Elisabeth Langgässer
Proserpina
Elisabeth Langgässer

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Nach dieser Nacht, in welche das stürzende Jahr seine Kraft ergossen hatte, schienen alle übrigen leichter, und wie Fruchtkammern, die man offen läßt, weil sich nach der ersten Ernte die folgenden wie von selber bringen, waren ihre Tore zurückgezogen. Wer würde die Einfahrt verriegeln, wenn die Sonne hinabgegangen ist: noch kehren verspätete Wagen vom Acker heim, verlieren das allzu hoch Getürmte, und es rollt in den Keller hinunter; der Wind schüttelt abends die Bäume nach, und den ährenlesenden Kindern zeigt die raschelnde Feldmaus in der Dämmerung die vollen Halme an.

Sieben Wochen danach – und der satte Sperling läßt aus seinem Schnabel die Traube fallen; mit blutendem Fell läuft der gejagte Hase in den Hof und darf gegriffen werden; das erschrockene Eichhorn springt aus den Ästen des Nußbaums und wirft die Kerne herunter.

Der Erdapfel läßt seinen unterirdischen Stiel, an dem er reifte, los und liegt flach in der Krume; nach der Wärme von Keller und Scheune sehnt sich alles Gebräunte und nimmt seinen Weg wie ein 81 Pferd, das der Landmann abgeschirrt hat: Es geht mit geduldigen Schritten nach Haus ohne Knecht und Zügel.

So kamen auch, während der Mond sich zweimal füllte, Geschenke der Liebe und Natur zu dem Gärtner und der Magd und schienen keiner Boten mehr zu bedürfen; auf unsichtbaren Füßen gingen sie hin und her ohne menschliche Bemühung und vertrauten dem Zufall; wie eine Samenflocke, die sich am Morgen vom Boden hebt und gegen Abend in die Erde gefunden hat, fügte sich jede Gabe über Mauer und Gärten hin – und es muß wohl in einem Frühherbst gewesen sein, daß ein alter König drei Federn in die Winde blies und seinen Söhnen befahl, ihnen nachzugehen wie untrüglichen Deutefingern. Bald trug der Gärtner ein handgenähtes Tuch, bald einen Ring aus glänzendem Achat die Magd, und das Lied, das der Bursche beim Graben sang, tönte unsicher summend von den Lippen des Mädchens, wie wenn eine Biene es weitergeläutet hätte und vor dem fremden Honigstand verwirrt geworden sei.

Als aber der Himmel sich allmählich entvölkerte, tiefer wurde und von kühlerer Bläue, als die Vögel verstummten und nach weiser Beratung von dannen zogen, verloren die Geschenke ihre Flügel; und nun war es die Magd, die dem Kind unter Tränen die Hände füllte, wenn es zu Jakob ging, 82 ihm ihren Nachtisch verwahrte, damit es williger wäre und dem Geliebten die süße Wabe bringe, welche ihr Vater aus dem Nachbarort geschickt, die Meerschaumpfeife, die sie heimlich von einem wandernden Händler erstanden hatte, und den schön geschnitzten Stock ihres verstorbenen Bruders, ein Geschenk, das hernach noch lange, als der Gärtner mit dem nahenden Winter auf andere Arbeit hinweggezogen war, an der Holzwand des Gartenhauses lehnte.

Das Kind tat auch willig, doch teilnahmlos, worum die Magd es bat; kalt und zurückgelassen in unendlicher Leere, sah es, wie der Freund beiseiteschob oder lässig benützte, was die Geliebte ihm opferte; und die fühlende Seele schien ihm entschlafen zu sein wie die Dryade den winterlichen Bäumen. Nicht wie damals empfand sie Mitleid mit einer verstoßenen Schwester, Zorn oder Trauer über ihren Verrat; sie verlangte nicht mehr nach dem Trost der Mutter und verhärtete sich in langen Nächten wie die duftlosen Dahlien und festen Zinnien, die wie aus Metall geschnitten sind.

Wohl aber freute sie die herbstliche Arbeit: sie schob den kleinen Rechen die Wege entlang und häufte das Laub zusammen, löste die klappernden Schoten der dürren Bohnen und entkernte sie.

Welch leise Rührung, die Beete abzuräumen von Reisern und Stangen, die noch umwunden waren 83 mit gilbenden Blättern, an denen hier und da ein Vergessenes hing: ein leeres Schneckenhaus oder die bereifte Blüte einer kleinen Aster, die zwischen den Hölzern wohnte!

Mächtiges Bild des Herbstes, wenn der Gärtner den Dünger unter die Erde grub und sich mit seinem Rauch die abendlichen Nebel vermischten; ermüdete Scholle, die nun zur Ruhe ging und, aufgeworfen, noch einmal wie mit blinden Augen – Larven und hohen Hülsen – zum Himmel starrte!

Kam dann die Dunkelheit, so wurde die Spreu auf niedrigem Karren nach Hause gefahren, und der steinerne Feuerherd nahm auf, was von erdentbundenen Kräften einst durchwaltet worden war. Die zarten Pflanzenleiber bogen sich knisternd in die brausende Flamme, die ihre Form nachfühlte und rötlichen Qualm verbreitete, durchdringenden Geruch: den des Holzes, an dem das Harz noch klebt, den einer mitverbrennenden Frucht, die man auszulesen vergessen hat, oder einer halben Kartoffel, deren Schale heimlich verkohlt, während wilde Kastanien, die unter das Laub gerieten, mit kurzen Schüssen dazwischenknallen.

Vor dem offenen Feuer saß die alte Gärtnerin und legte mit den abgebrochenen Händen nach, wobei sie unablässig den jungen Burschen schalt, Verwünschungen murmelte und über die 84 wachsende Kälte klagte; oft warf sie auch Räucherwerk in die Glut, das, wie sie sagte, ihr den Atem erleichtern sollte und stechenden Dunst verbreitete.

Niemals war sie dem Kind geheimnisvoller erschienen als in diesen Stunden, wo der Abendfrost es an ihre Seite trieb und es ihr Antlitz nahe sah, dessen unzählige Furchen wie endlose Wege durch ein ödes Gebirge waren.

Indem es sich aber immer dichter an die Alte anschloß und, abschiednehmend von den Blumen, auch von ihrem Sämann sich langsam entfernte, sahen seine Augen den winterlichen Zauber, um dessentwillen die Gärtnerin in der Stadt und den umliegenden Dörfern als Hexe verschrien und in der Dämmerung aufgesucht wurde.

Zum erstenmal war es, als ein braunhaariges Mädchen aus der Nachbarschaft eine Henne herüberbrachte, die sich angeblich verlaufen hatte, und mit leisem Schmachten, welches so deutlich war wie das einer dürstenden Pflanze, hinwegzugehen zögerte, worauf das Weib die Ängstliche näher winkte, ihr schweigend ein Kettchen vom Busen nahm und es blitzschnell durch das Feuer zog, wobei sie Worte vor sich hinsprach, die selbst für sie ohne Sinn sein mußten, vernunftlos und gewaltig.

Später begegnete das Kind, aufmerksam geworden, noch vielen Frauen dort, welche alle 85 einander darin zu gleichen schienen, daß sie unter äußeren Vorwänden ein verborgenes Anliegen hatten und auf der Tischkante ihren dürftigen Pfennig zurückließen für den Rat und die Hilfe der Alten.

Immer wechselte ihre Gebärde: Bald verbrannte sie undeutlich sichtbare Gegenstände in den Flammen – Püppchen, wie es dem Kinde schien –, bald entzündete sie eine Kerze und ließ auf Bilder, welche die Mädchen ihr brachten, den glühenden Tropfen fallen; immer aber war es der Umkreis des Herdes, von dem die Beschwörung ausging und in welchem sie wirksam wurde.

Oft streiften sich fast die Weiber in dem finsteren Hausflur und sahen einander prüfend und voller Mißtrauen an, das sich mitunter zu offener Drohung steigerte, wie denn auch niemals das Kind einen Aufschrei vergessen hat, mit welchem sich wie gekrümmte und schneidende Sicheln zwei Feindinnen gegenüberstanden, den furchtbaren Augenblick, als es unter der erhobenen Schärfe ihres Hasses hindurch nach Hause lief, wo die Mutter ihren Flüchtling erwartete und ihn mit großem Blick, der nun den Dingen nicht mehr folgte, sondern ruhte mit den ruhenden Tagen, auf die Knie nahm und ein Märchen zu erzählen begann.

So wunderlich verstrickt in neue Begegnungen, die von der Gärtnerin nach Hause und also 86 Proserpina von Feuer zu Feuer führten, bemerkte sie kaum, daß sich der Freund zum Abschied rüstete; und erst, als er eines Morgens reisefertig dastand und das Bretterhaus abschloß, erfuhr die Bestürzte, daß seines Bleibens hier nicht länger und der Sommer endgültig gegangen war.

Weil nämlich der ländliche Garten nicht mehr genügend Beschäftigung für den Burschen bot, er auch bemüht war, in fremden Gegenden seine Kunst zu erweitern, nahm er für den Winter bei holländischen Gewächshäusern Arbeit an und fuhr mit befreundeten Flößern, die Gesellschaft in der kalten Hütte zu schätzen wissen, den Rhein hinunter.

In diesem Jahr nun hatte er sich länger verweilt als sonst, sei es, daß seine Herrin ihn nicht früher entlassen mochte, als das Brennholz gespalten und der Keller verwahrt war; oder daß eine seiner Frauen ihn mit begierigen Augen zurückzuhalten wußte. Er machte sich daher mit verdoppelter Eile auf den Weg und versäumte sogar, die Reisegabe bei dem Vater des Kindes abzuholen, welche ihm regelmäßig gegeben wurde und weniger Geschenk als zugebilligte Entlohnung für die Pflege des Gartens war.

So kam es, daß die Magd, welche wie eine vergessene und unermüdliche Blüte allabendlich an der Pforte stand, vergeblich nach ihm schaute, bis 87 sie endlich auf schüchternen Füßen zu der Alten schlich und dort erst erfuhr, was ihr das Kind aus begreiflicher Scheu verheimlicht hatte.

 

Nur wenige Tage waren vergangen, als die Kleine, von grauen Frösten geschüttelt, die Schuhe durchnäßt an den Blätterhaufen, nach Hause kam und über den Flur nach der Küche lief, wo sie Wärme zu finden hoffte und das ruhige Gesicht der Mutter.

Als sie ungestüm eintrat, bemerkte sie aber, daß der Raum schon im Dunkel lag und nur von der aufgestoßenen Tür des Herdes flackernden Schein und rauchige Glut empfing. Indem ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnten, fiel ihr ein Schatten auf, der vor der Flamme wogte, und hinzueilend, sah sie die Magd auf den Fliesen knien. Schon öffnete sie den Mund, um dieses seltsame Tun zu bereden, da winkte das Mädchen ihr Schweigen, umschlang sie fest mit dem rechten Arm und warf aus einem Gefäß, das auf dem Boden stand, linkshändig dreimal Salz in die Flammen, wobei sie mit lauter Stimme und im Namen des dreieinigen Gottes den Geliebten beschwor, in drei Stunden wiederzukehren. Dann zog sie das Kind auf den Schoß, und befragt, woher sie wisse, daß nun der Gärtner käme, flüsterte sie den 88 Namen der Alten, sank zurück an die steinerne Feuerwand und schien in Schlummer zu fallen.

Langsam verschwelte inzwischen die Glut und brannte sich tiefer; die Wände zuckten auf und nieder, Gestalten entlassend aus Schatten und Nische; ein Wagen donnerte fern; an den Häusern schlugen die Fensterladen; das Gartentor klagte, und mit müden Schritten begab sich der Vater auf sein Zimmer.

Es schauerte das Kind; es bettete sich müde in die unruhige Wärme der Magd, und ihr glühender Atem ging einschläfernd auf es über. Trotzdem verlor es nicht das Gefühl seiner selbst, und je länger es wachte, gewannen seine Sinne einen neuen hinzu, in welchem sie alle gesammelt und vervielfältigt waren. Deutlich empfand es, wie vor Gewittern, ein mächtig Nahendes, das wie Wolkenschatten über die Hügel lief, aber auch die Erregung des Raumes, der das Schicksal erwartete und bereit war, es zu empfangen.

Als auf entferntem Glockenturm die neunte Stunde verklungen war, erwachte die Magd, schob das Kind zur Seite und öffnete die Tür, in deren Rahmen der Gärtner stand.

Erschöpft, mit fahlen Backen und aufgewühlten Haaren, die an den Spitzen verblaßt schienen, als ob ihm ein allzu stürmischer Wille in die Locken gegriffen hätte, trat der taumelnde Bursche hinzu 89 und schlug mit dem Kopf an die Wand. Noch waren seine Augen geschlossen, und erst als die Magd ihn anrief, tat er sie mühsam in der Richtung des Herdes auf – hob hierauf plötzlich wie in Abwehr die Arme, und ein dreifacher Schrei erschütterte den Raum.

Vor dem geschändeten Feuer stand die Mutter, stand eine rasende Ceres, herausgetreten hinter der Rückwand, die sie verborgen hatte. Das große Gesicht, auf welchem Unheil und furchtbare Strenge thronten, war wie aus Stein geschnitten und überhell beleuchtet von einer kleinen Lampe, die sie jetzt entzündet in Händen hielt; von ihrem Haar floß ein Schleier, den sie bei der häuslichen Arbeit gebrauchte, um sich vor Staub zu schützen, nun aber im Zorn gelöst und an den Enden zerrissen hatte.

Das Licht zur Erde setzend, befahl sie dem Gärtner hinzuzutreten, und aufgefordert erzählte er langsam, wie das Floß, auf welches er hoffte, schon vorübergewesen sei, ihn aber ein Kohlendampfer gegen Arbeitsentgelt bis zum Niederlauf bringen wollte. Verschiedener Schäden wegen habe sich das Schiff um einiges verspätet, und unfreiwillig zurückgehalten, sei er täglich durch die Straßen gegangen, an Markt und Dom vorüber und bis zum Hafen hin, wo er stundenlang in einer Schenke gesessen habe. 90

Heute nun hätte es ihn nicht mehr dort gelitten; von Unruhe getrieben, habe er sich, ohne zu wollen, auf den Weg machen müssen und plötzlich mitten in einer glasüberdeckten Halle gestanden, in der es von eiligen Menschen und finsteren Wagen dröhnte. Einer derselben habe Tiere enthalten, die unaufhörlich schrien, und über schmale Flußläufe hinweg sei er zu Schafen gekommen und habe sich an das Euter von Muttertieren gepreßt, während ein unaufhörliches Rollen ihn vorwärts und in der Dunkelheit nach einem Ort hinbrachte, den er zu kennen glaubte. Aus der glühenden Höhle der Tierleiber war er sodann gekrochen, als habe er Blut getrunken, und einem Feuerschein nachgegangen, der immer gewaltiger wurde. Im Kern der Flamme brannte eine Frau und schien ihn näher zu winken – er sei hinzugetreten und plötzlich aufgewacht, als wären zwei scharfe Messer ihm in die Augen gedrungen. Jetzt aber wisse er erst, was man ihm angetan hätte.

Hierauf wandte sich, auf den Boden deutend, die Mutter an die Magd, und zitternd nahm diese das Salzgefäß auf, verwahrte es in dem Schrank und klagte in wilden Worten die Alte an, die ihr solches geraten hatte, den Burschen und eine fremde Frau, um die er ihr treulos geworden sei. |

Eine harte Herrin befahl ihr zu schweigen, eine 91 keusche Ceres rächte den Herd: sie wies die Magd aus dem Haus, richtete dem Gärtner ein Lager, entschädigte ihn für die verlorene Zeit und gab der Verstoßenen, die zwei Wegstunden entfernt beheimatet war, Begleitung mit in Gestalt eines alten Bauern aus ihrem Vaterort, der am nämlichen Tag Äpfel zur Stadt gefahren und auf dem Rückweg vorzusprechen verheißen hatte.

Nachdem dies alles geordnet war, entsann sich die Mutter des Kindes und hob den Liebling von dem Schemel, worauf er in der Küche zu sitzen pflegte, tröstend empor. Doch weggebogen von ihrer Brust, fing das Mädchen zu weinen an, schrie um die Magd und verlangte ihr Bleiben. Die Mutter, erschrocken und zornig zugleich, bedrohte es bald mit Strafe, bald sprach sie gut mit ihm und führte endlich, als nichts verschlug, die wilde Kleine in das Zimmer des Vaters, damit er ihr ernstlicher zurede.

 

Dies war ein Raum, der, mit dem Blick auf die Felder, ganz abgesondert lag und so stille war, daß man die Schwalben am Fenster nisten hörte. Von den Wänden sahen gedunkelte Bilder und schöne Bücher feierlich herab; Zirkel und Winkelmaß ruhten rein und gerecht neben der hornenen Briefwaage; und mit milden Augen schaute der 92 Vater von Karten und großen Plänen empor, als die Mutter mit dem Kinde hereintrat.

Obwohl er das Zimmer nicht verlassen und sein ländliches Abendbrot neben sich stehen hatte, schien er um alles zu wissen. Die kleine Tochter wie einen Gast empfangend, bot er ihr Sessel und Kissen an, rückte die Lampe näher und blieb mit ihr allein. Dann trug er eine schwarze Mappe herzu, band sie auf und nahm ein Blatt daraus hervor, das, wie er sagte, sehr alt und des Anschauens würdig sei.

Es war ein englischer Kupferstich und stellte jene biblische Szene dar, wo sich die Rotte Korah gegen Moses und Aaron empört und von der Erde verschlungen wird. In der ungerührten und fast barbarischen Manier der Zeit sah man die Aufrührer bis zur Hüfte in dem klaffenden Bodenspalt, aus welchem Feuer schlug, stecken, die Fäuste drohend und in ohnmächtiger Abwehr gegen die Führer des Volkes erhoben, die der Hölle befahlen, sie zu verzehren wie das Feuer die Wolle.

Den Hergang berichtend, fügte der Vater mit einfachen Worten hinzu, daß diese Leute sich gegen den Namen Gottes versündigt hätten, indem sie nicht auf diejenigen hören wollten, die er über sie gesetzt habe; denn Gott wohne im Licht, und von oben herab sende er seine Boten und Stellvertreter. Wer aber sich selbst erhöbe und mit dem 93 Namen Gottes der Erde entreiße, was der Himmel nicht geben wolle, der tue schwere Sünde. Man nenne sie Zauberei, und die Strafe treffe den Frevler meist an dem Ort, wo er sie begangen habe; wie man denn Beispiele wüßte von Menschen, die aus Habgier oder Vorwitz Gottes Allmacht mißbraucht hätten und auf der Stelle von ihr seien getötet worden.

Darum möge das Kind nicht klagen, daß die Magd ihm genommen sei, denn Unglück zöge sich über dem Haus zusammen, wo solche Dinge getrieben würden – wer aber seinem Engel vertraue, dem wüchsen weit höhere Schwingen zu und ließen bedeutungslos unter sich, was eben erst Wunsch oder Bitte gewesen.

Bei diesen Worten lächelte der Vater, und wie die Sonne nach stürmischer Herbstnacht, ging über der Landschaft des Kindes die winterlich klare Erkenntnis der kommenden Tage auf: Nun fiel von den Bäumen das rauschende Kleid der Dryade, und doch war des Holzes lebendiger Bau nicht enträtselt; es lag ein Geheimnis nicht nur in der sinkenden Hülle und wohnte in dichten Gewölben und Kronen von Laub nicht allein – die schweren Gedanken der Schöpfung durchbrachen das wärmende Dunkel und teilten zuletzt wie geklärte Zweige den Äther in sichtbare Räume auf. Proserpina fühlte, wie Kinder fühlen, in denen die Schöpfung noch 94 ohne Schwerpunkt, noch selig vertauschbar an Haupt und Gliedern und, wie ein Schwimmer im Wesenlosen, ohne Achse und Weg ist:

Jetzt glichen Wurzeln und Äste einander, als hätten die Wurzeln sich langsam aus ihrem Boden gezogen und – zauberhaft leicht wie in Träumen – von dem Abgrund zur Höhe gewendet. Nichts war verwandelt, alles vertauscht und alles nur zarter geworden. Das Menschenreich stand vor dem Kinde, es war auch ein Feenreich, war noch nichts Festes, ein milder Zusammenstrom gleichsam von bläulicher Ferne und Silber, der über der Rede des Vaters wie ein Spiegel zusammenrann. Proserpina trat ihm voll bebender Neugier entgegen – doch weil ihr die frühe Bereitschaft zu sinken schon Übung geworden war, durcheilte sie so seine Fläche, daß jene nicht Zeit hatte, sie zu spiegeln, und das lauschende Mädchen hinter die Rückwand der Worte geriet.

Als ob in die dunklen Beschläge des zaubrischen Glases ein gleiches, doch trüberes Schmelzmetall käme, floß, leise die Sprache bewegend, das Kind in ihr Wogendes ein; es trennte sich, kaum, daß es eben den menschlichen Anruf vernommen hatte, aufs neue, ihn weit überhörend, von seiner Bedeutung und fand sich schon wieder daheim.

Wie einst bei den quellenden Tieren entging es der Oberwelt; doch war seine zweite Entrückung 95 gefährlicher und auch tiefer, weil es unbemerkt durch die gewaltlose Sprache fiel. Nichts Äußeres stand ihm entgegen, denn Winter und Worte erweitern, indem sie den Hügeln des Lebens die fernen Umrisse ziehen – und hatte es früher sein Bild im widerstrebenden Teiche, wie Nixen das Schwan-Kleid, gelassen, so war nun zum Untergrund selber, über dem sich die Pflanzen, die Tiere, die Menschen erst begegnen, und also um das Gewicht dieser Erde das Cereskind schwerer geworden.

Nichts fehlte ihm jetzt mehr als dieses: unhörbar zu werden, nachdem es inmitten der Dinge wie oft schon unsichtbar gewesen, und wurde es früher von Blumen, von Gräsern und graubraunen Tieren als eines der ihren verborgen, so half die Naturkraft der Sprache nun, Proserpina dort zu verschweigen, wo nur die erst keimende Lippe nach gültigen Rechten geduldet wird und die beredsame verstummt.

Im Schoß der Gestalten begrub sie das Kind unter vielfachen Namen, aus denen sie selber hervorwuchs wie Bäume aus Wurzelgeflechten – und spielend, als ob eine Schlange sich leise im Winterschlaf regte, ging Proserpinas flüsternde Seele in die dunkelste Jahreszeit ein. 96

 


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