschen galt, überhörte diese sinnlose Frage; doch gab seine Mutter Herrn Belfontaine Antwort, obwohl sie [mit dem Rücken zu dem Gastzimmer sitzend] kaum wissen konnte, um wen es sich handelte. »Ein Taugenichts. Einer, der hinter dem Branntwein und den Mädchen her ist, mein Herr. Solange er noch Geld hat wie eben, kann der Wirt nichts dagegen machen. Wahrscheinlich ist es ein abgemusterter Seemann – man merkt es an seinem abscheulichen Gang und dem goldenen Plättchen im Ohr.« Sie setzte sich wieder behaglich zurecht, schob die Tonschüssel mit den Zuckererbsen, die sie gerade entkernte, über die breiten 431 Schenkel und stellte die Füße, welche wie immer in dicken Pantoffeln staken, auf einen kleinen Schemel, der über dem Steinboden stand; diesem zuverlässigen, sauberen, burgunderrot glänzenden Boden, in welchem sich das Kupfergeschirr, das an den Wänden aufgereiht war, samt der Herdflamme spiegelte . . .

Auf das kleine goldene Plättchen mit dem blauen Emaillestern in der Mitte starrte Suzette Belfontaine fasziniert, während der junge Mensch sich wie einer, der es gewohnt ist, über die Mauer eines Hafenkais in das Wasser zu spucken, mit lässig geschwungener Hüfte an das Brett des Postschalters lehnte.

»Ich nehme jetzt keine Einzahlung mehr und auch sonst nichts an«, wehrte sie heftig ab, »und schließe bis fünfzehn Uhr.«

»Auch dieses nicht?« fragte der junge Mensch, seine prachtvollen Zähne entblößend, und zog aus der Brusttasche, wo seine Hand aufreizend lässig gespielt und etwas umschlossen hatte, ein längliches Kästchen heraus. »Nein? Wirklich nicht?« Seine hellblauen Augen, die dünn bewimpert waren, hielten mit nackten, glühenden Blicken die ihrigen fest, und während er plötzlich mit einem kurzen, knackenden Ton die Schatulle aufspringen ließ, glitten sie von dem Gesicht der Frau bis zu dem Ansatz des Busens herunter, wo dieser sich, immer noch mädchenhaft, über dem Ausschnitt teilte, und ließen wieder ab. Dann legte er zart mit brutalen Händen, die gleichwohl etwas Verspieltes hatten, eine Perlenschnur von bezauberndem Glanz, ohne Makel und Fehl, vor sie hin. »Echt«, sagte er. »Wie gefällt sie Ihnen, und was würden Sie darauf geben? Herr Bonmarché hat mich zu Ihnen geschickt, weil Sie besser taxieren können.«

»Ihren Ausweis! Na? Oder ist sie gestohlen?« fragte Suzette ihn kalt. Eine wilde Gier, gepaart mit Verachtung, ließ sie von oben bis unten erzittern und verdunkelte ihren Blick.

»Wahrscheinlich. Die schöne Odette, meine Mutter, hat sie von einem Soldaten der Fremdenlegion bekommen, der später ausgebüchst ist. Haben Sie nichts von Odette gehört? Der berühmten Diseuse in Marseille?« plauderte er naiv.

»Sie lügen.«

»Alle Matrosen lügen. Also – wollen Sie oder nicht?« Er streckte die Hand aus, wie um die Kette wieder zurückzunehmen; Suzette beherrschte sich mühsam und griff, um sich abzulenken, 432 nach dem Strauß, der noch immer unausgewickelt und vergessen neben ihr lag; dann erhob sie sich, ging nach hinten, ließ Wasser in eine Kristallvase laufen, nahm das Seidenpapier und den Bast herunter und stellte sie zwischen sich und den Fremden, der ihren Bewegungen mit den Augen eines Raubtiers folgte, das seiner Beute schon vollkommen sicher ist.

»Geben Sie her. Was wollen Sie haben, falls die Kette sich wirklich als echt herausstellt?« fragte Suzette ihn ruhig. »Ich sehe bereits: das Schloß ist Platin. Die Perlen sind kaum synthetisch, ich habe das im Gefühl.« Während sie redete, bog sie die Zweige mit ihren sinnlichen Fingern, die auf den Knöcheln gepolstert waren und in rosigen Spitzen endigten, unachtsam auseinander – ihr weißes Gesicht mit der zarten Haut und den winzigen Sommersprossen, den grünen Augen, den roten Haaren, die sie erst seit kurzem, der Mode entsprechend, in einem Pagenschnitt trug, flimmerte wie das Gesicht des Sommers aus dieser Blumenlaube, die es halb verdeckte, halb seinen Reizen erst schmeichelte und sie hob. [Bin ich wahnsinnig? dachte sie. Diese Kette auch noch vor dem Kerl da zu loben, anstatt sie herunterzumachen! Aber es hilft nichts. Ich muß sie haben, und wenn es mein Leben kostet. Ich verbrenne einfach nach ihr.]

»Sie haben den richtigen Hals dazu, diesen Schmuck zu tragen, Madame«, sagte der Bursche jetzt leise; seine Stimme, an und für sich schon heiser von allzu vielem Rauchen und Trinken, belegte sich immer mehr. »Solch ein Hälschen . . . weiß und sahnig wie Kuhmilch, wenn sie frisch aus dem Euter spritzt . . .« Seine Hände krampften sich langsam zusammen; ein ungeheuer herrischer Ausdruck trat so nackt und entsetzlich auf sein Gesicht, daß Suzette sich zu fürchten begann.

»Gehen Sie!« schrie sie den Fremden an. »Sie sehen doch, das Amt ist geschlossen –. Verlassen Sie das Büro!«

Sie erhob sich, nahm ihren Hut von dem Haken und setzte ihn vor einem kleinen Spiegel, der über dem Waschbecken hing, mit betonter Langsamkeit auf; dabei fühlte sie, wie der Fremde sie nicht aus den Augen ließ und ihr den eigenen Körper so bewußt machte, als ob er ihn streichelte. Ihre Büste straffte sich, unter dem dünnen Seidenbattist der Bluse traten die kleinen Knospen eigenwillig hervor, die Korsettstangen 433 knackten, durch ihre Hüften lief eine Welle von wollüstiger Angst. Noch war die Schalterbarriere zwischen ihr und dem Unbekannten – aber wie lange wohl? Schon schob er das Gesäß auf das Zahlbrett; unbekümmert, geschmeidig und leise wie ein böser und sinnlicher Traum. Blitzschnell durchfuhr sie das vage Gefühl, ihm ausgeliefert zu sein: sie waren allein, die Straße war leer, alle Menschen beim Mittagessen –.

[Madame tupfte vorsichtig mit dem Mundtuch den Burgunder von ihren rougierten Lippen; Monsieur, in seine Zeitung vertieft, stellte lautlos das Weinglas nieder. »Etwas Neues, Edmond?« »Wieso, Charlotte? Immer das gleiche. Ein Dienstmädchen hat seine Herrschaft bestohlen, ein Bankbeamter die Kasse, ein Deputierter die Wähler, welche ihn aufgestellt haben.«]

Stille . . . Sollte sie schreien? Oder die Kette ergreifen, die der Bursche ihr langsam hinschob?

»Nun –?« fragte er brüchig; sein Mund blieb offen, auf seiner nur schwach behaarten, flaumigen Oberlippe lag ein Schimmer von feinem Schweiß. In diesem Augenblick fühlte Suzette, daß das Raubtier bereits geschwächt und, wenn sie Mut genug hatte, ihr ausgeliefert war. Ein wilder Triumph, eine rasende Lust, sich mit der Gefahr zu messen, drang ihr wie Gift in die Adern; wie ein Rausch, der sich nicht mehr aufhalten ließ und sie zugleich trunken und überwach, bewußt und willfährig machte. Sie hob die Kette ruhig an den Mund und biß prüfend auf ihre Perlen, hauchte sie an, ließ sie einzeln durch ihre Finger gleiten, verweilte bei einigen, prüfte von neuem und öffnete das Schloß.

»Fünftausend Francs –«

»Ist das Schloß allein wert«, sagte er unverschämt. »Ich weiß, was ich habe, Madame.« Sie schob mit dem Anschein von Gleichgültigkeit die Schnur zurück: »Wie Sie wollen, mein Herr. Vielleicht zahlt man anderswo mehr. Ich glaubte übrigens, daß Sie den Schmuck nur beleihen und nicht verkaufen möchten. Sonst natürlich – das Doppelte.«

Spielerisch riß sie ein Fliederblütchen mit spitzen Fingern aus seiner Dolde, saugte und spie es aus. Ein zweites . . . ein drittes . . . Er schien zu zögern und tastete nach dem Schmuck, 434 dabei berührte er ohne Absicht ihren herunterhängenden Arm und umklammerte, heftig atmend, das zierliche Handgelenk.

»Fünftausend – und dazu dich, meine Kleine«, sagte er hemmungslos und zog sie räuberisch näher. Sie standen sich jetzt Gesicht an Gesicht wie Zweikämpfer gegenüber, sein Atem streifte schon ihre Haare, auf dem Grund ihrer Augen erkannte er winzige graugelbe Pünktchen, die zu flirren und flimmern schienen. »Also abgemacht. Zehntausend Francs –« »Und die Kette hole ich mir hinterher wieder zurück«, überlegte er bei sich selbst. »Das Geld kann ich gleich mitnehmen, hm?« sagte er unbekümmert.

»Sie denken wohl: hier aus der Postkasse. Wie?« fragte Suzette ihn spöttisch. Ein leises Bedauern darüber, daß dieses gefährliche Abenteuer schon abgeschlossen sein sollte, und die prickelnde Lust, es fortzusetzen, kämpften mit ihrer Vernunft. »Eine solche Summe wie diese hat man nicht in der Schublade liegen. Kommen Sie morgen wieder«, sagte sie gleichgültig, ohne den Arm von ihm zurückzuziehen.

Mit dem Instinkt des verliebten Verbrechers fühlte er, daß sie log. »Warum nicht heute?« flüsterte er, als ob es sich um ein Rendezvous und nicht um ein Geldgeschäft handelte, und riß sie zu sich heran. Sein Mund stürzte sich über sie, seine Lippen; ein Hauch von Frische, gemischt mit dem Duft eben genossenen Weines; seine Zähne klirrten gegen die ihren und suchten gierig wie das Gebiß eines Marders die pulsierende Stelle an ihrer Kehle, wo sie sich festbeißen wollten; dann stieß ihn Suzette mit aller Gewalt vor die Brust und machte sich plötzlich frei.

»Heute nachmittag, wenn die Postagentur geschlossen wird, also um achtzehn Uhr, bin ich allein zu Hause«, sagte sie, über sich selbst entsetzt, aber vollkommen klar und kalt. »Sie kommen von dem Schloßgarten her und halten sich längs der westlichen Mauer bis zu den Gemüsebeeten. Dort ist ein grüngestrichenes Pförtchen, dessen Riegel Sie nur zurückschieben müssen, um unseren eigenen Garten von der Rückseite her zu betreten . . . Sie verfolgen den Hauptweg und gehen über die große Treppe auf die halbrunde Steinterrasse; ich öffne die Glastür des Gartensälchens, das linker Hand einen Wandschirm 435 hat, hinter dem sich eine Tapetentür, die in das Haus führt, verbirgt. Alles weitere findet sich.«

»Und Ihr Gatte?« fragte der Fremde mit angespanntem Gesicht. »Wird nicht zu Hause sein. Niemand ist da und braucht von diesem Geschäft zu wissen. Haben Sie mich verstanden?« fragte sie heftig und heiß. »Die Kette geben Sie mir gleich mit, sie gehört mir – zu jedem Preis«, setzte sie widerstrebend hinzu und flüsterte: »Haben Sie keine Angst. Ich werde sie Ihnen nicht vorenthalten, denn Sie haben mich kompromittiert.«

Wieder erhellte sich ihr Verstand, ohne den furchtbaren Ansprung ihrer entfesselten Wünsche jetzt noch verhindern zu können. Wohin gerate ich? dachte Suzette. Und was will ich? Die Kette? Den Mann? Einerlei. Was ich in Wirklichkeit will, werde ich später wissen. Hauptsache, daß ich es will. Néans macht heute den Nachmittagsdienst. Inzwischen hebe ich auf der Bank in Chantilly zehntausend Francs ab. Nein – besser fünfzehntausend. Bis achtzehn Uhr bin ich zurück. Unsinn. Ich nehme natürlich die Summe aus dem kleinen Tresor meines Vaters, zu dem ich den Nachschlüssel habe, und ersuche Lazare, zu der Bank zu fahren und das Geld für mich abzuholen. Soviel ich weiß, fährt Herr de Chamant heute nachmittag zu den Ställen hinunter, um die neue Stute Cadots anzusehen, die einen entzündeten Huf hat, und nimmt Lazare bestimmt mit, wenn ich ihn darum bitte. Auf diese Weise kommt Belfontaine nicht vor dem Abend nach Hause, vielleicht sogar erst in der Nacht. Und was Léontine angeht, so trifft es sich ja vorzüglich, daß der alte Schwätzer Richmond seinen Vortrag über den ›Geist der Romantik‹ auf heute verschoben hat. Sie wird es sich also nicht nehmen lassen, ihm wie immer zu Füßen zu sitzen. Gut, daß die kleine Tapetentür wieder freigelegt wurde. Als junges Mädchen mußte ich immer, wenn ich den Klatsch von Papa und der Tante hinter dem Wandschirm belauscht hatte, über die Treppe und dann durch eines der Fenster zurück, um in das Haus zu gelangen.

»Was stehen Sie hier noch immer herum?« fuhr sie ungeduldig den Fremden an und steckte das Kästchen ein.

»Ich gehe ja schon, in Teufels Namen. Aber Sie sind zu schön, als daß man sich losmachen könnte«, schmeichelte er entzückt. 436 Wieder trafen sich ihre Blicke, doch diesmal als Spießgesellen. »Und gerissen«, fuhr er bewundernd fort, »wie eine ganz große Dame, die ihren Mann so geschickt betrügt, daß er noch ›Danke schön‹ sagt . . . Nun, nun – ich bin ja schon unterwegs. Also bis nachher.«

»Vorsicht! Aber vor allem: Sie werden nichts mehr trinken. Ich mache sonst nicht auf.«

»Keine Sorge.« Er drehte die leeren Taschen mit den Tabakskrümeln nach außen und grinste sie spitzbübisch an. Dann wandte er sich auf dem Absatz um und verließ die Postagentur.

In dem staubigen Raum blieb Suzette Belfontaine vor der Kristallvase stehen und griff gedankenverloren an ihren Blusenausschnitt. ›Sie haben den richtigen Hals dafür, diesen Schmuck zu tragen, Madame‹, ging es ihr durch den Sinn. Mechanisch nestelten ihre Hände die kleine goldene Kette mit dem Anhänger ab, die sie trug, und legte sie auf den Tisch. Phädra und Hippolyt – wieviel Jahre hatte das unglückselige Paar schon an ihrem Halse geruht! Hortense kam nicht wieder, die Vielgeliebte, die ihr den rasenden Durst ihrer Sinne zurückgelassen hatte . . . den Stachel zu quälen, gequält zu werden, zu betrügen und ein Idol zu umarmen, das einer grausamen Gottheit glich, der man sich ausliefern mußte, um verdammt oder selig, oder auch beides, und endlich gesättigt zu werden. Gedankenverloren starrte Suzette auf das Medaillon, das die Versuchung des Jünglings durch die schamlose Phädra zeigte, die ihre holden Brüste zur Schau trug und, als sie verschmäht wurde, ihren Abgott zu Tode schleifen ließ. Sie ballte die Fäuste. Geißel und Peitsche für das Dunkel der Liebesnächte und sehr viel Schmuck, das dämonische Glühen geheimnisvoll kalter Steine, die man um hohen Geldwert erwerben und wieder abstoßen konnte; Geld, nacktes, unedles Geld, auf der Kante der Bettstatt zurückgelassen, worauf sich der Leib verkaufte; aber auch Perlen, wie Königinnen und königliche Maitressen sie trugen . . . dies alles in einem einzigen Rausch von unermeßlicher Tiefe . . . nur einmal . . . berechnet und vorbereitet und dann wieder fortgeworfen wie dieses Medaillon, dieser Schmuck hier, den sie jetzt in die Ecke fegte.

An dem Aufschlag der Gemme, dem feinen Klirren des Kettchens am Boden ernüchterte sich Suzette. Es ist so, dachte sie, 437 daß mich Hortense durch diesen lächerlich billigen Schmuck an das verhaßte Gewerbe meines Vaters gebunden hat, in dessen Schubladen ich das Pendant und damit die schauerliche Erklärung einer Tragödie gefunden habe, die mir halbwegs immer noch dunkel bleibt. Von da ab habe ich Schmuck gesammelt und Gefallen an leblosen Steinen gefunden, deren grünes, gelbes und rotes Blut sich erstarrend kristallisiert; ich habe auf einen Schmuck gewartet, der alles in sich vereinigen würde: Kostbarkeit, Glanz und Herkunft aus einer unendlichen Tiefe, an welcher etwas Süßliches klebt, das geronnenem Blut ähnlich ist; Schmuck, der ein Verbrechen in sich enthält oder irgendwie nach sich zieht. Dieser Schmuck ist mir heute endlich begegnet und mit ihm wahrscheinlich noch mehr. Ich muß ihn besitzen, ihn tragen; nicht jetzt, sondern erst, wenn er wirklich und wahrhaftig mein Eigentum ist. – [»Fünftausend und dazu dich, meine Kleine«, bebte es in ihr nach . . .] Nun schloß sie eilends die Schübe ab, legte rasch ihre Listen zusammen und klappte das Schreibpult zu. »Eine halbe Stunde über die Zeit«, murmelte sie vor sich hin. »Aber das tut nichts. Die Tante hält sicher bereits ihr Mittagsschläfchen, und Lazare kommt frühestens in einer Stunde, sonst hätte er mir nicht Blumen geschickt –. Pah, Blumen! Eine einzige Perle wiegt alle Blumen der Welt auf.« Sie betrachtete sie verächtlich. »Dieses Zeug für Muttergottesaltäre und blauweiße Lourdeskapellen. Wo der Kerl sich jetzt herumtreiben mag? Sicherlich streicht er wie eine Katze in dem Schloßpark umher oder setzt sich auf irgendeinen verdreckten und vom Regen ausgewaschenen Stein, wo er die Moosflechte abkratzt, um sich die Zeit zu vertreiben. Und Lazare? Lazare wird wie üblich auf der Suche nach neuen Ablegern und Stecklingen für sein Gewächshaus sein oder nach ausgefallenen, alten, aromatisch gewürzten Reimen für seine prachtvoll gedrehten Sonette; Wörter, die er sich, wie ich weiß, aus den Folianten der Stadtbücherei oder, in die Betrachtung der Schlüssel- und Münzensammlung des Musée Regional versunken, zusammensuchen wird.«

 

Hier irrte sich freilich Suzette, und zwar nicht unerheblich, denn Belfontaine war sofort, nachdem er die Auskunft der 438 Mutter Duvals über den Fremden empfangen hatte – gewiß eine unzuverlässige Auskunft und bloß nach Frau Duvals Gefühl – die Treppe hinauf nach dem ersten Stock in sein Zimmer gegangen, das ihm stillschweigend seit der Zeit reserviert war, als man dem neuen französischen Bürger die Postagentur übertrug – damals, als Belfontaines zweites Leben und seine Ehe, die eigentlich Bigamie, sein Glück, das wie ein Gewächshaus und dieses Gewächshaus selber, das im Grunde nur eine Kakteenzucht von schlafenden Schlangen, erstarrten Echsen und geschuppten Dämonen war, seinen Anfang genommen hatte. In dieses mit Chinoiserien austapezierte Zimmer der Auberge des Arènes zog sich Belfontaine immer wieder zurück, wenn er ›allein sein‹ wollte – das heißt, mit dem inneren Wesen jener Pflanzengebilde zusammen, die er durch Samen und Stecklinge unermüdlich zu vermehren bestrebt war, um sie gleichzeitig immer wieder in toten, doch kostbaren Sonetten von merkwürdig irisierendem Glanz und Feuer nachzugestalten; in Wortpetrefakten, welche den Abdruck des Lebens bis in jede Ader hinein bewahrten; das plötzlich unterbundene Spiel seiner Kräfte, die stehengebliebene Form, den mumifizierten Leib. Dabei gelangen ihm einzelne Bilder, die plötzlich aus dem verholzten Stamm und den harten Spitzen wie Feuerzungen, Kakteenblüten nicht unähnlich, brachen und ihn zugleich glücklich und unglücklich machten, weil sie den Geist, dessen Kinder sie waren, in dem Augenblick ihres Ursprungs vergaßen, oder sich ihn sogar unterwarfen und selber zum Herrscher wurden. So entstand allmählich das sonderbare und von den Liebhabern schöner und seltener Gartenbücher häufig als eine Art moderner und gleichsam gepreßter ›Georgica‹ bezeichnete Werk des Herrn Belfontaine, in welchem exotische Sagen und Märchen und Belehrungen über Herkunft und Samen, Lebensbedingungen, Anspruch und Pflege dieser Kakteen mit edlen Sonetten von fraglos geglückter Naturbetrachtung, aber erstaunlicher Kälte und Künstlichkeit wechselten. Hier kehrten sehr häufig Vergleiche mit Schlüssel und Münze wieder: Dingen, die dazu dienen, eine Kammer, ein Verlies, einen Kasten auf- und zuzuschließen und das Enthaltene mit dem Wert seiner selbst oder nur als 439 Fiktion seiner selbst nach Art der Münze zu siegeln, ihm das Antlitz des Herrschers, der Gottheit, besser: des göttlichen Herrschers als Zeichen aufzuprägen und dadurch den Besitzer der Münze zu dem Teilhaber an dieser Gottheit zu machen, die ihm sowohl den Teil ihrer selbst, als auch das Ganze gestattete, indem sie jeden Teil mit dem Ganzen: dem ganzen Haupt in unzähligen Gliedern, prägte und siegelte. Daß Belfontaine mit diesen Vergleichen die groteske Welt der Kakteen, jener gekrümmten und bärtigen Wesen, die in sich selber den Schlüssel zu dem Geheimnis der Form überhaupt – und damit noch mehr – zu erfassen suchte, war nicht einmal übel; doch wußte am wenigsten Belfontaine selber, daß er nicht nur den Leib der Natur, sondern das eigene Wesen unaufhörlich umkreiste. Er sprach es aus. Eine Welt von Dämonen, die unter der Schwelle seines Bewußtseins wie zusammengebogene Embryonen mit faltigen, uralten Häuptern hockten, welche selber ohne Erinnerung waren, aber gespeist mit dem Wissen des Blutes, trat schemenhaft an das Licht, um wieder zurückzusinken; wie der Mund eines Taubstummen redete er mit gleichsam verdeckter Zunge, die sich selbst nicht vernehmen kann, und während er scheinbar die Sprache des Tages und ihren Wortschatz mit allen teilte, enthüllte er unablässig sein Leiden: den Wolfsrachen, den gespaltenen Gaumen, aus dem es hervorquoll, und ohne sein Wissen um Erbarmen und Hilfe bat . . .

Auch heute, nachdem er das Mittagessen auf sein Zimmer befohlen hatte, setzte er sich mit der Absicht, ein begonnenes Pflanzensonett, wenn schon nicht zu beenden, so doch zu verbessern und weiterzutreiben, an den zierlichen Rokokoschreibtisch vor dem schmalen, tiefgezogenen Fenster und breitete mit der Pedanterie, die ihm Genuß war, seine Papiere langsam und sorgfältig aus. Noch bewahrte seine Hand das Gefühl des trockenen, zuverlässigen Seiles, das hier in der schönen, alten Auberge die Stelle eines Geländers vertrat und ihn über breite steinerne Stufen in das obere Stockwerk geleitet hatte; das Gefühl des Hanfes, aus dem es gedreht und der Knoten, an denen es unterbrochen und wieder fortgeknüpft war.

Dieses Seil, dachte Belfontaine plötzlich, von dem Blitz einer Intuition betroffen, die den ungeschützten musischen Zustand 440 seines Wesens zum Anlaß genommen hatte; dieses Seil: es ging von innen nach oben. Von einem Innen, das tiefer als alle Mysterien lag; noch tiefer als die Wohnung des Oknos, jenes unglückseligen, alten Mannes, der sein Seil zwischen Binsen und Röhricht aus rieselnder Sumpferde flocht. Denn die Wohnung des Oknos – obzwar unendlich versunken – schwebte doch zwischen dem Wasserspiegel und dem »Zeitenschoß«, wie man das dunkle, aber allgemeine Bewußtsein der Menschheit zu nennen pflegt, entsann sich Herr Belfontaine, und sie auszuloten war nicht unmöglich, während jenes »Innen«, das er empfand, vollkommen unbetretbar, sich selber unbekannt und von außen nicht zu erforschen war. Das Kind der Danaë auf den Wellen war nicht annähernd so versiegelt wie dieses andere Götterkind, welches er ›Innen‹ nannte, ohne zu wissen warum; doch fühlte er schon das furchtbare Lot, das sich langsam und unerbittlich durch die bitteren Wogen senkte, die Angel, die es herausheben würde und an das Tageslicht schleudern. Ob er wirklich nur der Gegenwart lebte oder, wie Louarment glaubte, seine Vergangenheit in sich herumtrug, war einerlei: diesem augenlosen, allfühlsamen Lot entging er nicht. Dieser Angel bot er sich waffenlos dar.

Von einer entsetzlichen Angst gepeinigt, blickte Belfontaine von dem Blatt empor, das über und über bedeckt mit kleinen, gekrümmten Buchstaben war, die ihren Sinn, anstatt ihn zu enthüllen, vor einander zu bergen schienen, und sah.

Er erblickte eine Gestalt, von der er, ohne zu überlegen, wußte, daß sie schon jahrelang in ihm gehaust, ihn bewohnt und durchdrungen hatte. Dem menschlichen Auge, der zeichnenden Hand unfaßbar und daher nicht zu beschreiben, weil sie in unaufhörlichem Wandel, in fließender Hin- und Herbewegung, in Auflösung und Verdichtung war, empfand sie das Geistesauge als ein festumrissenes Zeichen; als das immer wiederkehrende Bild des Salamanders, wie ihn die Fenster der großen Kathedrale im Laufband aufbewahrten, wo das reine, feurige Licht des Glases ihn in den heiteren Aufstieg seiner Kaskade hinaufnahm – einen Zwillingsbruder und Freund der Chimären, die der Stein hinausstieß und gleichzeitig bannte, vernichtete und hielt. Nun war dieses Zeichen aus Belfontaine 441 wieder herausgetreten: ein aufrecht gehender Salamander von geschmeidiger Schwärze und finsterem Glanz, den er nur von hinten erblickte wie etwas, das schon vorüber war . . . [»Jetzt« – durchfuhr ihn eine Erinnerung . . . da durfte Moses ihn schauen: doch nur seinen Rücken, das, was vergangen und nicht, was zukünftig war.] Ein unendlicher Schauder, leise und lang, ließ ihn von oben bis unten erzittern, ein Schwanken, das den Grund unter ihm wie ein Erdbeben spaltete. »Jetzt –«, wiederholte er, schon bewußt, daß dieses Wort – wie kein anderes der Hölle fürchterlich und verhaßt – eine Beschwörung war. »Jetzt –«, aber das Zeichen des Salamanders wanderte unaufhörlich weiter, ohne innezuhalten, sich umzudrehen oder Kontur zu gewinnen; es vollführte Bewegungen, ähnlich wie die eintönig trostlose Melodie des Saxophons, wenn sie spät in der Nacht jaulend und scheu um sich selber schwänzelt und ihre Kreise zieht. Kein sinnlicher Eindruck konnte so deutlich, keine Erfahrung so unwiderleglich, kein Wort so endgültig sein wie dieses dämonische Wesen, das zu erkennen unmöglich, zu kennen ihm selbstverständlich und seit Jahren eins mit ihm war. Verzweifelt erhob er sich, trat an das Fenster und versuchte sich abzulenken; er schloß die Augen, öffnete sie, fixierte einen Mann auf der Straße, dessen Erscheinung er in sich aufnahm und bis in jede Kleinigkeit: Halstuch, Farbe der Hosen und Schnitt der Schuhe, sich einzuprägen suchte. Vergeblich. Ohne im mindesten das Bild der äußeren Welt zu stören, durchwandelte [von einem Auge, dessen Netzhaut tiefer lag als die erste, wie ein Schatten zurückgeworfen] das reptilische Wesen alles, was ihm den Weg verstellte. Er mußte es zu Gesicht bekommen, koste es, was es wolle, und sich Gesicht an Gesicht mit ihm messen, dachte Herr Belfontaine. Natürlich war das Ganze nichts weiter als eine Überreizung, wahrscheinlich durch die blendende Hitze und seine Gedanken an die Arbeit des Glasmalers ausgelöst . . . sicher . . . die ihn unaufhörlich verfolgte. Ob er ihn nicht noch einmal besuchte und die Beschäftigung mit dem Sonett auf spätere Zeit verschob? Völlig versunken, sah er noch immer auf die mittäglich leere Straße und legte den Kopf an die Fensterscheiben, wobei er die Hände unter die Stirn schob und in dieser Stellung verharrte. 442

Der Wald von Pontpoint . . . Durch junge Sträucher und Baumstämme, welche die Nachmittagssonne mit spielenden Lichtern fleckte, tauchte St. Symphorien auf: die alten Mauern, berückend nahe und doch wie in Träumen ungreifbar; der Turm mit den Schießscharten, graues Gestein, hinter dem die zeitlosen Wolken zogen, und über dem Grund, wie vor einigen Wochen, die blaue Scilla, die Anemone mit ihrer rosigen Tiefe . . .

»Daniel – –«, flüsterten seine Lippen; ein mächtiges Haupt, von der Sonne umlodert, teilte löwenhaft das Gehölz.

»Was willst du von mir?«

»Das Fenster – – du weißt doch . . . das Fenster der Kathedrale mit den durchschossenen Bändern der Salamander, mein Freund.«

»Ich bin nicht dein Freund. Noch nicht. Doch dein Engel. Nein . . . rühre mich nicht an.«

»Ob es mein Tod ist: ich rühre dich an.«

»Nun schreist du.«

»Um Hilfe – –!«

»Ich bin nicht die Hilfe. Nur Feuer und Sturm, der dich hintreibt zu jenem Berg, du Verlorener, von welchem dir Hilfe kommt.«

»Ein Psalm. Pah. Nichts weiter. Löse dich nicht. Nimm die Bäume nicht mit dir. Das Schloß. Die Blumen. Nimm lieber die Leere. Die grenzenlose und gräßliche Leere des Himmels, an dem keine Wolke mehr hängt.«

»Ich bin die Leere. Die vollkommen reine und makellose Leere, die Gottes Finger beschreibt. Lies. Höre. Ich will dir die Augen öffnen und das Wachs aus den Ohren nehmen . . .«

Herr Belfontaine trat einen Schritt zurück, ließ die Hände von dem Fensterkreuz fallen und blickte in das Licht. »Er ist fort. Der Salamander ist fort«, sagte er vor sich hin. »Nichts als der Himmel, und in dem Äther, diesem furchtbar reinen und leeren Äther, die Vogelhieroglyphe. Aber auch sie ist noch eine Täuschung, ein Erinnerungsbild von heute morgen, als ich die Lerche aufsteigen sah, immer höher, an einem goldenen Seil, einem Sonnenfaden, den sie hinauswarf, aus Tönen bildete, sich zum Jubel und der langsamen Erde zum Trost. Der braunblonde Vogel, die schlanke Lerche . . . wie süß, wie süß, wie 443 süß. Sie ist es. Es ist ihre Seele. Die Seele einer verstorbenen Frau. Die Lerche Elisabeth.«

Plötzlich warf er sich über den Tisch und verbarg den Kopf in den Armen. Das Seil, das von Innen nach Oben stieg . . . und zwischen Innen und Oben das Sumpfland der Salamander; das Land der Auflösung, der Verwesung mit ihrer behaglichen Wärme, die aus dem blasigen Fleisch der Toten und der brütenden Hitze zwischen den Binsen, dem Schoß der Sumpfblüte und den Kiemen der faulenden Fische dampfte, die auf der Seite lagen . . . Das Reich des Oknos – wie lange noch würde er es bewohnen? Und wer wagte es, ihn in dem Totsein zu stören, das er täglich mit fröhlichem Schnalzen genoß, mit der Erzeugung von schillernden Blasen ohne Dauer und Festigkeit? Niemand. Niemand durfte ihn stören, wenn er selbst diese Störung nicht wollte.

Aber konnte er wirklich noch wollen? Zum Teufel – Herr Belfontaine sprang auf die Füße und rief kurz und heftig: »Herein!« Ein Küchenmädchen, das bereits zweimal, ohne Antwort erhalten zu haben, mit der Schuhspitze angeklopft hatte, trat mit beladenem Brett in das Zimmer und setzte es vorsichtig ab.

»Nun?« fragte er, ohne hinzusehen.

»Grüne Bohnen, Kalbsbrust. Maroneneis . . .«, sagte sie triumphierend. »Den Rochecorbon bringe ich noch.«

»Keinen Rochecorbon«, widersprach er ihr sachlich und namenlos erleichtert. »Einen Bourgueil oder einen Chinon, wenn er schon unbedingt aus der Heimat deines Wasserhuhnjägers sein muß; oder jagt er jetzt vorwiegend Schnepfen und Rebhühner, hm, mein Kind?« fragte Belfontaine väterlich.

Die hübsche Rosalie verzog ihren Mund. »Ich glaube, er jagt schon alles, was ihm nur vor die Flinte kommt und glänzende Federn hat«, seufzte sie drollig und setzte hinzu: »Sobald er bestallter Forstmeister ist, werden wir heiraten, Herr. Ein Mensch wie Polykarp hält es nicht aus, im kalten Bett zu schlafen.«

Herr Belfontaine lachte belustigt auf. »Ein Schürzen- und Schnepfenjäger, Rosalie, mit dem Namen eines Märtyrerbischofs«, sagte er amüsiert. 444

Die Kleine blickte ihn ärgerlich an. »Wer kann etwas für den Namen, auf den er getauft worden ist?« sagte sie böse und setzte hinzu: »Wenn jeder das wäre, wozu ihn sein Name einmal machen wollte, Herr Belfontaine, gäbe es höchstwahrscheinlich nur noch Heilige auf der Welt.«

»Brrr – welcher Gedanke.« Er schüttelte sich. »Aber du bist ein kluges Mädchen und wirst deinem Polykarp keine Antwort und keinen Kuß schuldig bleiben. Habe ich recht oder nicht?«

»Wohin käme ich?« sagte sie schon besänftigt. »Also einen Bourgueil?«

»Nein, laß. Überhaupt keinen Wein, mein Kind. Er verwirrt mir nur die Gedanken, wenn ich beim Arbeiten bin.«

Rosalie schob sich schmeichlerisch näher und blickte zutraulich auf die Blätter, welche den Schreibtisch bedeckten. »Was gibt das denn?« fragte sie.

»Ein Gedicht.«

»Oh – ein Gedicht. Eines wie ›Vole mon coeur, vole‹? oder Je m'en vais par le monde‹?« fragte sie wißbegierig.

»Nicht ganz. Aber ›Vole mon coeur, vole‹ – ist ein sehr hübsches Gedicht.«

»Nicht wahr?« Sie sah auf die Blätter nieder und runzelte die Stirn.

»Dies ist schwieriger, wie ich glaube. Ein einfaches Mädchen wie ich wird es wohl kaum verstehen.«

Belfontaine blickte sie lächelnd an: ihr eifriges, junges Gesichtchen, ihre krausen, glänzenden Haare, die blauschwarz schillerten; den festen Busen, die drallen Arme und den mädchenhaft schmalen Leib. Plötzlich hob sich Rosalie auf ihre Zehenspitzen und legte ihm ihre Hände verführerisch um den Hals.

»Soll ich dableiben?« flüsterte sie.

Er schüttelte sie ab wie ein Kätzchen und sagte freundlich, aber entschieden: »Du müßtest dich schämen, mein Kind, so lasterhaft zu sein.«

Als sie gegangen war, setzte er sich zu seiner Mahlzeit nieder – ein Mann der Formen, frei und beherrscht, der, wenn er auch mit sich selbst allein ist, nicht den leisesten Anstand verletzt. ›Eigentlich solltest du König von Spanien oder Abt von 445 Montserrat sein‹, hatte Suzette einmal lachend bemerkt, womit sie auf seine der Öffentlichkeit verpflichtete Haltung anspielen mochte, die ihn veranlaßte, stets wie vor Spiegeln, vor einer Rampe, auf offenem Markt, und trotzdem für sich zu speisen; abgesondert, in grenzenloser, undurchdringlicher Einsamkeit. Insgeheim natürlich meinte Suzette seine sämtlichen Lebensäußerungen, vor allem seine Beziehung zu ihr, deren fürchterliche Bewußtheit und Diskretion schon in Schamlosigkeit und verworfene Kälte umschlug – unfähig, sich an das göttliche Spiel der hundert Entschleierungen, an den Wachtraum der Liebe, den Rausch und das Rätsel, sinnenhaft hinzugeben.

Nun also – er aß jetzt; nicht weiter berührt von dem kleinen Zwischenfall mit Rosalie, aber zerstreuter als sonst, schob mit der linken Hand die Papiere näher zu sich heran und las; ersetzte ein Wort durch ein anderes und summte vor sich hin. Nein, weg damit! Dieser neue Begriff sprang unvermittelt aus dem Sonett und fügte sich nicht ein. Er war genau und plastisch – gewiß; aber ein anderes Element vermischte sich durch ihn mit dem Ganzen und machte es unharmonisch. Belfontaine fühlte: nicht nur das Sonett, sondern er selber: auch er war vermischt; mit einem irdischen Stoff vermischt, der ihn durchlässig, dunkel und unruhig machte und ihn an den Anfang zurückwarf – an welchen Anfang? Er wußte es nicht – in die Formlosigkeit und an jenen Ort, wo das Ungeformte [wie Adams Lehm] sich nach Erschaffung sehnte. Ein Seufzer schwellte ihn; unbestimmte und unausdrückbare Wünsche gingen hin und her wie Orchesterstimmen, die sich in Einklang zu setzen streben, anheben, abreißen und aufs neue ihren Klang in das Leere flößen. ›Frühling‹, dachte er leicht verächtlich. Aufbruch und Annäherung der Geschöpfe; der Kreislauf des Wassers in den verjüngten, schwellenden Adern der Erde. Die Luftströme, die einander durchdringen und launische Wirbel bilden, und der taumelnde, blinde Anflug der Bienen zu tausend Blumenschößen, die sie, ohne zu wissen, befruchten müssen, weil die große Mutter es will. Frühling – aber wie lange schon hatte er keinen Frühling mehr, wenigstens so nicht, empfunden: so bedeutungsvoll; als ob mit dem Frühling ein anderes Wesen, das nicht ›Natur‹ hieß, nicht ›Schöpferkraft‹ oder ›Erneuerung‹ 446 schlechthin, nach seinem Wesen suchte. Also doch Vermischung? Nein, – nicht Vermischung, sondern das Gegenteil. Ein Unaussprechliches, Unbekanntes, ein vollkommen Anderes – aber ach, auch diese Bezeichnung genügte noch nicht, dachte er hoffnungslos. Ein Schlagschatten über den Weg der Welt. Ein Schwert, das mitten durch sie hindurchging und quer zu allem lag. Ein Ärgernis für Gefühl und Vernunft. Undeutlich; aber nicht, weil es unklar, sondern weil die Entfernung – aus der es beide ansprach, vernichtete, aufhob – eine unendliche war. Dieses Unaussprechliche suchte ihn, während er vor ihm floh.

Hastig warf Belfontaine seine Blätter wieder zusammen, verließ das Zimmer und eilte auf die Straße.

»Nicht so rasch, Herr Belfontaine, nicht so rasch«, rief eine Stimme ihm nach, und die Hand des Küsters François legte sich ihm auf die Schultern. »Nein, nein – warum erschrecken Sie so?« fragte er heiter und fügte hinzu: »Ich verfolge Sie schon eine ganze Weile; eigentlich schon seit dem Vormittag, als Sie ins Pfarrhaus, kamen. Jawohl: verfolgen ist der richtige Ausdruck oder beschleichen, wenn Ihnen das lieber und weniger unbequem ist. Allerdings mit sehr harmloser Absicht, nämlich nur, um eine Frage zu stellen, die Sie mir sicher beantworten können, denn Sie sind ja Fachmann dafür . . .«

»Wofür? Für die Masken des Satans?« fragte ihn Belfontaine schroff.

»Aber nein«, erwiderte jener betroffen. »Doch, um bei diesem Ausdruck zu bleiben: für die Masken der Natur, wie ich glaube. Für Kakteen und Blumenzucht.«

»Wieso: der Natur? Na, einerlei«, sagte Belfontaine merklich entspannt. »Um was handelt es sich dabei?«

»Sie wissen, ich veredele gern«, erwiderte François, »vor allem Rosen und Apfelbäume. Das ist meine Liebhaberei. Aber seit einiger Zeit will mir dieses Geschäft nicht mehr glücken, wenn ich im Mai das treibende Auge auf das schlafende okuliere. Wie soll ich mir das erklären?«

»Dann okulieren Sie eben, mein Lieber, auf das treibende«. sagte Herr Belfontaine. »Jeder, wie es ihm paßt. Handelt es sich denn um Bäume der gleichen Art – oder?« 447

»Durchaus nicht. Und auch ihr Standort, sehen Sie, ist verschieden«, fing François von neuem an und begann umständlich über den Unterschied seiner Ergebnisse zu berichten; über die Art, wie er vorgegangen und worin, seiner Meinung nach, der Grund für seine Fehlschläge lag. Herr Belfontaine hörte mit halben Ohr zu.

»Soso. Wohl möglich . . . schon denkbar«, warf er merkwürdig abwesend ein.

»Langweile ich Sie?« fragte plötzlich der Küster.

»Nein, nein. Doch, wäre es nicht gescheiter, einen zünftigen Gärtner zu fragen?«

»Sie haben recht. Doch der zünftige Gärtner müßte dann auch die Voraussetzung kennen, aus der meine Frage entspringt. Dieser zünftige Gärtner – – Rabboni!« sagte er unvermittelt und blieb mit glühendem Ausdruck, der etwas gefährlich Wildes hatte, vor seinem Begleiter stehen. »Setzen wir uns.« Sie waren inzwischen bis zu dem Schloßpark gekommen, der Küster lenkte Belfontaine fast gewaltsam zu einer der Bänke und drückte ihn nieder, während er weitersprach. »Die Voraussetzung für meine Liebhaberei ist die Weltanschauung, Herr Belfontaine, die ihr zugrunde liegt. Ja.«

»Also doch!« dachte Belfontaine. »Gott im Himmel, und deshalb verfolgt er mich. Abbé Le Roy hatte recht.«

Der Küster lehnte sich weit zurück, sein harpyenhaft ausgezehrtes Profil stand scharf und kühn in die Luft. »Sie kennen ja wohl das Pauluswort, daß die Natur noch immer in Wehen liegt und um Erlösung bittet?« fragte er Belfontaine. »Man muß ihr also zu Hilfe kommen. Verstehen sie mich recht. Okulieren – was ist das anderes, als daß wir ihr helfen, Herr Belfontaine, wieder wie vormals zu werden. Paradiesisch. Ohne Makel und Fehl, wie der Schöpfer sie einmal gewollt hat. Im Grunde müssen wir also dem Schöpfer zu Hilfe kommen und ersetzen, was an der Schöpfung mangelt, seitdem sie gefallen ist; nicht anders, wie wenn Sankt Paulus sagt: ›Ich ersetze in meinen Gliedern, was an Christi Leiden noch fehlt.‹ Beide wenden sich an den Menschen: die Natur, die jetzt durch den Menschen ihre Natur verändern und himmlisch werden möchte, und Gott, der sein Werk der Erlösung in ihm zu vollenden 448 wünscht. Über diese Dinge, Herr Belfontaine, habe ich nachgedacht – nicht gestern oder heute, sondern schon lange Zeit.«

»Gott . . . bittet?« fragte Herr Belfontaine in grenzenlosem Erstaunen. »Wie wäre das denkbar, mein guter François, wenn er wirklich der Schöpfer ist?«

»Er bittet nicht nur – er läßt sich herab! In unser Fleisch, in unsere Glieder, die ständig gegen ihn kämpfen. Er verdemütigt sich bis zur Gleichförmigkeit und verkauft sich in unsre Natur. Dieser bittende Gott – – in der Predigt von Petrus Chrysologus heißt es: ›Wenn meine Gottheit euch zu erhaben ist, ach, so erkennt mich doch in dem Fleisch. Betrachtet in mir euren Leib, eure Glieder, euer Herz und euer Gebein! Und wenn ihr dann immer noch vor dem zagt, was göttlich ist: warum liebt ihr dann nicht eure eigne Natur?‹«

»Das sind antike Gedanken, François«, erwiderte Belfontaine. »Und wenn Sie schon so belesen sind, nun, dann müßten Sie wissen, daß jeder Myste, der nach Vergottung strebt, ähnlich denkt. Jeder Mithrasjünger und jeder Sohn der eleusinischen Mutter würde genau so sprechen wie Petrus Chrysologus.«

»Nicht so – liebevoll. Nein. Aber selbst, wenn das wäre, so ist doch diese Erlösungsbitte einmal wirklich geworden, Herr Belfontaine. Nicht in den eleusinischen Mysten, sondern in uns; in Ihnen und mir; nicht damals nur, sondern jetzt und heute; und jede Rose, die ich bemüht bin zu veredeln, lieber Herr Belfontaine, setzt jenes Erlösungswerk fort. Wer nicht Priester werden konnte, wie ich«, sagte der Küster nachdenklich, »mußte wenigstens Gärtner werden. Denn auch der Gärtner ist, richtig verstanden, Gottes Stellvertreter auf Erden. In dem Wunder der mystischen Rose wird die Natur konsekriert.«

»Gehen wir«, sagte Herr Belfontaine hastig. »Meine Frau erwartet mich. Wenn Sie wollen, beantworte ich Ihre Frage lieber ein anderes Mal. Diese Frage nach der ›Natur der Natur‹, wie ein Bekannter von mir sich vor Jahren ausgedrückt hat.«

»Die Natur der Natur.« Der Küster leuchtete auf. »Das ist es. Man könnte auch sagen: das Mysterium an und für sich. Die Wiedergeburt. Die Taufe, Herr Belfontaine. Leben Sie wohl.« Er wandte sich ab und kehrte noch einmal um. »Wissen Sie«, fragte François durchtrieben, »was schon immer mein größter 449 Wunsch war, wenn ich am Taufbecken ministrierte, bester Herr Belfontaine? Dieses Erlebnis noch einmal mit dem Geist eines voll erwachsenen Mannes vollziehen zu dürfen.« Er zuckte die Achseln. »Doch das bedeutet, daß ich ein Mohammedaner wie unsere Kolonialsoldaten oder ein Jude gewesen wäre, und beides trifft nicht zu.«

»›Leider‹ müssen Sie jetzt noch sagen, um Ihre abstrusen Wünsche glaubwürdig erscheinen zu lassen«, erwiderte Belfontaine. Was der Küster ihm geantwortet hatte, war Belfontaine entgangen; er sah nur noch, während er schon durch den Gemüsegarten des Schloßparks ging und das Pförtchen zu dem eigenen Anwesen öffnete, die Augen des anderen vor sich: diese meerblauen, scharfen Augen des Küsters und ihr blendendes, aber kindliches Leuchten; das reine Lächeln, welches der Formen, um sich deutlich zu machen, nicht mehr bedurfte und ihn an ein anderes Lächeln flüchtig erinnerte. Das Lächeln des Pfarrers Mathias auf dem Gartenfest vor unendlichen Jahren und das Lächeln Elisabeths, das sie zurückgab; das Lächeln des Glasmalers, das zugleich Drohung aus einer Überfülle von Klarheit und Erkenntnis des Menschen war; dazwischen das gespenstische Lächeln der armen Helene, als sie die Fesseln ihres Leibes im Begriff stand zu lösen, und über dem Wasser des Schwanentempels das entleerte Lächeln der Leda – – War es dies? War es jenes? Er wußte es nicht; nur daß es ihn jedesmal als Verheißung, als die Verheißung von Freude schlechthin, gestreift und getroffen hatte.

Freude . . . Aber war es auch Freude, was ihm kurz darauf in Suzettes Boudoir aus dem Spiegel entgegenkam? Er betrat ihr Zimmer vom Garten her, ein merkwürdig unverspieltes und phantasieloses Zimmer mit kostbaren Mahagonimöbeln, deren Tischchen und Aufsätze sämtlich mit Marmorplatten belegt und fast geizig mit sparsamem Schnitzwerk aus kleinen länglichen Kränzen und Schleifchen [als ein Zugeständnis gewissermaßen an das Empire, dem sie angehörten] verziert und bezeichnet waren. Nur ein Ruhebett auf goldenen Füßen zeugte von Üppigkeit; es war reich beladen mit prachtvollen Kissen aus Damast und Sammet, Seide und Spitzen und beherbergte nach der Sitte dieser schrecklichen Jahre als Dauergast einen Pierrot 450 mit schlenkernden Gliedern, einer Pfauenfeder am schwarzen Käppchen und lasterhaftem Mund.

Der plötzlichen Hitze wegen waren die Jalousien zur Hälfte heruntergelassen, doch leckte die stechende Nachmittagssonne mit zitternder Zunge über den Teppich und umspielte die nackten Füße Suzettes, die vor dem Kaminspiegel stand. Wahrscheinlich hatte sie sich entkleidet, um sich, der Jahreszeit angemessen, sommerlich umzuziehen, und war darüber ins Träumen geraten, denn den Boden bedeckten Wäsche und Strümpfe, Schuhe und Mieder . . . alles wie eben vom Leibe gerissen und nachlässig hingeworfen, während sie selbst – eine Abart von weiblichem Narziß – mit ihrem Spiegelbild lächelte und beide Ellbogen aufgestützt, die umgelegte Kette emporhob, deren Perlen sie durch die Lippen zog: langsam, in tiefe Andacht versunken, ohne sich stören zu lassen. Herr Belfontaine blieb in der offenen Tür, die Suzette zu schließen versäumt haben mochte, wie angewurzelt stehen. Aus dem Schoß des Vergessens tauchte das Bild eines Hauses auf, das er damals erst ahnte, und das nun sein eigenes war: bläulich beworfen, mit Stufen, die man emporstieg; die Frau vor dem Spiegel, vollkommen nackt, beide Ellbogen aufgestützt. Ihr Lächeln vertiefte sich, wurde weicher und gleichzeitig wesenloser; es ging nicht zu ihm, sondern suchte sich selbst und kehrte aus dem Spiegel zurück, dessen Glas den Hauch ihres Mundes empfing, ohne sich zu beschlagen. War es Suzette, war es eine Vision, ein Mittagsspuk, der ihn äffte? Nein, nein. Sie war es. Mit aller Schärfe sah er den kleinen, vertrauten Leberfleck unterhalb ihres Schulterblattes, über den jetzt die Sonne spielte, und an dem Ansatz des Rückens die beiden Venusgrübchen, die mit der wechselnden Biegung der Hüften sich bald schwächer, bald stärker markierten.

»Nun?« fragte sie in den Spiegel hinein, ohne sich umzudrehen. »Ist die Kette nicht schön, Lazare? Ich will mir ein eng anliegendes Kleid mit tiefem Ausschnitt arbeiten lassen, damit ich sie tragen kann. Eigentlich ist das nicht ganz modern, dieses Stilkleid, wie es mir vorschwebt, aber der Schmuck ist die Hauptsache. Nicht? Dieser köstliche, himmlische Schmuck, Lazare, den die Hautwärme erst zur Entfaltung bringt, diese 451 Perlen – –« Jetzt wandte sie sich von dem Spiegel ab und kam langsam auf Belfontaine zu. »Im Grunde müßte man, ihnen zu Ehren, jede Kleidung weglassen, wenn man sie umlegt, jeden anderen Schmuck . . .« Sie spielte versonnen mit ihren sinnlichen Fingern, nahm Ring um Ring von ihnen herunter und warf sie Belfontaine zu; er bückte sich, heftig angewidert von ihren Verführungskünsten, und legte sie sorgfältig Stück um Stück auf eine Marmorkonsole neben dem Ruhebett. Suzette lachte laut. »Zigaretten gefällig? Bediene dich, es geniert mich nicht, und gib mir auch selber Feuer.«

In dem halbdunklen Raum – die Sonne mußte sich plötzlich verfinstert haben und hinter die Wolken gegangen sein – sah er den Lichtschein des Streichhölzchens grell und heftig über den Perlenschmuck blitzen und von den stachelbeergrünen Augen der Frau zurückgeworfen werden. »Wer hat dir die Kette verkauft, Suzette?« fragte er mißtrauisch. »Solch ein Stück findet man nicht auf der Straße.«

Sie wandte sich achselzuckend ab und warf sich, die Beine leicht angezogen, auf das Ruhebett; nahm den Pierrot in den Arm und blies nach der Pfauenfeder. »Das weiß ich selber nicht, lieber Lazare. Ein Händler hat sie mir angeboten, der sie seinerseits wieder von einem Dritten in Kommission bekam. Wahrscheinlich aus Familienbesitz. Irgend ein armes, adliges Luder wird Geld gebraucht haben. Vielleicht stammt aber auch die Kette von einer alten Choristin der großen Opéra, der sie vor Jahren ihr Freund zum Geschenk gemacht hatte. Eine, die noch Napoleon den Dritten und in der Loge den blendenden Busen der Kaiserin Eugenie erlebt hat – was meinst du zu dieser Version?«

»Du wirst die Kette nicht tragen, Suzette!« sagte Herr Belfontaine finster.

»Oh! Bist du am Ende abergläubisch?« fragte sie spöttisch und kalt. »Perlen bedeuten Tränen, ich weiß. Tränen – –« Sie warf ihre Zigarette in einen Aschbecher, dehnte sich, hob die Arme und ließ die Puppe langsam zu Boden gleiten, während sie weitersprach. »Aber wenn ich nun gern einmal weinen möchte? Wirkliche Tränen? Ich habe schon lange nicht mehr geweint, Belfontaine.« Er blickte Suzette betroffen an; aus der 452 kleinen Majolikaschale mit den Vergißmeinnichtranken, die Suzette als Aschbecher diente, stieg der bläuliche Rauch ihrer Zigarette geheimnisvoll in die Luft. »Zum letzten Mal, als ich wußte, daß Hortense nicht zurückkommen würde; du weißt, Hortense de Chamant, von deren verrücktem Vater ich dieses Schälchen da habe. Sie wäre die richtige Frau gewesen, eine Perlenkette zu tragen, und hatte den stolzesten Nacken, den man sich vorstellen kann. Aber sie hatte keinen Geliebten, der imstande war, ihr ein Geschenk wie diese Kette zu machen; sie hatte überhaupt keinen solchen, und den sie dafür hielt, war ein Schurke, der sie mit unechten Liebesbriefen und einem Medaillon nach Paris und in den Untergang lockte.«

»Man sagt doch –«, warf Herr Belfontaine ein.

»Bah, man sagt vieles. Man glaubt noch immer, daß dieser Lucien Benoît es sei, der die Briefe geschrieben hat . . . [Um so mehr, als er kurz vor dem Weltkrieg von China zurückgekommen war und bald danach wieder dorthin zurückging]. Aber ich weiß es besser.« Suzette zog von neuem die Beine an den Leib, verschränkte die Hände um ihre Knie und starrte vor sich hin. »Gib mir die Jacke dort über dem Stuhl. In der Tasche muß das Medaillon sein, das den Briefen beigefügt war. Sie schenkte mir damals die eine Hälfte: die Versuchung des Hippolyt, weißt du, durch Phädra und Aphrodite. Die andere Hälfte behielt sie selbst. Ich fand sie in Paris.«

»Bist du verrückt?« fragte Belfontaine. »Eine Stecknadel in Paris zu finden, die eine Verschollene trug!«

»O nein – ich fand sie bei dem Verfasser der falschen Briefe, Lazare. Es war mein Vater. In seinen Schüben; genauer gesagt: in dem Leihgeschäft eines gewissen Herrn Quiche, rue Cardinal Mercier.«

»Und daraus willst du schließen, Suzette, daß es dein Vater war, der Hortense zu sich hinüberlockte?«

»Zu sich nicht, Lazare. Welch absurder Gedanke. Aber er wollte uns beide trennen, mich und Hortense, denn er haßte sie, weil sie den Plänen, die er als liebender Vater mit seiner Tochter hatte, im Wege zu stehen schien.«

»Welchen Plänen?«

»Nichts weiter. Nur so.« Suzette schien gelangweilt zu sein und 453 warf jetzt einen Morgenrock über, dessen schwarze, schillernde Seide mit chinesischen Drachen bestickt war; Herr Belfontaine dachte angestrengt nach und fragte dann hartnäckig: »Aber warum ließest du dann den Verdacht auf Benoît, ihr Geliebter gewesen zu sein?«

Sie lachte schmerzlich. »Er war es ja. Er liebte Hortense so unendlich, daß seiner Leidenschaft nur noch der Himmel als Erfüllung genügen konnte. Wer liebt, muß leiden. Hortense machte ihn, und er machte sie so grenzenlos leiden, wie nur bei einer ganz großen Liebe gelitten werden kann. Wenigstens sagt man so. Und ich selbst – – –«

»Du selbst?«

»Ich hatte keinen Anlaß, Lazare, diesen Menschen in Schutz zu nehmen. Es genügte, daß sein Schweigen Hortense vor dem Spott der Menge in Schutz nahm und sie zu einer Märtyrerin machte, deren Ende sogar ein Dichter besang wie dieser Camille Deschâteaux. Nur der alte Chamant, der gleichfalls den Zusammenhang ahnen mochte und dem auch das Medaillon, wie ich weiß, nicht unbekannt war, gibt sich nicht mit dem Märchen zufrieden, das unter die Leute kam. Er sagte mir, erst wenn die beiden Teile des Medaillons wieder zusammenfänden [zusammenfänden in seiner Hand, die noch immer wie die Hand eines Bettlers dem Unsichtbaren entgegengehalten und erwartungsvoll offen sei!] wolle er glauben, daß nicht nur Benoît, sondern zugleich mit Benoît der Himmel seine Tochter gerufen habe. Abwechselnd sprach er von Désirée und dann wieder von Hortense. Wahrscheinlich glaubte er, entweder beide oder keine von ihnen in diesem Zeichen, diesem Schmuckstück zurückzuerhalten, das ihm wie ein Orakel war. Ich hätte ja dem Schicksal schon lange nachhelfen können, Lazare – aber ich wollte nicht. Ich wollte nicht hergeben, was mich noch immer mit Hortense de Chamant verband. Nun ist das vorbei. Ich bin jetzt kein Kind mehr, kein Backfisch, der Briefe und Blumen aufhebt oder ein Freundschaftszeichen wie hier dieses Medaillon. Das wurde mir an der Perlenschnur klar – ob du es glaubst oder nicht. Man kann nicht beides zusammen tragen: dieses Gefühlsding aus der Schatulle unserer Urgroßmütter und den Schmuck einer Königin. Ich werde also 454 Herrn de Chamant –. Ja, so. Um was ich dich bitten wollte: gib Herrn de Chamant heute nachmittag das Medaillon selber zurück. Ich möchte fünftausend Francs von meinem Konto in Chantilly durch dich abheben lassen, und da heute der Alte mit seinem Dogcart sowieso zu den Reitställen hinfährt, um die Stute des jungen Cadot anzusehen, wäre es ganz natürlich, wenn du dich anschließen wolltest. Ein Gruß von mir wird sicher genügen, damit er dich mitnimmt, Lazare. Abgemacht?«

Schmeichlerisch, aber befehlend, streckte Suzette ihm die rosige Hand hin, in der das Medaillon lag. Belfontaine wehrte unfreundlich ab.

»Kein Gedanke. Ganz abgesehen davon, daß mir dieses Geschäft nicht gefällt, Suzette, will ich den Glasmaler heute besuchen, der das Domfenster ausbessern soll. Ich muß also nach dem Wald von Pontpoint. Sprachen wir nicht schon davon?«

»Welcher Glasmaler«, fragte Suzette verblüfft, »wohnt in dem Wald von Pontpoint? Und wo soll seine Werkstatt sein? Doch etwa nicht in der kleinen Kapelle der Johanniter, Lazare?«

»Natürlich nicht. In der alten Behausung von St. Symphorion hat kürzlich ein Mann aus der Schule von Chartres seine Werkstatt aufgemacht – sprachen wir nicht . . . ja, sprachen wir nicht davon?« wiederholte Herr Belfontaine.

»Von solchen Dingen sprechen wir nicht«, entgegnete sie gelassen. »Also schlägst du mir meine Bitte ab, nach Chantilly zu fahren?«

Belfontaine blickte stumm vor sich hin; ein unerklärlicher leiser Schauder, eine panische Furcht, nur geträumt zu haben, eilte ihm plötzlich wie eine Schlange von dem Nacken über den Rücken herunter und war früher schon einmal erlebt und genau so empfunden worden. [›Stellen Sie sich doch bitte vor, daß ich in diesen elenden Dörfern, die gar keine Ausdehnung haben, irregegangen bin . . .‹ entsann er sich, damals gesagt zu haben! Damals – wann war das doch gleich?] »Nein, nein, ich fahre natürlich«, sagte Herr Belfontaine hastig. »Der Werkstattbesuch hat noch Zeit, wenn ich es recht überlege. Gib also das Medaillon her.«

Er faßte Suzette an dem Handgelenk und zog sie zu sich heran. Der verzweifelte Wunsch, zu vergessen und nur noch der 455 Gegenwart zu gehören, warf ihn plötzlich über den halbnackten Körper dieser unaufrichtigen Frau . . .

»Liebst du mich?« fragte er später und suchte mit geschlossenen Augen noch einmal ihren Mund.

»Natürlich. Aber du mußt jetzt gehen«, sagte sie ungeduldig. »Du verfehlst sonst Herrn de Chamant.«

 

Das Dogcart war bereits vorgefahren, als Belfontaine in den Klosterhof trat; ein junger Bursche in lässiger Haltung klopfte dem Pferd den Hals. Der Eisenschimmel, ein junges Tier, tänzelte unruhig in dem Geschirr und schlug mit dem schönen, seidigen Schweif nach ein paar Stechfliegen; gleich darauf erschien, den Havelock umgehängt, die Tasche wie immer über der Schulter, der alte Chamant und winkte dem Burschen, ihm in den Wagen zu helfen. Sein Gesicht war von Schmerzen verzerrt; die Linke, welche das Zigarillo mit großer Mühe festhielt, zitterte stark, doch der eiserne Wille, der ihn unaufhörlich beseelte, vermochte Herrn de Chamant nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern gab ihm außerdem über alle, die ihm irgendwie nahekamen, eine deutliche Überlegenheit.

»Nun?« fragte er von oben herab, doch nicht unfreundlich, Belfontaine und faßte die Zügel an. »Was führt Sie zu mir, mein Freund? Hat Madame einen Wunsch? Er ist schon erfüllt, bevor Sie ihn vorgebracht haben«, sagte er ritterlich.

»Allerdings. Suzette läßt Sie bitten, mich nach Chantilly mitzunehmen. Leider gestatten noch immer die Gesetze nicht, daß eine Französin über ihr Konto verfügt. Selbst wenn sie so tüchtig ist wie meine Frau«, setzte Belfontaine lachend hinzu.

»Kommen Sie. Steigen Sie auf den Wagen. Da ich zufällig heute selbst kutschiere, ist für uns beide Platz. Ich kann mich allerdings nicht verbürgen, daß Sie mit heilen Knochen nach Chantilly kommen, mein Lieber. Das Tier ist sehr feurig und geht noch nicht lange in dem Geschirr – he, Adelaïde«, schrie er befehlend und lehnte sich zurück. Als sie kurz danach aus dem Klosterhof fuhren und Adelaïde ausgriff, sah Herr Belfontaine unter den zierlichen Hufen zahlreiche Funken sprühen. Das Tier, kaum zu zügeln, beruhigte sich erst, als der Wagen das Städtchen hinter sich hatte und auf einen der breiten 456 Waldwege einbog, an denen die Isle de France so reich ist wie an freundlichen Weihern, versteckten Dörfern, Schlössern und Prioreien. Einige Reiter, Männer und Frauen von ungewöhnlicher Eleganz, kamen in englischem Trab an einer Kreuzung vorüber. Die Stute wieherte, wollte steigen und mußte von Herrn de Chamant kürzer genommen werden. Einer der Herren grüßte und rief etwas zu de Chamant herüber, der mit gesenkter Gerte den Gruß erwiderte.

»Brrr – lassen wir Adelaïde wieder zu sich kommen, Herr Belfontaine«, sagte er, bremste und hielt das Dogcart mit ruhiger Kraft auf der Kreuzung an, die soeben die Kavalkade übertrabt und verlassen hatte.

»Wissen Sie übrigens, wer das war?« fragte er Belfontaine leicht und deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo die Reiter verschwunden waren. Ohne auf Antwort zu warten, sagte er trocken: »Ein Halbbruder unseres Küsters François – der Graf von Mortefontaine. Die hübschen jungen Leute in seiner Begleitung, das heißt: seine Söhne und ihre beiden Frauen, müßten eigentlich ›Onkel‹ zu François sagen; aber ich glaube, daß sich der Küster diese Vertraulichkeit ebenso scharf wie das Geld seines Bruders verbitten würde, wenn der Graf es noch einmal wagen sollte, ihm etwas anzubieten.«

»War François früher nicht selber auf dem Schloßgut Mortefontaine?« fragte der andere angeregt. »Als Gärtner, soviel ich weiß?«

»Als Gärtner und Archivar seines Vaters, des alten Mortefontaine«, erwiderte de Chamant. »Als Vorleser, Krankenpfleger zuletzt, blieb der Küster dort bis zu seinem Tode und verließ das Schloßgut erst, als die Söhne seines Stiefbruders groß genug waren, ihn über die Achsel anzusehen und ihm Trinkgelder zuzumuten.«

»François ist sehr stolz?«

»Sehr stolz und sehr klug, wie viele natürliche Söhne, die der lendenlahme Adel des Landes, angefangen von Franz dem Ersten, mit jungem Bauernblut zeugte; mit den schönen und frommen Mädchen des Artois, der Bretagne und der Normandie. Außerdem ist er nicht ungebildet, ein fanatischer Bücherwurm und ein Mensch, der eigne Gedanken hat.« 457

Herr Belfontaine sagte: »In diese Gedanken von durchaus eigener Prägung hat der Küster mich heute ziemlich gewaltsam einzuführen versucht.«

»Eine Ehre für Sie, Herr Belfontaine«, sagte der andere ruhig. »War es wieder sein Lieblingsgebiet: Mysterientheologie?«

»Ich dachte, sein Lieblingsgebiet seien die Masken des Satans«, entgegnete Belfontaine.

Herr de Chamant, von dem spöttischen Ausdruck seines Begleiters leicht irritiert, sah ihn scharf von der Seite an. »Das wird wohl dazugehören, mein Lieber, wenn man irgendwie von den Zusammenhängen zwischen Natur und Gnade redet und von der Geschicklichkeit Satans, herüber- und hinüberzuwechseln; wie ein Falschspieler diese beiden Karten mit der Standardmeinung und dem Aspekt überkommener Theologie zu zinken und jedesmal eine ihnen geschwind dazwischenzuwerfen, sobald sich das Spiel unterstehen sollte, eine neue Ordnung heraufzuführen, mehr noch: die neue Schöpfung, die uns verheißen wurde. Insofern« – er lachte scharf und verächtlich – »ist der Satan heute ein Freund alles Bestehenden, ein Mann der Vernunft, ein Mann der Katheder, der wahrhafte Bürger, der Untertan und der Grundstein unsrer Sparkassen, Kanzeln und Schulen, werter Herr Belfontaine, ob man es weiß oder nicht. Das ist das Ende . . . He! Adelaïde!« Er berührte die Stute leicht mit der Peitsche, sie schoß davon; das Dogcart [ihr nach] sprang fast aus den Federn und schüttelte sich wie ein Vogel, der auffliegen möchte.

»Das Ende . . . wovon?« fragte Belfontaine und starrte vor sich hin.

»Das Ende der Aufklärung. Aber damit auch das Ende jener geschichtlichen Sendung, der unser Land sich, entsetzlich genug, unterfangen hatte – von Blut berauscht, den Taumelkelch in der Hand. Nun«, fuhr de Chamant fast gemütlich fort, »schon Robespierre hat die Vernunft korsettiert und das Scheusal in den Panzer der Tugend und Rechtschaffenheit gezwungen. Was heute bleibt, ist das kalte Symbol der Briefmarkendame, mein Lieber, die ihre tauben, trockenen Körner mit Grazie gegen den Wind wirft – gegen den heiligen Geist.«

Sie fuhren schweigsam weiter; erst später, mit Überspringung 458 mehrerer Schlüsse, die Herr de Chamant inzwischen gezogen haben mochte, sagte er: »Nichts gegen die Vernunft als ein Gut, das Gott geschaffen hat. Aber wir müssen erst Narren werden, um sie wiederzufinden, Herr Belfontaine, und uns von allem entäußern, was wir gewonnen haben . . . nicht zuletzt von uns selbst . . .«

»Was heißt: von uns selbst?« fragte Belfontaine in eingerostetem Ton.

Ohne Antwort auf seine Frage zu geben, deutete de Chamant mit der Peitsche auf ein halbverfallenes kleines Gebäude, dessen Gemäuer über und über mit Immergrün überrankt und von einigen roh gescheuerten Tischen und Eisenstühlen umstellt war, auf deren einem ein alter Mann saß, der mit kindisch zufriedenem Ausdruck in das Sonnenlicht blinzelte.

»Ich meine nicht die Armut an sich, das heißt: das Freisein von irdischen Gütern und geistigem Besitz, sonst wäre dieser Diogenes da das menschliche Ideal. Ich meine auch nicht: zurück zur Natur oder die Neuverteilung der Erde als einen wie immer gearteten, gut ausgedachten, schlecht ausgeführten und teuflisch fälschenden Sozialismus, der sich selbst zum Erlöser macht.«

»Sondern?« fragte Herr Belfontaine und blickte den anderen an.

»Schwer auszudrücken. Nicht, was wir sind, sondern was wir sein werden, Belfontaine, wenn wir durch Gnade oder Gewalt einmal ganz und gar abgeschält worden sind wie die Weidenrute, die sich ein Knabe vom Baum herunterschneidet, um sie als Stecken zu brauchen. Aber so kann nur Gott uns berauben oder der Satan, mein Lieber; besser noch: Gott, der den Satan zu seinem Werkzeug macht.«

»Ich verstehe nicht.«

»Nein – wie sollten Sie auch. Erst wer begonnen hat, zu verlieren, begreift, was er noch hergeben kann. Ich selbst – – zuerst Désirée, dann Hortense – – –« murmelte de Chamant.

Hortense! Wie ein Schlag durchzuckte der Auftrag, den Belfontaine übernommen hatte, sein träumendes Gehirn. Er griff nach der Brusttasche, holte langsam, doch ohne zu überlegen, wie er die Sache begründen sollte, das Medaillon hervor und öffnete seine Hand; Herr de Chamant, gedankenverloren, hatte die Brauen zusammengezogen und blickte geradeaus. 459

Die Stute trabte nun gleichmäßig weiter, das Sattelzeug knirschte, Geruch von Leder und Pferd vermischte sich im Vorüberfahren mit dem Duft der Walderde, Duft dieses Bodens, der seit Jahrhunderten schon ein Garten; dieses Gartens, der schon ebenso lang eine Schöpfung der Menschen war, Schlösser trug und aus dem Gehege der Schlösser entwachsene Blumen, üppiges Gras und verwilderte Edelfrüchte, die durch das Unterholz drangen.

»Tulpen! Sehen Sie!« sagte plötzlich Herr de Chamant mit kindlicher Freude und deutete mit der Peitschenspitze auf einige Blütenkelche. »Eine klassische, eine künstliche Landschaft mit Stolz und Besitzgefühl«, erläuterte er sodann. »Wundert es Sie, daß der große Racine ein Sohn dieser Erde ist?«

»Sie lieben Racine?« fragte Belfontaine rasch.

»Lieben? Oh nein. Einen Shakespeare liebt man; einen Racine kann man bloß bewundern . . . und auch dann nur, wenn man Franzose ist«, schränkte er ritterlich ein.

Herr Belfontaine umkrampfte den Schmuck. »Und seine – – Phädra?« fragte er leise und unter einem Zwang wie ein Mensch, den ein Traum auf die Bühne gestellt hat, ohne daß er von seiner Rolle mehr als das Stichwort beherrscht.

Mit einem Ruck hielt der andere an. »Was sagten Sie eben? Phädra? Phädra und Hippolyt?« Sein aristokratisch beherrschtes Gesicht war wie in Stücke zersprungen und von tödlicher Blässe bedeckt. »Sie haben mir etwas zu sagen?« fragte er dann in brüchigem Ton und blickte Belfontaine an.

»Das nicht. Aber etwas abzugeben.« Herr Belfontaine bot seine Handfläche dar, in der das Medaillon ruhte. »Hier.«

Herr de Chamant, den Havelock öffnend, faßte nach seiner Lorgnette und hob sie an die Augen. Dann fühlte er mit zitternden Fingern nach dem Medaillon, nahm es entgegen und betastete es wie ein blinder Bettler das Geldstück, das er empfangen hat. »Da ist es. Da sind sie – die beiden Teile«, sagte er überwältigt. »Das Getrennte hat sich wieder vereinigt. Die Hoffnung ist erfüllt.« Mit verzücktem Ausdruck betrachtete er die Linienführung, den feinen Schnitt und den figürlichen Reichtum der Gemme und begann als ein Kenner, das Kunstwerk zu 460 loben . . . spielerisch und mit der Nonchalance des alten Edelmannes.

Belfontaine hörte ihm aufmerksam zu; erstaunt und erleichtert, daß seine Rolle so plötzlich ausgespielt war; Adelaïde schlug mit dem Schweif, trat hin und her und bewegte den Wagen zu einem kleinen Gebüsch hin, wo sie zu grasen begann.

»Von wem haben Sie –? Nein. Sagen Sie nichts«, unterbrach sich Herr de Chamant. »Ich glaube, ich ahne es.« Er wandte sich ganz Herrn Belfontaine zu und packte ihn am Arm. »Sie haben Pater Benoît gekannt? Den ›Engel des Internierungslagers‹, wie man ihn allgemein nannte?« fragte er drängend und rauh. »Erinnern Sie sich an ihn?«

»Ich – erinnere mich«, sagte Belfontaine. Eine wolkenhaft flüchtige Impression zog zart [bald verschwommen, bald schärfer umrissen] an seinem inneren Auge vorüber und gab den Blick auf ein Antlitz frei, das wie eine Landschaft, ein Himmel darüber und ein breiter, unermüdlicher Strom mit erhabenen Ufern war. Zuletzt aber war es ganz einfach Benoît mit den schlichten, liebedurchglühten Zügen und den scharfen, graublauen Augen, vor denen sich nichts verbarg. Oder war es Daniel? Wie sagte Chamant? Er nannte ihn ›Engel‹. Den ›Engel des Internierungslagers‹, wenn er richtig hingehört hatte.

»Gut.« Herr de Chamant schien befriedigt zu sein. »Sie haben ihn also gekannt. Sie haben an einer Wende gestanden, wo Sie ihn treffen mußten, denn nur ein Mensch an der Wende trifft Lucien Benoît . . . trifft den Engel, der ihn zur Umkehr bewegt. Deshalb nannte ich ihn den ›Engel des Internierungslagers‹; nannten ihn alle so. Nicht, weil er Gutes tat; oh, natürlich tat er auch Gutes; ganz wie die Quäker oder Miß Soundso. Vor allem aber – – er wendete. Vielmehr: er war die Wende schlechthin. Er stand an der Kreuzung. Verzeihen Sie, daß ich so undeutlich bin. Es gibt Schutzengelbilder, wissen Sie: ein Junge, ein Mädchen werden von einem Abgrund durch ihren Engel zurückgezogen, der sie sanft an der Schulter faßt. Der sie umdreht und ihnen den Weg zeigt, welcher nach Hause führt. Wahrscheinlich blieb er als Missionar, was er von Anfang an war. Keiner, der überredet – ach, nein – oder zwingen will, sondern einer, der nichts als dasteht, Herr Belfontaine. 461 Ganz einfach dasteht und wirkt und wendet . . . Aber das wissen Sie ja.«

»Ich weiß gar nichts«, sagte der andere laut. »Ich habe das Medaillon angenommen und jahrelang mit mir herumgetragen, ohne es abzugeben. Wahrscheinlich hätte es wirklich mein Leben wenden können . . .« [Dummes Zeug, was rede ich? dachte er – aber immerhin hilft es mir weiter in dieser Verlegenheit] – »oder das Ihre, Herr de Chamant, wenn ich den Auftrag ausgeführt hätte; aber das tat ich nicht. Ich habe ihn wieder vergessen, nun ja, und erst heute . . .«

»Falsch«, sagte Herr de Chamant. »Warum lügen Sie? Heute ist immer. Und heute –«, er atmete plötzlich aus. Gleich darauf fuhr er nüchtern fort: »Es wird ein Gewitter geben. Sehen Sie nur die Fliegen an, wie toll sie sich gebärden. Arme, kleine Adelaïde, ich hätte sie vor der Fahrt mit Essig abreiben sollen.« Seine Peitsche zuckte nach ihrem Rücken, einige Stechfliegen fuhren auf und ließen sich wieder nieder. »Aber ich wußte ja vorher nicht –. Na, keine Entschuldigung. Das meiste könnte man vorher wissen. Was meinen Sie, Belfontaine? Nehmen wir an, eine Frau verläßt Sie. Zum Beispiel Ihre Gattin, Oder die Tochter. ›Adieu, Papa. Ich komme morgen bestimmt zurück; morgen oder auch übermorgen; ganz sicher bin ich aber am Ende der Woche wieder da.‹«

»Und sie kommt überhaupt nicht? Niemals mehr?« fragte Herr Belfontaine.

»Wo denken Sie hin? Was heißt: überhaupt nicht? Natürlich kommt sie wieder. Sicher nicht gleich und ganz sicher nicht morgen oder auch übermorgen. In gewissem Sinn kommt sie immer wieder. Immer und heute – verstehen Sie? Nein. Nein, das verstehen Sie nicht.«

»Erklären Sie mir! Was soll das heißen: ›in gewissem Sinn‹?« forschte Belfontaine; sein Gesicht drückte Abwesenheit, Langeweile, wenn nicht sogar Überdruß aus. »Und warum hätte man das schon vorher ahnen können?«

»›In gewissem Sinn‹? Ich meine: in Gott. Ist das nun deutlich genug? In Gottes Gegenwart. Wer in ihr lebt, erkennt den Ablauf der Dinge als ein ewiges Immerfort.«

Herr Belfontaine hob erstaunt den Kopf. »Sie sprechen hier 462 etwas aus, de Chamant, was mich eigentümlich berührt. Auch ich verabscheue Gestern und Morgen und lebe die Gegenwart. Allerdings nicht diesen mystischen Zeitraum, den Sie ›Gottes Gegenwart‹ nennen, sondern meine Gegenwart. Jetzt und Heute«, sagte er selbstbewußt.

»Gefährlich, Herr Belfontaine. Sehr gefährlich. Denn dann leben Sie ungeschützt. Ohne die Erfahrung, die Ihnen das Gestern bot, und ohne die Vorahnung, welche das Morgen schon auf uns zukommen läßt. Jeder Blitz kann Sie treffen, jedes Ereignis entscheidend für Sie sein.«

»Ungeschützt, sagten Sie. Nun – und mein Engel?« fragte Belfontaine leise zurück.

Der andere blickte ihn nachsichtig an. »Kennen Sie nicht die Schutzengelbilder, wo das kleine Mädchen, der kleine Junge, bis an die Stelle des Stegs geführt werden, wo er durchbrochen ist? Und hier erst, weder vorher noch nachher, begegnet Ihnen der Engel, um Sie zurückzuführen. Heute. Nicht in dem Heute der Kinder, sondern dem Heute und Immer von Gottes Gegenwart.«

»Und der durchbrochene Steg, Chamant? Das durchschossene Salamanderband in unserer Kathedrale?« fragte Belfontaine mit trockenem Mund und fühlte, daß er imstande war, auf dem hauchdünnen, stählernen Seil des Gesprächs, das ihn weiter und immer weiter weg von seinem Ausgangspunkt führte, wie ein Nachtwandler fortzugehen. »Was bedeutet die Lücke von Brett zu Brett? Die durchschossene Stelle? Das Nichts in dem Ablauf der spielenden Salamander?«

Herr de Chamant riß die Stute so unvermittelt zurück, daß das Tier mit jähem Gewieher hochstieg und das Dogcart sich fast überschlug. »Das Nichts. Sie nennen das Nichts, Belfontaine, und glauben damit Hortense zu nennen, die ›Chimäre‹, wie sie Deschâteaux nannte, dieser Dichter des Nihilismus, wie? Der sie sagen läßt: ›Warum sind wir nicht Nichts? Komm, laß uns Nichts sein, laß uns den Schoß der Natur und der Übernatur verlassen, dieses Geschwätz, dieses Ammengerede von Geburt und Wiedergeburt.‹ Denn Sie sprechen doch von Hortense, mein Freund? Oder sprechen Sie von Benoît? Nein, schweigen Sie. Ich weiß, was Sie fragten und was Sie wissen wollen. Ihnen 463 zu antworten, wäre schwer, wenn ich nicht jahrelang über das Nichts nachgedacht hätte, Herr Belfontaine – eigentlich schon so lange, wie meine Tochter fort ist; vielleicht sogar noch länger, vielleicht seit Désirée –« Er brach ab und biß sich auf den Schnurrbart, ärgerlich über sich selbst. »Hüh – Adelaïde!« Nun faßte er die Zügel und schnalzte mit der Zunge; die Stute setzte sich in Bewegung, fast vorsichtig, nachdenklich, Schritt für Schritt.

»Das Nichts ist der Gegenpol zu der – Gnade, in die es umschlagen kann«, erläuterte Herr de Chamant. »Die Gnade ist Alles, erfüllt und verdrängt und setzt sich an die Stelle von Allem, was bis dahin gewesen ist. Ihr Anspruch ist ein unendlicher: nichts, was außer ihr ist, kann sie dulden; ja nicht einmal die Sehnsucht nach ihr kann neben ihr bestehen. Sie braucht die Leere. Die sprachlose, reine und vollkommen tiefe Leere. Den Äther ohne Schleier und Wolke. Die Wunschlosigkeit, den Schlaf ohne Traum, das Vergessen und Außer-Sich-Sein. Nichts haben, am wenigsten aber sich selbst; ja ein Gefäß sein ist noch zu viel, denn die Gnade ist auch zuletzt das Gefäß, in welches sie sich ergießt. Eine reifende Frucht: was weiß sie von ihrer Fruchtwerdung, Belfontaine? Und unterscheidet sie zwischen dem Fleisch und der Süße, die sie plötzlich erfüllt; an jeder Stelle, in jeder Pore und bis an die Grenzen der Schale, so daß sie jetzt nur noch ›Apfel‹ heißt, ›Birne‹ und ›Aprikose‹? Von sich selbst verdrängt, ist sie ganz sie selbst; von ihrem wahren Wesen erfüllt, kann sie nur noch wesentlich sein. Ist sie Nichts oder Alles? Sie weiß es nicht, so wenig, wie sie den Zeitpunkt kennt, an dem sie zum Apfel wurde, zur Birne, zur Aprikose. Denn sie erstreckt sich nicht in die Zeit, so wenig sich dorthin das Nichts oder die Gnade erstreckt. Das Nichts und die Gnade sind zeitlos – aber nur an und für sich, und wie die Gnade das Nichts verdrängt und es in sich umschlagen läßt, mein Freund, so ist die Zeit die Gnade schlechthin, wiewohl sie nur Heute und Immer ist und ewige Gegenwart. Sie kennen den Ausdruck ›Gnadenzeit‹ oder die ›Zeit der Gnade‹. Heute, mein Sohn, ist die Zeit der Gnade, sagen die Missionare; die Dominikaner, die Jesuiten, die das Missionskreuz ohne Bedenken auf seine ästhetische Wirkung in unsere Kirchen pflanzen. 464 Kein schöner Anblick. Na, nichts zu machen. Die Renovierung unserer Kathedralen durch unsere neuen Gotiker, wie, ist schließlich auch nicht besser. Da kommen die Ställe. Ich setze Sie ab, obwohl Sie eigentlich warten könnten, denn die Stute Cadots zu besichtigen, dauert nur fünf Minuten. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie mit Vergnügen bis zu der Bank; ich habe nichts vor und keine Zeit zu verlieren. Na? Einverstanden? Ganz wie Sie denken. Aber Sie werden sich eilen müssen, sonst stehen Sie vor verschlossener Tür und kommen unverrichteter Sache zu Ihrer Gattin zurück. Ich glaube gar, das wollen Sie auch. Na? Habe ich recht geraten?«

 

»Wenn sich's nur de Chamant nicht einfallen läßt, Lazare wieder mitzubringen«, dachte Suzette beunruhigt und blickte nach der Uhr. »Er könnte sonst leicht zu früh hier sein – aber ich glaube es nicht. Was er dem Alten wohl vorgeschwatzt hat, als er ihm das Medaillon gab? Einerlei. Hauptsache, daß ich das Ding auf gute Weise los bin; dieses Stückchen Vergangenheit. Phädra und Hippolyt werden sich freuen, wieder beisammen zu sein; vielmehr Hortense und Benoît. Eigentlich eine hübsche Rache für die schmachvollen Küsse, mit denen sie mich zum Narren gehalten hat, meine Hortense, die wiederum selbst von dem feinen Lucien mit seinen gefälschten Briefen an der Nase herumgeführt wurde.«

Suzette warf einen Morgenrock über und öffnete die Fenster. »Wie schwül es ist«, sagte sie vor sich hin. »Schwül und langweilig wie alle Sommertage, die ich von Jugend an kenne. Das also ist das Leben einer hübschen, gesunden Frau; ach, was: überhaupt das Leben. Eine Rechenaufgabe, grau und banal. Mancher nimmt einen Schluck Fusel dazwischen oder kaut auf den Fingernägeln, je nach Temperament. Das Ganze ist keinen Schuß Pulver wert, wenn es auch manchmal recht amüsant, ja sogar aufregend ist. Dieser Kerl – wie frech und galant er war; unverschämt stark; man sah seine Muskeln unter dem dünnen Trikot. Ich möchte . . . Was möchte ich eigentlich? Ich weiß es selber nicht. Doch, natürlich. Ich möchte die Perlenkette. Nur die Kette? Jawohl, nur die Kette. Die aber um jeden Preis.« Vor ihren Augen zog feierlich traumhaft ein längst vergessenes 465 Bild vorüber, das dem Giebelfeld einer Kathedrale – welcher? und war es das Giebelfeld oder eines ihrer Portale? – entnommen gewesen sein mußte: die Schar der Verdammten, von einer schweren Kette umwunden, bewegte sich feixend und grinsend dem Abgrund der Hölle zu. Ein Lichtbildervortrag, dachte Suzette, bei welchem Richmond den symbolischen Sinn – bah! dieser ästhetische Krüppel – – sie stampfte mit dem Fuß. »Die Fessel unserer Leidenschaften . . .«, hörte sie Richmond salbungsvoll sagen und lachte plötzlich auf. An dieser Fessel wurde sie also in die Hölle hinabgeführt; das heißt, in der Hölle war sie ja schon und zwar seit geraumer Zeit. Nun sollte sie endlich ihr Abzeichen tragen, diese Kette, an der es deutlich wurde, wessen Braut sie war, Suzette Belfontaine, geborene Bonmarché. Die Kette gehörte ihr. Umgekehrt: sie gehörte der Kette, sie war ihr verfallen, niemand und nichts konnte sie von ihr trennen; es sei denn, der Satan selbst forderte sie zurück. Blitzartig fühlte, schmeckte, ertastete die Besessene ein Gesetz der Hölle: daß ihre Gunst, genau wie die Gunst des Himmels, immer wieder aufs neue verliehen und erst mit dem letzten Atemzug endgültig erworben wurde. Also starb sie vielleicht an der Kette, wie? dachte sie furchtlos weiter. Vielleicht an dem Besitzer der Kette, der nicht zögern würde, sich seinen Raub wieder zurückzuholen, um ihn aufs neue in Geld umzusetzen und das gefährlich berauschende Spiel von vorne anzufangen. Bah, Einbildung. Dieser arme Teufel würde glücklich sein, ohne Scherereien mit Polizei und Gesetz und so weiter zu dem gewünschten Handel zu kommen, und sich dann aus dem Staube machen. Sie gähnte und hob ihre üppigen Arme, verschränkte die Hände hinter dem Nacken und prüfte, während der Morgenrock, von keinem Gürtel gehalten, sich teilte, ihre gestraffte Brust. »Ich werde zuzahlen müssen«, sagte sie plötzlich laut; ihre Sinnlichkeit, von der Erkenntnis befeuert, daß sie selbst als Draufgabe gelten würde, löste sich keinen Augenblick lang von dem rechnerischen Verstand . . ..

»Suzette, wo steckst du? Ich muß jetzt gehen«, rief Léontines Stimme von draußen. »Es ist bereits siebzehn Uhr. He, hörst du nicht?«

Die Schritte der Tante näherten sich mit gewichtiger Eile; sie 466 hörten sich wie der derbe Gang eines Dragoners an, der sich Mühe gibt, leise zu sein. Suzette schlüpfte rasch in ihre Pantoffeln und öffnete die Tür.

»Verzeihung«, sagte die Tante geniert und streifte mit verschüchtertem Blick den Anzug ihrer Nichte. »Du hast wohl geschlafen, mein Kind?«

Suzette, wie immer gepeinigt von ihrer grundlos devoten Haltung, wollte schon eine freche und ungeduldige Antwort geben, als sie sich plötzlich besann.

»Durchaus nicht«, sagte sie liebenswürdig. »Das Zimmer ist zu heiß. Überdies hat Néans mich gebeten . . .«

»Néans!! Néans! Dieser faule Schlingel packt dir sämtliche Arbeiten auf«, empörte sich die Tante, erleichtert, nicht gescholten worden zu sein. »Du kommst zu nichts anderm, kein bißchen Vergnügen«, – ihr Blick streifte rasch den zerfetzten Stoß einiger Schundromane zu Füßen des Ruhebetts – »aus lauter Pflichtgefühl. Na!!«

»Richtig«, erwiderte spöttisch Suzette. »Andere Leute besuchen Konzerte oder Vorträge über den ›Geist der Romantik‹, während man hier über Zahlen schmort, Formularen und ähnlichem Zeug.«

«Aber, Liebste, – du hättest demnach Interesse«, rief Tante Léontine.

»Demnach. Aber nicht an Richmonds Geschwätz«, erwiderte Suzette, »sondern an einer Tasse Tee und etwas gebuttertem Toast. Wie lange dauert der Unsinn heute, und wann wirst du zu Hause sein?«

Léontine, aufs tiefste für ihren Liebling, den edlen Graukopf Richmond gekränkt, strich sich die Hüften herunter. »Du bist respektlos, mein gutes Kind«, sagte sie würdevoll. »Wenn du wissen willst, wann ich zurück sein werde: Das hängt natürlich von dem Ausgang der Diskussion ab, die sich heute anschließen soll.«

»Aha. Von der Diskussion. Ich verstehe«, sagte die Nichte sanft.

»Und worüber werdet ihr diskutieren?« fragte sie todernst.

»Nun, das ist verschieden.«

»Natürlich.«

»Jede Dame bringt irgend ein Zettelchen mit, worauf die Frage 467 vermerkt ist, die Richmond beantworten soll. Manchmal bezieht sie sich auch auf das Thema, worüber die Vorträge gingen, aber meistens ergibt sie sich aus dem Bedürfnis, den eigenen Inspirationen zu folgen, die der Grundton ausgelöst hat. Man lockert sich, löst sich ab von dem Drang, alles wortwörtlich zu nehmen; man verliert das Schwergewicht seiner selbst«, sagte die dicke Tante emphatisch, »und gibt sich hin an die innere Stimme, die von dem Tageslärm überdeckt war; man fängt zu schweben an, liebe Suzette, immer höher, ach, bis in jene Gefilde, wo Frage und Antwort zusammenfallen und jedes Geheimnis zur Offenbarung eines noch höheren wird.«

Suzette, mit leicht geöffnetem Mund, starrte sie sprachlos an. »Und auch du hast ein solches Geheimnis, he?« fragte sie wißbegierig.

Der mächtige Busen von Frau Léontine wogte angeregt auf und nieder. »Gewiß, mein Kind. Aber ich fürchte, ich langweile dich damit. Es ist nichts Reales. Nur ein Gedanke, den ich schon lange verfolge.«

»Ein Gedanke. Wirklich, sehr interessant«, sagte Suzette verständnislos und bereute schon ihre Frage.

»Stelle dir, bitte, ein Karussell vor«, sagte Frau Léontine, »das sich mit allen Figuren an dir vorüberdreht. Zuerst ein Schimmel, hernach ein Brauner, ein Rappe, ein Pferd mit silbernem Sattel und eines mit purpurrotem. Du hast soeben den Jungen fixiert, welcher den Schimmel reitet, wie er dahinfliegt und sich zurück nach dem folgenden Reiter wendet. Dieser Braune – von dir aus gesehen ist er der Folgende, aber von seinem eigenen Gesicht her kann er ebenso gut der Anführer sein, dem alle übrigen folgen, und der Schimmel ist jetzt der erste nicht mehr, sondern der letzte in einer Biegung, die der Braune begonnen hat. Jeder ist Anfang und Ende zugleich – aber was er ist, hängt von dem Zuschauer ab, der ihm den Namen verleiht.«

»Und das soll dein ganzes Geheimnis sein?« fragte Suzette gereizt. »Das kommt davon, wenn du zu denken anfängst. Ein Karussell! Mir dreht sich der Kopf. Warum soll ich mir ein Karussell mit bunten Holzpferdchen vorstellen, hm? Und was ist daran rätselhaft?«

Die Tante sah sie geängstigt an; ihre verfetteten, roten Backen 468 verstärkten das Bild einer alten Frau von ungewöhnlicher Torheit, die sich bis zur Narrheit in einen Gedanken, der über sie hinwegging, verrannt hat und voll Schwermut einsieht, daß sie gar nichts erklären kann. »Ich meine damit – – das Geheimnis der Führung«, begann sie endlich zu stottern. »Der Vorsehung, der Vorherbestimmung, kurzum der Weltregierung«, platzte sie dann heraus. »Regiert Gott allein oder mit den Menschen, und braucht er ihren Willen dazu und ihre Gebete, die er erhört, weil sie vorherbestimmt waren, von ihm angenommen zu werden? Er steht draußen und sieht, wie die Pferde sich drehen; er weiß, daß, was uns zu kommen scheint, bereits das Vergangene ist; das Erste das Letzte; das Letzte der Anfang und der Anfang wieder das Ende, ganz wie es ihm gefällt. Dreht sich die Welt nur immer im Kreise oder kommt sie, indem sie weitergeht, zuletzt auf sich selber zu?«

»Ich glaube wirklich, du bist verrückt«, sagte Suzette brutal. »Was hat dieses Philosophieren für einen praktischen Sinn? Denkst du nur einfach ins Blaue hinein, oder meinst du etwas Bestimmtes mit deiner Spinnerei?«

»Gib acht, ich will versuchen, Suzette, dir klarzumachen, wie wichtig es ist, darüber nachzudenken«, sagte die Tante erhitzt.

»Du wirst zu spät kommen.«

»Einerlei. Dieser Augenblick ist zu kostbar, um ihn ungenützt verstreichen zu lassen«, rief Léontine aus. »Nehmen wir nur, um dieses Geheimnis zu erläutern, den heutigen Tag. Belfontaine hat das Haus verlassen, um, wie er mir beim Weggehen sagte, sich Herrn de Chamant anzuschließen. Aus Zufall? Aus Laune? Durchaus nicht. Er übergibt ihm ein Medaillon aus dem Besitz von Hortense.«

»Unsinn! Das Schmuckstück gehört zur Hälfte mir selbst . . . und zur anderen Hälfte – – aber wozu erkläre ich dir das eigentlich? Er übergibt ihm den Schmuck, und basta. Was ist daran rätselhaft?«

»Der Zusammenhang. Verstehe mich recht. Daß es heute geschieht und nicht gestern geschah. Daß Belfontaine diesen Schmuck überbringt und nicht Lucien Benoît, wie man logischerweise von Gottes Vorsehung annehmen sollte, wenn die Vorsehung logisch wäre wie ein Theaterstück. Denn Benoît war 469 schließlich der Anfang von allem, was geschehen ist: daß Hortense davonlief und du hinterher; daß du später das Pfandleiherwesen und die doppelte Buchführung lerntest, dein schwärmerisches Wesen verlorst und Belfontaine heiratetest. Nein, sage nicht ›papperlapapp‹, mein Kind. Der Zusammenhang geht noch weiter, noch hinter Benoît zurück. Er ist der Knoten in dem Gewebe, den man erst aufschneiden muß, um hinter das Ganze zu kommen; doch wer die Schere hält, bist nicht du, geschweige Lazare Belfontaine.«

»Ich finde«, fauchte Suzette sie an, »deine Neugier geht seltsame Wege. Anstatt dich wie früher damit zu begnügen, in meinen Kassetten zu stöbern und meine Briefe zu lesen, oder mir unter die Bluse zu greifen und zu fühlen, wessen Medaille ich trage, kommst du mir jetzt philosophisch und hoffst, mir Erklärungen abzulisten, die auf dein allgemeines Geschwätz mit Tatsachen antworten werden. Natürlich«, fuhr sie hemmungslos fort und fiel in einen schreienden Tonfall von unangenehmer Schärfe, der gleichzeitig etwas Jammervolles und entsetzlich Trostloses hatte, »natürlich ist heute [und nicht etwa gestern!] ein ganz besonderer Tag. Natürlich kommt heute ein Liebhaber zu mir, den ich gestern noch nicht gekannt habe, ha! Natürlich erfahren wir alle heute, daß wir wie Spinngewebe und Spuk auseinandergehauen werden: Lazare und ich, ich und Hortense, Hortense und ihr Vater –«

Sie schrie und keifte noch immer weiter, als die Tante schon längst das Zimmer verlassen, sich würdevoll aus dem Umkreis ihrer Beleidigungen entfernt und Herrn Richmond aufgesucht hatte. Erschöpft und von ihrem plötzlichen Ausbruch auf seltsame Weise benommen, sank Suzette auf das Ruhebett nieder. »Was gibt man einem Matrosen zu essen?« fragte sie ihren Pierrot. Die Puppe grinste sie traurig an und flog gleich darauf in die Ecke. »Ach was – es wird ihm wohl einerlei sein«, fuhr Suzette in ihrem Selbstgespräch fort und erinnerte sich an die Bewegung, mit der der Bursche, schamlos und kalt, seine Taschen umgedreht hatte. »Ich habe ein Töpfchen Ingwer da, Salzmandeln und kandierte Früchte; ein paar Kekse finden sich noch. Dazu einen Südwein, ölig und schwer, den man eigentlich kaum einem Menschen unverdünnt zumuten kann. Aber wir 470 werden ihn unvermischt trinken; Süßes und Scharfes dazwischen essen, ganz wie es uns gefällt.« Sie schnalzte genießerisch mit der Zunge, flüchtig durchschauerte sie der Gedanke, ein gefangenes Fischweib habe soeben mit dem silbernen Schwanz geschlagen . . .

 

»Heda, wohin mein Kind? Nur nicht so eilig. Deine Arbeit läuft nicht davon«, rief der Matrose von einer Bank aus der kleinen Blumenbinderin zu, die gerade vorüberkam. »Kennst du mich nicht mehr?«

Sie stutzte und sah ihn argwöhnisch an.

»Nanana? So stolz? Oder noch so dumm?« Blitzschnell streckte er seine Beine der Länge nach aus und warf sich nach vorne, um die Strauchelnde aufzufangen; dann zog er sie mit geübtem Griff, nicht unzärtlich, auf den Schoß.

»Wollen Sie mich wohl loslassen, Herr?« zischte die kleine Zigeunerin leise und versuchte, sich loszumachen. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?«

»Nichts weiter. Aber du kennst mich doch; besinne dich einmal.«

»Ich kenne Sie nicht.«

»Nein? Aber ich kenne dich! Soll ich dir sagen – –?«

»Was?« forschte das Mädel und blickte ihn gleichzeitig furchtsam und bebend vor Neugierde an.

»Na, zum Beispiel, wie du heißest, mein Täubchen.«

»Wie denn?«

»Luise.«

»Falsch!«

»Aber natürlich, wie kannst du Luise heißen! Du heißest Carmen.«

»Mein Gott, woher . . .?« [Eigentlich hieß sie ja auch nicht »Carmen«. Aber sie wünschte sich, »Carmen« zu heißen, seit sie die Oper gesehen hatte. »Carmen« . . . hoch, ja. Also: »Carmen.«]

»Das sagt mir mein kleiner Finger. Der da! Na, sieh ihn dir doch an.«

Die Kleine blickte gehorsam hin, der Matrose, unverschämt lachend, zog sie fester auf seinen Schoß. »Nein, sei nur ruhig, 471 es hilft dir ja doch nichts. Wenn ich wollte, läge ich heute Nacht mitten in deinem Bett. Aber ich will nicht, du brauchst nicht so ängstlich an deine Medaille zu greifen. Ich will nur verschiedenes von dir wissen, du kleiner Wuschelkopf. Schließlich kennst du doch hier die Leute wie die Blumen, die du zusammenbindest, und kannst mir Auskunft geben. Zum Beispiel –«

»Machen Sie rasch, mein Herr«, sagte Carmen verängstigt und doch geschmeichelt, »Frau Cadot wartet auf mich.«

»Zum Beispiel: von wem waren die Blumen, die du heute zur Post bringen mußtest?«

»Na, von Herrn Belfontaine selbstverständlich«, sagte das Mädel naiv.

»Aha. Von dem Gatten der Postbeamtin. Ein hübscher Mann? Ein galanter Mann?« forschte er spöttisch weiter.

»Hübsch und galant kann man wohl nicht sagen. Aber ein – schicker Mann«, verteidigte sie ihren Trinkgeldkunden mit kindlicher Aufrichtigkeit.

»Reich?«

»Aber sicher. Als Schwiegersohn des alten Herrn Bonmarché!«

»Ja, richtig. Des alten Herrn Halsabschneiders, wolltest du sagen, mein Kind. Also kommt Belfontaine aus Paris? Oder ist er von hier gebürtig?«

»Von hier? Was denken Sie? Nicht aus Paris und überhaupt nicht . . .« Die Kleine druckste, verschluckte sich und fuhr dann im Flüsterton fort: »Ich weiß es ja auch nur durch Zufall wie alles; wenn ich in meinem Bretterverschlag hinter dem Blumenladen ein Arrangement zusammenstelle, verstehe ich jedes einzelne Wort, das Frau Cadot mit den Kunden spricht, und müßte mir schon die Ohren verstopfen, wenn ich nicht zuhören wollte. Herr Belfontaine ist nämlich – ein Boche«, stammelte Carmen, selber entsetzt über ihre Schwatzhaftigkeit. »Einer, der während des Kriegs interniert war und hinterher dageblieben und Franzose geworden ist. Herr Bonmarché hat ihm den neuen Paß und die Postagentur gekauft und dazu seine Tochter gegeben.«

»Aber konnte der reiche Halunke nichts Besseres für sie finden? Seine Tochter ist doch gar nicht so übel, viel jünger wahrscheinlich als dieser Gatte und ein kluges Stück Weiberfleisch.«

»Das ging nicht. Suzette stand in schlechtem Ruf. Sie war mit 472 einem Fräulein befreundet, einer gewissen Hortense de Chamant, die ihrem Vater während des Krieges in den Kleidern der Mutter durchging und seitdem verschollen ist. Auch ihre Mutter war schon so eine und rückte dem Alten mit Offizieren des marokkanischen Regimentes ohne Verabschiedung aus.«

»Das gefällt mir. Das gefällt mir wirklich sehr gut«, sagte der Kerl begeistert. »Und Suzette hat das Fräulein ein Stück begleitet? Oder wie war die Sache?« fragte er aufgeregt weiter.

»Begleitet? Aber, wo denken Sie hin!«, gab die Kleine entrüstet zurück. »Freilich muß sie darum gewußt und ihr bei der Flucht geholfen haben, denn ihre Tante, Madame Léontine, soll sich wie eine Verrückte hinterher angestellt haben, lief herum und erzählte in allen Häusern, es sei ihre Schuld, daß Suzette verdorben und für einen Mann aus guter Familie keine Partie mehr wäre. In diesen Reden kam irgendetwas von einem Gewitter vor, ich weiß nicht recht, hat es die Tante verhindert, auf die Suche nach ihrer Nichte zu gehen, oder verschwand damals Fräulein Hortense unter Blitz und Regen und war geplatzt, als ihr Vater von einer Fahrt über Land am Morgen nach Hause kam – – –«

Die Kleine redete jetzt wie ein Buch in gesteigerten Ausdrücken weiter; erhitzte sich, schmückte aus, was sie wußte, und fügte nach ihrem Kleinstadtgeschmack dem Bukett aus Klatschmohn und Gänseblümchen, aus Parmaveilchen und prätentiösen, tugendhaft steifen Wasserlilien ein paar Zweige banalen Spargelkrauts bei; drehte das Ganze nach allen Seiten und umwickelte es mit dem Urteil des allgemeinen ›On dit‹. Der Matrose hörte schon nicht mehr hin und klopfte gedankenlos seine Pfeife an der Rückwand der Holzbank aus.

»Um wieder auf diesen Boche zu kommen«, sagte er dann, »ich habe durchaus nichts gegen die Boches, mein Kind. Sie sind tapfer und dumm wie die Stiere, und wer es mit ihnen richtig versteht, redet ihnen in ein paar Phrasen Himmel und Hölle auf. Man sagt, sie stehen schon stramm, bevor sie laufen können, und exerzieren auch noch im Bett: rechts, links, marsch, marsch und so weiter. Na, mag sein, daß Herr Belfontaine anders ist, aber wie hat er denn überhaupt diesen Bonmarché kennengelernt?« 473

»Das weiß man nicht«, sagte das Mädel bedauernd. »Es soll eine dunkle Geschichte sein, manche erzählen von Leihgeschäften, die der alte Bonmarché mit den Insassen des Internierungslagers getätigt und die er, gewissenlos wie er ist, durch einen bestochenen Korporal hat ausführen lassen; andere sagen: durch den Geistlichen, der das Lager versorgte und wie Bonmarché aus Senlis war . . . aber das stimmt wohl nicht. Freilich«, sie legte die Stirn in Falten, »ist das der gleiche Benoît gewesen, hinter dem die adlige Freundin Suzettes, diese Hortense de Chamant, her war, und den sie sich in Paris wiederzufinden bemühte. Er war ihr Verlobter, bevor er sich von ihr trennte, um in das Kloster zu gehen. In welches Kloster? Ach, einerlei. Ich glaube, in das der Weißen Väter, die ihre Leute vor allem in die Missionen schicken. Er soll in China gewesen und kurz vor dem Kriege vorübergehend nach Frankreich zurückgekehrt sein. Jetzt ist er natürlich längst nicht mehr da«, schloß Carmen befriedigt ab. »Nur komisch, daß alle Leute noch immer von ihm sprechen und ihn mit der neuen Heiligen in einem Atemzuge nennen; ich meine mit der von Lisieux«, sagte das Blumenmädel.

Ihr Zuhörer, nach Matrosenart, spuckte im Bogen aus. »Ich denke, man nennt ihn mit Fräulein Hortense in einem Atemzug, wie?«

»Mit dieser auch«, sagte Carmen dumm und strebte von seinem Schoß. »Aber genau so oft mit Theresia. Mit der kleinen Theresia vom Kinde Jesu – ach, kennen Sie die nicht?«

Der Matrose schüttelte sich vor Lachen. »Ich kenne nicht alle Mädchen, mein Herz, obwohl ich sehr viele kenne«, sagte er dann vergnügt. »Aber ich glaube, dieser Benoît muß wohl noch einen besonderen Pfiff, ich meine etwas Eigenes haben, damit man ihn nicht vergißt.«

Er schnalzte unverschämt mit der Zunge, die Kleine blickte ihn wichtigtuend aus kreisrunden Augen an und flüsterte dann:

»Die Oberin der Vincentinerinnen sagte einmal zu Madame Cadot, dieser Pater Benoît sei aus unserem Städtchen überhaupt nicht mehr fortzudenken; so wenig wie die Tafel des Marschalls Foch und der Obelisk des erschossenen Bürgermeisters. ›Er beunruhigt alle‹, sagte sie nämlich, ›er würde sogar, 474 wenn sie dem Heil der Seelen und damit der Liebe Gottes hinderlich wären, die Steine der alten St. Pierre und den Glockenturm unserer Kathedrale durch sein Gebet von der Stelle rücken, wie man beim Brettspiel den Springer oder die Dame verschiebt. Er ist ein Beter, das ist sein Geheimnis und die Qual aller Sünder, die dieses Gebet nicht schlafen läßt, Frau Cadot‹ . . . sagte die Oberin.«

 

So aber lautete das Gebet und die Vision des Lucien Benoît, der zu dieser Stunde auf seinem verseuchten Lager erwachte, von Schwarzwasserfieber. und Durst geschüttelt, abgemagert bis auf die Knochen und verzehrt von der Sehnsucht, den eigenen Leib, jeden Atemzug seiner gequälten Brust und die tiefe Ruhe, die sie inmitten ihrer tobenden Schmerzen erfüllte, seinem Erlöser zur Rettung der Sünder und der Ehre des Vaters darzubringen, der ihn und sie gleicherweise für sich erschaffen hat:

»Hier bin ich, mein Gott, hier bin ich. Ich bin ein Bündel aus Schmerz und Feuer, das man mit einem eisernen Haken aus dem feurigen Hof deines Herzens gerissen, mit Wasser übergossen, auseinandergezerrt, geschlagen und mit Füßen getreten hat. Aber ich brenne. Ich brenne weiter und werde nicht aufhören, fortzuflammen, solange noch ein einziger Funke aus meiner Daseinsmitte emporschlägt und nach verbrennbaren Stoffen greift, nach der Materie menschlichen Lebens und dem Windhauch des Geistes, der die Materie samt der Flamme lebendig macht. Ich kämpfe. Ich kämpfe nach Art des Feuers: anscheinend nur um mein eigenes Leben – und reiße das fremde in mich hinein, um es mir ähnlich zu machen; ich verzehre es, schlacke es aus und entlasse uns beide als Licht und Glut. Ich kämpfe und bebe. Schauer des Todes und ein immerwährendes Zittern überlaufen mich, Qualen der Hilflosigkeit und das Bewußtsein der eigenen Ohnmacht, Gefahr der Vergänglichkeit, Schrecken des Endes und das Gefühl der ersterbenden Flamme, die sich leise wimmernd der Erde anpreßt, um gleich darauf wieder emporzuflackern, wenn ein winziger Halm, ein Nichts an Gewährung sie von neuem anfacht und speist.

Mit wem kämpfe ich? Ach, jene Totenerscheinung, die ihr 475 gewaltiges, düsteres Haupt mit dem starren Nacken zu mir emporhob, und der du Gewalt gegeben hast, Gott, mich mit dem Aufgebot aller Schrecken zu vernichten und anzugreifen, setzt von neuem die mächtigen Hände auf meine hilflose Brust. Luther! Er ist es, dein dunkler Sohn, der die Kutte der Augustiner abwarf und sich mit dem Beffchen bekleidete, das sich – grotesk und traurig zugleich – über dem Krötenhals blähte; über der Sprachenverwirrung der tausend und abertausend Stimmen, die nun durcheinandergehen; einander suchen und überschreien, grell, eintönig, trostlos, mit schrecklich verwildertem Echo und nur von sich selbst bestätigt, jede »ex cathedra«, jede »Hier-steh-ich«, jede »Ich-kann-nicht-anders«. Sie betteln und drohen, rufen und schelten und versprechen Himmel und Hölle; sie sinken wieder in sich zusammen wie Gummitiere, denen die Luft, bevor sie es merken, entwichen ist – –, und während sie schweigen, verstummen gleichfalls die großen Litaneien; es verstummt ihr unermüdliches »Bitt-für-uns« und »Erbarme-dich-unser«. »Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt; Lamm Gottes, erbarme dich unser.« Nun schweigt die Masse wie eine Mauer zwischen Mitternacht und Matutina: dunkel, befleckt mit den unkeuschen Zeichen, die Betrunkene auf ihre Steine gekritzelt und wieder abgewischt haben. Wie kalt sie ist, wie verlassen und nutzlos; nicht einmal Mauerbrech mehr, der Gute, oder Cymbelkraut drängt sich durch ihre Ritzen, und nur der weißliche, sauere Ausschlag, der Kirchhofsmauern zu eigen ist, kommt und geht wie Mondlicht auf ihren Quadern, ohne sie zu beleben oder ganz zerfallen zu lassen . . .

Nur einmal noch tönte diese Materie, tönte das Volk, von welchem der Abfall und die Disharmonie der Töne ausging, wie eine Memnonsäule: Johann Sebastian Bach! Die Musik der Deutschen – mein Gott: wie ein Opfer, das sich selbst verzehrt und dich dadurch versöhnt, brachte das Volk sich dar. Dann schwieg es. Hartnäckig, bitter, verdrossen und wütend wie ein Mann, der die Pfeife, welche ihm ausging, zwischen den Zähnen herumschiebt und auf keine Freude mehr hofft. Ach, Freude! Woher soll es sie nehmen? Aus der neunten Symphonie seines Sohnes, der, als er sich vermaß, dieses Feuer vom Himmel 476 herabzureißen, mit Taubheit geschlagen wurde?! Der Titan. Welch ein Sinnbild – wie traurig; wie lächerlich und verkommen zugleich. Ein Riese, der mit gekrümmten Schultern und eingezogenem Nacken später das Vestibül der Häuser und den herrschaftlichen Aufgang zu tragen oder nur zu verzieren bestimmt war . . . Er, und seine Schwester, die Karyatide, welche ich plötzlich herabstürzen sehe, geborsten von einem dämonischen Feuer, dessen Ursache jetzt noch verborgen ist, obwohl sie geahnt werden kann.

Dieser einzelne: was bleibt ihm nun übrig? Er strebt fort von seinesgleichen und hin zu einem höheren Dasein: zu der ersten Etage der Mietswohnung etwa und dem Balkon voll Petunien, die so langweilig sind wie er. Er zerfällt mit dem Nachbarn, und seine gestreifte Markise ist bestrebt, das Geheimnis sorgfältig zu hüten, jenes Geheimnis, das darin besteht, daß er ohne Mysterium ist. Der einzelne mit dem Sammelnamen; jener Herr aus Marseille und Pont-à-Mousson, aus Bad Nauheim oder Köslin – aber wird er denn wirklich für immer ohne Mysterium bleiben? Ach, die Würde des Menschen und sein Beruf bestehen darin, daß er selbst ein Myste und ein Glied an dem Leib seiner Gottheit ist, deren Name ihm eingeprägt wurde. Doch der finstere Name des Satans: wie soll er sich Herrn Schmidt und Herrn Müller, Herrn Lejeune und dem freundlichen, dicken Herrn aus Utrecht, dem trägen Ackerbauern aus Bourges und dem Ölexperten aus Saloniki verständlich machen, es sei denn, daß er aus seiner schrecklichen Tiefe wie ein Korkpfropfen auftreibt . . . banal und munter und mit blökender Zuversicht, mit Versprechungen und dem uralten Zuruf der blendenden Engel beladen: eine große Freude zu sein. Freude! Wer sie zuerst verspricht, wird der Herr dieser traurigen Menge werden; ihr Abgott, dem sie mit Zymbeln und Flöten und den Pauken vor ihren Spitzbäuchen folgen – besinnungslos, ohne danach zu fragen, wohin er sie führen wird. Wie einen Magneten wird er die Freude in das Gewimmel der Allzuvielen unter den grauen Eisenstaub werfen, der sich zusammenschließt, Formen annimmt und neue Figuren bildet; die Ordnung des Satans, eine genaue und höchst pedantische Ordnung, die jeder Freiheit entbehrt. 477

Dein Engel, o Gott, erblickt sie bereits und nach ihm jenes deiner Geschöpfe, das ihm am ähnlichsten ist: der Flieger, der über dem Rollfeld kreist; über der Windrose in der Tiefe; die aus tausend Fahnen gebildet wird, aus lebendigen Leibern, schwingenden Hüften und miteinander verklammerten Händen, die sich zum Beten nicht falten dürfen, damit die Kette nicht reißt . . .

Da ist sie: die geordnete Masse der unterschiedslosen Termiten; die einexerzierte Bewegung der Armen und ihre brüllende Hymne »Gib uns Brot, Glückseligkeit, Reichtum und Macht! Nimm uns verendeten Protestanten das Denken wieder ab, mit dem wir nichts anfangen können!« Der Titan – nun stößt er die krummen Beine, diese Glieder des vollendeten Menschen, als Möbeltransporteur in den Stuck und bückt sich unter den Treppenaufgang der Phrase aus Sandstein und Papiermaché, aus Lüge und Gewalt. Eine blinde und sprachlose, dumpfe Kraft zieht sich langsam zu einem einzigen Muskel, einem geballten Stück Fleisch zusammen und erinnert sich nicht mehr daran, o mein Gott, dein Ebenbild zu sein. Wie eine gestachelte, haarige Raupe auf hunderttausend Füßen kriecht sie gehorsam und hoffnungslos weiter, sie setzt in ihrer Bewegung nicht einen einzigen Augenblick aus, denn sie bewegt sich – ein riesiges Darmstück – um der Bewegung willen, und ihre Peristaltik erzeugt den Fortgang und Weiterschub allen Kotes, die Wanderschaft ohne Sinn und Verstand, den Quirl des Daseins, die Flucht vor der Ruhe, die Heimatlosigkeit und den Treck. Mein Gott, erbarme dich aller Ketzer und ihrer Häresien! Erbarme dich Luthers, der mit der Freiheit des Urteils begonnen hat und sein Volk in alle vier Winde hinausblies; der Europa wie ein Schlächter zerbeilte und ihm mit dem Vater das Vaterhaus nahm, mit dem Schoß der mystischen Rose die Ruhe und mit dem Sitz der Weisheit die Stelle, wo sie friedlich verweilen darf.

Die jüngste Häresie und der Treck bilden die neue Einheit, in der sich die Masse erkennt. Wer wird sie zu dir, o mein Gott, bekehren? Wer wird sie erlösen von ihrem Fluch, sich dahinzuschleppen auf tausend Straßen, mit Matratzen, Tiegeln und Töpfen beladen, keuchend unter der Last des Holzes, das ihre 478 Speisen kochen, und der Hacke, die ihre zerfallene Wohnung nach Hausrat durchwühlen wird? Wer gibt diesem Land wieder neue Klöster des Stillschweigens und der Anbetung, Herr? Wer schenkt ihm das Bedürfnis zu spielen in der Art, wie die Weisheit am Anfang spielt, ehe die Schöpfung war? Wer verwandelt das fürchterliche Gebilde aus lauter Zweck, o mein freier Gott, in pure Nutzlosigkeit? In reinen Lobgesang jede Bitte, und jeden Mangel in ein Gefäß, das mit Ursprung angefüllt ist; mit Nichts an Gegenwart, Nichts an Zukunft und Nichts an Vergangenheit?

Um was bitte ich also? Um welche Gestalt beschwöre ich dich, meinen Schöpfer, der nach dem Wort des Propheten die Welt wie einen Mantel zusammenrollt, wenn ihr Ende gekommen ist? Ich bitte dich um den Bettler, Herr. Um den Bettler aus Freiheit, den Bettler aus Liebe, den Bettler aus Freude; den tausendfältigen Bettler der künftigen Christenheit. Mein Gebet soll sich an ihm festbeißen, Herr, wie ein unbarmherziger Angelhaken, der ihn nicht mehr loslassen wird. Gib mir einen für viele, nur diesen einen, der jetzt noch mit der Menge der Fische zum Laichen hinunterzieht. Gib mir den magersten Hering! Nein! Gib mir einen, den du noch weniger nutzlos und wertloser noch als den Hering gemacht hast; den du ganz entblößen willst wie einen Sklaven, der sich selber nicht mehr gehört. Nimm ihn und schenke ihn mir, mein Gott, wie eine Mutter, die Erbsen ausliest, die schlechtesten ihrem kleinen Mädchen, das danebensteht, in sein Töpfchen schenkt; wie eine Glasscherbe, welche die Kinder an der nächsten Ecke schon wieder aus den Händen verloren haben; einen Spielpfennig, dessen Aufdruck nicht mehr wert ist als er selbst. Laß uns tauschen, Herr: mein gelebtes Leben, meine Mühsal, das Brandopfer dieses Daseins gegen den Taugenichts; gegen den Bettler, den Heiligen Wertlos, den Sankte Niemand und Nichts. Wie ein Rinnsal, das sich in heißen Sommern zwischen Kieselsteinen verliert, laß mich einmünden in das Bachbett des Bettlers; laß mich der Faden sein, der es benetzt und imstande ist, es mit Wasser zu füllen, wenn deine Gnade wie Regen auf es herunterstürzt. Er verzeihe mir, daß ich ihn jetzt aus der Masse herausbeten muß; daß ich, um ihn zu fangen, mich mit dem ganzen Gewicht 479 meines Leibes gegen die Angelschnur stemme, die ihn herausziehen wird. Ach, ich fühle schon, wie er zittert und bebt, wie er sich wehrt, verzweifelt und angstvoll, und ich höre das zischende Brausen der Woge, den Wirbel des Wassers, das Donnern der Sintflut, die ihn mystischerweise aufs neue gebären und ihn auswerfen wird wie Jonas, der zum Zeichen gesetzt worden ist . . . Meine letzte Kraft geht in diesem Gebet, mein letztes Blut in der Wunde, die ich ihm schlage, dahin. Nichts weiter werde ich später noch sein, als ein kranker und müder Mann aus den Tropen: der gescheiterte Missionar Benoît in dem Hospital in Senlis. Ich werde die Kinder Fang spielen sehen, und die chinesische Schattenzeichnung der langgestielten Platanenfrüchte mit meinen Augen verfolgen, wenn der Wind sie an sonnigen Spätherbsttagen über dem Pflaster wiegt – –. So löse ich mich ab von dem Dasein: schicksallos und zufrieden, daß mich keiner mehr haben will . . .«

 

Als Belfontaine unverrichteter Sache aus Chantilly zurückkam – er hatte die Lokalbahn genommen und an einem der Schlagbäume unterwegs Herrn de Chamant überholt – war das Wetter schon umgeschlagen. Der Horizont hatte sich ringsum verhängt, auf den bläulich schillernden Wiesen schien der Druck der Atmosphäre zu lasten und ihre Feuchtigkeit niederzuhalten, um sie von unten her, quirlend und bräunliche Blasen bildend, als Grundwasser auszutreiben; ein hohles Stöhnen, noch weit entfernt, ging durch die mächtigen Sykomoren, die über die Schloßmauern hingen, und die Steine, regungsloser denn je an den Zustand der stummen Materie gefesselt, öffneten ihre Poren zu dem lautlosen Anruf der Kreaturen, denen die Sprache versagt ist, wenn kein Menschenblick sie berührt. Die Straßen, eben noch gegenwärtig und von Handel und Wandel erfüllt, krochen in sich zusammen wie Träume, die sich übereinanderschieben; ihre Häuser, ermattet und von dem Brummen der großen Fliegen erschüttert, schienen bewohnt zu sein von Gespenstern, welche, statt durch die Türen, durch Wände und Schlüsselloch gehen – sie waren dünn geschabt, unwirklich, wolkig, aber zugleich von der Art jenes Stoffes, aus welchem die Furcht besteht: jedes ein Zuchthaus und eine Festung, aus 480 welcher Gemurmel dringt; überhitztes, idiotenhaftes Gesumse, insektenhaftes Geschrei . . .

Die alte Cadot, den Wasserzerstäuber in ihrer mürben Altweiberhand haltend, spritzte wohl schon zum zwanzigsten Male die gleiche Zimmerlinde mit verlorenem Ausdruck an; jedesmal, wenn sie den Gummiball füllte, gab sie dabei ein Seufzen von sich, das ebenso mechanisch, wie vollkommen sinnlos war. Ihre Kusine hinwieder, die Mutter Herrn Duvals aus dem Hotel des Arènes, hatte die Kupfergefäße von dem Bord ihrer Küche heruntergenommen und schien ihre Flecken zu zählen; unschlüssig, welchen Topf oder Tiegel sie zu putzen beginnen sollte, drehte sie immer wieder ein über und über erblindetes Kännchen zwischen den Fingern, stellte es hin und hob es von neuem auf. Ihr Sohn, den Kopf auf die Arme gelegt und die Arme über den Tisch geworfen, sah ihr von unten her zu; jedesmal, wenn eine Fliege ihn anflog, zuckte er mit den Schultern und schien »Nein, dieses nicht!« anzudeuten – worauf Mutter Duval gehorsam das Kännchen absetzte, wieder aufnahm und es endlich zu reiben begann.

Hinter dem Schaufensterglas der alten Apotheke erschien mit gelangweilter Miene, einen Tropenhelm schief in die Stirn gedrückt, der verkommene Louarmant. Weil er sich überlegte, ob seine Morphiumampullen bis zur nächsten Sendung ausreichen würden, machte er einen gehetzten und unzufriedenen Eindruck, den auch das tändelnde Spielen mit den lächerlichen Berlocken an seiner Uhrkette nicht zu verwischen oder abzuschwächen vermochte.

Ihm gegenüber legte in dem Magazin ›Petit Louvre‹ ein junges Mädchen die Seidenstoffe langsam und unschlüssig um; ein vulgärer, giftgrüner Streifen schob sich hartnäckig immer wieder neben das zarte Lavendelblau einer Krawattenseide und biß danach wie ein Hund; obwohl die Verkäuferin sich geduldig um eine andere Anordnung mühte, ergab sich jedesmal wieder aufs neue die scheußliche Konstellation der beiden wie unter einem Zwang.

Sinnlosigkeit und Fatum näherten sich auf den Wolkenbänken, die sich unaufhaltsam über den Himmel und seine letzten lichteren Stellen, über die letzte hellblaue Bucht und die 481 Mündungsplätze der weißen Winde samt den Küsten der Guten Hoffnung schoben und schleierten den Horizont ein, bis er völlig verschwunden war. Gleichzeitig fingen die Espenzweige ihre langgestielten, furchtsamen Blätter wie Spindeln zu drehen an; die Schwalben schossen zum Greifen nahe über den Boden dahin, und von fern her schlugen, obwohl noch kein Lüftchen ging, einzelne Türen und Fenster gegen die morsche Fassung, aus welcher sie ausbrechen wollten. Immer mehr verdichtete sich das Gefühl der Ausweglosigkeit; es peitschte und ermüdete, schreckte und schläferte gleichermaßen Herrn Belfontaines Sinne ein.

Mit herunterhängenden schlaffen Händen, deren nikotinbraune Fingerspitzen von Träumen angefüllt waren, von phantastischen Spielen und stummen Begierden, die sein Bewußtsein verabscheut hätte, wenn sie bis dorthin gedrungen wären, ging er jetzt auf den Schloßgarten zu und streifte fast mit der Schulter die engen, aus alten Quadern gefügten Mauern, die ihn bis zu dem Eingang führten. Auch hinter ihnen erstreckten sich tiefe, geheimnisvolle Gärten mit steinernen Pavillonen – jeder für sich eine Isle de France, die sich unersättlich und voll von Geschichten, von Anekdoten und kleinen Dramen zwischen die Blumenrabatten und Küchenkräuter drängten. In der regungslosen, geronnenen Luft sammelte sich die Vergangenheit an; sie begleitete Belfontaine wie eine Frau, deren Hüften sich, glühend vor Wollust, an seine Seite drängten, und überschüttete ihn mit Worten, die keiner menschlichen Sprache entstammten, sondern reine Verführung waren. Sein ganzes Wesen sättigte sich mit dieser Atmosphäre; ohne Trennungswände vermischte er sich in einer Art von Osmose mit dieser Flut, die ihn rings umgab, ihn durchdrang und eins machte mit ihr selbst; ihm ihre Farben lieh, ihren Schimmer und ihre Zeitlosigkeit.

Noch einmal überfiel ihn der Dämon der ewigen Wiederkehr . . . Er sah unter fast geschlossenen Augen die sumpfige kleine Schilfbucht der Loire, wo er fischte und angelte; sah das Flimmern über der kaum bewegten und wie von Schuppen und Flossen durchsilberten Wasserfläche; den großen Kirschbaum, der weiter zurückstand und über und über von Schattenmorellen wie von feurigen Küssen glühte; hörte das 482 leise Klirren der Kette, wenn sich der Kahn von dem Holzpfahl abstieß, und roch so deutlich den Teerduft des Steges, der glatt und grünlich von Algen war, daß sich sein Eingeweide in süßen, drängenden Stößen zusammenzog; er erblickte die Mondsichel über Trois-Hêtres mit dem kleinen, freundlichen Stern in der Biegung und nahm das allabendliche Gemälde der bäuerlichen Ferme wie ein aus früherem Leben Zurückgekehrter wahr: den riesigen, langsam verblassenden Himmel, von dem sich zwei große Pappeln wie Wachtürme abhoben; graublaue Dächer unter breiten, gedrückten Apfelbäumen, die in Waldgehölz übergingen; die offene Tür des Bauernhauses, die den rauchigen Lichtschein des Herdes hinauswarf, den Grasgarten mit den Wäschepfählen und die ruhige Gestalt des Bauernmädchens, das Stück für Stück von der Leine abnahm und in den Weidenkorb legte. Von neuem fühlte er die Erregung, mit der er auf »Coquelicot« wartete; doch diese Erregung ging schon in Trauer, und die Trauer in jenen Zustand über, der ihn mitzutönen bewogen hatte: »Ich habe keine Lust mehr! Ich habe keine Lust mehr!« Wie bei Sonnenblumen verkohlte und schwärzte sich seine Lebensmitte, während noch ihre Strahlenzungen Flammen zu werfen schienen, und plötzlich sah er, unendlich viel weiter als Trois-Hêtres entfernt, seine kleine Tochter, die mit dem Strickzeug in ihren Händen auf der Gartentreppe saß und sich quälte, die Maschen aufzuspießen . . .

Dieses Bildchen, ganz winzig, aber unendlich scharf, schien sich wie mit photographischen Säuren seiner Erinnerung eingeätzt und ihn, ohne daß er es wußte, beständig begleitet zu haben; es hatte den Hintergrund seines Daseins ganz und gar ausgebrannt, ihn zerstört und war wie ein flüssiges Feuer den Rändern entlanggelaufen . . . »Keine Lust mehr –!« wiederholte er leise mit sinnloser Hartnäckigkeit. Trois-Hêtres war nun völlig verschwunden, und wie aus einem verlassenen Krater stieg das Städtchen empor, aus dem ihn vor Jahren Herr Tricheur fortgelockt hatte; es lag, als ob eine Erdkatastrophe es mit Asche berieselt hätte, erloschen, aber auf schreckliche Weise vollkommen erhalten da: seine Weinbergsmauern, die sich wie Schlangen über die Höhe wanden; die kahlen, baumlosen Hügelketten, welche es rings umgaben, und die von unendlicher Öde 483 erfüllten Niederungen, wo Taubnessel, Wollblume, Kreuzkraut und Hasenklee wucherten. Was war Trois-Hêtres und diesem Ort gemeinsam außer der Frage nach der »Natur der Natur«? Was verband sie außer der Melancholie, die auf dem Grund jedes ausgeglühten, gesättigten Tages liegt? Und was konnten sie beide dem Manne geben, dessen Trostlosigkeit daraus Nahrung zog, daß es immer der gleiche Vogelschwarm und die gleiche Sonnenblume zu sein schien, die alljährlich einander suchten; der gleiche Duft der Reseden war, der über den sorgsam gejäteten Blumenrondellen schwebte, und das gleiche dünne Gerinnsel des niederfallenden Wasserstrahls, den die eiserne Röhre in seinem Garten, dem Garten mit der gläsernen Kugel, aus dem kleinen Becken emporhob . . . dicht neben dem Muschelkalkzwerg . . .

Wie lange noch würde er es ertragen, daß alles sich wiederholte?

Unter Wetterleuchten zuckte und flammte die Stelle in seinem Inneren auf, wo Herr Belfontaine vor undenklichen Zeiten die Gewitterspiele verfolgt und nicht der Verwandlung – das war unmöglich! – doch der Verzauberung der Natur als Zuschauer beigewohnt hatte . . . dieser Verzauberung, die schon von jeher ein Bestandteil seines eigenen Wesens und die Ursache seiner Befriedigung, seines Entzückens, doch auch der Trauer auf dem Grund seiner selbst gewesen war: nur Gegenwart zu sein. Die ewige Wiederkehr und der Kreislauf, das Außersichsein, der unendliche Bogen, den die Flammenblitze des Eros schlossen – was hätte ein Kolonialwarenhändler und Postagent davon wissen können, wenn nicht Blut und Same in seinen Hoden, die unsterblichen Zellen des Immer und Ewig schon vor Jahrtausenden dieses Wissen in sich getragen hätten?

Nun entsann sich Herr Belfontaine plötzlich wieder, daß er gestern abend den Kuckuck gehört und seine betörenden Rufe gedankenlos nachgezählt hatte. Wie weit er gekommen war, wußte er nicht mehr – nur, daß ihn die süße Monotonie dieser stets wiederholten Rufe in Bann geschlagen und mit sich entführt haben mußte. Sie hatten ihn weiter und weiter gelockt, über die Wiesen und das Gehölz, das diese Wiesen begrenzte; in den Wald, in die Wälder der Isle de France und in den Forst 484 von Halette. In die Tiefe der Zeit war er ihnen gefolgt wie ein Kuckucksmännchen dem Kuckucksweibchen, das er leichtsinnig zu begatten gewillt ist – gleichgültig gegen den Umstand, daß ihrer beider Nest nicht der Brut, sondern nur den merlinischen Spielen dient. Suzette! Ein jäher Blitz der Erkenntnis ging vor Belfontaines Füßen nieder; gleichzeitig schien der Boden zu schwanken und ihn wieder emporzuheben . . . jetzt nicht mehr in Vogelform, nicht mehr entbunden von menschlichem Gesetz.

Suzette! Sie war es, die er von jeher gesucht, in Coquelicot umarmt, in Helene geflohen hatte. Sie war die Diana der Erlengehölze, die Leda des Schwanentempels, das Kuckucksweibchen, die Vogelfee und die nackte Frau vor dem Spiegel gewesen, die ihn verzaubert hatte. Sie war alles in einem: die gläserne Schöpfung, in deren täuschender, saugender Tiefe sich alle spiegelten; sie war – obwohl selber ganz unberührbar – die Täuschung an sich, die Verkehrung der Welt in Ferne und Magie. In ihrem unnachgiebigen, harten, von keiner Inbrunst als der der Sinne durchglühten Fleisch war sie eben noch Circe, doch gleichzeitig schon das Ende der Phantasiegebilde gewesen, die sie bewirkt hatte; war die Stelle, wo der Träumer aufschlagen mußte. Sie lockte und stieß zugleich wieder zurück; sie war die Verwirrung der Wege gewesen und in der Verwirrung ebenso sehr die Ausweglosigkeit; das Labyrinth und die grelle Enthüllung der kalten und satanischen Pläne, nach welchen es angelegt war; die Logik der Sünde, der Biß der Schlange, die nach sich selber greift. Als schuldig befunden, endete hier, was als Fatum begonnen hatte, und ohne Hoffnung wurde das Leben in sich zurückgeworfen.

Mit einem leisen, erstaunten Schrei eilte Herr Belfontaine weiter: schon wieder hatte der Kuckuck gerufen und seinen Namen dem Brausen der Götterbäume vermischt, die, wie von dunklen Händen durchwühlt, mit ihren grünlichen Blütenrispen dem Gewitter entgegenbebten; der Luftraum ging aus zartgrauer Färbung in jenen flüchtigen Zustand über, wo Asphodeloswiesen die Bläue ihrer Unterweltveilchen als Fata morgana über den Horizont ziehen, als eine Oase, in der sich Lethe [wie ein Bergsee nahe dem Himmel] spiegelt, und die Vergänglichkeit selber sich aufhebt und vergeht . . . 485 Vergehen! War es nicht dieses Wort, dachte Herr Belfontaine, in dem sich der Schlüssel zum Berge Sesam endgültig auflösen würde; zu seiner Vergangenheit, ja, zu ihm selbst, wie in allzu scharfer Lauge? In der er unterging und verschwand, noch bevor er den Grund erreichte? In der er Nichts wurde, um auch ihn mit sich in Nichts zu verwandeln? [»Warum sind wir nicht Nichts?« hörte Belfontaine Herrn de Chamant zitieren. »Komm, laß uns Nichts sein! Laß uns den Schoß der Natur und Übernatur verlassen, dieses Geschwätz, dieses Ammengerede von Geburt und Wiedergeburt!«] Er wollte vergehen. Er wollte Nichts sein und jene dämonische Freiheit schmecken, von welcher Deschâteaux seine Hortense weiterhin sagen läßt: »Warum hält uns der Kreis? Nur, weil wir nicht wagen, über den Rand zu treten. Und doch wäre da, wo er endigt, das Glück; die ewige Seligkeit.« Ammengeschwätz. Der Schoß der Natur – er ödete ihn an. Er war seiner müde. Er sehnte sich, ihn endlich zu verlassen und in das Leere zu treten, über den schwindelnden Rand des Daseins, wo es in seinen Gegenpol umschlägt, das Leben in Tod und der Tod in – –

»Gnade! sagte mit furchtbarer Stimme das unsichtbare Wesen, das seinen Nacken berührte, jedes Haar seines Hauptes emporhob, es sträubte und es verwandelte, als ob Sturm durch eine verlassene und schon fast erkaltete Feuerstelle und ihre Umwallung raste, um die Funken hinaufzuschlagen. Er wollte sich umdrehen, doch der Windstoß, der ihn von hinten her anschob und an den Schultern packte, ließ diese Wendung nicht zu. Flügel – brausende, peitschende, mit schleißenden Federkielen – schlugen und geißelten ihn voran, eine Staubwolke überschüttete ihn mit feinem, grauweißem Sand . . .

»Es gibt ein Wetter, Herr Belfontaine!« rief der Schloßgärtner im Vorübereilen seinem Nachbarn zu, dessen blasses Gesicht an ihm vorüberwehte wie die Unterseite gewisser Blätter, wenn die unruhige Luft ihre Stengel emporhebt. »Decken Sie gleich das Gewächshaus mit den Strohmatten zu, es wird hageln, so wahr ich Valentin heiße!«

Seinen prophetischen Worten schien das Klappern der Jalousien an den hohen, erdgeschossigen Fenstern der Orangerie recht zu geben; die ganze Natur war schon mitten im Aufruhr 486 und nahm in ihrer Erregung wie eine Frau, deren weite Ärmel die Bilder von dem Kaminbord fegen, auch das menschliche Machwerk mit: eine nur lose aufgesetzte und am Fuß bereits geborstene Vase schlug von dem Steingeländer der Terrasse zum Estrich nieder, wo sie in Scherben sprang; Puppengeschirr, das die Enkelkinder des alten Valentin auf der Treppe, wo sie gespielt haben mußten, stehengelassen und [mit Wasser und Weißdornblüten gefüllt, die den Streuzucker vorstellen sollten] in der Eile des Aufbruchs vergessen hatten, goß seinen arglosen Inhalt wie Elfenspeise aus; das Bastgehänge, das an einem Nagel der gewundenen Rokokosäule, die einsam inmitten des Rosenrondells stand, befestigt war, buhlte mit Wetter und Wind und bemühte sich, seine Strähne den Dornenzweigen der Hochstämmchen zu verflechten, welche bald knospen würden.

Hier eine Harke und dort ein Kännchen von der Erde aufnehmend, strebte der Gärtner seiner Behausung zu. Das erste, noch sehr entfernte Grollen folgte Blitzen, die mehr Gedanke als Licht, mehr Drohung als Wirklichkeit waren. »Wahrscheinlich geht es noch einmal vorüber!« rief Herr Belfontaine in seine Wolke gehüllt nach der Richtung, wo er den Gärtner vermutete, und –

»Ja, freilich wird er vorübergehen, und dann erst wird man dem Ganzen auf den Rücken sehen, Herr Belfontaine«, schrie der Gärtner mit hohler Stimme zurück und hielt mitten im Laufen an.

»Wer«, fragte Belfontaine atemlos, »wird vorübergehen?«

»Der Hagel – ich sagte es doch schon. Aber erst, wenn er wirklich vorüber ist, wird man wissen, wie groß – –« Er wollte sagen: »der Schaden war«, doch Belfontaine war schon verschwunden, ohne sich umzudrehen.

»Vorüber –«, fuhr in der Seelentiefe seiner grenzenlosen Verlorenheit eine Stimme fort, die, obwohl ihm vertraut, doch kaum die seinige war . . . vielmehr die eines Gefangenen, der in der Dunkelheit seines Verlieses den Hilferuf an die Mauer klopft. Vorüber – die Hand auf der Schulter Mosis – – und schon vorüber. Die Hand auf der Hüfte – – – vorüber, vorüber . . . nun durfte er ihn schauen: den Rücken Jahwes; das, was vergangen und nicht, was zukünftig war. 487

»Jetzt«, sagte Belfontaine wie vor Jahren und versuchte gewaltsam die Augen zu öffnen, die noch immer von feinem Sandstaub erfüllt und wie von Schleierflören verdeckt, von auf- und abtanzenden Mücken verstört und von einer Binde gehalten waren, die hauchdünn darüberlag. »Jetzt – jetzt –!« Herr Belfontaine eilte weiter, blindlings, die Arme weit vorgestreckt wie ein Mensch, der sich mitten in finsterer Nacht durch das Gelände tastet. Er war erblindet. Vielmehr: sein Auge – zwar fähig, die ihn umgebende Welt mühelos aufzunehmen – starrte nach innen; es war ein Spiegel, über dem, wie über die Linse des photographischen Apparates, das Tuch geworfen wurde, das alles abdeckt, außer dem einen und einzigen Gegenstand, der ihm genügt, für das Ganze der Welt zu treten . . . einer Welt, die sich umgekehrt auf ihr spiegelt, um erst in der Tiefe des Menschen wieder aufgerichtet zu werden. Wohin tastete er? Durch welches Gelände? Sein Standort – er fühlte ihn, ohne zu sehen, nur durch die namenlos leichte Berührung der beiden Schenkel des magischen Zirkels, an welche er anstieß – war zwischen der gläsernen Kugel und dem Bild auf der Gartentreppe; zwischen der Illusion und der Wahrheit, der mühsam und schwer zu bestehenden Wahrheit, auf die hin sein Engel ihn peitschte und stieß; die auf ihn wartete – [ach, schon wie lange!] zäh und geduldig, an gleicher Stelle, unverrückbar und zeitlos, ewiges Heute, heutiges Jetzt und Hier.

Noch einmal versuchte er auszuweichen und wieder umzukehren, als der erste wirkliche Blitz und Donner ihm wie der Wagen Elias' über den Scheitel fuhr; gleichzeitig faßte der Sturm ihn von neuem an beiden Schultern, die Wolken barsten, und die niederstürzende Sintflut des Regens mischte ihr numinoses und sühnendes Element mit dem Gericht aus Schwefel und Tuba, das den Grund seiner Füße spaltete und den Hilflosen durch die kleine Pforte seines bereits überschwemmten Besitztums auf die Treppe zu dem Gewächshaus drängte, wo er schwankte, stürzte, hinunterrollte, mit dem Anprall seines betäubten Körpers die Glastür nach innen aufschlug und zwischen den hohen Kakteenbrettern wie leblos liegenblieb . . . Der Regen raste. Er warf sich nicht mehr in einzelnen Strahlen, sondern als eine Masse, ein Dämon, ein Körper, als Kreatur Wasser gegen 488 die Scheiben, die er verhängte und undurchsichtig machte. Das grelle Feuer der fast beständig niederzuckenden Blitze mischte sich mit dem Regen, und beide Elemente verschmolzen zu einem neuen: einem seraphischen Wesen, das Licht und Wasser in einem war, vergeistigtes Wasser, verleiblichtes Licht, das Unausprechliche an und für sich, bevor es in Raum und Zeit tritt, um fest und faßbar zu werden – –.

Mit weit geöffneten Augen, die sahen und doch nicht sahen, lag, zusammengekrümmt, die Beine fest an den Körper gezogen, Herr Belfontaine an der Erde. Die Tür des Glashauses war von neuem hinter ihm zugefahren und der ganze Raum, in dem sich die Hitze des Tages gesammelt hatte, von dumpfer Schwüle erfüllt. Blitz, Blitz und Blitz. Jeder nächste verstärkte die Feuerglocke, in welcher der Klöppel des Donners anschlug, zuletzt fast ununterbrochen, während sie schwang und ausschwang, und der Anschlag sich wiederholte. Diesem Anschlag schien jedesmal [immer stärker] ein neues Aufspringen aller Sphären, ein Krachen wie von berstenden Türen, ein Knirschen, als ob sich verrostete Schlüssel in ihren Schlössern drehten, zu folgen. Der Geruch der Blitze, fast aromatisch, lag nahezu körperlich in der Luft, und ihre Bahn – wie die Bahn der Schlange, wenn sie, begierig, sich zu erneuern und den Schuppenleib abzuwerfen, durch das knisternde Heidekraut hinfährt – trug dem leichteren Element die Fährte des Feuers ein. Als große Alraunen, der Zeigekraft mächtig, durchfuhren sie auch den Schoß der Erde, den Schoß der Erinnerung. Berg Sesam, strotzend von Gold und Unrat, tat sich auf, und Aladins Wunderlampe durchfunkelte geisterhaft alle Räume, die sich nun – Grotte an Grotte schließend – zu einer einzigen Höhle verbanden, in der nichts außer Gegenwart war. Sie gerann, wurde fest, und der Wolkenbruch ging allmählich in Hagel über . . .

Alles Erstarrte schlug sich jetzt nieder, die Eiskörner prasselten, prallten in schrägem Aufschlag gegen die Wände und fegten über das Dach. Das Sieb der Gerechtigkeit rasselte und trennte Weizen und Spreu voneinander, ägyptische Götter straften den Büßer, während die Trommelwirbel der Reue ununterbrochen ertönten und ihre Hundeköpfe sich drehten, mit siebenschwänzigen Peitschen. Noch immer brüllte der löwenhafte und im 489 Gebrüll sich entfernende Donner wie eine wandernde Prozession von sagenhaften Tieren; nicht der gefesselte Büßer selbst, sondern die beiden Wände rechts und links schoben sich weiter – diese Wände aus einmal gelebtem Dasein, dessen Schuld und Empörung ihn einschloß; ihn einengte, riesenhaft überstieg und keinen Ausweg mehr duldete, es sei denn, der feuerflüssige Himmel, der gewittertragende, senke sich furchtbar und vernichtend auf ihn herab. Daß er diese Vernichtung wirklich ersehnte und schon leichter wurde, indem sie ihr Werk, das verzehrende, an ihm begann [leichter wie eine Frucht, die die Vögel bis in das Kerngehäuse zerstören und zuletzt unkenntlich machen] war seine Rettung, Er gab sich hin und erduldete seinen Tod. Zerfleischt, entsagte er seinem Fleisch; seine Sinne, von scharfen Krallen zerrissen, schlossen sich, gänzlich ertaubt und erblindet, einer Botschaft auf, die der Myste empfängt, wenn er vollkommen außer sich ist, und was in ihn eindrang wie Duft von fremden, vergeistigten Spezereien, fand keinen Widerstand mehr. Eine Reinigung, die dem schrecklichen Feuer der Verwesung gleichkam, verzehrte sein üppiges Eingeweide; sie ergoß sich durch das Geflecht seiner Adern, in denen Blut und Wasser sich trennten und das Werk der Zersetzung begann; der Scheidung, der Unterscheidung und der Loslösung von sich selbst. Niemand konnte ihn jetzt noch zurück in seine Erscheinung rufen; seine Erscheinung bannen, hieß den Schatten eines Toten beschwören, der sich in nichts von anderen Schatten im Totenreich unterschied; der ihr Totsein teilte, ihr fließendes Bild und ihre Machtlosigkeit.

Über ihm sprang noch immer der Hagel in zornigen, kurzen Schlägen, als ob er ihn unter Steinen begraben und sein Andenken auslöschen wollte, auf das Glasdach und endigte ebenso jäh, wie er vorher eingesetzt hatte; dann strömte wieder der Regen von neuem, die undeutliche Gestalt eines Mannes rannte, den Rockkragen hochgeschlagen, an dem Gewächshaus vorüber und eilte über die nassen Stufen der Terrasse empor in das Gartensälchen, dessen tief gezogene Türjalousien zurückgenommen waren.

Herr Belfontaine suchte sich aufzurichten, indem er sich auf die Ellbogen stützte und den Kopf hin- und herbewegte. Aber er 490 war gefesselt, ohne zu wissen wovon; er war von Binden umwickelt, geschnürt wie die Strohpuppe auf dem Acker, der Säugling im Weidenkorb. Zwischen Tod und Geburt oder besser: zwischen Vernichtung und Wiedergeburt erstreckte sich das Nichts. In dieses Nichts, das der Schöpfer sucht, um Himmel und Erde daraus zu schaffen; das er verdrängt, um sich selber an seine Stelle zu setzen, war Belfontaine geworfen. Zunichte gemacht, war er Nichts geworden; vernichtet, konnte er jetzt nicht mehr fragen, warum er nicht Nichts sei, doch etwas zu wollen, das sich nur um ein weniges, nur um ein Haar, über den Rand jenes Nichtseins erhöbe, lag nicht in seiner Macht. Kein Gefühl, das sich zwischen seine Vernichtung und ein wie immer geartetes Leben, das außer ihm war, drängte. Keine Hoffnung und keine Erwartung, die sich hinhielten, um verwirklicht zu werden. Denn vernichtet bis in den Kern der Atome, hätten zuvor die Atome selbst geschaffen werden müssen, um in Bewegung und in das alte, geheimnisvolle Spiel zu geraten, welches das Spiel der göttlichen Weisheit vor dem Thron der Allmacht nachahmt und sucht, um ihm ebenbildlich zu werden.

Das Gewitter entfernte sich jetzt; doch der Regen schien seine Gewalt zu vermehren; es war nichts von Sanftmut an seinen Güssen, sondern nur Jähzorn und Raserei, Übermacht, Übermaß, Fülle der Kraft und Fülle der Zerstörung. Man hörte, wie sich auf allen Wegen die Rinnsale reißend zusammenschlossen und über die Grenzen traten, die ihnen gesetzt worden waren; wie das Wasser brodelnde Tümpel und Wirbel bildete, neptunische Locken, die überall von dem Scheitel der Gottheit herunterrollten und der Verfestigung ihres Gesichts widerstrebten; man hörte das Gurgeln, wo sich die Flut in einen Rost oder Gully, fern auf der Straße, stürzte; das Rauschen der Dachkandeln und der Rohre, den Gesang des Unwetters und das Pochen, das Pulsen, Schnalzen und Schnellen der einzelnen Regentropfen. Wie der Kasten, der Danaës Kind umschloß; die Arche; das Schilfkörbchen Mosis; schwamm das Glasgehäuse inmitten des Wassers; unter Wasser begraben und innen trocken, erfüllt von den dämonischen Formen der schlangenhaften Kakteen, die angehaltenen Zaubersprüchen und 491 stehengebliebenen Formen glichen – Reptilien, Drachenhälsen und Kröten mit gebuckelten Warzenhäuten. Ob der Finger Satans ihr Wachstum gehemmt und ihnen die Fähigkeit, auch im Bösen weiterzuwuchern, abgelistet, oder ob er sich selber betrogen hatte, indem er das Böse aus sich heraus und in Gestaltwerdung trieb – gleichviel: ihre gefesselte Ohnmacht, ihre titanische Bosheit der Form und die Härte ihres verholzten Wesens waren unfähig, mehr zu wollen als Beharrung und Todesschlaf. Sie seufzten nicht mehr nach Art der Schöpfung und sie schienen unter den Rand der Natur und ihrer eingeborenen Bitte um Erlösung gesunken zu sein. Auch sie – –

Eine plötzliche Stille ließ Belfontaine erbeben. Der Donner verstummte. Regen und Blitze setzten unvermittelt und wie in die Brust eines richtenden Engels zurückgenommen ihre Beschäftigung aus. Sie stürzten zusammen wie Sklaven stürzen, wenn ihr Gebieter im Nahen ist, und verhielten jeglichen Laut. Dieses Verstummen war so entsetzlich, diese Stille so vollkommen, daß die Grenze zwischen Außen und Innen zerbrach. Sehr deutlich hörte Herr Belfontaine grillenhaft leise Geräusche: ein schreckhaftes, eiliges Rudern, ein Rauschen, wie wenn Kielwasser hinter dem Bug eines Schiffes wieder zusammenschlägt, und dann aus unendlicher Ferne Laute, die über das Wasser drangen: »Der große Pan ist gestorben. Der große Fan ist tot.« . . . Ist gestorben, tönte es in ihm nach, und die ungeheure Magie seines Daseins fiel ringsum von ihm ab. Sie verließ ihn, sie flüchtete in grotesken, schauerlich irren Sprüngen, ihre Bocksfüße trappelten, ihre hellen, gläsernen Bocksaugen trübten sich und irrten von ihm fort. Nun schmolz die Scheidewand zwischen ihm und der Vergangenheit nieder: die Scheidewand der Schuld. Er erinnerte sich. In den Zustand der Reue und damit der Erinnerung gehoben, trat sein Inneres aus dem Zustand der Vernünftigkeit in den Zustand der Torheit, in den Geheimniszustand des Innen, das erinnertes Außen ist. Dann trafen ihn Worte, die ein Befehl; ein Befehl, der Verwandlung; Verwandlung, die Zuruf und ein Zuruf, der Neugeburt war:

Lazarus! komm heraus!

Er gehorchte. Ohne zu zögern, entstieg er seinem eigenen Grabe und fühlte, wie er sich langsam emporhob – nicht anders als ein 492 Träumender fühlt, daß er bar jeder Schwerkraft ist. Indem er die Stufen hinaufging, die aus dem Gewächshaus nach oben führten, bemerkte er, daß eine Lage Bast heruntergefegt worden war. Er nahm sie gedankenlos von der Erde, um sie wieder an den Nagel zu hängen und sah ein graubraunes Schneckengehäuse, das darunter gelegen hatte. Es war ausgeblasen; die Schwingung seiner bezaubernd schönen Spirale, die Anmut seiner verblaßten und herzergreifenden Farben berührte Belfontaine. War es die liegengebliebene Tuba des Gerichtsengels? War es Rolands Horn, das dem Helden im Tode entfallen war? Oder war es beides: die Tuba des Engels, das Horn des Helden, der um Rettung gerufen hatte, und überdies noch sein eigenes Dasein – vollkommen leer, gereinigt von Unrat und nichts als Erinnerung? Er schloß die Hand um das zarte Gebilde, als solle die feine Fadenspirale ihn aus dem Labyrinth seines Lebens wieder ins Offene führen. Diese Spule – aus welcher Meerestiefe stieg sie langsam und sicher empor? Welchen Abgrund und welche Entfernung maß sie unwiderruflich aus? Und welche Ariadne, mein Gott, hatte ihm diesen Zwirn der Erbarmung in dem Schattenreich vor die Füße gespielt, damit er sich an ihn halte? Er kannte sie. Er erkannte sie, die neue Ariadne, und wurde in diesem Wiedererkennen als ein Dritter, ein Kind ihrer selbst, auf mystische Weise gezeugt. Wie die Verführung vielfache Namen und Gesichter hatte, bald Leda, bald Helena oder Diana hieß, so auch diese: Elisabeth war ihr Name, Geistliche Rose, Gnade und Gemeinschaft der Heiligen. Mit einem rauhen, schluchzenden Laut brach Belfontaine in die Knie; auf die nasse Erde, den glänzenden Stein und den harten, schneidenden Kies. Undeutlich fühlte er, wie ihm Heilung und Hilfe zuteil wurde: etwas, das löste, kniete neben ihm, um ihm die Binden, und etwas, das band, hielt ihn liebevoll aufrecht, um ihm den Taumel der Schwäche und Todesangst abzunehmen. Wie in früheren Zeiten warf sie ihm Worte und leise geflüsterte Bitten zu: »Warum schläfst du denn nicht? Ja – gehe! Es ist besser, du nimmst dir . . . Zeit.« Sie stand neben ihm, Schlüsselträgerin und Weberin in einem, um die Zeilen seiner Sonette zu schließen und das Schiffchen durch das Webstück zu führen, das er begonnen hatte; sie las ihm die Wollspinne von dem 493 Ärmel, und über seine Schulter gebeugt, sagte sie ihm das Sterbegebet aus dem altfranzösischen Rolandslied mit deutlicher Stimme vor. Er wiederholte es:

»Veire paterne, ki unkes ne mentis,
Saint Lazarus de mort resurrexis
Et Daniel des leons guaresis,
Guaris de mei l'ame de tuz perils
Pour les pecches que en ma vie fis!«

Nach der zweiten Zeile begann eine Flöte. Sie kam aus dem Innern des Hauses und drängte ihre Kadenzen versucherisch in sein Gebet. Die Flöte des Grandpierre. Die Flöte des Täuschers. Aber er ließ nicht ab zu beten, obwohl die Flöte dringlicher wurde, näher zu kommen und wieder zu fliehen schien. Nun entsann sich Belfontaine jenes Menschen, der während des Unwetters schattenhaft an dem Gewächshaus vorbeigestürzt war; er wußte, daß dieser an ihn – auch er – einen unaufschiebbaren Auftrag hatte, eine Forderung, einen Befehl. Die Flöte lockte. Sie kam jetzt von der Terrasse . . . jetzt aus dem Palmensälchen – aber das Sälchen war menschenleer, als Belfontaine es betrat. Gewissenhaft aufgeräumt, wie es sich immer darbot, wenn Tante Léontine das Haus verlassen hatte, deutete nichts auf die Anwesenheit eines Fremden hin, es sei denn der Umstand, daß das Häufchen Bridgekarten, das in der Mitte des Rauchtischchens mit der eingravierten indischen Tigerjagd lag, zum Rand hin geschoben war und der Teppichläufer von einer Reihe nasser Fußstapfen deutlich gezeichnet wurde, die sich im Hintergrund, aufgesaugt von einem Wolfsfell, verloren . . .

Unschlüssig, wohin er sich wenden sollte, blieb Belfontaine stehen, bis wieder die Flöte ihre spielenden Läufe begann. Sie drangen von der ersten Etage über die Treppe herunter und zogen sich gleich darauf schon zurück, als Herr Belfontaine sich nach oben wandte – bestürzt von der Tatsache, daß die Töne aus seinem und Suzettes Schlafzimmer kamen, dessen Tür leicht angelehnt war. Zwischen dieser Tür und dem inneren Raum hing in unwillig schleifenden Messingringen, die sich jedesmal, 494 wenn man das Zimmer betrat, klirrend zusammenschoben, ein schwerer Velourvorhang. Er hütete und betonte ausdrücklich die Abgeschlossenheit und den Duft dieser Liebesgrotte in Seegrün und Silber, die gleichsam aufwog, was an Gewichten dem sogenannten ›Boudoir‹ Suzettes – diesem kalten, ausgeklügelten Zimmer – und seiner Gefühlswelt fehlte. Mit seinem riesigen, reichgeschnitzten, muschelförmigen Himmelbett, seinen farbigen Stichen nach Schäferszenen von Watteau an den Wänden, dem Smyrnateppich und der verspielten Tapete war es reines Rokoko – fertig gekauft und samt der ihm eigentümlichen Art bürgerlicher Erotik von einer Fabrik geliefert, die solide und teuer war. Natürlich glich es – nicht nur nach der Ansicht der guten Léontine – durchaus nicht der Vorstellung eines Zimmers, wo ehelicher Liebe gepflogen, gezeugt und geboren wird . . . Aber andererseits hätte Herr Richmond, wenn es ihm je vergönnt worden wäre, einen Blick in diesen Schlafraum zu werfen, nichts Unschickliches entdecken, sondern ihn nur nach dem Sprachgebrauch seiner empfindsamen Psyche als ›poetisch‹ bezeichnen können. Es wäre ihm freilich dabei entgangen, daß das Zimmer mit reichlich viel Spiegeln und Spiegelchen angefüllt war und die zierlichen Wandleuchter, welche das Glas in ihrer Mitte flankierten, keine elektrischen, sondern echte gedrehte Wachskerzen trugen, die im Augenblick, wo Herr Belfontaine über die Treppe heraufkam und sich dem Schlafzimmer näherte, einen schmalen, goldgelben Streifen unter den Türvorhang schoben; ein Rinnsal aus Licht, nur deshalb sichtbar, weil sich der Himmel von neuem völlig verfinstert hatte und einzig das, was noch heller als das Tageslicht war, zur Erscheinung und im Vergleich mit ihm brachte. Auch die Musik tönte ferner und schwächer; sie verteilte sich gleichsam wie Wasser und breitete sich aus; der feste und von dem Druck der Röhre gesammelte Strahl wurde jetzt in viele, weit schwächere, zerlegt, die von allen Seiten in Form einer Glocke herunterrieselten. War das Flötenspiel eine akustische Täuschung oder ging der Spieler von Stockwerk zu Stockwerk, indem er flötete? Entschlossen, diesen Zauber zu brechen und ihm auf die Spur zu kommen, wollte Belfontaine schon das Zimmer betreten und den Vorhang zurückschieben, als er sich plötzlich, einer tieferen 495 Eingebung folgend, besann und ihn nur anhob – ein weniges bloß, damit das Klirren der Messingringe ihn nicht verraten konnte.

Mitten in ihren Läufen brach die Flöte ab. Sie setzte jäh aus, als sei es nun nicht mehr dringlich, Belfontaine weiter zu führen; das ganze Haus wurde vollkommen still, es hielt den Atem an und verstummte so ganz und gar unvermittelt, daß diese Entleerung von jedem Geräusch, dieses plötzliche Fehlen von jeglichem Laut, und sei es nur einem geflüsterten Hauch, einem Knacken, Rieseln und Rauschen, dem Furchtgefühl einer sich steigernden Angst und endlich dem Schrecken gleichkam, der dicht vor der Katastrophe die Kreaturen befällt. Ein Medusengesicht mit geöffnetem Mund – zu einem lautlosen Schrei geöffnet, dem sich auszulösen verboten war – verging in dieser gräßlichen Stille wie eine langsam brennende Mischung aus schmelzenden Substanzen, die an die Stelle der Atmosphäre, der Atemluft und des Raumes traten, den sie vernichtete. Medusa starrte und schmolz zugleich dahin. Ihre Schlangenhäupter, steil aufgerichtet wie bei sich begattenden Tieren, suchten vergeblich, sich zu erneuern, während die Lautlosigkeit sie verzehrte, und wiegten sich in dem scheußlichen Takt einer brünstigen Todesangst. Dann verging ihre Form, und ein wilder Duft von blühendem Lavendel drang durch die Schlafzimmertür. Es war der Duft aus den Kleidern Suzettes, der Duft ihrer Wäsche und ihres Körpers, der ganz darin gebadet zu sein und ihn zu verströmen schien. Dieser kräftige und doch vertraute Duft ernüchterte Belfontaine. Entschlossen, hob er den Vorhang an und blieb wie an Ort und Stelle gefesselt, erstarrt und ungläubig stehen. Der Ankleidespiegel, von den zwei Flügeln des Toilettentischchens gehalten, das schräg über Eck stand, spiegelte Bett, Szenerie und Wandleuchter wieder; die Tiefe der Muschel, den Glanz der Perlen auf Suzettes reglosem Busen und die milde Süße der Kerzenflammen, deren leiser Atem darüberspielte, den Geist versinnlichte, aber die Sinne sublimierte und geistig machte. Suzette, nur mit ihrem Morgenrock aus chinesischer Seide bekleidet, in welchem sie sich noch vor kurzem mit Belfontaine unterhalten hatte, lag wie erschöpft und hingeschleudert über der Lagerstatt, einen Arm von 496 dem Bettrand herunterhängend, und streifte mit der Hand fast den Boden . . . mit einer Hand, deren sinnliche Finger auseinandergefallen waren. Über sie beugte sich aufmerksam, mit dem Rücken zur Tür, der Matrose. Sehr deutlich zeichnete sich die Spannung, die ihn erfüllte, an seinen Muskeln ab: an dem unbeweglichen Bogen des Körpers und den eingezogenen Schulterkugeln, der krampfhaften Haltung der Oberarme, die sich fest an die Rippen preßten, und dem Nacken, in den sich wie eine helle, silberblond flimmernde Raupe sehr kleine, aber gekrauste und dichte Haare erstreckten. In dem Raum, dessen seidene Übergardinen ringsum geschlossen waren, herrschte Stille; man vernahm keinen Laut außer dem Knistern der Dochte; die Flammen sanken bald in sich zusammen, bald reckten sie sich höher und erhellten schließlich das ganze Zimmer in allen Einzelheiten. Es gab sich preis, es verriet seine Laster und seine nächtlichen Spiele, seine geheimen, rasenden Wünsche und seine Gedankensünden. Es veränderte sich, seine Farben schielten zu ihren Gegenfarben und verschossen ins Geisterhafte; sein Reichtum schien aus den platzenden Polstern als Betrug der Füllung – elendes Seegras und Zupfwolle – auszutreten; das Mobiliar, an den Kanten und Ecken überall abgestoßen, auf der Platte befleckt durch den klebrigen Fuß der Likörgläser, die man dort abgesetzt hatte, verlor seinen Glanz und erblindete; es wurde gewöhnlich und ekelhaft wie ein Skelett.

Nun näherten sich die Hände des Matrosen der Perlenkette, schoben sie weiter und öffneten mit geschickten und häufig geübten Griffen ihr kostbares Platinschloß. Die Kette raschelte, klirrte und glitt – wie an Kleopatras Brüsten die Schlange, nachdem sie gebissen hatte – herunter; er griff sie, bevor sie sich in der Landschaft eines Körpers verstecken konnte, welcher vollkommen willenlos war, und barg sie in seinem Tabakbeutel, der neben dem Himmelbett lag. Dann zog er fast pedantisch die Teile des schwarzen Morgenrocks wieder zusammen, die sich verschoben hatten, und versuchte den Ansatz der Kehle wie ein Liebhaber zuzudecken, der nach genossenen Freuden die Male: den Biß und die Zeichen der würgenden Liebe, vor den Augen der Menschen verhüllt. Nun richtete er sich empor. In 497 dem Spiegel begegneten seine Augen Lazarus Belfontaine. Er war es. Es war Grandpierre, war Tricheur, der ihn wie immer betrogen und in dem Wechsel seiner Erscheinung geblendet und eingekreist hatte. Der Veränderliche, der Lügner an sich, glich zwar in nichts diesem blonden Matrosen, mit dem sich jetzt Belfontaine, ohne zu sprechen, in dem Spiegelglas unterredete, noch deckte er sich mit dem Bild von Grandpierre, dem haarigen Flötenspieler. Aber er war es. Von seiner Erscheinung ging das gleiche Gefühl der Befriedigung aus, das Belfontaine auf dem Gartenfest in A. überdrungen hatte, als der Täuscher ihn fragte: »Erkennst du mich? Erkennen Sie Ihren alten Lehrer aus Orléans immer noch nicht?« Das gleiche Zwinkern und Blinzeln wie zwischen Jugendgefährten, der gleiche Blitz, der die Hölle der Laster und ihrer scheußlichen Spiele öffnet: »O gai – Franc cavalier!«

Na, schien der Matrose ihn aufzufordern, wenn Sie näher kommen möchten, mein Herr, so mache ich gerne Platz. Keine Schüchternheit. Es ist alles nur menschlich. Immer dasselbe: die Liebe, das Geldverdienen, der Spaß, den beides mit sich bringt. Wir wissen Bescheid. Zwei Burschen wie uns macht keiner etwas vor. Ein bißchen langweilig, glauben Sie nicht? Wenn der Fuchs die Rute . . . na, Sie begreifen – sagt man bei uns in Marseille. Schön, schön, ich verstehe, es gibt nicht nur fleischliche Sünden. Ein älterer Herr wie Sie, mon ami, vergeht sich mit ebensoviel Erfolg gegen den Heiligen Geist. Aber hören Sie, bitte, mit diesen Faxen, diesem lächerlichen, entsetzlichen Mumpitz von der Stirn zu der Brust und von links nach rechts auf, sonst vergesse ich mich am Ende, so höflich ich sonst auch bin. Also –?

Er drehte sich langsam um, und ein ihm vollkommen Unbekannter wandte sich Belfontaine zu. »Lassen Sie mich mal sofort heraus«, sagte er unverschämt, »oder ich schlage Krach.«

»Sie bleiben, Grandpierre.«

»Ich heiße nicht Grandpierre und kann nichts dafür, daß das Mädel sich wehrte, mir die Kette zurückzugeben – toll und verrückt wie sie war. Notwehr. Sie dürfen mir dankbar sein, daß die Kratzbürste nicht mehr lebt.« Er stieß Belfontaine heftig 498 gegen die Brust und setzte mit ein paar Sprüngen die Treppe hinunter. »Adjö denn!« rief er von unten herauf.

Gleich darauf fühlte sich der Matrose von Belfontaine an den Schultern gepackt und mit übermenschlichen Kräften gewaltsam festgehalten; eine Frau – es war Tante Léontine, die eben nach Hause kam – schrie und gellte mit durchdringender Stimme um Hilfe; doch gelang es dem Raubmörder, sich noch einmal von Belfontaine loszumachen. Er fegte wie eine Katze durch das Palmensälchen und schwang sich im Nu über den Rand der Terrasse, gewann das Freie, verschwand in dem Park und für immer auch aus Senlis.

 

Einige Monate später verließ Herr Belfontaine gleichfalls das Städtchen, um nach Deutschland zurückzukehren. Die öffentliche Meinung vergaß ihn ebenso schnell wie den ärgerlichen und skandalösen Prozeß um eine Perlenkette, die sein Schwiegervater aus dem Besitz der ›Dienerinnen Mariens‹ erworben haben wollte. Er versuchte, diesen Erwerb, der dem Brautschatz einer jungen Novizin entstammte, mit mehreren Schuldscheinen, die ihm das Kloster im Lauf der Monate ausgestellt hatte, vergeblich zu begründen, und die Kette – Perlen bedeuten Tränen – kehrte in die Gemeinschaft der Büßerinnen zurück. Von dort aus in das Eigentumsrecht der Weißen Väter übergegangen, löste sie siebzehn Jahre danach [die feile Bewachung eines polnischen Konzentrationslagers kaufend] einige staatenlose jüdische Christen aus. Diesen Menschen gelang es unter sehr großen und, wie sich später herausstellen sollte, vollkommen vergeblichen Mühen zu russischen Partisanen zu stoßen, wo ihre geschwächten Körper dem Anfall einer tückischen Seuche erlagen, die keine Auflehnung fand. Nur ein alter Mann, obwohl zart und gebrechlich, doch erstaunlich widerstandsfähig, schlug sich – den langsamen Vormarsch der Roten Armee begleitend – wieder nach Westen durch. Um ihn [als die Mitte einer geistigen Aura von Gepeinigten und Verfolgten] wob sich ganz ohne äußeren Anlaß eine Art von Legendenbildung. Man nannte ihn ›Vater Lazarus‹ und vermutete einen Menschen in ihm, dem die Gabe der Heilung und das Charisma der Erweckung gegeben war. Sehr viele wollten von ihm gehört oder andere Menschen gesehen haben, die seine Sphäre berührten. Man verwechselte ihn, verlor das Gefühl für seine 499 Identität. Er wurde aus einem armen Häftling zu dem Armen schlechthin und endlich zu einem betenden Bettler, der mit der Mütze, den Rücken gebeugt und den schlohweißen, kurzgeschnittenen Bart zu gemurmelten Dankesworten bewegend, an den heiligen Straßen des Ostens stand, die allmählich – gefurcht von dem endlosen Treck der motorisierten Heere – in das Ursprungsland der Empörung führten: nach Preußen und Wittenberg . . . in das Herzland der deutschen Reformation . . . 500

 


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