Elisabeth Langgässer
Märkische Argonautenfahrt
Elisabeth Langgässer

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Aus dem Tagebuch des Mamertus

Ich weiß nicht, was mich bewogen hat, das Ende der Reise nachzuerzählen, die einer ihrer Initiatoren ›Märkische Argonautenfahrt‹ nannte; denn Papier ist heute kaum aufzutreiben, und so habe ich denn auf der leeren Seite erledigter Rechnungen festgehalten, was mir bemerkenswert schien. Diese Rechnungen bilden meistens den Abschluß der ganzen Jahresernte. Sie beziehen sich auf das Mahlen des Roggens, das Erneuern der Ackergeräte; auf den Erwerb von Kühen und Schweinen, das Beschlagen der Pferde, die Ausbesserung der Haupt- und Nebengebäude; aber auch auf das Stimmen der Orgel, die Wachskerzen und den Meßwein, den Weihrauch und das Öl. Ich sagte schon, daß sie erledigt sind. Sie sind abgeschlossen und ausgestrichen, sie tragen den Daumendruck des Empfängers, der seinen Namen unter sie setzte, den Geruch der Lade und vieler Gewürze, die in dem Schubfach mit ihnen lagen, den Duft von Grummet, Johannesbeermost und eingekochten Pflaumen, den Duft gebündelter Last und Mühe, den Duft der Frömmigkeit.

Wenn ich auf ihre Rückseite schreibe, kommt es mir vor, als ob meine Feder über die dünne, brüchige Seide von Rosenblättern eile, die nur noch, damit sie ihren Geruch mitzuteilen vermögen, zwischen der Wäsche aufbewahrt werden – oder auf jenem Papyrus von Antinoupolis, dem Pachtvertrag eines griechischen Mannes, der sich als ›Sohn des Menas‹ bezeichnet, und diesen Vertrag über Weinberg und Acker mit der Anrufung Gottes beginnt. Denn zwischen dem Weinberg und ihm steht ein Dritter, der seinen Daumen unter die Pacht setzt und unter den Ertrag; diesen göttlichen Daumen, triefend von Öl, der schon vor Jahrtausenden zwischen Jakob und Jehowa sein Siegel 398 drückte. Der Dritte. Er hat die Rechnung geprüft und hat sie durchgestrichen, als sie beglichen war; er hat dem Pächter die Schuld erlassen, die er nicht zahlen konnte; er hat in Gnaden den Knecht behandelt wie seinen eigenen Sohn. Immer wieder erneuert er diesen Vertrag. Er hat ihn einst mit den Vätern geschlossen, und um der Väter willen nicht nur, sondern um Seiner Selbst willen auch hält ihn der Herr den Söhnen. Der Herr ist der Gleiche, der Mensch ist der Gleiche. Die Ähren, die auf den Äckern des Boas stehen geblieben waren, die Traube, die Noe gekeltert hatte, und der Fisch, der unter den Augen des auferstandenen Gottes über zwei Querhölzern röstete, während im Nebel das Schifflein an das felsige Seeufer stieß – sie alle sind die gleichen geblieben wie damals, so auch heute; sie sind nicht jünger, nicht älter geworden; nicht näher, nicht ferner; nicht unbezeugter, doch auch nicht wunderbarer.

Man sagt, diese märkische Erde sei jung, wenn man sie in Vergleich mit Rom und Vorderasien setze. Man weiß, daß dieses Land noch in Schlick, in Schilf und Schlamm saß wie eine Kröte, an der sich nichts wie der Kehlsack mit leichtem Blähen bewegte, als Troja unterging; als Hannibal vor den Pforten von Rom war, und als auf den katalaunischen Feldern die Geister noch weiter kämpften; man erzählt sogar, daß die Reste von Troja in Lebus, einer kleinen Stadt in der Mark, verborgen worden seien –Töpfe und Teller, Schalen und Krüge, die noch die Hände des Priamos zum Mund gehoben haben. Doch war die Hand des Priamos anders, als es die Hände der Ackerbauern von Lebus noch heute sind? Hatte sie etwa sechs Finger statt fünfen, und nahm sein Blut einen anderen Weg als den durch die beiden Kammern und war zuerst dunkel, dann hell? Der Mensch ist der Gleiche, Gott ist der Gleiche, und seit sich der Mensch seines Ursprungs erinnert, ist auch 399 seine Welt die gleiche geblieben und ist nicht jung und nicht alt . . .

Auch der Weg der erdumsegelnden Argo ging über Länder und Zeiten dahin; er führte sogar durch die Unterwelt und schließlich aus Raum und Zeit. So kommt es, daß man sie überall gesehen haben will, und daß die Reise der Argonauten eine nicht endende war. Ihr Ziel war der Ursprung, der Ursprung warf sie – wie die Hand eines Lassowerfers – hinaus und zog sie wieder ein. Was Ziel war, wurde aufs neue zum Ursprung, der Ursprung zu dem Ziel. In grauer Vorzeit schon ließ diese Reise die pythagoräische Einsicht ahnen von der Kugelgestalt der Erde und von der Offenheit dieses Daseins, dessen Ränder von jedem Punkt aus um die geheime Mitte sich biegen und in das Unendliche stürzen. Sie ist das Gleichnis sämtlicher Fahrten, Eroberungen und Wanderzüge, und wenn ein Dichter Prag an das Meer oder den Hof des Theseus in die Ardennen versetzt, ein anderer aber den Bau des Kanals von Panama in die Zeit des spanischen Barock – so hat seiner Fabel das alte Modell der heiligen Argo zugrunde gelegen; des rettenden Schiffes, das alle Küsten mit dem Schatten seiner Flügel gestreift hat, und, als der Sturm es zum Scheitern brachte, auf den Schultern der Argonauten zurück in die Heimat getragen wurde.

Wer nämlich hat je das Ufer gewonnen, der zuvor nicht gescheitert wäre? Wer hat sich glücklich gepriesen, den Heimweg wieder gefunden zu haben, ohne in heller Verzweiflung verirrt gewesen zu sein? Wahrhaftig: sie sind fast alle gescheitert, die märkischen Argonauten; am glücklichsten, wie ich glaube, Frau Flora, die, ohne den Staub von den Füßen geschüttelt und den Schweiß von dem glühenden, bebenden und von Erwartung gespannten Gesicht erst abgewaschen zu haben, nach der Kapelle eilte. Dort war die Komplet gerade verklungen, die Schlußantiphonen waren 400 verhallt, die Kerzen bereits gelöscht. Das späte Tageslicht lag in dem Raum, und die Inschrift über dem Hochaltar trat, während schon alle Bilder vergingen und die Farben den Bruderkuß tauschten, bedeutungsvoll hervor. Zuletzt trat auch diese Inschrift zurück und leuchtete endlich in Floras Herzen, dem vergeßlichen, wieder auf. Die Sakristanin bedeutete ihr, den dämmernden Raum zu verlassen. Sie hätte jedoch Frau Levi-Jeschower nicht erst an dem Ärmel zu zupfen brauchen, denn als diese gehorchte, geschah es fast so, wie wenn ein Dieb davonstürzt, der über dem endlich gelungenen Raub die Jacke zusammenhält. Ich wenigstens habe es so empfunden, denn selbst, als die Leute, die von der Ankunft der Reisenden gehört haben mochten, aus Gärten und Stallungen kamen, und einige Laienschwestern Frau Flora geziemend willkommen hießen, hielt sie noch immer die Hände über die Brust gepreßt. Sie atmete heftig und sah nach dem Himmel, als suche sie dort wie in früheren Zeiten das Zeichen der Sichel, das ihr und dem Gatten in heimlichem Einverständnis wie oft aus dem Grund der Zisterne entgegen geleuchtet und sie getröstet hatte.

»Nicht heute!« sagte ich, leicht belustigt. »Morgen früh wird der Mond erst am Himmel stehen, denn er nimmt wieder ab.«

»Ja«, sagte sie. »Er nimmt wieder ab. Erst, wenn wir die Sichel vor Mitternacht über den Horizont kommen sehen, nimmt sie uns wieder zu.«

Ich hätte wohl dieses Kolloquium über den Stand des Mondes schon lange vergessen gehabt, wenn nicht Frau Flora das Wörtchen ›uns‹ an einer Stelle eingefügt hätte, wo es eigentlich sinnlos war. Denn man kann wohl sagen: der Mond nimmt ab, der Mond nimmt wieder zu – doch, daß sie sagte: ›er nimmt uns ab; er nimmt uns wieder zu‹, bedeutet doch wohl, daß Frau Levi-Jeschower nicht nur 401 diesen Himmelskörper, sondern ein Wesen meinte, dessen Kommen und Gehen in einer Verbindung mit ihrem Schicksal stand.

Wenn aber auch der vergehende Mond die Szene nicht erhellte, so leuchteten nun von überall her die Stallaternen auf. Sie standen zum Teil Frau Flora im Rücken und machten sie einem großen, schwarzen, geschlechtlosen Menschen ähnlich, der sich unentwegt über den Schatz beugt, den er am Herzen hält. Später, als mir Frau Levi-Jeschower ihren immer wiederkehrenden Angsttraum von den Nachtgespenstern erzählte: von dem Einbrecher und dem gefangenen Vogel, dem Kästchen und dem Dietrich, wurde mir klar, daß sie selber der Vogel, der Einbrecher und der Dietrich war, und daß auf dem Boden der kleinen Schatulle die vergessene Inschrift gelegen hatte; die Inschrift über dem Hochaltar, die da lautet: ›gratias agamus Deo . . .‹, der Dank- und Jubelgesang.

Inzwischen hatte sich auch Herr Jeschower der Gruppe zugesellt; die müden Arbeiter nahmen von neuem die Harken auf die Schultern, den Rechen, den Futtersack und verliefen sich, da ihre Neugier gestillt und in der Küche bei Suppe und Brot noch genug zu bereden war. Nur die Sakristanin, die Pfortenschwester und die Gastschwester blieben stehen und sprachen mit Herrn Levi-Jeschower, während sich Flora erschöpft und zufrieden auf die große Steintreppe setzte, die in den Klostertrakt führt. Wer wird mir glauben, daß plötzlich nicht mehr die heimischen Kiefern ihr Wipfelspiel über den Himmel zogen, sondern die Eichen und Terebinthen aus Abrahams herrlichem Hain in Mambre, wo er den numinosen Besuch des dreifaltigen Gottes empfing? Wie damals waren auch heute drei Engel, die sich in ihre mächtigen Flügel wie in große Umhänge hüllten, an ihn herangetreten – nur, daß er dieses Mal selber der Gast war und jene die Gastgeber, die ihm Wasser, Lager und Speise boten. 402

»Friede für Israel! Friede für immer!« sagte ich unwillkürlich und gab Jeschower die Hand. »Wenn Sie nicht müde sind, wird es mich freuen, nach dem Abendbrot mit Ihrer Frau und Ihnen an der Zisterne zu sitzen und in das Dunkel zu sehen.«

So kam es. Wir saßen schweigend unter dem ausgestirnten, fast wolkenlosen Himmel und atmeten den ätherischen Duft von Reseden und Nachtviolen; wir hörten von ferne das friedliche Ächzen der letzten Bauernwagen und das verschlafene Zwitschern der Schwalben unter dem Scheuergiebel. »Sichelchen!« sagte Frau Flora innig; es klang wie ein Gebet. »Sie ist für uns in den Schatten gegangen, damit wir das Tageslicht hätten; sie hat die Schlangenköpfe geschnitten, die uns nach dem Leben getrachtet haben; sie hat uns von dem Grund der Zisterne auf der Welle entgegen gewinkt.«

»Sichelchen!« sagte Herr Levi-Jeschower. »Sie hat wahrhaftig das Wasser des Lebens für uns aus der Tiefe gehoben; sie ist für uns zum Gefäß geworden, zu einem schlichten und schlanken Krug, der in dem Feuer des Zornes gebrannt hat und fest geworden ist.«

»Sichelchen!« sagte endlich ich selbst. »Wer immer mit dem Wetzstein der Reue die Schneide wirksam erhalten hat, darf später auch ›Freude‹ sagen; und wo man einst in Israel wieder die ersten Zedern des Libanon pflanzen und das befruchtende Regenwasser auf die Felder herabziehen wird, pflanzt man den Namen der Opfer unter die Wurzeln ein.«

Nach diesen Worten erhoben wir uns und gingen gegen das Haus. Herr Levi-Jeschower blieb auf der Schwelle der Gästewohnung stehen, und ich fühlte, obwohl es vollkommen dunkel – wahrscheinlich sogar, weil es ganz und gar Nacht und sein Gesicht nicht zu sehen war – daß er mit allen Sinnen des Fleisches und mit den Sinnen des Geistes 403 sich nach den Fenstern Demetrias kehrte und lautlos nach ihr rief.

Ich sagte: »Schlafen Sie wohl, mein Freund. Sie schlafen unter dem Schutz des Auferstehungsklosters und der Panagia zugleich.« Daß dieses ferne griechische Wort auf meine Lippen gekommen war, kann ich mir nachträglich nur durch den Umstand einer Echowirkung erklären: unser Lobgesang war zurückgeflogen und hatte als eine kostbare Spanne Osten und Westen geeint.

Auch Herr Levi-Jeschower schien einverstanden und nicht im mindesten überrascht von meiner Ausdrucksweise zu sein. »Ich muß Ihnen morgen, Pater Mamertus«, sagte er, »von dem Andreaskreuz in dem ›kretischen Dorf‹ erzählen, wie unsere Reisegesellschaft den Flecken hinter dem Waldstück genannt hat, das diesseits des Seeufers liegt.«

Von einem kretischen Dorf zu vernehmen, schien mir in dieser nächtlichen Stunde nicht weiter wunderbar. Auch hatte ich, obwohl mich die Menschen einen ›Mann des Gebetes‹ nennen, schon von dem seltsamen Grabkreuz und seiner Inschrift gehört. »Morgen denn«, sagte ich, ohne zu ahnen, daß wir morgen dieses geplante Gespräch mit Friedrich Am Ende führen würden, der als Dritter der Argonauten eintraf und wahrscheinlich noch sehr lange hierbleiben wird. Aber ich greife vor.

In meine Zelle zurückgekehrt, fand ich dort auf dem Betpult die Totenchronik des Mutterhauses, von dem Anastasiendorf abkünftig ist; jener Ordensgründung im äußersten Westen, wo nach dem Willen Demetrias unsre Novizinnen für den Kriegsdienst auf der rauhen märkischen Erde gerüstet werden sollen; wo man in sie das Reis der Freude, die ›Causa laetitiae‹, pflanzt. Es ist natürlich ein Frauenkloster, doch hat man den Laienschwestern einige ältere Mönche zur Hilfe zugesellt: erfahrene Männer, die das Gestüt der edlen Pferde betreuen, welche man schon seit Widukinds 404 Zeiten, wie eine Überlieferung sagt, auf den Koppeln sich tummeln läßt. So sind auch den Händen des schlichten Bruders, dessen Totenchronik ich nun bei mir vorfand, ganze Generationen von Fohlen im Lauf der Jahre entwachsen – und hin und her blätternd in seiner Vita, die uns durch einige Quäkerfreunde zugestellt worden war, dachte ich mit dem Lächeln Eines, welcher bald Abschied zu nehmen, und in der Gewißheit des Abschieds die Schöpfung mit seinem Liebesblick nicht mehr zu stören, sondern zu segnen hofft, an die Fohlen, als ob ich an junge Mädchen, und nicht anders an die Novizinnen, als ob ich an junge Fohlen dächte, denen die Trense zwar schon bestimmt, aber noch ferne ist. Immer deutlicher trat von Seite zu Seite das Bild des verstorbenen Mönchs hervor, des Bruders Fridolin. Die letzten Worte lauteten so: »Er war uns ein lieber Konfrater, starkmütig, sanft und still. Je älter er wurde, um so genauer glich er den Heiligen auf den Ikonen, sein Wesen deckte sein Bild. Der Herr hat ihn – wir sind dessen sicher – in Gnaden aufgenommen und hat ihn beigesellt Sankt Georg, dem edlen Reitersmann.«

An diesen Ikonenheiligen mußte ich zu meiner Verwunderung denken, als Friedrich Am Ende hier ankam: ein Mensch, der freilich von einer Ikone nur die Verschlossenheit hatte, die Strenge und jene Art von Entrückung, welche seraphische Liebesglut genau so dem Antlitz aufprägt wie ihr äußerstes Gegenteil. Ich will gestehen, daß solche Leute mir bei weitem vertrauter sind als das Heer der Individualisten; als die geistreichen Köpfe, geschwätzigen Münder und wunderlichen Stilisten der hohen Literatur. Denn jene Ikonen, Masken und Mumiengesichter tragen das Siegel von Himmel oder Hölle; sie sind eindeutig, unverwechselbar, schablonenhaft, aber genau. Wer sich in ihre Züge vertieft, erfährt die unmittelbare Berührung mit Engeln oder Dämonen. Ein Heiligenschein und eine 405 Kukulle, sechsfache Flügel aus Pfauenfedern, die von wachsamen Augen strotzen, und der unendliche Hintergrund goldener Raumlosigkeit: aus diesen Substanzen bestehen fast alle die Urbilder in dem Tiegel der Schöpfung und heißen bald Kosmas oder Damian, bald Georg, bald Michael. In ihnen hat die Fülle der Gottheit die Fülle der Welt verdrängt. Auf umgekehrte Weise wie Buddha wurden diese Ikonen entleert: so nämlich, daß nicht die Leere zuerst, sondern die Gottheit war, und jedem Vakuum, Schritt für Schritt, die Präsenz der Gottheit entsprach.

»Welcher Gottheit?« fragte mich Friedrich Am Ende.

Ich sagte: »Es ist die Gleiche, die den Juden verboten hat, sie zu schnitzen, zu kneten oder zu malen, damit sie sich durch den entleerten Himmel und ohne Aufenthalt durch eine Sphäre platonischer Bilder oder Symbole in den Schoß der Jungfrau ergießen kann. Denn das Ziel der Gottheit, fassen Sie es, wenn Sie es fassen können, ist Kommunikation; es ist Fleischwerdung, die schon beschlossen war, als vor dem Thron des erhabenen Bildners die Panagia stand; als die Ewige Weisheit die Maße der Schöpfung über den Abgrund warf, und als Maria ohne Verwesung in den Himmel entrückt werden sollte.«

»Welche Maria?« frug Friedrich Am Ende, wie er vorher gefragt hatte: welche Gottheit? und ich sagte: »Die Jungfrau aus Nazareth, denn in Gott ist nicht Früher und Später, nicht Nachher und Bevor.«

Levi-Jeschower, der diese Erklärung nach Art seiner Vorväter angehört hatte, bedeckte sein Haupt wieder mit dem Käppchen, das er, der brennenden Hitze wegen, auch im Zimmer trug. »Vas admirabilis«, sagte er. »Doch welcher Erdteil hätte wohl schöner das Geheimnis begriffen, Gefäß zu sein und zum Inbegriff jeder Vollkommenheit die Vase zu bilden, als Asien – nicht den Triumphbogen oder die Säule; ach, überhaupt nichts, was sich erhebt, sondern, was 406 wartet und dient.« Und nun erzählte er mir von dem Grabkreuz auf der Ruhestätte Hendrikjes und von dieser Magd, die eigentlich Lea oder Zelphar hätte genannt werden sollen, und die, wie die Psalmeninschrift besagte, ›auf die Hände der Herrin sah‹.

Wieder sprachen wir von Maria. Wir kamen von überall her auf sie zu; wir drängten uns, wie sich durstige Schafe um den Teich in der Mittagsglut drängen, nach dem Gefäß der Meditationen und, man verzeihe mir dieses Wortspiel, nach der Argo des Bundes hin. Friedrich Am Ende ist Protestant, ja sogar Kalvinist. Von seinen geistigen Vorfahren her ist er Bilderstürmer und mußte da enden, wo jene begonnen haben: in dem tiefen Abscheu vor der Materie, dem Mißtrauen vor dem Trug der Erscheinung und dem geheimen Entsetzen vor Christi Inkarnation. Etwas weiter zurück, und er wäre Katharer, er wäre Manichäer gewesen, er empfand sich als einen Jünger des Buddha und zwar in jedem Sinn. Man behauptet aus tiefem Mißverständnis, daß die buddhistische Geisteshaltung der inneren Leere und Selbstaufhebung mit dem Christentum zu vereinigen sei – doch hat nicht schon Israel wie eine Schwelle vor dem Nirwana gelegen, bevor noch Buddha erschien; jene Schwelle, auf welcher in Stellvertretung Hagar für Sara empfing? Und wandte es nicht durch die heilsame Vielfalt seiner Vorschriften über den Tageslauf jedes einzelnen Mannes die Sehnsucht nach dem Nirwana ab? Als ein Gefäß, das durch diese Gesetze wie ein gescheuertes Zinn immer leuchtender wurde, verbrauchte der Schöpfer mit eigenen Händen Israel bis auf den kostbaren Rest, aus dem er die Jungfrau erschuf; Jene, die wieder beginnen sollte, und in der Überschattung des Geistes die neue Schöpfung gebar. Sie setzte den Anfang –.

Von solcher Art waren unsre Gespräche; doch hätten sie keinen Boden bei Friedrich Am Ende gefunden, wenn nicht, 407 mit Lotte Corneli zusammen, die beiden Nonnen aufgetaucht wären, die man Pat und Patachon nannte. In Wirklichkeit hieß die Große Dolores, die Kleine Perpetua; und es wollte mir einleuchten, daß der Schmerz und das Immerfort, das ihre Namen bedeuten, die Begleiter der Argonauten waren, wie sie ja grundsätzlich jedes Leben begleiten und liebgewinnen.

»Sie hatten recht«, sagte Friedrich Am Ende, als er Perpetua wiedersah. »Ich wurde nicht mehr darnach gefragt, ob ich hierher kommen wollte, so wenig wie eine Kugel gefragt wird, ob der Weg, der ihr vorausbestimmt ist, ihr zusagt oder mißfällt.« Mit diesen Worten zog Friedrich Am Ende die Kristallkugel unter dem Rock hervor, löste die hellblaue Schnur und sagte: »Es ist der einzige Gegenstand, den die Plünderung einer Kapelle in Rußland mir vor die Füße warf. Als Sie sich damals an Ihrer Kette vor meinen Augen von Perle zu Perle weitergetastet hatten, erkannte ich den Ursprung der Kugel, und daß sie immer wieder zurückläuft zu dem Kreuz, das ihr Ausgang war. Ich will sie nicht mehr. Sie ist mir kein Mittel, mich mit ihr von mir selbst zu befreien, sondern ein Ärgernis. Würde ich dieser Kugel folgen, so käme ich zu dem Kreuz.«

»Nehmen Sie ruhig die Kugel entgegen, Schwester Perpetua«, sagte ich. »Das Kind auf dem Arm unsrer Muttergottes hält schon lange das Händchen auf.« Erläuternd fügte ich noch hinzu, daß sich neulich, während der großen Hitze die Wachskugel auf der Hand der Statue abgelöst haben müsse und, als sie abgestaubt wurde, heruntergefallen sei. Man habe vergebens nach ihr gesucht, wahrscheinlich hatte sie schon ein Fuß in den Dielenboden getreten, bevor sie vermißt worden war.

Wie die Kristallkugel aus der Schnur, so löste sich, kaum daß die Argonauten einander wiedergefunden hatten, ihre geheimnisvolle Verbindung und gab jeden Einzelnen frei. 408 Als Letzte waren Irene von Dörfer und Ewald Hauteville angekommen; sie hatten ergebnislos und verzweifelt die Spur von Lotte und Beifuß verfolgt, und Irene, der russischen Sprache mächtig, war an Kommandostellen und Stäbe mit der Bitte um Unterstützung und Klärung immer wieder herangetreten. Obwohl mit Höflichkeit aufgenommen, wurde sie abgewiesen; vermutlich, weil man dem tauben Gerede über russische Deserteure nicht Nahrung geben mochte. Zu ihrer unbeschreiblichen Freude fanden sie nun Frau Lotte Corneli im Schatten der Türme vor; eine ganz andere Lotte freilich als jene Galionsfigur, welche Verhoeven als Nixe bezeichnet hatte, und von der er behauptete, daß man mit ihr nicht über das Meer fahren dürfe; keine Zauberin, keine Besessene mehr; keine Wölfin, in deren lieblichen Augen die Grausamkeit mit dem Wahnsinn spielte, die Blutgier mit dem Tod. Wohl aber fanden sie eine Frau, die sich selber zu ihrem eignen Erstaunen zurückgegeben war – exorzisiert wie Jerusalems Kranke, die man Petrus vor die Füße gelegt, und dessen Vorübergang, als sein Schatten ihre Leiber getroffen hatte, sie wieder aufleben ließ.

In dem ›weltlichen Sack‹, wie die Argonauten den bäurischen Beutel nannten, auf welchem in Kreuzstichstickerei ›Ata, Imi, Persil‹ zu lesen war, fand sich auch vollkommen unbeschädigt Ewald Hautevilles Apparat. Schon seit langem hatte ich mir auf der Zelle eine Dunkelkammer mit Chemikalien, mit einem Vergrößerungsapparat und allem Zubehör eingerichtet, wo ich die üblichen Ansichtskarten der fremden Gäste entwickeln, und nebenbei meiner Liebhaberei, auf die Spur verborgener Palimpseste zu kommen, frönen durfte. Der Meister dieser Kunst, das Versteckte freizulegen und ältere Schichten von Farben, Buchstaben oder Symbolen ans Tageslicht zu bringen, ist der bärtige Pater Alban, mit dem ich befreundet bin. Unsere Beziehung 409 hat freilich der Krieg, wie so manches Andere, unterbrochen, und keiner Möglichkeiten mehr habhaft, mit ultravioletten, sondernden Strahlen die alten Blätter des Klosters aufzustören, habe ich mich bescheiden müssen, mit dem ängstlich gehüteten Rest meiner Flaschen, Essenzen und Mixturen jenes unbedeutende kleine Bild der Argonautenfahrt zu entwickeln, das die Teilnehmer auf der Höhe ihrer Erkenntnisse zeigt. Ich habe ihm einen Namen gegeben, ich habe dieses Augenblicksbildchen, wo jeder Teilnehmer wie von dem Auge eines allwissenden Gottes betroffen und wie zufällig von seinem Finger in dem gleichen Atemzug angerührt und festgehalten wurde, »die Sonne bringt es an den Tag« oder »Epheser 4, 8–9« genannt . . .

Es drängt mich, am Schluß noch hinzuzufügen, daß die Bitte der Reisenden, der Äbtissin ihre Aufwartung machen zu dürfen, abschlägig beschieden wurde. Diese Verweigerung wurde von ihr dahingehend begründet, daß ihre Gesundheit schwankend und durch die Zeitumstände die Last ihrer Verpflichtungen allzu groß und zu umfassend geworden sei, als daß sie dem Einzelnen mehr geben könnte, und ihn einer größeren Nähe zu würdigen fähig wäre, als alle Gäste zugleich.

Ich weiß es besser, aber ich schweige. Ich weiß, daß Demetria weiter nichts als der Hintergrund dieser ganzen Ikone, die wir ›Märkische Argonautenfahrt‹ nennen, vor Gott gewesen ist. Sie wurde als reines, kostbares Gold in dem Tiegel des Großen Engels zerrieben, der die Seufzer und Bitten, die Reue, die Einsicht vor den Thron des Allwissenden trägt. Aus diesem Hintergrund sind sie alle, die Argonauten, hervorgetreten: sie heften ihre nachtschwarzen Augen auf den Beschauer, sie legen die Hände über dem Purpurrot ihrer Mäntel wie gelb umrandete Blätter zusammen, die der Herbst schon angerührt hat. Vielleicht, wenn sie lange genug gedauert und ihre Bestimmung erduldet haben, fährt 410 der Pinsel eines Barbaren darüber und löscht sie wieder aus. Er verbraucht die Ikone, wie man sehr hartes und wetterbeständiges Holz zu verbrauchen und es an besonders wichtiger Stelle einzufügen versteht: vielleicht in eine Wiege, vielleicht in einen Kahn. Dann beginnt von neuem die Argo zu schaukeln, das Holz der dodonischen Eiche tönt, und in anderen Sprachen, anderen Zungen, wird, was von jeher und immer war, prophetisch ausgesagt. Hier endet das Tagebuch des Mamertus.

 

Nachtrag [zu diesem Tagebuch]

Meinem Blätterbündel hefte ich heute noch eine Beifügung an. Ich muß den dünnen Faden zerschneiden, der es zusammengehalten hat, und die Stelle suchen, wo ich am besten ein Ereignis wie dieses nachtragen könnte, das schon von Anfang an, wie ich glaube, in den Bogen der Argonautenfahrt eingelassen gewesen, aber jetzt erst sichtbar geworden ist.

Zwei Männer aus unserem Nachbardorf, ein Bauer und der jüngere Sohn unseres roten Pachulke, haben heute, die Zwilchmütze in der Hand und den Kopf nach allen Richtungen drehend, mich mit großer Überwindung gebeten, ein Doppelgrab in dem alten Geviert des ›französischen Hauses‹, wie man es nennt, unter dem Weidenbaum einzusegnen, in welches Pachulke und dieser Bauer zwei Tote gebettet haben, die Pachulke, als er die Reuse in den See zu setzen versuchte, zu Tage gefördert hat. Ich willigte ein und duldete auch, daß Pachulke mich wieder zurück nach Anastasiendorf brachte. Von da an kam Pachulke noch öfter. Er besprach mit uns die Errichtung von einigen Bienenstöcken, den Bau einer Esse und einer Schmiede, die sich durch die Erkrankung und den Kräfteverfall seines Vaters, des alten Hufschmieds Pachulke, als nötig erwiesen 411 hatte. Pachulke, der Sohn, ist ein schweigsamer Mensch, der sich von seinen Gedanken nur langsam [wie Honig vom Holzlöffel] ablösen kann, und mir tropfenweise berichtet hat, was ich hier wiedergebe.

Das Doppelgrab schaufelnd, sagte Pachulke zu dem Bauern: »Die Erde ist überall gleich. Hier . . . in dem Dnjeprbogen . . . und hinter dem Ural.«

»Wie lange warst du eigentlich fort?«

»Vier – warte – nein, fünf, nein, sieben Jahre sind das wahrhaftig her.«

»Und wieviel warst du davon in Rußland?«

»Seit Stalingrad«, sagte er.

»Aber die Menschen sind doch dort anders?«

»Nein. Auch die Menschen sind gleich.«

»Aber sie sind doch ganz ohne Gott?«

»Das gibt es nicht«, sagte er. »Letzte Ostern war ich in einem Wald –.«

»Hast du Holz gemacht?«

»Ja, das auch. Lauter Birken, ein paar Wacholderbüsche und sehr viel Moos und Gras.«

»Und –?«

»In der Dämmerung kam ich hin, die Sonne ging eben auf. Da waren Bauern, Männer und Frauen, welche am Boden lagen.«

»Am Boden?«

»Ja, über einem Kreuz an der Erde, das jeder mit Mund und Brust berührte, erst oben, dann unten, dann rechts und dann links, zuletzt das Lanzenmal. Sie haben auch gesungen dabei.«

»Was haben sie denn gesungen, Pachulke?«

»Das Dreimalheilig, wie sie es nennen.«

»Wer – sie?«

»Die Orthodoxen.«

»Wie heißt es denn, dieses Dreimalheilig, das sie gesungen haben?« 412

»Heiliger Gott. Unsterblicher Gott. Heiliger, starker Gott. Unsterblicher, heiliger, starker Gott. Starker Unsterblicher.«

»Und immer über die Erde hin?«

»Ja, über die Erde hin.«

»War es verboten?«

»Nein. Nicht verboten. Immer mehr Leute kamen herbei – Frauen und Kinder, junge Soldaten. Zuletzt kam ein Hauptmann dazu.«

»Küßten sie alle das Kreuz an der Erde?«

»Sie küßten das Kreuz, und sie steckten Kerzen auf allen Baumstümpfen an.«

»Das hast du doch nur geträumt, Pachulke«, sagte der Bauer mit offenem Mund, setzte von neuem den Fuß auf die Schaufel und warf die Erde empor . . .

 


 


 << zurück