Elisabeth Langgässer
Proserpina
Elisabeth Langgässer

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Von dem südlichen Teil der ehemaligen Stadtmauer begrenzt, erstreckten sich die Sämereien, Treibhäuser und Beete einer mühsam lebenden Alten, deren Bursche jener Jakob war; und die Erzählung von dem dritten Garten Proserpinas, der sich hinter dem Tierpark des Fiebers und der moosigen Quellgruft öffnete, mag nun zur Reife bringen, was in verschiedenen Räumen, wie in gefächerter Kapsel der Same, an gleichem Schicksal ruhte.

Wie es nämlich die gute Ceres des Elternhauses hinzog zu der bedürfnislosen Freundin der Toten, welche die irrenden Seelen mit frommer Rede zur Ruhe bestattete und über ihrer Erscheinung Kirschbaum und Rose pflanzte, so auch zu der armen Witwe eines längst verstorbenen Gärtners, wobei nicht nur entferntere Nachbarschaft sie bewogen haben mochte, die zweifelhaften Dienste der Greisin anzunehmen, sondern mehr noch die Freundlichkeit ihrer Sinne, die allen Menschen zuzumessen bestrebt war, was das Leben ihnen versagt hatte.

So kam es, daß dem Mädchen, welches sich im Lauf der Zeit zu den holden Aufträgen der Blumenpflege drängte, jener fremde Garten vertraut 50 wurde – und während der elterliche immer tiefer versank und an der Narbe des Herzens mit ihm zusammenwuchs, prägte und erfüllte sich das Bild des neuen zu bleibender Schau; aber vergessen nicht auch wir das Gehäuse der Frucht, je weiter sie der Vollendung zugeht, und nennen Apfel, was sich um ihr Eigentliches geschlossen hat?

Zum erstenmal betrat das Kind an der Mutter Seite den verwahrlosten Garten, als es, durch einen kurzen Ausgang ermüdet, gegen die Mauer taumelte und um Wasser bat.

Von sorgenden Armen emporgehoben, fühlte es sich unter der niedrigen Steintür hereingetragen werden und über Beeten schwanken, in die der Hochsommer seine duftenden Brände geworfen hatte.

Weil nicht genügende Hilfe der großen Natur entgegenstand und sie sänftigte, waren alle Ländereien überwuchert, und auf den Wegen verzehrte sich, schmachtend in der Sonne, die kleine Resede und das, ach, wie flüchtige Gras. Das furchtlose Heer der Gladiolen ertrug mit klirrenden Blättern die Mittagshitze; in der trockenen Kalkerde der Gegend wurzelten voll wilder Entschlossenheit die leidenschaftlichen Nelken und nahmen um des nackten Daseins willen die gefiederte Fülle zurück wie ihre Schwestern, die auf steinigen Bergwiesen wohnen; allzuwenig beschnitten, 51 verzweigten sich die Rosen bis in die Hälfte des Stammes hinunter; und wie Salbengefäße der Toten, welche die Zeit zu schließen vergessen hatte, hauchten sich mit quälendem Wohlgeruch die Lilien aus.

Überall standen oder lagen zerstreute Gartengeräte an dem Ort, wo sie gerade gebraucht worden waren; ein breiter Strohhut mit gewelltem und ausgefranstem Rand ruhte neben den Resten einer ländlichen Mahlzeit; da und dort hatte man das beschädigte Glasdach über einem unbenützten Beete hochgeschlagen und auf die rostigen Griffe gestellt.

Wiewohl also Spuren menschlicher Tätigkeit reichlich zu bemerken waren, schienen sie dennoch abgelöst von ihrer Ursache zu sein; gegenstandslos und verblauend, ja fast wie eine Sage, in der sich alles Geschehen verewigt und abgeschlossen hat.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, wenn man in der Tiefe des Gartens jenes baufällige Haus erblickte, das, ganz von hartglänzendem Efeu überwuchert, einem gesunkenen Grabmal eher glich als einer menschlichen Heimstatt. Aus flachen Ziegelsteinen erbaut wie die römischen Wasserleitungen, die aus dem Inneren des Hügellandes nach dem Strom hinführen, mochten seine Bestandteile abwechselnd als Mauer, Turm und Stellung gedient haben, wie denn auch in der Hauswand befestigte Eisenringe darauf deuteten, daß hier mit gesenkter 52 Mähne einst Pferde standen, tragende Stuten, deren Schatten so mächtig ist, daß kinderlose Frauen an seiner Berührung fruchtbar werden.

Mit einer schwachen Bodenerhöhung ansteigend, führten drei gestufte Steinplatten in das Innere des Hauses, dessen Tür im Sommer und tief in den Herbst hinein allezeit offen stand – und frei umherlaufendes Geflügel, das den angerichteten Schaden im Garten ausglich durch reichliches Legen, drängte sich zudringlich aus und ein. Vertraulich kamen die Tiere zur Fütterzeit, wenn das heisere Krächzen des Weibes sie lockte; und von ihren schwarzen Hennen umgeben, ähnelte sie einer Sibylle, die aus dem Wurf der hellen Körner und den ausgefressenen Sternbildern Zukünftiges deutete.

Auch versäumte sie es nie, ihnen den Abfall jeder Speise mitzuteilen, und dieser Beschäftigung ging sie gerade nach, als das furchtsame Kind sie erblickte. Von der Mutter geheißen, trat es freundlich, aber zögernd auf die verfallene Greisin zu, und eben auf die wankenden Füße gestellt, wäre es fast von neuem gestürzt, denn die Hand, welche sich ihm geschwärzt und zerrissen entgegenstreckte, war bis auf den Ansatz der Finger, die Baumstümpfen glichen, verkrüppelt.

Es lag aber in dieser Gebärde der Begrüßung und dem Anblick ihrer Zerstörung etwas wie ein 53 Zauberspruch, der nicht zu Ende gesagt wurde; wie das Gefühl von abgebrochenen Weiden, deren Zweige ohne Übergang hervorgehen aus dem gefüllten Stamm; ja, fast schien es, als ob die Erdkraft hier angehalten und gehemmt worden wäre, ehe sie noch menschliche Gestalt annehmen und in den Begegnungen des Schicksals erscheinen konnte.

Das Grauen des Kindes dauerte freilich nur diesen Augenblick, denn sobald seine glühende Hand sich mit der ihrigen traf, fühlte es weder Fleisch noch Bein, sondern wurde an eine aufgesprungene Rinde erinnert, die man wohl fassen oder streifen, doch nicht als seinesgleichen empfinden kann.

Später erfuhr es, daß man sich erzählte, diese Frau, Tochter eines ärmlichen Winzerbauern an der Mosel, habe einst als kindliches Mädchen den Zapfen aus einem in voller Gärung sich befindenden Wein gestoßen, von dem sich der Vater, der ihn mit ausnehmender Mühe gekeltert, einen besonderen Gewinn versprochen hatte. Ob diese Tat in der Verstörung des Reifealters geschehen oder als eine koboldhafte Handlung zu deuten war, wer weiß es – aber der Bauer, ein gewalttätiger und in den napoleonischen Kriegen verwilderter Mensch, kühlte seinen Zorn an der eigenen Tochter, indem er ihr mit dem Rebenmesser die rechte Hand verstümmelte. Vielleicht von hier an blieb die Scheu vor Gewalt und Blut 54 in ihr zurück, die sie bewog, einem kränklichen Gärtner als Weib in die Fremde zu folgen; aber auch jene Wildheit und heimtückische Lust an Schaden und Neckerei wuchs und nahm hexenhafte Gestalt an, so daß man die Kinder des Ortes mit ihr zu schrecken pflegte und dem traurigen Zustand ihres Greisentums das Mitgefühl versagte, welches man den Bedürftigen sonst entgegenbringt.

Wohl um der gütigen Mutter willen schien jedoch Proserpina ihr mürrisches Wohlwollen zu erregen, denn mit dem Versuch eines Lächelns, das lange ungeübt und daher zugleich rührend und abstoßend war, lud sie das Mädchen ein, ihr zu folgen, hob von dem Fensterbord einen irdenen Topf und goß kalte Ziegenmilch in den Becher, trug auch ein Körbchen mit frühen Mirabellen hinzu und schien mit sichtlicher Freude dem schüchternen Trinken der Kleinen zuzusehen.

Diese hinwieder versuchte kaum den Inhalt des tönernen Gefäßes, sondern trank mit wandernden Augen die reifende Fülle des Sommers, den der schwarze Efeu vor dem Fenster wie zum Tod bekränzte. Bis auf den dunklen Anschlag einer fern umgehenden Gießkanne war alles still, und in dem tiefen Zelt des Hauptes ruhte das entschlummerte Gehör wie ein leicht erweckbarer Held, um den sich die Bilder des Daseins im Traume scharen.

Über den Blumenbeeten kreisten sehr niedrig die 55 unzähligen Bienen, ein lose angelehnter Rechen fiel lautlos nieder; da jedoch weder das gehäufte Summen der Insekten noch der schwache Fall des Holzes bis zum Haus hin vernehmlich war, lebte das Geräusch nur als Bewegung weiter und wurde wahrgenommen mit einem anderen Sinne – im Auge geboren, ward es so leise, daß nicht es selbst erzählte, sondern nach seiner Herkunft gefragt wurde wie nach einem alten Gebrauch.

Als die Frauen das Kind versunken und befriedet sahen, traten sie wie von einer Schlafenden hinweg in das Freie, und weil sich die Mutter erinnerte, keine Eier mehr im Topf zu haben, ging sie mit der Alten hinter das Haus, um das Gelege noch warm auszuheben.

Zeit des Hochsommers, wo die Bäuerin ihre Hühner abgreift an der Bauchhöhle und der Mann, wenn er über das Feld geht, mit prallen Fingern die Halme prüft; Zeit, in welcher der Mensch den entschlummerten Pan aufschreckt mit Sense und Sichel, mit dem Gesang der Knechte und den hölzernen Stangen, welche die Körner aus den Hülsen dreschen – du verbirgst hinter der eben gereiften Frucht schon die andere und lockst die irrende Ceres vom geernteten Feld immer weiter. Sie schneidet das Gras mit gedengelter Sichel; in Haufen stellt sie das Korn und lichtet die Ebene; pflückt dann die Beeren vom Strauch und achtet 56 der kürzeren Tage nicht; aber mit einemmal ist die Geschäftige hinter die Wand des Sommers geraten, hinter das Haus, die Scheuer und das Gesicht der Sonne – auf der anderen Seite des Jahres kehrt die verspätete Mutter bei Fremdlingen ein, und der Ackergott, seiner Zuflucht beraubt, entführt mit den letzten, geschontesten Blüten das Töchterchen.

 

Es trinkt seine Milch und nimmt die rotgefleckte Mirabelle aus dem Körbchen, eine einzige nur in verträumtem Gehorsam, aber er, der es immer ist, wenn das schwarze Haupt an den Fenstern der Mädchen vorübergeht, stand schon in der Tür und war mit den Schritten eines Gärtners gekommen, mit dem Anschlag der Gießkanne, die er auf den Steinplatten des Hauses niedergesetzt hatte; er hielt, der heimliche und vor Begierde zitternde Verehrer der blonden Magd des Elternhauses, dreierlei Blumen in den Händen; und aus fernher kommender Erinnerung holte er, der ewig Gegenwärtige, die Vergangenheit.

Leise fing er an mit den Namen der Blüten und fügte, wo er sie wußte, die spätlateinischen hinzu, die an dem Rand der Sarkophage sprießen; von dem Boden, den er aufgrub, erzählte er und ließ die Säume zweier Feuersteine entfesselte Sterne 57 sprühen; von den niedrigen Schränken hob er drachenförmige Muscheln und in grüne Flaschen eingelassene Segelschiffe, die ein Bruder der Alten, der mit Weinstücken nach Holland gekommen und an Bord gegangen war, mitgebracht hatte, und hielt der Lauschenden, während er ihr von dem ältesten Meere sprach, die brausenden Gehäuse an die Ohren: so aber ging der Schwan in Leda ein.

Sie schob den kindlichen Becher fort, und das Herz sank ihr schwerer zur Grube; es gewöhnte sich an die feste Füllung der irdischen Dinge, an ihren harten Bruch und den Efeu der Worte, der ihn mildert – und je höher ihr Lächeln wehte, flach und windig wurde wie ein Vogel, der vom Nest abfliegt, desto tiefer gewahrte Proserpina, daß dem Jäger und Hirten, dem Landmann, Gärtner und Fischer das wahre Lob der Geschöpfe aufgetragen ist.

Denn selbst die Natur vermag nicht beständig zu schweigen; vielfältig unterbricht sie ihre Stille und wirft nicht nur in den eigenen Schoß, mit sich selber raunend, rauschend und flüsternd, pochend und zischend, die Früchte. So brüllt sie nach Entlastung in der milchenden Kuh, so ruft sie auch im Hingang des Jahres die Erdbefruchter, und sie prahlen sich, ihr zum Preis, mit dem Zug der Netze, dem Geweih des Wilds und dem Ertrag der Körner; unter Schwatzen und Singen führen 58 sie den Behang der Reben nach Hause und was einsam unter vergilbten Blättern liegt, bedenken das Gereifte um seines Nutzens willen und sprechen nur aus an den Dingen, was ihnen zugekehrt ist.

Auch mit Dämonen reden sie nicht anders; und wer den zappelnden Fischkönig fängt, läßt sich die Fülle des Nachens oder von dem bärtigen Wurzelmann die Schätze des Ackers versprechen.

Hörte also Proserpina auf den panischen Gärtner, so geschah es, um das wahre Gewicht der Erde, in die sie eingeschlossen war, zu heben und den Kaufpreis, um den sich an Samen und Hülse ihr Herz vergeben hatte, zu erfahren. Wie eine Alraune verlangte sie nach Milch und Wein, aber aus bäurischen Krügen, die fest auf der Erde stehen und nur da sind, um den Durst der Schnitter zu löschen – denn es schien ihr tröstlich, die Kruste des Lebens, durch die sie so plötzlich hinabgerissen worden war, noch einmal mit dem Gefühl von jungen Toten zu betasten, welche, wie an unreifen Früchten die Kerne, noch allzu fest in ihren Sinnen hängen.

Er hingegen hatte sie mit den nämlichen Blicken gefunden wie einen seltenen Stein oder eine Münze, die Bestatteten unter der Zunge liegt. Gewohnt solcher Schätze, hob er sie auf und prüfte in wägenden Händen, wozu sie gut sei; was ihre Form dem 59 Kundigen versprach, gab er ihr durch den Gebrauch und leistete der Unterwelt den Dienst, ihr zuzusprechen, wonach sie sich schon lange mühte; wenn er auch zu Proserpina sprach wie zu einem irdischen Kinde, so handelte er doch aus tieferer Verflechtung: wie ein Weidetier, das die Kräuter auswählt, ohne es zu wissen, und die giftige, die rauhhaarige und scharfe Pflanze annimmt, wenn sein Trieb es so heißt, fiel ihm bewußtlos und ohne Schuld das leere, reine Gesicht, bei dem die Zauberer schwören, ein. Es ist das Gesicht auf dem Obolus, den Charon entgegennimmt: das Rundgesicht ohne Schatten, von dem Griffel des Totenrichters als magischer Kreis gezogen – das Gesicht unterm Schattenlos. Es hat jeden Inhalt und keinen; bei ihm können Schätze gehoben, kann Liebe erworben, Krankheit gesät und Fieber vertrieben werden. Wer es erblickt, der kennt es schon lange – wer es kennt, sieht es immer zum erstenmal.

Auch dem Gärtner war es in jedem Samen schon deutlich vorgebildet, flach, rund und kalt wie das Mondschild über der geborstenen Schalengruft, und die Frauen jener Gegend haben es am deutlichsten bewahrt; gleichmütig tragen sie es über bräunlichen Schultern, springt es aber auf, so geht die holde Blüte des Lächelns wie der heraufgeführte Frühling daraus empor: Primel-Proserpina. 60

O Antlitz, Flut der Gesichter spiegelnd, deren jedes für das andere steht, zartes Gefäß einer Seele, die stille hielt, während sich die Ahnen in sie ergossen und ihre Form so fest erstarren ließen, daß niemand mehr die leidende Nymphe unter ihr suchte – in dieser Stunde überlieferte dich, Göttertochter, der erste deiner Freunde an das immer wiederkehrende Los, hinabzusteigen und ihm das Gewünschte emporzuführen.

So hat von ihr der Sänger einst die Gattin erbeten, so verlangte der Gärtner nun die Liebe einer Magd, und noch niemals ist es gehört worden, daß sie eine Bitte abgeschlagen hat, denn erst die Begrabene fühlt, wie süß der Atem und die Tränen der Lebendigen sind . . .

Freilich nur durch die Gabe, die er selber spendet, wird der Mensch ihrer Hilfe teilhaftig, und ihr Ohr, das geneigt ist wie des gefangenen Vogels Ohr, der auf der Stange sitzt, muß mit der Klage geöffnet werden.

Darum warb auch der Gärtner um sie auf mancherlei Art; obgleich er ihr bewußtloses Teil schon herangelockt hatte wie eine Natter, die nun das träumende Haupt über Trank und Speise mit leicht gegabelter Zunge, vorsichtig prüfend, wiegt, wußte der braune Liebhaber der spielenden Mädchen doch, daß, wer ein Weib gewinnen will, zuerst das Kind in ihm verführen muß – so daß er also die 61 üppige Blonde, deren Liebling die Kleine war, in ihrem scheuen, dunkleren und zarten Wesen zu erobern gedachte, indem er Proserpina an sich zog.

In dieser Stunde warf er ein Netz von Freuden über sie, Versprechungen, Blumen und sanften Gerüchen, die aus rissigen Händen stiegen – und so leicht es wog, erwärmte es doch die zitternde Seele wie das dünne Gespinst die sich verpuppende Raupe; sie kroch darunter und schwebte in den Fäden des Todes auch da, wo ein oberirdischer Raum sie wiegte; gleich einer Kindermumie wurde sie, wie in Binden hängend, bestattet, und nichts als die farbige Hülle berührte sie jetzt noch vom Scheitel bis zur Sohle.

 

So mild gefesselt kehrte sie wieder und wieder zurück an jenen Ort; sie nahm der Mutter die kleinen Gänge ab, welche zu der Wohnung der Gärtnerin oder an ihr vorüberführten, brachte aufgeschossene Fensterblumen hin, sie umtopfen, oder eine allzu blasse Pflanze, sie heilsamer düngen zu lassen; ja, es gab schließlich keinen Weg mehr für sie, der nicht in das Meer der Blumen mündete und an die steinerne Insel der alten Behausung führte, wo der Bursche Jakob sie abzuholen pflegte und ihre kleine dunkle Hand in die seinige nahm.

Von ihm geführt, verließ sie das Gemach der 62 Alten und ging die Mauer entlang nach einem Gartenhaus, welches, aus rohem Holz gefügt, der Sagenort ihrer Sinne wurde, dorthin, wo Geruch und Geschmack sich tastend vermählten mit den öligen Pflanzendüften und ihr Gehör aufsprang wie die Risse in der Südwand, wenn die Sonne hinabgegangen ist.

Hier lernte sie künftig den Reichtum jener Formen kennen, von denen sie bis dahin nur Keim und Wurzel wußte; und wenn auch die geöffnete und ganz erschlossene Blüte schon wieder nach dem Ursprung weist und wir durch den Duft einer Rose in den Schoß der Natur zu sinken glauben, wurden ihr Bestimmung und Name derselben zwar Boten immer neuer unendlicher Entführung, gleichzeitig aber vertraute sie ihnen um so blinder, als sie die an der Sonne Gereiften von Menschen aussprechen hörte und wie Lichtstrahlen empfing, die unter geschlossene Lider fallen.

Auch lockte sie, wie Meisen der Speck, die Derbheit des einfaches Mahles, welches da dem Gärtner gebracht wurde und aus geräuchertem Fleisch, Brot und Früchten bestand; sie aß mit diebischer Freude davon, und während die Mutter das Kind kaum bewegen konnte, das Nötigste anzunehmen, teilte es mit dem Freund das schwärzliche Backwerk und trank den säuerlichen Wein aus undurchsichtigen Gläsern, in denen der Druck der Finger 63 zu stehen schien, wenn es sie absetzte und mit Entzücken die randumlaufenden Dellen sah.

An Schnüren waren Zwiebeln zum Trocknen aufgereiht, ausgeschotete bunte Bohnen standen in zerbrochenen Töpfen auf dem Fensterbrett; in den Ecken lehnten mit der Demut handlicher Geräte Hacke, Schaufel und Rechen; den gestampften Fußboden bedeckte der reinliche Haufen des Bastes, und die flammenden Bilder der Kataloge: hochgezüchtete Malven, fette Pelargonien und große Nelkenarten, versetzten die bretternen Wände in Brand.

Hoch hinauf reichte das geerntete Leben; die Jahreszeiten dufteten ineinander und legten im Vorübergehen ihre Gaben auf den Rand des Tisches, und auch das Weibliche fehlte nicht. Mit Reißnägeln hatte nämlich der Gärtner an der Innenseite der lockeren Türe eine Menge jener Postkarten befestigt, welche unter offenen Haaren die puppenhaften Gesichter von Frauen zeigen, die ihre Taubenaugen auf- oder niederschlagen, mächtige Sträuße und winzige Briefe an den leicht verhüllten Busen haltend – und von ihnen pflegte er wie von Geliebten zu erzählen, wenn Proserpina neben ihm saß, Erbsen entkernte oder den Bast in dünnen Lagen zusammenknotete. Vielleicht sprach er auch nur mit sich selbst und rühmte die Schönheit seiner Traumbilder: ihre Hüften und 64 Schenkel, die er sich ahnend ergänzte; er erfand die Geschichte ihrer Liebe zu Jakob, dem armen Gärtner, und wenn man ihm glauben wollte, so war jede von ihnen wie aus einem Stern getreten, um ihn zu beglücken.

Hatte bis dahin sein Gesicht dem eines schwärmenden Knaben geglichen, so verdüsterte es sich jetzt von unbegreiflich wollüstiger Trauer, und mit hochgezogener Lippe, die ihn einer mänadischen Wölfin ähnlich machte, berichtete er weiter, wie er eine nach der andern, ungerührt von ihrem Flehen, nach wenigen Wochen wieder entlassen habe, um eine Schönere zu umarmen, die dann über kurz oder lang das gleiche Schicksal erduldete. Denn die Frauen seien wie Blumen und verblühten dem Liebhaber unter den Augen; wenige überdauerten den Winter – diese aber seien meist nur klein und ohne Duft.

Voll Schwermut hörte Proserpina zu und hob die wissenden Augen zu den Bildern auf, die an den Ausgang geheftet waren; sie empfand ihre Schmerzen wie die von längst verstorbenen Schwestern, und ihre Geschichte erschien ihr wunderbar vertraut aus einem früheren Leben; dachte sie aber an den Augenblick ihrer Verstoßung, dann war es immer sie selbst, die durch die Türe ging, überströmt von Tränen und einem Schicksal preisgegeben, das sie wie Schwertes Schneide empfing. 65

Glühend von unverstandenen Leiden, schalt sie dann wohl den Treulosen und befahl ihm, eine aus ihnen für immer zum Weibe zu nehmen; hob sie aber der Gärtner auf die Arme, damit ihm Proserpina die Auserwählte zeige, so erschrak ihr Herz an der lieblichen Qual der Bestimmung und irrte wie das Insekt von Blume zu Blume. Zitternd empfand sie die tiefe und schweifende Lust ihrer Sinne, welche sie auf unaussprechliche Weise mit dem Freunde verband – und nicht nur mit ihm, sondern mit den mondenen Kräften der Natur, mit dem verwandelnden Zauberwort und dem Kreuzweg der Gefühle, die auseinander und in das Dunkel streben.

Beunruhigt, drängte es ihr gelöstes Herz, ihm beizustehen, und als er ihr mit gesenkter Stimme zum erstenmal von jener Magd erzählte wie von einer, die niemand kannte als er allein, geschah ihr ganz wie einer Blüte, an deren Haupt die Hummel saugend hängt: Seine Klage umschließend, neigte sie sich dem Bittenden zu und empfing an dem Abend eines langsam erlöschenden Sommertages einen Strauß roter Nelken, der, mit Bast umwunden, in ihre Hände gelegt wurde, damit sie ihn weitergebe.

 

Als das Kind um die Dämmerung nach Hause 66 kam, fand es zu seinem Erstaunen die Räume lampenhell, und über Stiegen und Schwellen wogte Beunruhigung durch die wachsende Fülle der zu verwahrenden Früchte wie das Geläut der Immen, wenn die Honigfracht sich drängt.

Große Körbe, angefüllt mit Pfirsichen und Aprikosen, standen in dem offenen Flur; aus der Küche drang der süße Duft und Rauch des kochenden Obstes und der frischgebackenen Kuchen, welche man, das Herdfeuer nützend, soeben aus dem Ofen gezogen hatte; Töpfe, Löffel und Quirle glänzten von zerlassener Butter und blasigem Eierschaum, abgewogener Zucker floß über den Rand der Tüten, und die verschiedenen Tätigkeiten durchdrangen einander wie Milch und Mehl und vielerlei Gewürze, die in der Schüssel ohne Unterlaß umgerührt werden.

Mit nassem Gesicht liefen eilige Frauen vorüber, und jede von ihnen glich, die Schürze voll Obst, unterm Kranz ihrer Haare Pomona – unsichtbar aber, doch überall da, stand Ceres unter ihnen, und ihre Stimme drang stets aus der Mitte des Daseins, wo sie ihre Geschenke austeilte und Befehle gab.

Wie ein verirrter Nachtschmetterling, den die rötliche Helle hereingelockt hatte, flatterte die Kleine, verscheucht von ungeduldigen Worten, hin und her, kostete bald eine aufgebrochene Frucht, 67 bald eine herabgefallene Mandel und fand sich endlich an der Seite der Mutter, die sie streng und liebevoll anwies, den Raum zu verlassen und das Kinderzimmer aufzusuchen, wo sie Speise und Trank und das kleine Bett schon bereit finden würde. Auch versprach sie ihr auf den anderen Abend Lied und Märchen, wenn sie gehorsam sei, prüfte mißbilligend den verwahrlosten Zustand ihrer Haare, aus denen sie Spreu und fliegenden Samen las, und schob endlich das Kind zur Tür hinaus auf den Flur, wo es, noch immer den Strauß mit beiden Händen umklammernd, unentschlossen und allmählich erglühend an den abendlichen Feuern, eine Weile ratlos verblieb.

Obwohl die Magd, der die Nelken bestimmt waren, schon des öfteren, den Liebling mit kosenden Namen streifend, an ihm vorbeigeglitten war, hatte es trotzdem nicht gewagt, der Eiligen die Blumen zu reichen, sondern schlich sich nun, eine günstige Zeit abwartend, hungrig und ermüdet auf sein Zimmer, wo in überdecktem Pfännchen zwei gebackene Eier dünsteten und daneben die Hand der Mutter ein schön geschliffenes Glas mit Obstsaft hingestellt hatte.

In kleinen Schlücken trank Proserpina von dem Wasser und freute sich an der einsamen Mahlzeit; plötzlich aber, ihres Freundes sich erinnernd, hielt sie ein, legte die Blumen vor das Fenster und 68 beschloß, sich hastig entkleidend, die Stunde abzuwarten, wo die Magd in ihre Kammer auf den Dachboden ginge, um ihr dann heimlich nachzufolgen und der Überraschten den Strauß durch die Türe zu geben.

Diesen Augenblick vorauszubestimmen, erschien ihr nicht schwierig, da sie von schlaflosen Stunden her wohl wußte, daß sich die Mutter erst zur Ruhe begab, wenn sich alle Räume verdunkelt hatten; hierauf, die Lichtflamme mit der gebogenen Hand umschließend, noch einmal von Stube zu Stube ging und jeden Speiserest sorgsam verwahrte, damit nicht in Mäusegestalt die Unterirdischen kämen. Würde also an Proserpinas Lager die Kerze vorübergewallt und erloschen sein, so durfte sie es wagen, in die Nacht hinauszutreten, die dann von nichts mehr erhellt war als von dem halben Mond und ihrem flutenden Herzen, das von ihm Licht empfing.

Getröstet warf sie sich auf das Bett und zog die leichte Decke bis zum Ansatz des Halses empor, entschlossen, dem Schlummer, der sich gleichzeitig über sie breitete, nach Kräften zu widerstehen.

In ihre Augen ergoß die wachsende Finsternis ihre Ströme und wurde wieder gespeist von ihnen mit unsagbaren Schrecken, die aus einem schwärzeren Strome kamen, der älter war als sie und 69 das Gedächtnis der vorhergegangenen Nächte bewahrt hatte; in ihren Ohren, den weitgeöffneten Muscheln, endete das Geräusch der Dinge und vereinigte sich auf dem Grund mit allem Gehörten, das die Erinnerung ihr zugeflüstert hatte; nur ihre Lippen waren versiegelt und hielten den Schrei zurück, der die Engel zur Hilfe ruft und die Dunkelheit durchdringt.

Aus einem Fiebertraum, der so leicht war, daß das äußere Geschehen ihn unverändert durchwandelte, fuhr die Erschrockene nach Stunden empor und horchte mit angehaltenem Atem auf die friedliche Sprache des Hauses, die allmählich, wie ohne Antwort, verstummte: Noch einmal rauschte das Wasser aus, aber nicht mehr in den Eimer; endgültig schlossen sich mit kurzem Ton die Mehl und Zucker bergenden Laden; ein vergessener Teller klirrte hoch und fragend an seine schlafenden Brüder, doch nicht wie sonst lief ein Gespräch die tönende Reihe entlang.

Nun lösten gedämpfte Frauenstimmen einander ab; dann klang die hellere aus und ließ die dunkle zurück; der Flur hallte, die Treppe zitterte oben im Gebälk, und der Rundgang der Mutter begann.

Mit allen ihren Sinnen, wie auf Libellenflügeln, begleitete ihn Proserpina, und geisterhaft von Stube zu Stube schwebend, war es ihr, als ob die Feuertragende mit unendlicher Trauer das Haus nur 70 durchwandre, um ein verlorenes Kind zu suchen, ein entwundenes Töchterchen. Schon hob sich aus ihrem Herzen der Ruf und stieg bis zum Lippenrand, doch die tiefen Winkel des Mundes waren nach innen gebogen, und hoch gewölbt stand der üppige Schlaf darüber.

Wie nach Entdeckung durch eine der Himmlischen sehnte sich das Kind nach ihr und entsann sich eines alten Märchens, wo, als ein Lichtstreif durch die Kammertür fiel, der reißende Löwe in die milde Taube verwandelt wurde – aber, ach, auch von da war noch ein weiter Weg zu der kleinen Gestalt, die einst voll Vertrauen auf den Armen der Mutter saß und nichts zu verbergen hatte.

Unendlich leise atmend, lag Proserpina unbeweglich da und fühlte am stärkeren Lufthauch, daß die lautlose Türe ging; eine zitternde Helle wogte unter ihre Lider, und gedämpfte Schritte nahten dem Kinderbett.

Nun wußte Proserpina die Mutter über sich, doch nicht nur sie, sondern das volle Maß der Liebe, mit welcher der himmlische Vater ein Kind überschütten kann, und bebte in steigenden Tränen danach, einen Namen zu hören, der ihr vertraut war, Herz oder Seele hieß und den Glanz der Höhe noch an sich trug. Vielleicht zuckte ihr Gesicht in diesem Augenblick, denn die Mutter entfernte sich gleich darauf mit verhaltenem 71 Rauschen und verbarg mit den Händen das Licht, setzte es jedoch noch einmal auf der Schwelle nieder und nahm, umkehrend, Pfanne und Wasserglas mit, die leicht aneinanderstießen. Wieder hörte das Kind, wie die Mutter vorsichtig stehenblieb und, sich lautlos verhaltend, der scheinbar Schlummernden Gelegenheit gab, die schwache Störung zu überschlafen.

Nun aber hoffte das einsame Kind nichts mehr. In seinen Augen verbreitete sich die Nacht und bedeckte mit dunklem Mantel die Gestalt einer traurigen Frau, welche hoch und höher wuchs, die Gaben des Lebens still an den Brüsten hielt und, in ihren Schmerz versunken, nicht wußte, daß ihr die Beweinte so nahe war. Alle Vorsicht vergessend, schlug Proserpina die nächtlichen Sterne auf und sah Ceres, abgewandt, durch die Türe gehen: Sie war ungeheuer groß und bekleidet mit einem schwarzen, wallenden Gewande; da sie das Licht aufnahm, war es, als ob die goldene Garbe des Sommers auf ihren Armen hinausgetragen würde und unter den Halmen das Gestirn, das sie gereift hatte . . .

In dem Fensterrahmen aber stand der eisige Mond.

 

Er zog Proserpina nach sich und machte ihre 72 Sohlen sicher wie die von Traumwandelnden; auf allen Schlössern lag er ruchlos hell und wie Schleim der Wegschnecke auf der gewundenen Treppe, die zu dem Dachboden führte; dort wurde der bleiche Führer entlassen und abgelöst von einem dunkelroten Schein, der aus der angelehnten Tür der Mägdekammer floß.

Sogleich hob sich das Kind auf die Zehen und schlich, das kleine Gesicht in den Nelken vergraben, bis an die ächzenden Pfosten, die heiß vom Tag her waren. Wie Nachtluft wehte sein leichter Körper dagegen und erweiterte den Eingang; nun stand es bereits auf der Schwelle und hob den Strauß empor – aber wie von einem Blitzstrahl erleuchtet, der schon lange in triefender Schwärze wohnte und sie jetzt schneidend hell entzweite, verharrte Proserpina und schaute geblendet in finsterer Höhle das enthüllte Geheimnis der Frau: Unter dem schräg abstürzenden Dach saß die Magd auf ihrem schmalen Lager, einer dampfenden Wanne soeben entstiegen, die ihr zu Füßen stand, und aus dem zurückgeschlagenen Leinen leuchtete in rosiger Bräune das feste, in dichter Fülle aufgeblühte Fleisch; warm und gelöst floß ihr herbstliches Haar über dunklere Schultern und bis zum Schoß hinunter, über dem ihre Hände entschlummert waren.

Jetzt hob sie langsam den schön gescheitelten 73 Kopf, der zierlich war und an den Schläfen gelockt wie einer Venus Haupt, und mit sprachlosem Grauen erblickte das junge Weib die nächtliche Erscheinung des Kindes: verstörte Augen unter wilden Haaren und nackte Füße, wie sie Tote haben, die wiederkehren.

Vielleicht glaubte die Törichte wirklich, das flackernde Leben der Kleinen, um die das Haus noch immer bangte, sei zwischen Mond und Hahnenschrei erloschen oder taste entschwebend nach ihr – denn ohne sich zu rühren, nahm sie in tiefem Erblassen ihr rasches Blut zurück und wurde selber gespenstisch, entfernt und schattenhaft.

Mit kleinen Schritten folgte das Kind der Erlöschenden, und es mußte der Duft der Nelken gewesen sein, die von besonderer Größe und Leuchtkraft waren, unvergleichbar jenen, die der elterliche Garten hervorbrachte, welcher der Angstvollen zuhauchte, daß nicht Tod, sondern Liebe gemeint sei.

Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis brausten ihre Lebenskräfte in derselben Eile wieder her, in der sie geflohen waren. Überschüttet von brennender Röte, bedeckte sie sich leicht und griff mit zorniger Bewegung nach dem Strauß. Er löste sich aus der Umschlingung, so daß die Blüten auseinander und zur Erde fielen und in Proserpinas Händen der kühle Bast verblieb. Dann hob die Magd das Kind 74 auf ihre Kniee, bedrängte es mit flüsternden Fragen, schmähte bald den Freund, bald liebkoste sie ihn und sank schließlich trockenen Auges in hilfloser Klage zusammen, die wie Gewitterwind im Tale war, sinnlos kreisend und unfruchtbaren Staub hertragend, bis der warme Regen ihn erlöst.

Längst war Proserpina von ihrem Schoß geglitten und fühlte im weichen Gehör den Wirbel der Lüfte sich fangen, die ihr Kunde brachten von Dingen außer ihr wie einer Fledermaus; sie flatterte scheu und schon geschickt dagegen, sog ihre Beute in den leicht geöffneten Mund und fand wie Spinne und Käfer: fest anzufühlen, behaart und geflügelt, die ersten Ahnungen wieder.

Dies also war die weibliche Gestalt in der Vollendung, und an den gerundeten Gliedern, der schweren Brust und den lastenden Hüften erkannte das Kind seine spätere Form und wurde erst ganz zu dem süßen Raub und Namen: Proserpina.

Trauer der Erde, furchtbares Staunen über das enthüllte Geschlecht – wie kurze Zeit nur konnte der mütterliche Mantel dich decken; wie Tannenreiser, die, ehe der Frost noch kommt, über die niedrigen Rosen gebreitet werden, lag er an vielen Orten – wer sollte jedoch den ganzen Garten beschützen? Langsam nur kühlt er sich tiefer, und mitten in der Nacht bewahrt er noch einen Teil seiner Wärme; dämmert aber der 75 Morgen, so sinken nun erst die verlassenen Wege in Starre, und dies war die Stunde, in der ihr die Natternkrone Proserpinas gezeigt wurde als ein Stirnreif aus Mond und giftigem Glitzertau.

Nichts war ihr nun mehr verborgen, was in so engem Kreis der Jahre ein Kind zu fassen vermag; und wie ein nächtliches Tier, das die Dunkelheit des Schoßes, dem es entsprungen ist, über seine Geburt hinaus bewahrte und nie verloren hat, bewegte sie sich freier und ungehindert durchs Dichte; sie stieß nicht an, sondern brauchte als Ausläufer ihrer Sinne den schwankenden Zweig, die reißende Strömung und die Härte der Welt. Weil also offen für sie war, was den Tagäugigen entgegen ist, fuhr sie nun ungehemmt aus durch die Nacht – und allzu lange schon lebte ihr Gefühl mit den Unterirdischen, als daß es nicht, umringt von gefräßigen Maden, selber durchlässig geworden wäre und wohl zu gebrauchen für die Absicht der Finsternis.

Auf den magdlichen Nacken setzte das Kind der Herrin seine Finger und bog ihn tiefer mit grausamem Lächeln, das wie Beschlag auf eherner Maske stand; es knüpfte den Bast als Liebesfessel, wie ihm befohlen war; umschlang die Gelockte und träufelte ihr Eifersucht ins Ohr: erzählte die Legende der wunderbar schönen und traurigen Frauen, die in dem Gartenhaus wie Tauben unter 76 dem Giebel säßen und ihre glühenden Augen Tag und Nacht auf Jakob gerichtet hielten; ergänzte fessellos schweifend ihr Schicksal, und wie in Träumen, die übergehen, sprach es von ihnen abwechselnd als von Feen, die mächtig, und von Vögeln, die so hilflos waren, daß sie, wenn man in die Hände schlug, aufzurauschen und laut zu schreien begännen.

Mit dumpfem Staunen hörte es die Magd, und ihr mochte zumute sein wie ehemals, als sie in dem Keller ihres Vaters neben den Fässern eingeschlafen war und, von der steigenden Gärung überrascht, in ewigen Schlummer gefallen wäre, wenn nicht die Kerze neben ihr früher ausgelebt und einem Knecht, der mit der Dämmerung vorüberkam, befohlen hätte, sie über die Schwelle zu tragen.

Jetzt freilich war es ein anderer Most, dessen Kraft sie betäubte und in schwerem Röcheln vornüber warf – aber gleich jener atmenden Kufe, an der sie damals lehnte, war sie sich selbst zum Gefäß geworden, von reifendem Wein erfüllt, trüb und schwimmend in gestaltloser Süße. Hier war kein Unterschied mehr zwischen dem Saft der Trauben und ihrem eigenen Blut, denn wie man dem künftigen Roten die Schalen beläßt, damit er dunkler gäre: sank, stieg und wirbelte in zerrissenen Hüllen Kindheit und erste Jugend durch 77 ihre Adern, und unbeschützt lag ihre Glut in der eigenen Haut.

Indessen fühlte die Magd den Reif und versuchte ihn abzulösen; doch weil ihre Augen blind waren von plötzlich quellenden Tränen, verfehlte sie den Knoten und streifte tastend ihre glühende Haut. An der eignen Bewegung erzitternd, glitt sie aufs neue liebkosend auf und nieder, dann – bis ins schauernde Mark die eherne Fessel fühlend – ergriff sie hastig die Kleider und warf sie flüchtig über, hob das Kind auf die Arme und löschte die Lampe aus.

Als die Bezauberte hinunterstieg, barst, ihre Wärme entlassend, die Bodentreppe; die großen Kuchen standen reif auf dem Flur, und das Obst war ausgekocht in seinem Saft.

Von solcher Erfüllung gezogen und ihre Stätte mit neuen Sinnen suchend, fand sie sich im niedrigen Herdraum, den sie kaum erst verlassen hatte, wieder – und als ihr, unendlicher Schwere voll, die Arme am Körper heruntersanken, blieb das Kind auf den steinernen Fliesen wie ein Nachtgefühl stehen, vag und überall da.

Das Fenster war weit geöffnet, doch nur Schwärze floß aus dem Bogen der Höhe, denn die Lichter des Himmels hatten sich bedeckt. Ein ruheloser Wind ging durch die Büsche und trug die Geräusche von außen mit menschlicher Stimme 78 herein, den Ruf der Eule, wenn sie weichflügelig über die Erde zieht, und das Pochen der Früchte im hohen Gras. Wie Schritt für Schritt unterm Fuß des Sommers, fiel die versprechliche Fülle ab, das milde Rasen des düsteren Vogels zog näher, und plötzlich war dieser Nacht eine Finsternis beigemischt, wie sie die Faune machen, wenn die Tenne von Spreu und Weizen raucht.

Sie donnert leise im Ausschlag der Körner, und mit einemmal ragt, so hier wie dort, ein Größerer unter der Türe, braunhäutig und behaart. Er greift nach der Magd und erblickt nicht das Kind, sie aber flüstert dagegen, und lautlos verläßt er das Haus, geht mit dem Sturm um die Mauern und steht in dem offenen Fenster als Baum oder Abendstern. Dann überschwillt er die Brüstung und sinkt in gesättigter Wolke dorthin, wo Proserpina steht; die Füße entgleiten ihr langsam, und bis zu den Knien taucht sie in Schlaf. Sie wankt und stürzt jäh wie ein Vogel, der steigend hinabfällt in hohle Räume, schlägt lautlos an brausende Wände und findet sich auf dem Grund, zusammengefaltet, wieder; erweichte Schnecken besuchen sie träge und Molche, von deren Gesichtern Schleim abfällt und Schleier, indem sie näher kriechen – da rauscht noch einmal der Herd, die mütterliche Stätte, und Asche rieselt zur Erde.

Als am nächsten Morgen die schöne Ceres das 79 Wasser hereintrug und den Schwamm, der bei den Fischen gewachsen ist, blieb sie erzürnend stehen vor einem schwarzen Gesicht; aber als sie es abwusch, kam wie ein Guß unter schützender Schale so feste Klarheit unberührt hervor, daß sie ohne Frage das Kind in den Garten entließ. Die Magd jedoch soll ihr scherzend erzählt haben, wie die Kleine sie am Abend besuchte; doch müsse sie ihr schon auf den Armen eingeschlafen sein, denn als sie vor dem Herd ihre Bürde, um sich auszuruhen, abgesetzt habe, wäre sie schweigend zu Boden und in die warme Asche gesunken. 80

 


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