Elisabeth Langgässer
Märkische Argonautenfahrt
Elisabeth Langgässer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

. . . aufgefahren in die Höhe, hat er gefangen geführt die Gefangenschaft und Gaben den Menschen ausgeteilt. Daß er aber aufgefahren, was ist es anders, als daß er auch zuerst hinabgestiegen in die Regionen unter der Erde?

Epheser 4, 8–9

 


 

Die Ereignisse, die hier berichtet werden, haben ihren geheimen Ursprung vor dem Beginn der Erzählung. Einige Ursprünge liegen sehr weit, andere wieder erst kurz zurück, ohne deshalb in ihrer Wirkung verständlicher zu werden. Ihnen allen ist der Zeitpunkt gemeinsam, an dem sie ausgelöst wurden: ein Sommertag nach der Eroberung der zertrümmerten Reichshauptstadt. Doch nur der Architekt Ewald Hauteville und dieser auch nur, weil ein gewisser Name sich bereits, bevor er ihn auftauchen fühlte, blitzartig mit dem Entschluß verband, der ihn und andere Menschen bewog, diese eigentümliche Reise nach einem ›Port-Royal‹ – sozusagen – in der südlichen Mark zu wagen, wußte am Ende, daß jenen Dingen, die sich später daraus entwickeln sollten, ein gemeinsamer Anlaß und Ablauf in der Seele der Handlungsträger eigen gewesen war; daß ein Ferment in ihnen gewaltet und ihren Prozeß beschleunigt hatte, eine Bindekraft in ihnen allen wirksam gewesen war, die das Schicksal sämtlicher Weggenossen in einem bestimmten Schnittpunkt miteinander verbunden hatte; eine gemeinsame Frage oder auch, mehr als nur menschlich gesprochen, eine gemeinsame Schuld.

Allerdings gibt es für solche Behauptung: das Ganze sei Ewald bewußt gewesen, keinen genauen Beweis; es sei denn, das reizvoll zusammengeraffte, aber schlecht belichtete Foto der kleinen Reisegesellschaft werde angesprochen dafür. Es zeigt jeden Teilnehmer wie von dem Auge eines allwissenden Gottes betroffen und wie zufällig von seinem Finger in dem gleichen Atemzug angerührt und geheimnisvoll festgehalten: Lotte, die Schwester Ewald Hautevilles, den Schauspieler Albrecht Beifuß, das ältere Ehepaar Levi-Jeschower, den Heimkehrer Friedrich, das junge Mädchen Irene von Dörfer und 8 zwischen Lotte und diesem Mädchen noch zuletzt [wie ohne zu wollen in das Snapshot und in den Kreis der Gefährten hineingesprungen] Ewald selber, welcher die Arme um die Schultern Irenes legt, die ihren Kopf von ihm fortgewendet und ein wenig nach oben gekehrt hat. So bietet er sich der Tätigkeit des sich selbst auslösenden Apparates mit eigenartigem Ausdruck dar: ein Verzweifelter, ungeschickt, angeblendet von den schrägen Strahlen der Nachmittagssonne, zerrissen von Glück und Schmerzen zugleich, ein Mensch auf dem Höhepunkt seiner Erkenntnis, die ihn, wie eine Woge den Schwimmer, auf den Rücken genommen hat, und ihn gleich darauf wieder in ihren Abgrund aus blendender Purpurschwärze herunterziehen wird . . .

Auf der Rückseite dieses Bildchens stehen kleine Bleistiftnotizen – Gedächtnishilfen besonderer Art wie Ankunft- und Abfahrtzeiten samt verschiedenen Zuganschlüssen; ein O, das Omnibus, und ein Steuer, das Fährboot bedeuten soll. Sie wurden nachträglich von einem Zettel auf dieses Bild übertragen und stellen wohl einen Abriß seiner Geschichte dar; allerdings einen sehr spröden und hieroglyphenhaften, der auch durch die beigefügten Worte nicht offenherziger wird. Diese lauten in einer Blockschrift in lateinischen Großbuchstaben: »verein der versäumer«. Durchgestrichen. Darunter: »die argonauten mit ihren damen auf dem weg zu dem goldenen vliess«. Und noch einmal darunter: »die argo fängt hier zu sprechen an. das dodonische eichenholz töng!« Diese letzte Bemerkung muß ihrem Schreiber zu pathetisch gewesen sein. Wie ein kurzes, unwirsches Lachen setzt er hinzu: »Bitte wenden!« Man tut es und sieht Frau Levi-Jeschower mitten in das Gesicht. Es ist das verdrossene Runzelgesicht einer gebildeten Frau. Erst allmählich begreift man, daß dieses Gesicht 9 mit den hochgeschwungenen Backenknochen und der vorgeschobenen Unterlippe, die ihm den treuherzig angestrengten und unbewußten Ausdruck eines vertieften Kindes verleiht, im Mittelpunkt stehen mußte. Frau Jeschower nämlich hält einen Schuh, monströsen riesigen Schuh – er ist so riesig, weil sie ihn von sich forthält, um besser sehen zu können, und ihn damit perspektivisch vergrößert – in den Händen und beugt sich darüber, um den Schnürsenkel zu entknoten. Auf diese Weise wird jener Schuh zum Symbol der Wanderschaft überhaupt und im besonderen dieser Reise; einer reichlich mißglückten und mühsamen Wallfahrt mit allem Drum und Dran von Gequengel und Unzufriedenheit, von Zufall und Absicht, Glück und Verhängnis, von dem Hufeisen und der Katze mitten auf dem Weg, kurz und gut: von all diesen Ingredienzien, die jeder, je nach Temperament, auf seine Weise benennt und einzuordnen pflegt.

Am seltsamsten war wohl dabei der Umstand, daß sämtliche Teilnehmer dieser Geschichte von Anfang bis Ende zusammenblieben, obwohl sie allen Gesetzen der psychologischen Einsicht zum Trotz bereits nach den ersten fünf Minuten einander fluchtartig und entschlossen hätten verlassen müssen. Denn im Grunde konnten einander alle nicht ausstehen, meinten sie, und glaubten nur deshalb ihre Gefährten wohl oder übel ertragen zu müssen, weil sie nach der Weise des ›Schwan-kleb-an!‹ miteinander verbunden waren: der Zweite hatte den Ersten nach einer Verkehrsmöglichkeit gefragt und der Dritte und Vierte hatten die Auskunft des Ersten mitangehört, als ginge dieselbe eigentlich sie und nicht den Fragenden an – die übrigen stellten sich etwas später, aber immer noch früh genug ein, um zu finden, daß sie gleichfalls dazugehörten. Nur die zwei Nonnen, die kurz vor dem Ziel – gewissermaßen wie eine Art von ganz bestimmten Vögeln, die den 10 Seefahrern das erwartete Land durch ihr Auftauchen signalisieren – zu ihnen gestoßen waren, kamen mit ihnen gemeinsam an, ohne gemeinsam mit ihnen aufgebrochen zu sein. Manche behaupten, daß sie nur deshalb auf diesem Bildchen fehlen und natürlich auch darum, weil keine Nonne sich freiwillig vor die Kamera stellt, um sich fotografieren zu lassen.

»Schadet nichts«, sagte Ewald Hauteville, als er im folgenden Jahr das Bild der heiligen Mutter Cabrini, des ersten heiliggesprochenen Menschen der USA, zu Gesicht bekam: »genau wie Mutter Cabrini sahen die beiden Nonnen, zusammengenommen, aus. Im übrigen kann ich Gesichter schlecht und die von zwei Nonnen schon garnicht im Geist auseinanderhalten. Ich finde, sie gleichen alle einander wie schwarzweiße Stubenfliegen, obwohl ich natürlich fest überzeugt bin, daß für sie selber der Unterschied deutlich und im Auge des Schöpfers jede von ihnen vollkommen einmalig ist«, fügte er leicht verlegen hinzu und erläuterte seine Meinung durch einen Nachsatz, welcher den ersten durchaus nicht verständlicher machte. Er sagte: »Sie gleichen sich alle in dem, was das Licht, wenn es im Bruchteil einer Sekunde die Konturen der Gegenstände umreißt, auf der Platte des Lichtbildners ausgespart hatte: nämlich im Negativ. Würde man sie entwickeln, so käme in jeder eine Cabrini, das heißt, etwas völlig Neues und Originales heraus.«

Betrachten wir also, bevor wir beginnen, die Geschichte dieser seltsamen Reise und ihrer Menschen wiederzugeben, das Gesicht der heiligen Mutter Cabrini, der ersten Heiligen aus dem Bezirk von Nordamerika. Betrachten wir es ganz ohne Arglist, aber auch ohne Scheu: dieses ruhige erhabene Antlitz voll Güte und freundlichem Humor. Es ist breit und einfach und wie das Gesicht einer italienischen Bäuerin mit großen schwarzen Augen, die nur noch 11 Liebe sind. Auch der Mund ist groß, ein lebendiger Mund, dessen Winkel sich leicht nach oben heben; ein Mund wie geschaffen zur Fröhlichkeit und zum Geschichtenerzählen. Die Wangen sind voll; sie sind reif und wie Früchte, die bald gepflückt werden müssen. Hier und dort liegt ein leichter Schatten darüber – der Schatten des Mysteriums. Denn das Fleisch des Heiligen birgt ein Geheimnis, das schrecklich und abstoßend ist. Es wurde gekreuzigt und von den Fäusten des Satans reif geschlagen; es ist im Kampf mit dem Widersacher bereits der Verwesung anheimgefallen, von Totenmalen gezeichnet und der Welt zum Entsetzen geworden. Aber gleichwohl hat es auch die Verwesung schon hinter sich gelassen. Es hat seinen Tod bereits überdauert und steht im Begriff, die Unsterblichkeit und die Auferstehung der Toten an sich offenbar zu machen. Vor dieser Auferstehung der Toten erzittert die Materie. Würde sie nur vor dem Tod erzittern, so wäre ihre Furcht noch begreiflich; aber daß sie vor der Verwandlung erzittert, bedeutet, daß in dieser Verwandlung die Materie gerichtet wird. Wovor die Materie also erzittert, ist der Tod, die Verwandlung und das Gericht.

Heilige Mutter Cabrini zwischen den Kontinenten des sterbenden Europa und der menschenwimmelnden USA; zwischen dem Bild der zerschmetterten Schönheit und dem Bild der morgenrötlichen Kraft; zwischen Aufgang und Niedergang, Armut und Fülle – du eingeborene Tochter Europas und legale Bürgerin eines Volkes, dessen Ursprung der Pilger ist; du Korn aus dem Vorrat der Muttergottes, als die Flüchtende ihren Knaben samt den eingebundenen Kleidern auf dem Rücken des Eselchens rettete; Korn, zugezählt zu dem Reichtum der Körner, dem Mahlstrom der Körner, der auf den Schiffen zu den Hungernden immer aufs neue zurückfließt; Mutter Cabrini, Mutter der Pilger, der Waisenkinder, der Heimatlosen; Mutter, 12 nach deren schlichtem Bildnis sich die Blicke der Armen, der Hoffnungslosen gleich den Blicken der Auswanderer nach der Statue der Freiheit im Hafen kehren – aufgerichtete Säule der Kirche, an der die Mayflower festmacht und anlegt: jenes Schiff, das immer wieder den Duft und die Süße des traurigen Abendlandes zu geschichtlosen Küsten trägt – bitte für uns, für die ganz Besiegten, die Schuldbeladenen, deren Gesicht, aus dem starren Nacken heruntergezogen, bei den Füßen im Staube liegt. Heilige Mutter Cabrini! Wir bitten dich: bitte für uns! 13

 


 << zurück weiter >>