Elisabeth Langgässer
Der Gang durch das Ried
Elisabeth Langgässer

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XII

am nächsten Morgen, als Aladin endlich wieder zum Lager kam, war gerade ein Strichregen heftig und rasch auf dieses Stück Erde heruntergegangen und im Augenblick schon vorbei. In den Wagenspuren glänzten die Wege und waren am Rand bereits abgetrocknet; vereinzelte Tropfen drängten einander von den Barackendächern herunter, jeder rollte geschwind auf den nächsten, vereinigte sich im Anprall mit ihm, stieß ihn weiter und wurde selber gestoßen, und in den Hauskandeln längs der Mauern rauschte leise der Abgesang jener Flut, die den Wegstaub gebunden hatte . . .

Nun, so hat es doch endlich noch ausgeregnet, dachte Aladin unwillkürlich; ihm war, als wäre der Regen in einem fort niedergegangen, seitdem er das Lager verlassen und fast schon vergessen hatte: den Herbst, den Winter, den Vorfrühling über, ohne je inne zu halten; immer gleichmäßig, eintönig, niemals mehr und niemals weniger. Ja, wenn er sich fragte, was ihm vertraut an diesem Lager wäre, was er wiedererkannte, was zu ihm sprach, so war es der Regen, war es die Nässe, das Klucken, Plätschern und Murmeln des Wassers, das ihn jetzt wieder begrüßte. Aladin war von der Landstraße her nach rechts hinübergebogen und ging nun an einer Reihe junger Akazien vorbei, deren Stämme in zarten Rissen wie Kalbsmäuler offen standen, die eben getrunken haben: sie trieften und waren auf seltsame Weise von irgend was angeblasen; nicht mehr lange, so würde das schaumige Grün ihr juckendes Fell überbrausen. Dahinter begannen die Wirtschaftsgebäude. In dem Gasthof »Zu der Patronentasche« streckte ein altes Hujajaweib den Kopf durch das Kellerfenster.

»Guten Tag, Bordellmutter!« sagte er freundlich; sie spuckte ihm gegen die Schuhe und schlug schimpfend die Scheibe zu.

Es klirrte, zwei Paar andere Stiefel gingen am Fenster vorüber, als wären sie der verdoppelte Schatten des 293 ersten Stiefelpaares; hui, aber da hing die Alte rasch noch ein Auge daran: buchstäblich eines, weil sie den Kopf wie ein Vogel zur Seite legen mußte, um von unten herauf zu sehen; ihr grauschwarzes Krähenhaar sträubte sich starrend, ihre scharfe schnäbelnde Nase kam dem Auge gierig zuvor. Mannskerle – beide so hoch gewachsen, daß das Oberteil unsichtbar blieb. Wie sie gingen! bis zu den Hüften rollte ihr Gang von der Sohle empor wie der Ball eines Zirkuskünstlers: er wurde, man sah es deutlich, von einem Willen getragen, der voller Vorsicht war; bald angehalten, bald locker gelassen; aber Lockern und Spannen kam nicht aus ihm selbst, sondern aus einem bestimmten Ziel, nach dem er sich richtete. Der linke Mann mußte noch größer sein, als sein gleichfalls großer Gefährte, und schaukelte ein wenig wie Flößer, wenn sie gerade das Ufer betreten haben; der andere ging wie ein Jäger, der mit gespannter Büchse eine frische Fährte verfolgt. Jetzt standen sie wieder; es war zu merken, daß dieses Halten den nächsten Schritt in der Mitte entzweibrach – doch der übernächste wartete schon und bebte auf der gespannten Sehne wie ein ungeduldiger Pfeil.

Da war was nicht richtig; da stimmte was nicht, fühlte die Schießbudenvettel; bückte sich, nahm eine Kohle und warf sie geschickt in die Richtung der zwei Paar Schaftenstiefel; sie knallte am Leder auf, aber der Stiefel blieb unbeweglich stehen.

Ob man rufen sollte? da gingen sie weiter: die Schattenstiefel, das Stiefelecho, die kopflosen Stiefelbrüder.

Tapp, tapp, schlug es fernher in Aladins Ohren; es klopfte wie Pulse – vielleicht war es innen? – jedoch manchmal stockte es länger, als Pulse zu stocken vermögen; ein Ästchen knallte; er wanderte vorwärts, die Schritte wanderten mit. War es am Ende das Mütterchen wieder, das ihn wie damals verfolgte? das Lagermütterchen, Mütterchen Erde, welches sich an dem Soldaten rächte, der das Grenzschild nicht umstoßen 294 wollte? ach . . . Grenze und Grenzschild – er dehnte den Brustkorb – und »halt!« und »wer da?« und »Parole!« gab es schon lange nicht mehr. Tapp, tapp. Er hielt inne: nichts mehr zu hören. Er setzte sich in Bewegung: schon war das Geräusch wieder da. Nun aber wußte er, daß es von ihm, von seinem Dasein und Dortsein abhing, ob er die Schritte erlaubte; daß er sie nachzog wie ein Paar Hunde: aneinandergekoppelt, ein Teil ihres Herrn, der sie mitnahm, wohin er wollte.

Plötzlich, ohne zu wissen weshalb, drehte sich Aladin um. Zwei Männer mit etwas vor dem Gesicht traten ungeschickt hinter ein Haus; es waren Netze, ja: Zwiebelnetze, die ihre Gesichter verhüllten; ganz grob geknüpfte, mit großen Zwischenräumen, die sie schrecklicher machten als alles, was sie sonst hätten vorbinden können; unkenntlich, aber wiederum so, daß einer, der ihnen begegnet wäre, bloß gedacht hätte: guck, die kommen vom Markt und haben ihr Krämchen verkauft.

Fort waren sie. Doch in dem Auf und Ab eines einzigen Liderschlages hatte Aladin seinen Tod gesehen: zwei Männer, zwei Hände an der Pistole, als gälte es, jenen zweimal, vielmehr als Doppelten zu erschießen: einen Menschen, der, wenn er hinfällt, noch als anderer weitergeht. Dieser andere, welcher er selbst war, und ihm trotzdem nur kurz verliehen wie sein eigener kurzer Tod; der ihm, wie jenen Männern die Netze, übergezogen wurde, damit er ihn, überwunden, am Ende noch überwand; dieser Doppelgänger, den er vertreten und für welchen er mitgebüßt hatte, als er sein Eigenes büßte: er, Dodot, der ausging, wo Aladin ausging, endete nun auch mit ihm. Einer zog hinter dem andern drein, und »Schwan, kleb an!« hieß die Kette, die sie gebildet hatten; Aladin war an der Spitze gegangen; seinen Rocksaum hatte die Gretel gefaßt; ihr Zopfband der Dodot und dessen Koppel der kleine Lückenbüßer. Über den Kopf weg der beiden Gespenster rief der Letzte den Ersten an; er kam ihm zu Hilfe mit seiner hellen, alles 295 durchdringenden Stimme, und während ihm Aladin Antwort gegeben und sich blind von dem Kleinsten der Kette den Weg hatte weisen lassen, traten alle, wie sie da waren, still füreinander ein: er für den Dodot, und für die Gretel der kleine Lückenbüßer . . .

Er lächelte heiter, ein Lied fiel ihm ein, er fühlte sich angesungen:

Au claire de la lune,
mon ami Pierrot –
prêtez-moi ta plume,
pour écrire un mot.

Das Wort war geschrieben. Jetzt konnte die Kerze, jetzt konnte Aladins Wunderlampe wieder zur Ruhe gehen. Wie ein Kind, das den Samenkorb ausbläst, welcher früher die leuchtende Blüte des gelben Löwenzahns war, machte Aladin »pscht« und »pscht« – auf der nassen schmutzigen Erde saß, einen Steinwurf weiter, ein verdreckter Junge mit dickem Bauch und betrachtete seinen Nabel.

»Weißt du vielleicht, wo die Laura wohnt?« fragte ihn Aladin. Der Junge grinste und hielt ihm die Hand hin. Aladin legte ein Geldstück darauf, der Kleine versuchte zu sprechen, doch es kam bloß ein Lallen heraus; jetzt merkte Aladin erst, daß das Bübchen blödsinnig war. Etwas bestürzt ging er weiter und drehte sich wieder um: das Kind hatte seinen Groschen auf die Nabelgrube gelegt und schnippte ihn mit dem Bauch in die Höhe, lachte, legte ihn wieder darauf und begann von neuem sein Spiel; als der Mann um die nächste Ecke war, hörte er noch dieses Lachen: ein rauhes grunzendes Heulen, das aus der Bauchhöhle kam. Eine Katze sprang wie der Blitz aus einer Steinbaracke und durch das zerbrochene Fenster der nächsten wieder hinein; gleich darauf girrte und kreischte die zweite Lumpenbaracke, als hätte ein Heer von Teufeln einander an den Haaren: die Katze mußte ihren Gefährten, dem sie eben hatte entfliehen 296 wollen, dort angetroffen haben. »Miez! Miez!« schrie Aladin hochbelustigt und hieb die gezackten Scheiben nach innen; es klirrte, die Katzen verstummten, ein Blutfädchen rann seine Hand hinunter und blieb in dem Ärmel stehen . . .

Nun marschierte er kreuz und quer durch die Straßen; das Totendorf sah ihm aus blinden, verschmutzten Augen entgegen und blieb auch so hinter ihm stehen – es war nicht berührbar, es konnte durch nichts und niemand verändert werden; ein Brei von Lava lag über ihm, oder waren die Häuser selber aus lauter Lavabrei, der nicht erstarren wollte, der nachgab und wieder zusammenfloß, wie es ihm eben gefiel? Das Lager . . . nein, denn ein Lager war es schon lange nicht mehr, aber auch noch nichts Neues: »Gomorrha nach dem Gericht« sollte es eigentlich heißen, dachte der Wanderer schaudernd und fühlte dieses Gericht in seinem eignen Gebein. Er sah aber auf dem Grund seiner Seele und ihrer Erinnerungen auch jenes andere Reich: den Dombau von Worms, wo sich Taufbecken, Stufen und Schalen in ihm entfaltet hatten wie Blätter, die auseinanderschlagen: weich, zitternd und in der Mitte eine glänzende Tauperle tragend. Dann brüllte es wieder zwischen den Pfeilern und rollte durch das Gewölbe – der Löwe schweifte unruhig umher und leckte seine Hand. Er hob sie zum Mund und war selber der Löwe, denn das Blut rann noch immer herunter und quoll aus der Schnittwunde nach. Wessen Blut? Wessen Wunde? Ein leichter Schwindel zwang ihn, sich festzuhalten; er legte die Hände flach an eine Barackenmauer, die sich langsam drehte, erst nachgab, dann wieder fester wurde und endlich ihr scharfes, winziges Korn in sein Bewußtsein trieb. Gut. Lava. Aber auch aus der Lava konnte Gott seine Dome bauen.

Er löste sich ab und ging um das Haus, um es sich einzuprägen; in der offenen Tür stand ein Mädchen und schminkte sich den Mund. »He . . .! ho . . .!« rief es, als 297 er vorbeikam, ohne in seiner Beschäftigung einen Augenblick nachzulassen und sah angestrengt in die Spiegelscherbe, die das Bild seiner Lippen enthielt. Aladin drehte sich langsam herum und blickte das Mädchen von unten her an: seine nackten, gekreuzten Beine, an denen die Haut so glänzte, als wäre sie eingerieben; den dünnen seidenen Rock, der sich glatt in die Schenkel preßte, welche wie Brückenbogen vom Becken zum Knie hin sprangen; dieses Becken selbst: so schmal, daß die Schaufeln sich abzuzeichnen schienen; die zarte Mitte, darüber die Brüste, die merkwürdig elend und klein in der Bluse herunterhingen; zuletzt den Kopf auf geraden Schultern und die dunkeln, entsetzlichen Hungerlöcher zwischen Hälschen und Schlüsselbein. Das Gesicht war nicht zu erkennen, weil eine Locke darüberfiel; nur das kurz geschnittene Haar von der Farbe tiefbrauner Haselnüsse verriet etwas von der Haut: es hatte den gleichen Glanz wie die Beine, einen Schimmer von Leid und Liebe wie betautes Mariengarn.

Nun ließ das Mädchen die Scherbe sinken und fuhr mit der Zungenspitze noch einmal die Lippen entlang. »Na?« fragte es dann gewohnheitsmäßig und warf mit abgebrauchter Bewegung die Haare aus der Stirn – sein Gesicht kam in dieser Bewegung heraus, als führe ein Blitz durch den Himmel und bliebe als Feuerwand stehen.

»Laura! ach, liebe Laura!« rief Aladin geblendet und starrte auf einen Menschen hin, den er noch niemals gesehen hatte; nein, nicht auf einen Menschen, sondern auf einen Engel, der »fressende Flamme« hieß; auf eine Wolke im Siedemittag der abgeholzten Schläge, wo die Stümpfe noch einmal harzen; einen glühenden Stein zwischen dornigen Ranken, an denen Brombeeren hingen; eine Espe, die, lautlos schreiend, ihre Blattzungen auswärts drehte, um Katzensilber zu werden; vielmehr: auf die Seele von Wolke und Espe, Stein, Blitz und Meteor. »Laura –« sagte er noch einmal, doch 298 jetzt mit leiser, leidender Stimme, als verzehre ihr Anblick ihn.

Das Mädchen blickte ihn neugierig an. »Du hast wohl lange nicht mehr ge . . .?« fragte es aufgemuntert.

»Nein«, sagte Aladin stumpf und traurig, »das hab' ich schon lange nicht mehr.«

Sie betrachtete ihn von oben bis unten und zog dann nachdenklich mit dem Fuß ein Dreieck in den Sand. »Und Geld hast du auch keines – oder?« Er schwieg; sie hob ihre Schultern: »man muß sich halt helfen, so gut es geht. Du kannst mir ja Holz dafür lesen.«

Sie trat durch die Tür, er folgte ihr nach und kam in einen vergitterten Raum mit blätterigen Wänden, an welchen allerlei Bilder zu rascherem Anreiz hingen: solche, die fetzig herausgerissen aus französischen Magazinen waren, dazwischen Zeichnungen, alle gewidmet von einem »dankbaren Loulou«, und ein kleines kostbares Schäferbildchen in geschnörkeltem Altgoldrahmen – »das hab' ich von dem da«, sagte sie stolz und zeigte auf eine Photographie, welche aus Orléans stammte; ein Familienbild: in der Mitte der Vater in Friedensuniform, daneben die Gattin mit hoher Frisur und strengen schwarzen Augen, drei Kinder – üppige Ringellocken fielen, wie die Natur es wollte, auf breite Spitzenkragen.

»Das Älteste geht in die Klosterschule«, erklärte die Laura wichtig; »dieser Kleine da ist ein wenig mißraten, weil die Amme ihn auf den Kopf fallen ließ; dafür macht aber das jüngste Mädchen seinen Eltern um so mehr Freude, obwohl es nur dreieinhalb Pfund wog, als es geboren wurde, und in Watte gepackt werden mußte. Hier hat es ein Leberfleckchen am Kinn und zwei andere, wo der Rücken aufhört –« man merkte, sie wußte genau Bescheid und freute sich, dieses Wissen bei Gelegenheit anzubringen. Aus der Ecke über dem Ruhebett neigte sich ein zerstoßener Spiegel, mit Pfauenfedern umsteckt, in das dürftige Zimmer hinein. Als Aladin näher trat, ging sein Gesicht fürchterlich in die 299 Breite; das Mädchen blickte ihm über die Schultern und war gleichfalls verzerrt und verzogen: »das haben manche besonders gern«, sagte es wie zur Entschuldigung und mußte plötzlich lachen. »Nein, guck doch mal, was für ein hübscher Kerl!« rief es und griff dem Besucher schmeichelnd unter die Achseln, um ihn gleichfalls zum Lachen zu bringen. Er hob seine Arme und sagte ruhig: »ich bin aber gar nicht kitzlig.«

»Auch da nicht – und da – –?«

Er packte sie rasend um ihre dünne Taille und warf sie auf das Bett. Sie schrie vor Vergnügen und wand sich in seinen flackernden Händen, ihr Lachen sprudelte immer rascher aus der zarten, bläulichen Kehle, die Brüste hüpften, er sah ein Wasser und eine getupfte Forelle, die er gefangen hatte, das Wasser rieselte, plätscherte, schluchzte und wurde stärker, indem es dahinschoß; es war Wasser und Sonne, Lachen und Weinen, zuletzt aber nur noch Weinen: eine strömende Klage in Felsengängen, ein kurzes, schluchzendes Hüpfen über rund gewaschenen Kieselsteinen; dazwischen schnellte der glatte Fisch sich bebend in die Höhe, seine Tupfen traten stärker hervor – jetzt goldbraun, jetzt moosgrün, jetzt rötlich – nun sah er: es waren die Pünktchen in ihren hellgelben Augen; die gleichen, welche der Lückenbüßer auch in den seinen hatte. Sofort lief alle Begierde tropfengleich von ihm ab. Sie merkte es, weinte weiter, aber jetzt nur aus List, wie ihm schien; ein kindliches, herzzerreißendes Weinen, das immer höher wurde und sich endlich in einem Stottern verzweigte, das Aladin nicht verstand.

»Was sagst du? Wer hat kein Futter?« forschte er teilnahmsvoll.

»Mein Kaninchen«, sagte sie kläglich und deutete mit dem Kopf in die Ecke – nun sah er, daß dort ein Käfig stand, worin sich etwas bewegte und mit den Füßen schurrte. »Es kriegt nämlich Junge.« Sie machte die Tür auf und zog es an den Ohren heraus: ein graubraunes 300 Tier mit schneeweißem Bauch, der sich wellenförmig bewegte und blaßrote, kleine Perlen in seinem Pelzflaum wies.

»Sehr hübsch und von guten Eltern«, meinte Aladin anerkennend.

»Ach, wirklich?« die Laura strahlte. »Aber es hat nicht genug zu fressen!« jammerte sie von neuem.

»Ich hole ihm was.«

»Geschenkt kriegst du auch nichts.«

»Nein, aber für mein Geld.«

»Was?« rief die Laura erstaunt und sperrte Nase und Mund noch auf, als Aladin schon verschwunden war; lief aus der Tür und rief in die Gegend: »dann mußt du mir auch was bezahlen!« doch niemand hörte sie mehr. »Der kommt nicht zurück.« Sie ging verdrossen zu ihrem braunen Kaninchen und fand noch ein welkes Kohlblatt, mit dem sie es füttern wollte; aber die Häsin schnupperte nur und drehte sich wieder fort. »Dann stirb halt«, sagte die Laura böse – es war jedoch nicht nötig, das Kaninchen sterben zu lassen, denn schon nach einer Stunde tauchte Aladin wieder auf.

»Du hättest dich ruhig mehr beeilen können«, sagte die arme Laura, ganz außer sich vor Glück.

»Ich mußte bis in den Ort hinein«, entschuldigte sich der Mann und nahm seinen Rucksack herunter.

»Was hast du denn mitgebracht?«

»Och – einen Kohlkopf – –« er sah, wie sie blaß wurde vor Enttäuschung, und fuhr mit hinterhältiger Stimme, die Hände im Hosensack, fort: »auch Brot natürlich. Ich meine –«

»Brot?« fragte sie atemlos.

Er gab keine Antwort, kniete am Boden und schnürte den Rucksack auf. »Da. Hast du ein Messer? dann schneide mal ab.« Sie tat es. »Du blutest ja!«

»Das Brot ist so hart.« Es war ganz weich, ihre Hände zitterten nur. »Mulle, Mulle!« lockte sie ihr Kaninchen 301 und steckte ihm das Krüstchen zwischen die unruhigen Pfoten; erst als sie sah, daß es nagte, fing sie selber zu essen an.

Der Mann schaute zu.

»Iß doch auch was!«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Keinen Hunger? du hast keinen Hunger?« schrie die Laura, als habe sie eben einen unanständigen Witz gehört, und mußte entsetzlich lachen; dabei verschluckte sie einen Krümel, geriet ins Husten, hustete, heulte und nahm ihr Taschentuch vor; als sie aufhörte, hatte der Mann ein weiteres Stück geschnitten und hielt es ihr stillschweigend hin. Gleich war es verschwunden. »Du darfst nicht so schlingen«, ermahnte sie Aladin. Nun schnitt er kleine längliche Reiter und gab sie ihr in den offenen Mund, als füttere er ein Kind – sie aß immer weiter, der Tag fiel ihm ein, wo die Liesa ihm auf der Kellertreppe den Suppenteller gehalten hatte, bis er ganz zum Grunde geleert war. Alles Gute geht rund, mußte Aladin denken; genau wie alles Böse. Was dem einen geschieht, tut er an dem andern, denn das Leben ist Stellvertretung, auch wo es ein Mensch nicht weiß. So fütterte er die Laura denn weiter; sie saß jetzt erschöpft auf dem Ruhebett und schluckte gehorsam Bissen um Bissen in ihre Kehle hinunter; fast brauchte sie gar nicht zu kauen, da Aladin, in der Befürchtung, sie möchte sich den Magen verderben, immer kleinere Stücke abbrach, ja zuletzt, weil er fand, sie habe genug, die Laura von seiner flachen Hand nur noch Brosamen abnehmen ließ . . .

»Bist du satt?« Sie seufzte befriedigt und zog die Beine hinauf; verschränkte die Arme hinter dem Nacken und sah mit schläfrigen Augen gegen die Zimmerdecke. Aladin blickte suchend umher und fand einen türkischen Morgenrock, der neben dem Spiegel hing; nahm ihn herunter, rollte ihn fest um ihren Vogelkörper und steckte ihr noch am Ende ein Kissen unter den Kopf; 302 das merkte sie aber gar nicht mehr, weil sie – kaum, daß er anfing – schon eingeschlafen war.

Ihr Atem ging leicht und war nicht zu hören; bis auf das Schurren des braunen Kaninchens war es vollkommen still in der Stube, fast hätte man »friedlich« sagen können, wenn nicht die beißenden Bilder an den Wänden gewesen wären. Von Schritt zu Schritt, wie ein Kenner, betrachtete sie der Mann: nein . . . jene billigen, leeren Atrappen einer enttäuschenden Wollust waren schon ebenso unwirklich ferne wie das Barackenlager – oder haftete diese Unwirklichkeit zuerst an den Baracken und ging von da aus auf alles, was sie umschlossen, über? Wie schlecht die Mauer hier war! Aladin kratzte ein wenig, und Tünche fiel auf den Boden, das graue Totengesicht des Steines trat hervor. Dort lief eine Spinne. Hier wuchs der Schwamm. Und in allen Poren die Zeit. Sie lockerte, löste, trieb auseinander und wetzte allmählich die Wände so dünn wie ein Kartenspiel, das die Wirtshausbrüder allabendlich gebrauchen – er war der Kiebitz und blickte der Zeit geisterhaft über die Schulter; er sah durch die schwachen, verschabten Wände, die ineinander- und hintereinander- und nebeneinandergeschoben waren: die Mannschaftsstuben, die Zahlmeisterei, das Offizierskasino; er sah auch die blaugrauen Schatten wieder, welche dazu gehörten, und andere Schatten am Arm dieser Schatten: Mädchen mit nackten Blicken und falschen, farbigen Haaren, die um die Kantine strichen, und, wenn der Feldpropst vorbeikam, die freche Zunge wiesen. Wie eine Girlande von faulen Früchten schaukelte dieses Volk auf dem Lager im Schicksalswind hin und her; es hatte sich untergefaßt und machte Schunkelwalzer, daß das Kartenhaus zitterte. Manchmal kollerte einer zu Boden – schwarz angelaufen wie eine Zitrone, die im Feuchten gelegen hatte; der Sand fing den Aufschlag unhörbar ab und rieselte darüber . . .

Stille. Nur Bilder. Ein Atmen, ein Schurren, das von 303 dem Tier und der Hure herkam – aber zwischen dem Tier und der Hure war nichts Lebendiges mehr. Aladin sah zu der Laura hinüber. Jetzt, wo sie die Lider geschlossen hatte, schien die Ähnlichkeit mit dem Lückenbüßer nicht mehr so offensichtlich. Er beugte sich langsam über die Frau – ihre Lippen waren ganz leicht geöffnet und in den blaßroten Winkeln zu einem Lächeln vertieft; wahrhaftig: sie lächelte wie ein Kind, von welchem die Leute sagen, daß die Engel im Traum mit ihm spielen. Schöne Engel, dachte der Mann erbittert, die hier ihre Federn gelassen haben! und versuchte sich die gerupften Kerle und ihre scheußlichen Spiele mit der Laura vor Augen zu stellen. Aber während er sie noch betrachtete, veränderten alle Dinge wunderlich ihr Gesicht; vielmehr, sie wurden erst ganz, was sie waren: scharf, blendend und ohne Lüge wie eine Kreuzotter in der Sonne, ein Uhuauge zur Nacht. Hunger war Hunger, und Wollust war Wollust – eine Tollkirsche, dunkel und glänzend in einem – doch Güte war auch Güte: ein Fingerhut Honig, ein Euter Milch, zwei Hände voll Heidelbeeren. Denn so war sie in Wirklichkeit, diese Laura, von der jeder was anderes wußte: aus Hunger, Wollust und Güte und einem Geheimnis zusammengesetzt, woran die übrigen drei erst sichtbar werden konnten, während es unsichtbar blieb; ihr selber wahrscheinlich so unbekannt wie dem Vogel die Luft, die ihn trägt . . .

Er wurde ganz fröhlich, ihm war so leicht, als wäre er körperlos und hätte sich, Seele an Seele, mit ihrem Geheimnis geküßt. Ein Liedchen pfeifend, er wußte nicht welches, ging er auf lockeren Hüften im Zimmer hin und her – die Laura erwachte, besann sich auf ihn und sagte dann vorwurfsvoll: »du wolltest doch Holz für mich lesen?«

»Ist denn gar nichts mehr da? ich denke mir nämlich: wir könnten Kaffee kochen.«

Sie starrte ihn an, als ginge das alles unmöglich mit rechten Dingen zu, und fragte wie einer, welcher den 304 andern auf seine Künste hin prüfen will, ohne daran zu glauben: »mit Zucker und Zigaretten? wie?«

»Natürlich«, sagte Aladin stolz, »und auch Büchsenmilch kannst du haben – oder trinkst du ihn lieber schwarz?« Sie gab keine Antwort, er drehte die Hände zweimal übereinander und flüsterte »Hokuspokus«, kniete zur Erde, entnahm dem Rucksack eine Tüte mit Kaffeebohnen; eine größere, welche gestoßenen Zucker; ein Döschen, das Milch; eine Schachtel, die Zigaretten enthielt – nicht lange danach goß die Laura das brodelnde Wasser über, sie hatte nicht erst den Eisenofen zum Kaffeemachen anstecken müssen, sondern auf einem Petroleumkocher das kleinere Wunder verbracht.

»Der ist aber ordentlich steif«, sagte Aladin wohlgefällig. »Da bleibt ja der Löffel drin stecken.«

»Warte mal«, wehrte sie ab, als er schon einschenken wollte, und kramte ein Fetzchen Tüllstoff hervor, »wir gießen ihn durch das Tuch.«

Er neigte die Kanne, sie spannte den Tüll über die Kaffeetasse, der Satz schoß protzend und blasig heraus und blieb in dem Abfang liegen; von unten her stieg ihm die Brühe entgegen: stark, duftend und dunkel, ein Elixier aus Aladins Zauberkräften.

»Ich wußte ja«, sagte die Laura dankbar und gebrauchte dabei ganz ahnungslos einen Ausdruck des Lückenbüßers, »daß du mehr als Brot essen kannst.« Sie lachte, ohne zu wissen, warum – er stutzte: mit diesem Lachen – »rein wegen gar nichts«, wie einmal der Anton auf dem Kartoffelfeld sagte – war das Kind wieder neben ihm.

»Freilich, das Brot hast ja du gegessen. Und daß ich mehr als Brot essen kann, hat mir ein anderer schon mal gesagt. Der war aber kleiner als du.«

Er brannte ein Streichholz an, gab ihr Feuer, sie trank die Zigarette wie Wasser und blickte entrückt in den Rauch. »Kannst du Ringe machen?« fragte sie arglos.

»Wie der Dodot?« schlug er zurück. 305

Sie fuhr zusammen, schrie unterdrückt und sah ihm mit aufgerissenen Augen in das harte, ruhige Gesicht. »Der – Dodot? wieso denn der Dodot?« stammelte sie entsetzt.

»Nun, ich denke, wenn er das Kind machen konnte, kann er auch Ringe blasen«, erwiderte Aladin.

»Du glaubst also, daß er das Kind gemacht hat?« fragte die Laura gespannt; ihre Züge waren von allem entblößt, was sie verteidigen konnte; der ganze Mensch glich nun einem bis auf die Grundmauern abgebrannten oder zerstörten Haus. »Ja? hat er das wirklich?« sie lachte wieder; über dem offenen, nackten Geviert stand ein Gewitterhimmel und blitzte mit diesem Lachen schauerlich durch es hin.

»Das mußt du ja selber am besten wissen«, entgegnete der Mann.

»Nein –« sagte sie, qualvoll verwundert. »Nein, heute weiß ich das wirklich nicht mehr.« Sie bog sich seufzend zu Aladin hin und tastete mit gespreizten Fingern nach seiner haarigen Brust. »Kannst du es mir nicht sagen?« flüsterte sie beschwörend und sah ihn vertrauensvoll an.

»Ich –« sagte er heiser und nahm ihre Hände von seinem Herzen herunter, »ich bin doch nicht der Dodot aus Nantes – ich mache doch keine Kinder, um sie nachher dem Hund zu fressen zu geben – –!«

»Ach . . . ach . . .« sie ächzte und wiegte den Kopf auf ihren mageren Schultern, »ist die Dogge denn immer noch da?«

»Die nicht mehr. Aber die Tochter der Alten. Die Hero, die im vergangenen Herbst gleichfalls geworfen hat.«

»Nur immer weiter. Decken und werfen«, lallte die Laura befriedigt. »Dann lernt der Satan nicht aus.« Sie warf ihre Zigarette hinunter und zertrat die Glut wie ein böses Insekt, das man vernichten, zerreiben und vom Erdboden tilgen mußte; Aladin folgte ihr mit den Blicken und sagte: »nun ist es gut.« 306

Kaum daß dieses Wort gefallen war, fing die Laura zu weinen an. Sie weinte erst schreiend; mit kleinen Sätzen, wie Schnee mit Hagel vermischt; dann ging sie von allem Menschlichen fort und ließ das Weinen so wild aus ihren Poren brechen, daß sie im Augenblick überschwemmt war: ihr Gesicht, ihre Hände, ja selbst ihre Knie, worauf sie den Kopf geworfen hatte, trieften von Tränenflut; es dünkte Aladin, diese Laura wäre, wie andere Menschen von Blut, von lauter Tränenwasser erfüllt und ihr Leben liefe jetzt rettungslos aus, wenn er die Wunde nicht fände, woher es in langen, furchtbaren Stößen immer neu ans Tageslicht brach. Das war kein Weinen wie jenes vorhin, womit sie ihn rühren wollte; das war überhaupt von ihr selbst nichts Unterschiedenes mehr: eine Wassersäule mit Haupt und Händen erfüllte das kleine Zimmer und hatte nur deshalb noch menschliche Formen, weil sie unaufhörlich nachgespeist wurde; so: wie eine Springquelle ihre Gestalt von dem immerwährenden Dasein des Wassers und dem Druck, mit dem es herausschießt, erhält. Sie ist nicht mehr da, wenn sie aufhört zu weinen, dachte Aladin unwillkürlich und preßte die Laura in seine Arme, als könne er dadurch verhindern, daß sie ums Leben käme. Sie schluchzte weiter, rings von den Wänden stierten die Bilder herunter: seltsam verzerrt, wie es Aladin vorkam, als fürchteten sie, von den Tränen der Laura abgewaschen zu werden . . .

»Höre!« sagte er plötzlich und packte sie an den Schultern, rüttelte, zerrte sie hoch und sah ihr in das Gesicht. Es war völlig zerstoßen. Nichts mehr war heil. Die Haut schien in Fetzen herunterzuhängen, verbrannt oder abgelaugt. »Höre!« sagte er noch einmal, »ich will dir etwas verraten.«

»Was – denn . . .?« fragte sie kindlich zurück; ein Schluchzen stieß ihre Worte mitten im Satz entzwei.

»Ich bin der Bruder des Dodot aus Nantes und stehe für ihn gerade.« 307

»Der Bruder des – Dodot?« hauchte das Mädchen in grenzenlosem Erstaunen. Er nickte. Sie sah ihn lange und schweigend mit den dunkel getupften Augen an; das Kaninchen richtete drüben im Käfig seinen schnuppernden Kopf in die Höhe und setzte plötzlich die Vorderpfoten dem maschigen Drahtgitter auf: auch es schien zu prüfen und sich zu besinnen, was Wahrheit und Lüge sei.

»So wahr ich lebe – ich bin sein Bruder«, wiederholte Jean-Marie Aladin mit feierlicher Stimme.

»Und ihr – ihr seid euch ähnlich – –?« fragte die Laura bebend.

»So ähnlich«, erwiderte freundlich der Mann und schimmerte überirdisch, »daß ich mich manchmal selber mit ihm verwechseln könnte.«

»Aber dann . . .« sie brach ab und begann aufs neue, ihn eindringlich zu betrachten – dabei war es, als wüchse ihre junge Haut unter der abgeweinten – »dann«, sagte sie selig und seufzte tief, »bin ich sicher, daß ich den Dodot aus Nantes noch nie gesehen habe.«

»Das hast du auch nicht. Du hast keine Schuld. Wenigstens, als das Kind unterwegs war, hattest du sie noch nicht.«

Sie nickte und dachte angestrengt nach. »Aber du sagtest doch eben, du stehst für den Dodot gerade.«

»Ja. Denn es hat ihn gegeben. Sonst hättest du seinen Namen doch überhaupt nicht gewußt.«

»Ach – seinen Namen. Was will das schon heißen. Ich hätte ja ebensogut einen anderen nennen können.«

Er zuckte zusammen; blendendes Licht durchfuhr sein Eingeweide. »Ja. Jeder war ein solcher Dodot – ob er Dodot hieß oder nicht. Lauter Dodots . . . lauter Besatzungssoldaten . . . der richtige ging durch die Lumpenmühle und blieb auf dem Erlenhof hängen.«

»Nun«, sagte die Laura, nicht weiter verwundert: »Soldat ist Soldat, und ich habe auch später den einen stets für den andern genommen. Die Uniform war ja gleich.« Sie verstummte und schien jener Zeit, in welcher sie 308 Mann um Mann in ihre Umarmung genommen hatte, ohne Bitterkeit nachzusinnen; vielleicht, mußte Aladin denken, war sie von jener Sorte, die aus allem nur Honig macht.

»Aber jetzt sind sie fort«, versuchte er sie, »und du kannst hier verrecken.«

»Nein, nein. Es kommt ab und zu einer vorbei, der das Lager von früher her kennt. Auch der gelbe Mohammed ist noch da und verkauft seine falschen Krawatten an die Leute vom fliegenden Wirtschaftsteil; die haben das Grelle so gern.«

Erbarmungslos hielt sie Aladin fest: »und von denen ernährst du dich? schöne Kunden, das muß ich sagen, diese Dreckbudenkerle, die auf der Kerb ihre Zuckerstangen verkaufen, in die sie vorher hineingespuckt haben –«, sie wollte ihn unterbrechen, er ließ es aber nicht zu. »Mehlclowne: obenher sind sie weiß und stinken an den Füßen. Der Fotograf nennt sich ›Klein-Paris‹ und nimmt die Fortbildungsschüler nach französischen Mustern ab.«

»Aber manchmal«, sagte die Laura verzweifelt, »kommt auch ein feinerer Herr. Ein Kabelarbeiter vom Überlandwerk –«

»So?« sagte Aladin höhnisch und legte, um sie zu reizen, die Beine über den Tisch. »Das zählt schon? das ist schon ein feinerer Herr für eine Sergeantenschneppe?«

Nun wurde aber die Laura böse. »Was heißt hier feiner? für mich ist das gleich. Und wenn einer schließlich nichts zahlen kann, dann geht es auch einmal so.«

»Ja, bist du dir selber denn gar nichts wert?« schrie Aladin sie an.

Sie hob ihre Schultern, ein listiger Ausdruck lag über ihrem Gesicht.

»Wie? gestern zehn Franken und heute ein Schwarzbrot und morgen ein Tritt?«

»Der Tritt war das erste«, sagte sie schnell; ein Schatten eilte im Nu vorüber und ließ keine Spuren zurück . . . 309

»So? war er das erste?« brüllte der Mann. »Dann wird er, das kann ich dir schwören, auch sicher das letzte sein.« Er griff nach den Zigaretten, dann nach der Streichholzschachtel und brach in der Erregung die ersten zwei Hölzchen ab – bei dem dritten merkte er endlich, daß die Zündfläche vollkommen naß von den Tränen der Laura war. Sie nahm ihm die Schachtel geschickt aus der Hand und rätschte das nächste Hölzchen an seiner Schuhsohle an. Das Flämmchen flackerte – nun, wahrhaftig, durchfuhr es Aladin plötzlich: diese Laura war es imstande und schlug Feuer aus jedem Tritt. Er rauchte und nahm mit Verwunderung wahr, daß das scharfe Gesicht des Mädchens jenen eigentümlichen Ausdruck noch hatte, den es schon vorher besaß: eine Mischung aus Arglist und Jammer, wie verwilderte Katzen sie haben; doch spielte darüber noch anderes hin: Mitleid, Gefühl einer Rührung und Herzlichkeit, welche zu kräftig war, um sich vollkommen aufzugeben.

»Trink deine Tasse aus«, sagte sie eifrig, »der Kaffee wird sonst kalt.«

Er tat es; aus blauweißer Wolke trat ihr Geheimnis hervor: gewiß, man hatte ihr nichts erspart und das letzte an Schande zu kosten gegeben; mit Jauche war ihre Wurzel getränkt, ihre Krone von schlechtem Wetter zerzaust, ihr Leib zertreten worden; wie eine Hacke war böses Gerede und Hochmut dahergefahren und hatte sie dem Gedächtnis der Menschen mit Stumpf und Stiel ausrotten wollen – aber alles war über sie hingegangen, ohne sie zu zerstören, weil sie demütig war wie Gras . . .

»Ich gehe jetzt fort und lese dir Holz«, sagte Aladin, trunken von Liebe. »Du kannst es dir an dem Schießstand holen. Dort muß ich nämlich vorbei.« Er stand auf, sie reichte ihm einen Strick, um die Welle zusammenzubinden. »Adjö –«

»Ach, warte mal!« 310

»Was denn?« er drehte sich unter der Kammertür um, die unvermittelt ins Freie führte; vor der Schwelle krümmte sich braunes Laub aus dem Herbst des vergangenen Jahres.

»Ich möchte so gerne noch wissen, wie – ja: wie du eigentlich heißt.«

»Wie ich eigentlich heiße?«

»Nun eben. Deinen Vornamen möchte ich wissen.«

Der Fremdling hob seine Hände, legte sie flach aneinander und ließ sie in den Gelenken wieder nach auswärts fallen; mit dieser Bewegung tauchte das Antlitz und die Geschichte des Philipp Allwissend: von dem Hostienbäcker, dem Hostieneisen und den heiligen Initialen, die sich der Erde eingesenkt hatten, zum letztenmal vor ihm auf. Nun, wo er nahe war, fortzugehen: von dem Lager, der Lagererde und seinem Tränensold, den sie getrunken; mit welchem sie sich in den Sohn ihres Schoßes und ihn selber in sich verwandelt hatte – nun fühlte er, daß ihm der Himmel, wie das Hostieneisen der Erde, einen Namen aufprägen wollte, der unaussprechlich war; der von allen Erlösten geteilt werden konnte wie früher der Name »Dodot« von allen, die Unrecht taten.

Aber mutig lud er sich diesen Dodot noch einmal auf seine Schultern: »ich heiße nicht anders, als ich schon sagte. Sonst habe ich keinen Namen.«

Ungläubig fragte sie: »du und dein Bruder – ihr könnt doch nicht beide nur ›Dodot‹ heißen?«

Sich selber rätselhaft, gab er zur Antwort: »auf den Unterschied kommt es jetzt nicht mehr an. Dodot hin, Dodot her. Es ist keiner mehr da. Der letzte bin ich gewesen.«

»Dodot hin, Dodot her – und der letzte bist du – –« wiederholte die Laura zufrieden. Dann schwiegen sie beide; der Wind kam von draußen und drückte gegen den Türspalt, welchen Aladin offen hielt; mit dem Wind kam das Laub, mit dem Laub ein Geraschel, wie welke 311 Blätter es machen, und spielte um ihre Füße. Er wandte sich ab, da setzte die Laura wie von ungefähr noch einmal an: »und nun gehst du nach Hause und kommst nicht mehr wieder?«

»So wahr ich –« lebe, wollte er sagen, wie vorher, als er versichert hatte, der Bruder des Dodot zu sein; aber schon fühlte er, wie dieses Wort zu einem Papierschiffchen wurde, das nicht einmal mehr seine Asche über den Altrhein trug.

»So wahr du –?« drängte die Laura gespannt.

»So wahr ich weiß, daß du selber nun wieder nach Hause gehst.«

Sie bewegte die Lippen, kein Wort kam darüber, er ging durch die Tür, der Wind half dem Dodot, sie ordentlich zuzumachen. Die Laura blieb in der Stube stehen, ohne sich rühren zu können. Diese Stube war merkwürdig leer geworden; ein wenig Rauch nur hing in der Luft – blaugrau, als habe der letzte Franzose sich mit der Nachhut des Heeres in unendlicher Ferne vereinigt.

 

ende

 


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