Elisabeth Langgässer
Märkische Argonautenfahrt
Elisabeth Langgässer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nun war alles in Anastasiendorf wieder wie immer und von Ewigkeit her. Eine Nonne mit hochgeschürztem Rock, die Heugabel in den Händen, warf den Kühen das Futter vor; eine andere lockte die goldblonden Kücken mit einer Mischung aus eingeweichten, kleinen Kartoffelstückchen und Körnern zu ihrer Schüssel heran.

In der Hostienbäckerei zischte das glänzende Waffeleisen, wenn der geschmeidige, weiße Teig die Initialen berührte: das Alpha und Omega und den Fisch und das mächtige IHS. Ein flaches Tellerchen stand daneben und diente, wie immer im Sommer, der Fliegenkommunion – es war mit fast flüssigem Teig gefüllt, über welchem die Quälgeister wimmelten, ohne daß eine Hand sie verjagt oder der Lockspeise irgendein Gift heimtückisch zugesetzt hätte. So wäre diese merkwürdig zarte und mystische Fütterung fast wie der Anfang einer Erlösung jeglicher Kreatur durch die Kinder Gottes gewesen, ohne die Gier und den Undank, mit der sich diese verhaßten Geschöpfe an einen zweiten und größeren Teller, der an der anderen Seite des Waffeleisens stand, hergemacht hätten, um ihn zu plündern und auszuschlecken und den Nachtisch der Nonnen zu schmälern, der regelmäßig aus dem durch die Pressung des glühenden Waffeleisens herausgelaufenen Überfluß an Hostienteig hergestellt wurde, und welchem unehrerbietige Gäste den Namen ›Hostienpamps‹ gaben – auf diese Weise wieder zurück in den Bereich des Weltlichen holend, was einzuführen in den sakralen und erhabenen Raum des Offiziums fast schon gelungen war.

Auch Bienen, Wespen und Hummeln beteiligten sich bisweilen an dieser Räuberei; jene allerdings nur, wenn der Luftzug an regnerischen Tagen sie durch das geöffnete Fenster der Hostienbäckerei hereingetragen hatte. Die 90 Gemüsegärten und Blumenbeete erstreckten sich rechts und links von dem Park hinter dem Hauptgebäude, so daß, wenn der Wind mit den Hummeln im Bund war, er es auch mit den Geräuschen war, die das Zischen des eingegossenen Teiges gewöhnlich übertönten. Die beiden Pumpenschwengel, geduldig und unermüdlich das teure Wasser aus dem geizigen Sandboden holend, gingen mit gottergebenem Ächzen beständig auf und nieder; hätte ein Toter im Schoß der Erde den Tag seiner Auferstehung an der sich immer gleichenden Hebung und Senkung abzählen wollen, er hätte sich in dem Regelmaß der Aufeinanderfolge kein einziges Mal geirrt. Von Zeit zu Zeit, wenn die Gießkanne voll war, hörte man, wie sie vom Brunnenrand auf die steinernen Fliesen abgesetzt wurde; jedes Mal schwieg dann das Ächzen still, das Wasser der Gießkanne platschte über, eine andere wurde untergeschoben, und das Ächzen begann von neuem.

Auch in der stillen Infirmerie hörte man diesen Ton; er glich einer alten Kinderfrau, die immerzu auf und ab geht, und war im Grunde ebenso drinnen, wie er draußen im Garten und unter dem Fenster und eigentlich überall war.

Am besten hörte man ihn im Vestiarium neben der Infirmerie; vielmehr, man hätte ihn hören können, wenn nicht das gedämpfte geduldige Rattern der fleißigen Nähmaschinen und das Brummen, mit welchem die Schiffchen von neuem aufgespult wurden, von ihm abgelenkt hätte und seinen Eifer, an dem seinen gemessen, bedeutungslos und fast wie ein kindisches Abzählreimchen hätte erscheinen lassen. Dieses Vestiarium, im Gegensatz zu den anderen Werkstätten in dem Kloster, lag innerhalb der Klausur. Nichts als die Luft und der süße Geruch, der mit unbeschreiblicher Heftigkeit den Kletterrosen entströmte, welche die Südwand des Hauses bedeckten, hatten ungehemmt Zutritt zu ihm. Weil der 91 Raum ziemlich hoch lag, wurden die Gärten, die Glashäuser, Felder und fernen Wälder – die allerdings nur mehr geahnt werden konnten – in den schlichten Rahmen gefaßt. Ihre Wege, knisternd von Sommerhitze, waren von Wicken, gemeinem Kreuzkraut und Ackergauchheil bekränzt; das erbärmlichste Unkraut mußte genügen, damit der Pan dieses kargen Landes sich auf ihm abzeichnen und seine Pfade, diese armen, nüchternen Zeilen verwirren und Pflug und Egge mit überaus zähen, unausrottbaren Wurzelballen von der Linie abbringen konnte. Als ob diese schwache, magische Störung sich bis in den Klosterbezirk erweitern und dort zugleich aufgenommen und abgeschwächt werden würde, setzte sich das erregte Flackern der wegentlang laufenden Blütenfeuer in den seidenen Garnen fort, die auf den gottesdienstlichen Kleidern, welche die Nonnen bestickten, auf Pluviale, Stola und Meßgewand, das Bild einer Vegetation entwarfen, die zugleich keusch und üppig war und sich wie abgewandelte Träume, die sich hartnäckig wiederholen, in den Formen von Rebe und Weizenähre, von Lilie und Rose erging. Diese Zeichnungen – sie umfaßten die Wege der Heilsgeschichte und die Geschichte der Seele zugleich, die ihre eigene Führung und Fügung in der Art offenbarten, wie Formen und Farben aufeinander bezogen waren, wie die Linien sich suchten, ergänzten und fanden, und endlich zur Ruhe kamen. Übrigens war das Vestiarium nicht eigentlich eine Werkstatt, sondern die Nähstube der Gemeinschaft und dann erst der Raum, wo man Neues entwarf und Bestellungen ausführen durfte, die unter der lustig hüpfenden Nadel von Schwester Metella zusammenliefen, und samt den immer spärlicheren und schwieriger zu beschaffenden Garnen, den Brokaten und anderen edlen Stoffen von den Kirchen der Diözese in Auftrag gegeben waren. 92

Aber obwohl kein Hemd zugeschnitten, kein Mantel genäht, kein Schuh besohlt, keine Brote gebacken und kein Kyriale auf das Notenpapier gedruckt worden war, das nicht von den sanften Händen der Nonnen seinen Ausgang genommen hätte, galten doch all diese Tätigkeiten nur als eine freundliche Unterbrechung des beständigen Chorgebets. Seine Stimmen, diese jungfräulichen Stimmen von fast flacher Leidenschaftslosigkeit, die sich nur einmal während des Tages in den marianischen Schlußantiphonen zu einem Ausdruck bestürzender Sehnsucht und wilder Klage erhoben – o clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria! –, waren nicht reich an Stärke und Zahl, doch wurden sie sicher und lautrein geführt und hatten das rührende Timbre vollkommen argloser Vogelkehlen, die noch der Nestrand umschließt.

Auch über sie war der Krieg hingegangen. Verwundete, Kranke und Flüchtlinge drängten in immer größerer Anzahl an die benediktinische Klosterpforte, die Tag und Nacht offen stand. Die ersten Bomben fielen im Umkreis, verfolgte Jagdflieger stürzten ab und entzündeten eine brennende Fackel in dem schwermütig schönen Park. Man legte den Klosterbunker an, und aus der Tiefe der Erde drangen, als ob der Mund dieser uralten Mutter beschwörend und machtvoll durch Davids Psalmen und durch die Sprüche des Predigers alles Unheil voraussagen wollte, die kanonischen Horen herauf. Der Himmel über der schrecklich fernen, aber plötzlich nahegerückten Hauptstadt warf den rötlichen Schein seiner Feuersbrünste über die Matutin; in die Laudes mischte sich wie das Klagen angeketteter Tiere das Geheul der Sirenen, das der Entwarnung, und in die freudigen Töne der Prim das erneute Anschwellen ihrer Schwestern, die schon wieder der Warnung dienten. Terz, Sext und Non gingen friedlich vorüber, und die Vesper wollte fast heiter erscheinen, 93 als die Komplet wieder den Konvent in dem Bunker versammelt fand.

Trotzdem erlitt der Tageslauf keinerlei Unterbrechung: das Frühjahrsobst wurde eingekocht, die Marmelade in Gläser gefüllt, die Stangenbohnen wurden enthülst und die Äpfelschnitzel an Schnüren unter dem Hausdach getrocknet, als der Herbst sich genähert hatte. Der Geruch des Zwetschgenmuses zog stark und angenehm durch die Räume; von den Kriegsgefangenen wurde das Holz eingebracht und zerkleinert; an Weihnachten nahmen die Flüchtlingskinder unter der großen Tanne die Gaben und den freundlichen Zuspruch der Schwestern entgegen; die Franzosen, in Erwartung des Endes, versammelten sich um den Hochaltar, um das Choralamt zu singen, und das Dröhnen der russischen Artillerie rückte näher und näher heran. Die Eroberung kam, der Klosterhof brannte; Jugoslawen, der russischen Sprache mächtig, verhandelten mit dem Eroberer, der das Kloster in Obhut nahm.

Kein Haar vom Haupt und kein Sperling vom Dach. Auch dies ging vorbei, der Kriegslärm verhallte und ließ wie die Flut auf dem Sand nichts weiter als Dank und Erinnerung und das Gefühl einer gnädigen Fügung zurück. Die Chronistin trug das verflossene Jahr mit seinen Schrecken, Wundern und Freuden, mit dem Flackern der Kriegsfeuer und dem Glänzen der milden Weihnachtskerzen getreulich in ihre Berichte ein und bezeichnete es, wie alle die waren und alle, die kommen würden, als ›Annum Domini‹. Es wurde einsamer in dem Kloster, die Zivilarbeiter – ihre Transporte mit den Landesfähnchen lustig besteckt – zogen fort: die einen nach Limoges und Marseille, die anderen nach Arles. Auch Italiener und Jugoslawen, Tschechen und Tito-Leute, die das Kloster heimlich bewirtet, gepflegt und mit geistlichem Zuspruch getröstet hatte, verabschiedeten sich nun. Sie küßten der Äbtissin 94 die Hand und stimmten, fast berstend vor Glück und Freude, ihre süßen Volksweisen an. In der Ferne, schon fast an dem Horizont, verklangen die Lieder wie eine Klage, jene Sehnsuchtslieder nach Vater und Mutter, nach Bruder, Schwester und Frau; sie verhauchten, und dieser Hauch verging wie der Atem auf einem Fensterglas, das nun leer und bilderlos war . . .

Die Tage gewannen an Einförmigkeit, was sie an Schrecken verloren hatten, und erhielten zugleich ihren Sinn zurück: nur Einsamkeit, Wüste und in der Wüste die Bastion des Lobgesangs Gottes zu sein, eine unüberwindliche Festung, ummauert von ständigem Gebet. Allmählich wuchs diese Wüste wieder, dieser langsam sich vorbereitende Tod, dieses Sterben, welches zuerst die fünf Sinne und mit den Sinnen die Tore verschließt, durch welche die Welt, die Versuchung des Fleisches und die Hoffart des Lebens eindringen kann. Nur die Horen, als die acht Mauerscharten, welche die Außenwelt einfallen ließen, zeigten den Stand der Sonne an, die Zeiten des Kirchenjahrs und den Wechsel des wankelmütigen Mondes. Gut – alles andere war vergangen, und auf den Zinnen der einsamen Festung, welche sich zwischen dem Selbstbetrug des schwachen menschlichen Herzens und dem Verführer als letzte Rettung erhob, ertönte zu Ehren der Jungfrau, die über der Mondsichel steht, das holde Magnifikat.

In diesem Frühling raste der Typhus durch das von Leichen erfüllte Land und nahm zwei junge Novizinnen, die Chorleiterin und die leibliche Schwester der Novizenmeisterin, fort. Man begrub sie, ohne sie zu beweinen, und beweinte die Laster der Welt. Es wurde erwogen, in dem Vestiarium einen Webstuhl und an der geschütztesten Hauswand einen Bienenkorb aufzustellen; doch weil sich die Zeiten mehr zu verdunkeln als aufzuhellen begannen, verzichtete man darauf. Im übrigen waren die Söhne und 95 Töchter des heiligen Bernhard von Clairvaux, diese weißberockten, zornigen Tauben, nicht in die Sandwüste unseres Landes und seiner Bewohner gekommen, um Trauben zu keltern oder die Waben einer anderen Honigtracht auszuheben als die des Wortes allein; sie hatten das Klima des süßen Frankreich nicht verlassen, um provençalische Verse und zierliche Reime zu schmieden, und aus den Backsteinen dieser Erde errichteten sie die strenge Gotik ihrer Kirchen und ihrer Klausur. So waren sie damals die ersten Franzosen auf märkischem Boden gewesen, von denen hier [ebenso wie von den letzten, die jetzt erst gegangen waren] die Choralmesse angestimmt wurde; doch während schon lange Chorin und Lehnin in Trümmer gefallen waren, stand in dem Park ihrer Tochtergründung zu Anastasiendorf noch die Bank, wo die gefangenen Leute aus Arles, aus Tours, aus Limoges und Marseille bewirtet worden waren. Das Holz verrottete, weil der Regen es unbarmherzig peitschte, und sprang in der folgenden Hochsommerhitze in großen Rissen entzwei. Hernach – es geschah in den nächsten Jahren – gewöhnten die Eichhörnchen sich daran, ihre Nüsse, auf der Tischplatte hockend, genußvoll entzwei zu beißen. Sie zermahlten die Kerne, ein leises Knirschen wie von Leder und Koppelzeug ging durch die Lüfte, und es war, als hätten sich die Franzosen noch einmal zu Gast geladen . . .

Das Arbeitszimmer der jungen Äbtissin Demetria, Fürstin von Hohenwaldau, hatte in dem Bereich der Erfahrung des russischen Kommandanten nichts ihm Vergleichbares aufgewiesen, als er das Kloster und seine Räume durch Befehl und Anschlag an seinen Mauern unter den Schutz des Heeres gestellt und sich, betroffen und angerührt durch seine seltsame Atmosphäre, zurückgezogen hatte. Demetria, die Äbtissin, dagegen war nur für ihre Würde noch jung und in der gebändigten Kraft ihrer Rasse, die 96 früher ein altes Adelshaus erfolgreich bastardisiert hatte und durch die illegale Verwandtschaft mit den Habsburgern zu dem Rang von Fürsten erhoben worden war – eine Frau in der Blüte der Spätreife also, achtunddreißigjährig mit festen Händen, welche, obwohl sie schlank wie der Rücken von englischen Windspielen waren, den Händen einer Bäuerin glichen, denen die regelmäßige Arbeit mit Bürste und Eimer den Nagelmond frei hält, und die das Melken stark und geschmeidig, doch gleichzeitig nachgiebig macht.

Auf diese Hände sah Pater Mamertus in tiefer Befangenheit. Es war nicht die ahnungslose und unbewußte Befangenheit des russischen Offiziers, sondern das schwindelerregend klare und überscharfe Wissen des großen alten Asketen: in nahezu allen Lebensbezirken außer dem numinosen von dieser seltenen, jungen Frau herabgemindert zu sein. Schönheit – nun gut. Er wußte genau, daß kein Formgesetz jemals ausreichen würde, sie hinlänglich zu erklären. Auch sie: in der Tiefe der Mystik erst strahlte sie auf; in dem Buch der Weisheit hatte sie ihren Platz. Nun beruhigte sich wieder sein traumhaft leichtes und schwebendes Selbstbewußtsein, das immer, wenn er sich auch nur von ferne dem ›Grottengeheimnis‹, wie er es nannte, ihres merkwürdig quellenden Wesens hingab, wie ein Spiegelbild [angerührt von dem Stäbchen eines wasseraufpeitschenden Kindes] zerbrach und erst nach einer geraumen Weile wieder zusammenfloß. Er hob mit einem Ruck seinen Kopf und sah die Äbtissin fast feindselig an; prüfend und finster und fest entschlossen, seine Autorität gegen die ihre zu setzen.

Aber im nächsten Augenblick schon fühlte der alte Mann sehr deutlich, daß der Gegenstand seines Ärgernisses sich als nichtig erweisen würde. Trotzdem stellte er noch die Frage, deretwegen er hergekommen, und die nun von ihm 97 schon als überflüssig empfunden worden war. Seine Kuttenärmel, wie riesige Vögel, beschrieben einen Kreis, als er sagte: »Wie lange soll noch dieses Mobiliar Ihr Zimmer entstellen, mein Kind?« Während er redete, faßte Mamertus die Totenmaske Pascals, die einsam an einer kalkweißen Mauer über dem Kopf der Äbtissin hing, unverwandt in den Blick.

»Ich habe bereits von dem alten Baron eine Botschaft erhalten, mein Vater«, sagte Demetria ruhig. »Sein Gut ist enteignet, das Schloß versiegelt, seine Wertgegenstände abtransportiert oder der allgemeinen Benutzung der Neubauern freigestellt worden. Man bat mich, vorläufig zu behalten, was die Abtei in der Eigenschaft einer Treuhänderin bis dahin verwahrt und das bisher nicht der leiseste Wunsch des Eroberers angerührt hatte, geschweige denn sein Befehl, sein Bedürfnis oder seine Zerstörungswut.« Es war richtig. Was das geblendete Auge des russischen Kommandanten in raschem Lidschlag aufgefaßt hatte, war seiner Erfahrung, aber vor allem seinem Werturteil vollkommen inkongruent; es war so abendländisch im Guten wie auch im Bösen gewesen, daß sich nichts anderes anmelden wollte als leise Verlegenheit. Dieser ungeheuer kostbare Schreibtisch, Louis XV, mit der prankenhaften Gewalt und spielerischen Grazie eines französischen Moralisten und dem Schmuck von Intarsien, die so durch den Stoff wie durch den Geist der Epoche, die sie hervorgebracht hatte, hindurchgegangen waren, daß sie nur noch wie ein Notensatz wirkten; die Sessel, kanneliert und geschwungen, ohne üppiger als die veredelte Rose und strenger zu sein als ein Lehrsatz der klassischen Geometrie; diese Bücher auf einem Eichenbord hinter handgeschmiedeten Gittern: Augustinus in riesigen grünen Folianten, Mauriner Ausgabe; aber auch Platon, Plotin und Bonaventura; der Barockschrank, schwere 98 Salzburger Arbeit mit dem Wappen der Fürstbischöfe . . . an den Wänden Rubens und Caravaggio in herbstlich glühenden Farben – was sollte der junge Iwanowitsch damit anfangen, welcher vor Sämaschinen und Traktoren wie ein fröhlicher Knabe entflammt in die Hände klatschte und sich in dem Gutshaus, welches das Kloster einmal gewesen war, moderne Möbel erwartet hatte, Klubsessel, Hirschgeweihe und starkes, durch Glasröhren oder Kugeln geleitetes elektrisches Licht; nicht aber diese feierlich großen, ewig tropfenden goldgelben Kerzen, die auf eisernen Radleuchtern staken und benutzt wurden, weniger, weil sie schön, sondern weil sie notwendig waren. Trotzdem, Mamertus fühlte es wohl – und was er fühlte, war er so ehrlich, sich selber einzugestehen –, war es das Wesen Demetrias selbst, welches die Sachen trug wie ihr Habit, und erst, wenn ihr dieses arme Habit mit den eingesetzten Ellenbogenflicken von den Schultern gerissen wurde, würde es möglich sein, diesen Rubens, diesen Schreibtisch und diese kostbaren Bücher auf motorisierte Wagen zu laden und abzutransportieren. Dann allerdings war es auch gleichgültig, was mit ihnen geschah – denn ob sie Pracht oder Plunder waren, entschied die Äbtissin allein.

Er schob nach seiner Gewohnheit die überkreuzten Hände unter die Kuttenärmel; dann heftete er von neuem den Blick auf die Totenmaske Pascals und rezitierte, mehr für sich selbst als für Demetria, eine Stelle, die er neulich gelesen hatte. Trotzdem war dieses Zitat eine Antwort, wenn sie auch mehrere Kettenglieder seiner Gedankenfolge kühn übersprungen hatte. »In jedem Menschen, sagt Augustinus, ist eine Schlange und eine Eva und auch ein Adam zugleich. Die Schlange sind unsere Sinne und unsere Natur. Eva hingegen die böse Lust und Adam die Vernunft. Unablässig versucht uns unsere Natur, und oft begehrt die böse Lust; doch ist die Sünde noch nicht 99 vollkommen ohne Zustimmung der Vernunft. Lassen wir also immerhin diese Schlange wirken und diese Eva, da wir es nicht hindern können, von beiden versucht zu sein. Doch bitten wir Gott, seine Gnade möge den Adam in uns erstarken und ihn unüberwindlich machen.«

»Amen«, sagte Demetria mit einem leichten Lächeln, das ihre Lippen teilte und die makellosen, sehr weißen Zähne wie einen Fanfarenton aufblitzen ließ. »Diese Möbel und diese Bilder werden für mich, mein Vater, keine Versuchung sein.«

Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß es, mein Kind, ich weiß es«, sagte er dann mit schmerzhafter Milde. »Aber ich fühle, daß aus der Tiefe Ihrer Natur, wo sie gleichsam mit den Wurzelballen im Anfang ruht, aus dem unaussprechlich und unausdenkbar mächtigen Zustrom der Kräfte die Schlange ihr Haupt erhebt.« Er erstarrte; eine Art Clairvoyance, das Erbe seiner westfälischen Heimat, verdunkelte ihm die Gegenwart und flammte gleichzeitig wie das Licht einer weitergereichten Kerzenflamme an anderen Stoffen auf: er sah den Innenhof und die Balkone seines streng-schönen Renaissance-Palastes, von dem er gleich danach wußte, daß es ein Marstall war. Sich bäumende Hengste, wiehernde Stuten, die an kurz gehaltenen Zügeln zum Beschälen herbeigeführt wurden; ein Gedränge von Jünglingen, Männern und Frauen auf den teppichbehangenen, schmalen Balkonen; Neger, die sich mit Fruchtschalen, Fächern und verschiedenen Musikinstrumenten hindurchzuwinden suchten, und immer wieder das Schlagen der Hufe, als ob die chthonischen Kräfte selber einander begatteten. Dieses Bild, wie das Innere eines Kraters mit rosigen Sandsteinwänden, wurde mehr und mehr immateriell. Die Gestalten verloren an Umriß, sie vergingen und aus der Umwallung des Kraters quoll immer stärker, wie eisiges Wasser oder 100 geläutertes, reines Silber, ein kostbarer Knabenchor. Die Elemente der mächtigen Erdkraft und des unbefleckt Schönen im Schoß der Schöpfung hoben einander auf. Sie verschmolzen und schossen wie eine Quelle aus unendlicher Tiefe empor. Dann hörte sie Vater Mamertus sagen: »Diese Versuchung, mein Kind, sind Sie selbst. Sie werden mit sich und andere Menschen werden mit Ihnen versucht. Beides vollzieht sich zur gleichen Stunde, und diese Stunde wird bald kommen; vielleicht ist sie heute schon da.«

»Aber Sie beten für mich, mein Vater?« fragte Demetria ruhig.

Noch einmal versuchte der alte Mann, die Erscheinung Demetrias, wie er sie kannte und alltäglich vor Augen hatte, in das Blickfeld zurückzugewinnen; doch er vermochte es nicht. Er sah sie so, wie es üblich war, wenn die Nonnen nach dem Empfang des Corpus Domini von dem Altar zurückzukehren pflegten: den Schleier überm Gesicht. Oder hatte er selber seine Kapuze noch immer übergezogen, seit er am Morgen die Messe gefeiert und die Kapelle verlassen hatte – in Gedanken versunken, mehr Geist als Fleisch, und nur noch der Umriß eines Habits über dem Knochenmann? Er hob seine unruhig zitternden Hände in Schläfenhöhe an das Gesicht und tastete nach der Kukulle, die nicht vorhanden war; gleichzeitig schlug wie ein Spiegelbild die Äbtissin ihren Schleier zurück und blickte ihn hüllenlos an.

»Nicht ich für Sie, mein Kind –«, sagte Mamertus, überschüttet von ihrem Glanz. »Beten wir beide vielmehr für einander, wenn die Zeit unserer Prüfung naht.« Er verneigte sich leicht vor Demetria, die Äbtissin erhob sich und sagte leise: »Ich glaube, Sie haben recht, Mamertus, meine Prüfung ist bereits da.«

»Sie wissen es?« fragte er überrascht und fügte dann mit gewöhnlicher Stimme in verrostetem Tonfall, der etwas 101 Gereiztes und altmännerhaft Unzufriedenes hatte, seiner Frage hinzu: »Man ist wohl der Ruhe schon überdrüssig geworden?«

Die Äbtissin hob nachdenklich von dem Schreibtisch ein Federmesserchen auf und wog es auf der Hand.

»Worum handelt es sich? Um das Noviziat?«

»Ja, um das Noviziat. Wir müssen es uns versagen, mein Vater, unsre Mitschwestern hier heranzuziehen, wie junge Setzlinge oder Bäumchen, die unsere Freude sind. Das Klima ist zu rauh. Diese jungen Mädchen würden vergehen nach Sonne und Zärtlichkeit. Erst, wenn sie in einem milderen Kloster Krieger geworden sind, eingeschlossen in ihren festen und geschmeidigen Kettenpanzer; Missionare, die sich nur Hindernisse, und geübte Liebende, die sich nur Kummer und Bitterkeit erhoffen, mögen sie zu uns kommen. Sie werden von Hunger und Kälte erwartet, von der Tuberkulose als Schwestern begrüßt und von dem enttäuschenden Einerlei dieser Landschaft aus Kiefern, Sand, Schilf und Geschiebe verschütteter Urstromtäler zur Erkenntnis der Erde als einem Tal unerschöpflichen Jammers geführt und endlich, wenn ihre Arbeit vollbracht ist, von dieser Erkenntnis gesüßt und gezuckert wie die Äpfel der Dorothea werden, die ein durchtriebener Engel als Zeichen vom Himmel herunterbringt.«

»Wir mußten auch ohne die Zuckeräpfel der heiligen Dorothea an ein besseres Jenseits glauben«, sagte Pater Mamertus scharf. »Wir von dem alten Schlag. Wir wußten vom ersten Augenblick an, was uns erwarten würde, und haben trotzdem nicht lange gezögert, uns den Enttäuschungen hinzugeben, die jede Vorstellung weit übertrafen, die wir uns machen konnten. Sie aber vermessen sich, meine Tochter, diese jungen, ahnungslosen Geschöpfe mit dem Ruf der Turteltaube zu locken, als gelte es, sie zu dem Brautbett des hohen Liedes zu 102 führen, anstatt zu dem Strohsack der kalten Zelle und der geistigen Geißelung.«

»O ja – zu dem Brautbett des hohen Liedes«, erwiderte die Äbtissin gelassen und blickte den zornigen, alten Mönch mit schmerzloser Zärtlichkeit an. »Oder was dachten Sie eigentlich sonst? Und mit welchem anderen Ruf, mein Vater, als dem der Turteltaube im Frühling sollte man sonst eine Liebende locken, dem Geliebten sich hinzugeben?« Sie schwieg. Dann breitete sie die Arme mit unnachahmlicher Grazie aus und flüsterte: »Freude. Was sonst als Freude haben wir in den Gelübden der Beständigkeit und der Armut, der Keuschheit und Unterwerfung gesucht? Die sublimste, die dauerhafteste Freude, die kein Wechsel mehr anrühren kann. Zu dieser Freude, Pater Mamertus, müssen wir unsere Töchter verlocken; wir müssen sie, sich zu freuen, lehren wie die Mutter ihr kleines Mädchen Kinderlieder und Spiele und den Kehrreim der Tänze lehrt.« Die Äbtissin kehrte sich nach dem Fenster und lehnte die Stirn an die hellen Scheiben; das Fensterkreuz, dunkel und schwarz und groß, stand drohend über ihr. »Freude und Liebe«, sagte sie laut. »Nichts wird heute schwerer erlernt.«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, mein Kind«, sagte Mamertus, aufs tiefste betroffen, »wollen Sie sich dieser Freude: Ihre Töchter die Freude zu lehren, berauben, und den eigenen Anteil zum Opfer bringen, damit die Schalen dort überfließen, wo der Bräutigam vor der Kammer steht und an die Pforte pocht?« Sie schwieg; er schlang seine mageren Hände übereinander, die fleischlosen Knöchel traten weiß aus der gelblichen Haut. »Sehr gefährlich, mein Kind. Sehr gefährlich«, sagte der alte Mann. »Selbst die Engel würden es nicht ertragen, unseren Weg zu begleiten, wenn sie nicht ständig das Antlitz Gottes und seiner Herrlichkeit sähen. Von diesem Anblick lebt 103 jedes Geschöpf – ob es das weiß oder nicht. Auch die Hölle –.« Demetria fuhr herum und sah ihn entgeistert an. »Auch die Hölle«, fuhr er unbeirrt fort, »lebt davon, daß der Schöpfer sie ansieht und seinen Glanz auf sie wirft. Diesen Glanz, der im Himmel Glückseligkeit heißt und in der Hölle das Feuer, das in Ewigkeit nicht erlischt. Ihm entgehen wir nicht, diesem schrecklichen Glanz, ob wir ihn suchen wie Sonnenrosen, die sich andauernd nach ihm drehen, oder von ihm beschienen werden wie in dem Abglanz von Mond und Sternen die Erde um Mitternacht.« Pater Mamertus, ein greiser, tief erfahrener Adler, legte das schnabelförmige Kinn auf die eingesunkene Brust und fuhr fort: »Aber ich sehe, wir haben inzwischen die Rollen getauscht, mein Kind. Ich preise Ihnen die Freude an, von welcher ich anfangs fälschlich glaubte, daß sie von jenen entbehrt werden könnte, welche zur Nachfolge Christi und seines hocherhabenen Kreuzes berufen worden sind.«

»Sie haben sie sehr gut angepriesen«, erwiderte ihm Demetria mit schwankender Stimme. »Fast allzu gut. Und jetzt erst scheint mir, als ob ich wüßte, was ich dem Bräutigam vor der Kammer anzubieten gewürdigt werde und was er genommen hat. Denn ich bin ganz verlassen von Freude seit diesem Augenblick. Meine Seele ist dürr, mein Geist ist trocken, und während ich das Offizium bete oder die heilige Regel erkläre, empfinde ich mich wie ein leeres Gebäude, das niemand mehr bewohnt als die Stimme ihres früheren Eigentümers; ein Ticken, ein Uhrenschlag, der treu und redlich noch immer die Zeit austeilt. Ich bewege mich in mir selbst wie ein Fremdling, den man ohne Licht in ein Haus geführt und mitten auf der Treppe stehen gelassen hat. Ich taste, ich strecke die Arme aus, um nichts herunterzustoßen; ich fahre mit dem Fuß auf den Bohlen und über die Schwellen entlang, 104 ich fühle den Verschlag eines Kellers, dessen Falltür geschlossen ist.«

Der alte Mönch sah sie aufmerksam an. »Sie sind sehr tapfer«, sagte er langsam. »Nicht weniger tapfer als unsere Väter, die hier den geschichtlosen Boden gejätet und die Grundmauern aufgeführt haben. Aber ich möchte von Herzen wünschen, daß Sie in diesem Zustand der geistigen Trockenheit nicht überfordert werden.«

»Wovon sollte ich überfordert werden?« fragte Demetria rasch dagegen, »als von mir selbst und der eigenen Schwäche, die mich mutlos und traurig macht? Insofern, mein Vater, bin ich natürlich bereits überfordert, bevor ich beginne, und besiegt, bevor ich das Schlachtfeld betrete und das schwarze Panier der Feuerlilie unter Tränen entfaltet habe.«

»Lassen Sie diese Bilder beiseite«, sagte Pater Mamertus schroff. »Sie werden sie sehr bald entbehren müssen. Sie werden sie in den Schmelzofen werfen und durch das Gestaltlose gehen müssen, durch den Ohneort, bar aller Schlüssel und Zeichen, ja, ohne Echo und Schall.« Plötzlich entspannten sich seine Züge und wurden fast kindlich und heiter und frei von aller Mühseligkeit. »Aber Sie kennen ja dieses Zelt aus lauter Lichtwirbeln, Windsbräuten, Fugen und weißen Katarakten.«

»Ein Tuch aus Sturm von vier Wesen getragen, die es da und dort niedersetzen, es fortreißen und es aufs neue auf Bergen und flachen Hausdächern niederlassen«, ergänzte Demetria mit einem Lachen, das wie Sonne hinter Schneesturm und Blitzen, mächtig und geisterhaft, war. »Aber nicht, wie in der Apostelgeschichte, voll von reinen und unreinen Tieren, voll Vögeln, Vierfüßlern, Fischen und allem, was die Erde hervorgebracht hat. Es ist leer. Es ist mehr noch als das. Leer und entleert ist ein und dasselbe in ihm. Lassen Sie mir diesen schrecklichen Ort, in den ich 105 geworfen bin, ohne jeglichen Trost. Diese monströse, sphärische Ecke der stellvertretenden Leiden, die aus schneidendem Zugwind und feurigen Wirbeln gebildet worden ist.«

»Und Sie glauben, daß dieser schneidende Zugwind den Anflug von Ihnen abhalten wird, den die Welt mit ihren Geschöpfen Ihnen entgegenschickt? Wissen Sie nicht, daß er auch ein Sog ist, und daß es in der Natur solcher Kräfte und solcher Bewegungen liegt, zugleich abzustoßen und anzuziehen mit unerhörter Gewalt?« Er sah in das schmerzlich bewegte Antlitz Demetrias, das sich verändert hatte, und jetzt dem Gesicht der Medusa glich, welche mit lautlos geöffnetem Mund einen Schrei sowohl auszustoßen wie zu verhalten scheint; dann kehrte er seine Augen ab und sagte mit einem Blick in das Leere, vielmehr auf die weiße, schreckliche Mauer, die den Umgang der Zinnen bildete, welche die Gottesburg einschloß und abschloß von jeglichem Gefühl: »Ich weiß, daß Sie leiden. Ich weiß, daß es schmerzt, wie nichts zu schmerzen vermag.«

»Was – schmerzt?« Die Äbtissin fragte es, ohne den Mund zu bewegen.

Er entgegnete ebenso lautlos: »Materie, die eingeatmet wird. Nur der Engel im Fleisch zieht Materie mit jedem Atemzug ein. Den ungereinigten Stoff der Erde, das Verwesliche, das seinen trüben Zerfall mit Unverweslichem mischt: die abgeschurrte, schmutzige Wolle von dem Ärmel des Geizhalses, die in Flocken und Stäubchen weiterfliegt; der saure, überladene Dunst aus dem Magen des Fressers; die Fingernägel, die der Mächtige sich von den Pfoten schneidet, damit er zupacken kann. Dies alles atmet der Engel im Fleisch wie Luft, die in die Arterie gerät; wie die Mischung aus Honig, Pech und Schwefel, die Daniel dem Götzenbild in den Schlund wirft, damit es daran zerplatzt.« 106

»Ich halte mich nicht für ein Götzenbild«, schien der geöffnete Mund der Äbtissin mit letzter Kraft zu flehen.

»Aber die Welt verfährt – umgekehrt – so mit dem Göttlichen, das sie abstößt und anzieht, wie Elias mit jenem Baal. Sie drängt sich bis in die Eingeweide von Gottes Ebenbildern, sie verlangt von ihnen verwandelt zu werden, das Verwesliche überkleidet sich mit Unverweslichkeit.« Dann sagte Mamertus laut in dem Tonfall nüchterner Feststellung, welcher sein Mitleid häufig zu übertünchen pflegte: »Das Geheimnis des Fleisches ist tief, mein Kind. Aber wiederum, wem sage ich das, auch nicht tiefer als das des Geistes, das mit dem ersten von Ewigkeit her eine gemeinsame Quellsohle hat in dem Innern der Trinität.«

»In dem Innern der Trinität –?« Sie verstummten. Die Aveglocke redete weiter und übernahm es, Frage und Antwort in sich zusammenzubinden: das Wort war Fleisch geworden . . .

Augenblicklich hörte das Zischen des eingegossenen Teiges in dem glühenden Hostieneisen auf, und wie zum letzten Mal drückte das Siegel des IHS sich der Brotsgestalt der neuen Schöpfung ein; der goldene und der silberne Faden, die sich wie paradiesische Ströme durch das helle, zärtliche Apfelgrün einer Meßgewandseide geschlängelt hatten, bäumten sich in der Öse der steckengebliebenen Nadel auf, die nicht mehr weiterzog; die Gießkanne hörte auf zu wandern und schien, als sie abgesetzt wurde, die Hände in ihren Schoß zu legen, und jede Tätigkeit – nah oder fern – verlor vor dem immer wieder erneuten Geheimnis der Fleischwerdung Gottes ihren Sinn und gewann zugleich ihren Auftrag zurück, in dem Weiterziehen der stofflichen Fäden [der Teigfäden, Garnfäden, Wasserfäden] eine Art von Geschichte zu bilden. Ein Gespräch zwischen Himmel und Erde kam auf, das die kleine 107 Glocke skandierte; ein Versprechen, kurz nach dem Sündenfall zwischen Neumond und Vollmond gegeben, wurde eingelöst; eine Neuigkeit, die nach dem dritten Anschlag der Glocke sich ausbreitete wie das Getümmel der Tauben, die von dem Dach abflogen. Eine Jungfrau hatte empfangen, ein Gott war Fleisch geworden, und die ganze Natur beredete gleichsam diese Neuigkeit, dieses Wunder der Wunder, mit abertausend Zungen. Sie beredete es seit zweitausend Jahren mit immer den gleichen Mitteln, und kein profanes Gespräch auf der Erde konnte sich mit den Möglichkeiten einer aufs Höchste gesteigerten Technik rascher als dies verbreiten; ja keine Botschaft, ob gut oder böse, belanglos oder dem tiefsten Himmel als Sternbild eingeschrieben, hätte versäumen dürfen, ihre Schlüsse aus ihr zu ziehen: aus dieser Leichtigkeit, welche die Blitze zu Boten und Winde zu Befehlsträgern machte ohne Aufenthalt und Geschrei.

Auch jetzt war wieder die große Stunde der elementaren Verständigung eines ganzen Volkes gekommen: der Augenblick, wo wie durch Telepathie, durch Vogelsprache, durch Hundegebell und durch den Auswurf der Körner etwas weitergetragen wurde; ein Geschwätz, das Ströme, Berge und Wälder im Augenblick überquerte, ohne dabei viel mehr zu verlieren als eine Vogelfeder – –.

Es drang bis in den Klosterhof vor, wo der Pferdeknecht eben das Tier einschirrte, das er gestern von dem alten Pachulke mit neuen Glückseisen hatte beschlagen und, mit neuen Gerüchten munter beladen, hatte davontraben lassen. Eigentlich wollte er gleich hinterher seinen Sack mit Geschwätz ausschütten, aber nachdem er den Beerenaugen der tollen, kleinen Wanda aus der Niederlausitz begegnet war, die man als Viehfüttermädchen hier aufgenommen hatte, beschloß er, Stück für Stück seiner Gaben wie der Weihnachtsmann langsam herauszuziehen und 108 um hohen Preis zu verkaufen. So ließ er jetzt schon, während die Wanda samt ihrer Schürze voll Gerstenkörnern, die sie zum Hühnerhof bringen sollte, mit bewußter Langsamkeit auf sie zukam und ihren sechzehnjährigen Busen unter dem Häkelpullover spannte, da und dort etwas Glitzriges sehen; ein buntes Bandende, einen Ring, eine Haarspange, die mit dem Feenstaub falscher Demantsplitterchen so übersät war, daß man sie hätte fortwerfen können, wenn nicht ihr Zweck, ein paar wilde Locken in der Klammerung festzuhalten, mit ihr erfüllt worden wäre. Diesen Zweck erfüllten auch Hermanns Reden, die nun in halben Andeutungen das Gehörte zusammenbrachten und mit dem Gehörten die Hörer, welche auf ebenso magische Weise herbeizutrippeln begannen wie die Hühner, wenn sie von Wandas Schürze und ihrem schläfrigen Tucktucktuck schon von ferne herangelockt wurden. Es kam die Mutter der kleinen Wanda, ein starkes Weib, an dem weiter nichts als die Plumpheit des Knochenbaus und das dumpfe, erloschene Graublau der Augen bemerkenswert erschien; ein alter Mann, den sie ›Großvater‹ nannte, mit einem schütteren, feuchten Bart, der so aussah, als habe beim Dungabladen die Mistgabel ihn diesem toten Gesicht versehentlich angeworfen; zwei Kinder von fünf und sieben Jahren, die fälschlicherweise den Eindruck von verkümmerten Zwillingen machten, da sie beide gleich groß, mit den gleichen Lumpen und Lappen bekleidet und von gleicher Haarfarbe waren; sie ließen einander nie von der Hand und schienen immer noch auf der Flucht vor rollenden Panzern zu sein. Auch die Botin, welche im Auftrag verschiedener Pfarreien die Hostien in flachen Pappkartons von der Klosterbäckerei abzuholen und sie auf dem wackligen Leiterwagen weiterzufahren pflegte, war hinzugekommen: kein hübscher Tharzisius, dessen reizender Wuchs die heidnischen Hunde auf 109 seine kostbare Ware hatte wild zu machen vermögen sondern ein älteres weibliches Wesen mit aufgedunsenen, freundlichen Zügen, schuppigen Haaren, verschwimmenden Hüften und betonter Geschlechtslosigkeit. Ihr Mund stand halb offen, die schlechten Zähne, deren schwarze Stellen wie Lücken wirkten, schienen auf eine Speise zu warten, die man ungekaut schlucken könnte; doch machte ihr Gesicht, dieses flache, im Aufnehmen wie im Verdauen von allerlei Neuigkeiten gleichermaßen geübte Gesicht, den Eindruck ungewöhnlicher Schläue und tiefer Verschwiegenheit.

Sie alle hörten dem Pferdeknecht zu, der, weil er nur für Wanda erzählte, des Bramarbasierens kein Ende fand, und obwohl er nichts anderes zu berichten und anzubieten hatte, als daß sich sieben Leute gemeinsam auf Anastasiendorf zu bewegten, stattete er seine simplen Worte mit soviel Bedeutung aus, als ob er der Anführer eines Vortrupps oder der mysteriöse Wenk jener Entsatzarmee wäre, die noch kurz vor dem Ende, bumsvallera, in den Köpfen der Menschen spukte. »Ich sagte damals schon der Äbtissin, daß sie keinen von allen loswerden würde, die einmal unter dem weißen Habit der heiligen Anastasia Zuflucht gefunden haben«, fügte der Pferdeknecht seiner Behauptung, sämtliche Flüchtlinge, Untergetauchten und Verfolgten seien bereits wieder auf dem Wege nach Anastasiendorf, mit großen Gesten hinzu. »Wie die Heuschrecken«, sagte er, »werden sie kommen; wie die Fliegen und Brummer und uns die Felder und Vorratskammern räumen. Und wenn das Brot, das wir backen, nicht ausreicht, werden sie sich an den Hostien vergreifen« – hier wendete er sich der Botin mit düsterer Wichtigtuerei zu –, »ob ihr mir glaubt oder nicht. Vor allem aber wird dieser Herr Bühler von neuem auftauchen, dieser Kerl mit dem Onkel Bischof aus Thorn. Ich will 110 euch allen etwas verraten«, fuhr er, fast platzend vor Glück und Stolz, etwas Sicheres mehr zu wissen als jene [die Botin natürlich eingeschlossen], zu seinen Hörern gewendet, fort. »Es gibt überhaupt keinen Bischof von Thorn, hat mir Schwester Boëthia gesagt.«

»So wenig wie einen Dr. Bühler«, versetzte die Botin ruhig. Gleich danach lachte sie mißtönend auf. »Wenn die Eisen des roten Pachulke, mein' ich, so zuverlässig sind wie seine Worte, wird sie der Harras schon auf dem Heimweg verloren haben, wie?«

Der alte Mann, den sie ›Großvater‹ nannten, sah die Botin durchdringend an; sein Unterkiefer bewegte den Mistbart, als ob er darunter etwas zermahle, dann sagte der Alte: »Das ist nicht wahr. Das redest du mir nicht aus.«

»Was?«

»Daß es diesen Bühler nicht gibt.«

»Wer sagt das? Natürlich gibt es den Mann, den man Theodor Bühler nannte. Aber er heißt nicht Bühler, sondern Levi-Jeschower. Bäh –!«

»Und der Onkel Bischof?« fragte der Alte; man wußte nicht, ob er mehr auf Jeschower oder auf dem Bischof bestand; auf keinem von beiden oder ganz einfach auf der Versicherung Schwester Boëthias, sie wisse genau, daß es oben in Thorn keinen eigenen Bischof gäbe.

»Beruhigt Euch, Großvater«, sagte die Botin mit einem Achselzucken. »Den Onkel Bischof bringt er nicht mit, wenn er wieder nach Anastasiendorf kommt, da könnt Ihr Gift darauf nehmen. Und selbst, wenn sein Onkel Bischof persönlich Arm in Arm, ich lache mich krumm und schief, mit unserem Diözesanbischof käme – für einen Bischof und abwärts bis zum Kanonikus wird im Kloster der Hostienpamps nicht gekocht. Da gibt es Besseres.«

»Ja«, sagte Wandas Mutter gehässig und kreuzte die harten hölzernen Arme über der flachen Brust. »Da gibt es 111 Besseres. Je höher hier einer die Engelsleiter hinaufgeklettert ist, desto ähnlicher wird sein Fressen dem Manna im himmlischen Paradies. Ob das nun in den Gästeflügel oder von Schwester Philippa in die Infirmerie getragen wird oder gar in die Äbtissinnenzelle –«

»Halte dein dreckiges Maul, verstehst du?« sagte die Botin gedämpft. »Es wäre da allerhand zu erzählen, aber um Perlen vor Säue zu werfen, bin ich nicht hergekommen.«

»Wir haben Kartoffelschalen gefressen«, sagte die hölzerne, häßliche Frau, »die wir aus euren Eimern gefischt und noch einmal aufgekocht haben, als wir im Winter auf unserer Flucht nach Anastasiendorf kamen.«

»Ja«, gab die Botin gelassen zurück. »Die Küchenschwestern schälen zu dick, ich habe das immer behauptet. Ein Glück, daß ihr damals ins Kloster kamt und uns zeigtet, was eine Harke ist, und wie wir noch alle im Überfluß lebten, und es uns leisten konnten, euch Armen die doppelte Portion unsrer Nonnen und die dreifache der Äbtissin zu geben, die damals schon, wie du sagtest, Meta, zu hoch auf der Leiter stand, um sich noch immer von Suppe zu nähren, von Kartoffeln, Gemüse und Brot.«

»Ach«, fragte die junge Wanda töricht, »und was hat denn eure Äbtissin gegessen? Manna –?«

»Du hörst es doch, Wanda«, erwiderte die Botin mit unbewegtem Gesicht. »Aber ich glaube, die Hühner warten nicht weniger auf ihr Futter als die Engel auf Manna warten. Das ist bei Flügelvolk immer das gleiche, und die Klosterhühner, schwarze und weiße, fressen genau so viel und so gern wie die Hühnerschar in der Welt.«

»Alles einerlei«, sagte die hölzerne Meta zu ihrer hübschen, molligen Tochter und blickte sich herausfordernd um. »Ich habe bis jetzt noch niemand gesehen, der im Kloster heiliger wurde.« 112

»Das will ich dir glauben«, sagte die Botin und lachte spöttisch auf.

Die Andere sah sie mißtrauisch an. »Übrigens soll mich der Teufel holen, wenn ich deshalb hier hergekommen bin, Kinder«, fügte sie frech hinzu.

»Darnach fragt er nicht, wenn er dich holen will«, sagte plötzlich der alte Mann. »Aber er hat es natürlich leichter, seine Leute im Kloster zu finden als draußen vor dem Tor.«

»Warum denn, Großvater?« sagte der Knecht und legte den Arm um Wanda; sie lehnte sich zärtlich gegen ihn, ohne auf ihre Mutter zu achten; der Pferdeknecht starrte auf Wandas Pullover, durch dessen hellgrünes Gitterwerk sich das laue, schmutzige Weiß ihrer Brüste mit fast verzweifelter Dringlichkeit preßte, und wiegte sich auf den Zehen. »Ist denn das Sortiment für den Teufel in der Welt noch nicht groß genug?«

Der Alte sah mit verschmitztem Ausdruck die Botin abwechselnd und den Knecht an und sagte dann: »Hier ist es leichter, Hermann, die richtige Farbe herauszufinden; den Teufelsrock mit dem Hauswappen, wißt ihr, das unverwechselbar ist.«

»Er spinnt«, sagte Wandas Mutter roh. »Es lohnt sich nicht, hinzuhören.«

»Diesen Rock bekommt nur übergezogen, wer Dienste bei ihm nimmt«, fuhr der Großvater unerschütterlich fort. »Der wird nicht verwürfelt wie Christi Leibrock – aber auch er«, seine Stimme sank jetzt zu bloßem Geschwätz herunter, »auch er ist ohne Naht. Ohne Anfang und Ende, vorn oder hinten, ein Rock, wie gemacht für die Ewigkeit, ein feiner, ein sehr warmer Rock, sage ich, um den sich viele bemühen.«

»Nun also«, der Pferdeknecht lachte und preßte sein Mädchen an sich. »Hauswappen oder gewöhnlicher Rock – liegt da der Unterschied?« 113

»Ich sagte doch schon: in der Freiwilligkeit«, versetzte der alte Mann. »Der Teufel zwingt so wenig wie Gott und muß genau so wie Gott erkannt sein, damit man ja oder nein zu ihm sagen, ihn lieben und hassen kann. Die Meisten« – er suchte nach einem Ausdruck, ähnlich wie ›große Masse‹ und fuhr dann schwerfällig fort –»können schon deshalb nicht schuldig werden, weil sie nicht wissen, daß sie es sind, und es bei all ihren Missetaten nicht einmal zu wollen brauchen. Dieses Zeug, das lohnt sich nicht, Leute, versteht ihr – da macht man bloß so und so.«

Er spuckte zweimal verächtlich aus und blickte die Botin an: düster, mit zornig entflammten Blicken, die um Hilfe und Zustimmung baten.

Die Hostienausträgerin, gewöhnt, sich in Pfarrhausküchen und von den Küstern, wenn sie Alben und Stolen einsortierten, allerhand anzuhören, lächelte ihm ermunternd zu; er führte seine Hand an den Mistbart und umklammerte, wie um sich festzuhalten, das schäpperige Kinn.

»Wer in das Kloster geht, ohne den Teufel vorher gekannt zu haben, der lernt ihn ganz bestimmt nachher kennen, und wen der Teufel unter den Schlehen noch übersehen hatte, den findet er bei dem Chorgebet mit Leichtigkeit heraus. Jawohl –!« schrie er plötzlich, rasend vor Wut, während sich sein Gesicht verzerrte, »nirgends leichter als da, wo das Gute und Böse in zwei Nußschalen auseinanderfällt, wo selbst der Schweinefraß, Gott zuliebe, zwischen zwei Rosenkränzen gekocht wird und jede Umarmung von Nonne zu Nonne eine Arbeit für den Himmel bedeutet, und nicht einen Schwesterkuß«.

»Nun«, sagte die Botin, den Alten beruhigend, »nun ja, es ist keine Träumerei.«

»Nein«, gab er mit herzzerreißendem Ausdruck und dünner Greisenstimme zurück. »Es ist weniger: es ist 114 Schlaflosigkeit, es ist Simeon auf der Säule, den mir Pater Mamertus gezeigt hat« – er meinte das Bild des Styliten –, »der Tag und Nacht oben steht. Der Satan hat alle genau gezählt, die Säulen und die auf den Säulen stehen, aber auch er und die ganze Schar, die jetzt heranrückt von allen Seiten, wird von denen da oben gezählt.«

»Wer steht, der sehe, daß er nicht falle!« sagte die Botin gedankenlos und fügte in ihrer gerissenen Mischung von angenommener Dummheit und natürlicher Schläue hinzu: »Wachet und betet und faulenzt nicht, höre ich schon Schwester Imma sagen, die von den Ställen herkommt.«

Wie auf Verabredung drehten sich alle in die Richtung der Ställe hin. Eine Nonne mit merkwürdig feinem Gesicht und großen, braunen Händen näherte sich der Gruppe, die sich plötzlich nach einer Schrecksekunde den Anschein äußerster Emsigkeit gab, indem jeder einzelne [wie in dem Hergang des närrischen Kinderreimchens von dem Herrn, der den Jockel ausgeschickt hatte] sich selbst und den Andern in Brand zu setzen, zu prügeln, zu löschen, das Wasser zu saufen, das Getreide zu schneiden anfing:

Der Pferdeknecht spannte mit Hüh und Hoh den ungeduldigen Gaul vor den Wagen und half den falschen Zwillingen rasch, sich samt ihren klaffenden Deckelkörben auf das hintere Querbrett zu setzen, stellte die Kannen voll Sauermilch und einige Flaschen Malzbier daneben, auf welche die paar Männer und Frauen, die den Nonnen beim Heumachen halfen, in der stechenden Schwüle schon ungeduldig und fast betäubt von dem süßen Geruch der Grasschwaden warteten, und kletterte selbst hinauf. Die Wanda rannte mit rotem Gesicht den ebenso hungrigen Kücken voran, die sich jämmerlich piepsend ihr Futter unter den Beinen des Pferdes, wohin es eigentümlicher Weise den Weg gefunden hatte, abzuholen versuchten, 115 und lief der Nonne dabei in die Arme, welche mit einem blasenden Ton, als ob sie über dem Kopf ein Stück Leinwand in den Lüften entzweirisse: »Bsch, bsch, bsch«, die Tierchen zu dem Wassernapf lockte; die hölzerne Meta hingegen schulterte ihre Harke, auf deren Stiel sie sich, aufsässig schimpfend, während der ganzen Debatte gestützt und die sie nun zum Zeichen des Fleißes wie der Anführer seine Fahnenstange zwischen Hals und Schlüsselbein vor sich hintrug, und schubste den Großvater mit dem Mistbart ermunternd in die Seite. Er folgte ihr leise brabbelnd und brummend, doch ohne Widerstand, langte sich eine leichtere Harke von der Wand des Ökonomiegebäudes und richtete seinen getrübten Sinn auf die lila blühenden Erdäpfelbeete, die er lüften und freimachen sollte.

Nur die Botin – als einzige, deren Gewissen auch bei einem noch weit längeren Schwatz nicht hätte zu schlagen brauchen, weil sie weder angestellt bei dem Kloster, noch eine Nutznießerin des Konvents oder seiner Besitzungen war – blickte der Nonne gelassen entgegen; ihre plumpen Züge gewannen den Ausdruck vollkommen reiner Ruhe und wurden schön wie der Wasserspiegel in einem Kücheneimer, der vollgelaufen ist; nur ein leichtes Zittern, ein Zucken und Kräuseln, verriet noch, daß erst in dieser Minute das eilige Plätschern des Messinghahns zugedreht worden war.

»Nun, Georgel«, fragte die Nonne Imma die Botin Georgine, deren Namen sie nach der Gewohnheit ihrer pfälzischen Heimat abzukürzen und zu verhunzen pflegte, »was gibt es Neues? Kommt ein Gewitter oder zieht es um uns herum?«

»Es zieht nicht mehr lange um uns herum«, sagte die wetterkundige Georgel, »die Stechfliegen sind wie verrückt. Es sammelt sich noch und zieht auf uns zu und mit dem Gewitter der Herr der Fliegen in eigener Person.«

Die Nonne sah sie unwillig an; ihrem trockenen, aber 116 spaßhaften Wesen, dem immer ein kleiner Schuß Ironie wie Silberstaub beigemischt war, mißfiel diese Ausdrucksweise, und obwohl sie eben noch Lust verspürt hatte, sich über den Wasserspiegel zu beugen und ihren fast unbezwinglichen Durst nach Neuigkeiten zu stillen, so verzichtete sie jetzt darauf.

Die Botin hingegen, länger nicht fähig, ihr Wissen für sich zu behalten, redete vorsichtig weiter: langsam und schwerfällig wie ein Mensch, der sich fürchtet, etwas davon zu verschütten – von diesem Wissen, welches aus vielen zusammengelaufenen Tropfen und Tröpfchen, Rinnsalen, Wasserfäden bestand, deren Ursprung ebenso schnell vertrocknet wie wieder aufgefüllt war. »Ich rede nicht, was ich nicht weiß, Schwester Imma«, sagte die Botin gedämpft. »Eine Wolke von Unruhe nähert sich. Ein Fundevogel, der Blitz und Donner unter den Flügeln trägt. Alle merken es schon und fangen zu streiten und sich zu entzweien an. Kein Tier wird mehr fressen, kein Hufeisen halten, keine Glucke auf ihren Eiern bleiben, wenn das so weitergeht.«

»Welcher Fundevogel nähert sich wieder?« fragte die Nonne unruhig. »Du weißt doch, daß wir mehrere hatten, die wir damals so nannten, fast täglich einen andern von diesen lausigen Fundevögeln, die bei uns Zuflucht gefunden haben und untergekrochen sind. Das wußte außerhalb unseres Klosters keine Seele – nur du allein. Und auch nur du ganz allein wußtest, welche wir ›Fundevogel‹ und welche ›Schlüpfunter‹ nannten«, fügte sie noch bewundernd hinzu und umfaßte die plumpe Gestalt der Botin mit einem freundlichen Blick. »Also sage schon, welchen Fundevogel dein dummes Gerede meint.«

»Herrn Levi-Jeschower«, erwiderte Georgel und sah mit merkwürdig starrem Gesicht nach dem großen, offenstehenden Fenster in dem Äbtissinnenbau . . . 117

Die Ave-Glocke war schon lange verklungen, als Pater Mamertus den Hof überquerte und in dem verquollenen kleinen Schuppen neben der Gartenpumpe die grüne Gärtnerschürze genußvoll über die Kutte band. Dann setzte er seinen schwarzen Strohhut auf die bereits zur zweiten Natur gediehene blanke Tonsur und ging zu dem Meßjungen Edmund hinüber, einem jüngeren Bruder Wandas, welcher den aufgeschlagenen Text des Confiteors auf seinen Knien liegen und – beide Zeigefinger verzweifelt in die Ohren gestopft – sich im hintersten Winkel des Schuppens verkrochen hatte, um besser lernen zu können. »Das Christentum ist nicht nur Reue und Tränen«, sagte der Alte freundlich und barsch und klappte dem höchlich verwunderten Knaben das Buch vor der Nase zu. »Lauf spielen. Bis die Süßkirschen reif sind, wirst du es auswendig können.« Er sah dem Kleinen erheitert nach, der, kaum daß er aus der Tür war, der häßlichen alten Felicitas mit der verbogenen Nickelbrille stracks gegen die Röcke lief. Sie packte ihn mit ihren knochigen Händen an beiden Schulterblättern und nahm ihm böse die erste Frage des Katechismus ab: »Wozu sind wir auf Erden? Und weshalb lernst du nicht?« fragte sie ihn empört.

»Wir sind auf Erden – wir sind auf Erden – –«, fing der Kleine zu stottern an. »Ich soll spielen gehen.«

»Zuerst deine Antwort!«

»Wir sind auf Erden, um Gott zu lieben«, setzte er wieder an.

»Zu erkennen«, sagte Felicitas streng. »Zuerst zu erkennen, und dann zu lieben, und endlich in den Himmel zu kommen. Jede andere Reihenfolge ist falsch. Beginne von neuem damit.«

Hinzutretend, sagte Pater Mamertus: »Durchaus nicht, Schwester Felicitas. Erst, was wir lieben, erkennen wir. Die Liebe schließt es auf. Hier hat Canisius geirrt, meine 118 Teure. Blaise Pascal wußte es besser: Le cœur a ses raisons. Kennen Sie übrigens, liebe Schwester, die lettres à un . . .« Ihr maßlos gereiztes Gesicht bemerkend, lenkte Mamertus ein. »Verzeihen Sie einem alten Mann seine Scherzchen«, sagte er fast galant. »Es war nicht böse gemeint.«

Die Nonne blickte ihn mißtrauisch an; sie war ein gelehrtes, fleißiges Huhn, Chronistin und Lateinlehrerin der jungen Novizinnen, aber vollkommen ohne Humor. Zwischen ihr und Pater Mamertus bestand ein gespanntes Verhältnis, eine Art Haßliebe, die sich vor allem aus dem Anspruch der Nonne herleiten mochte, von Mamertus, dem strengen asketischen Mönch, geachtet und verstanden zu werden, wenn nicht sogar geliebt. Auf ihre erstaunlich ungeschickte und erbarmungswürdig reizlose Art versuchte Felicitas immer wieder, mit dem Gegenstand ihrer heimlichen Sehnsucht in ein Gespräch zu kommen; in hohe, pneumatische Dialoge, in denen sie unbewußt ihre Äbtissin zu imitieren versuchte. »Hat Euer Hochwürden von dem Entschluß unsrer Frau Mutter gehört, die Novizinnen nicht wie üblich in unserem eigenen Kloster, sondern im Westen heranzubilden?« fragte sie vorsichtig. Ohne ihm Zeit zu einer Antwort zu lassen, fuhr sie tolpatschig und fanatisch fort: »Auf diese Weise bleibt unsre Frau Mutter, wie im Märchen, die Schönste hier. Die Schönste, die Heiligste und die Klügste.« Ihre Stimme knickte wie ein Span Holz, der über dem Knie zerbrochen wird; dann sagte sie eilfertig: »Es ist schade um meine neue Methode, Lateinunterricht zu geben. Ich hätte sie gerne ausprobiert. Nun ist es damit vorbei.«

Pater Mamertus blickte voll Mitleid die arme Seele an. »Nicht für immer, Schwester Felicitas«, sagte er in beruhigendem Ton.»Den nächsten Jahrgang wird die Äbtissin von neuem in Ihre Hände legen. Verlassen Sie sich drauf.« 119

»Den nächsten Jahrgang, sagen Sie, Pater. Aber bis dahin ist alles zerstört. Von Grund auf zerstört wie bei einem Gebäude, das nicht lotrecht aufgeführt wurde, und dem vor allem, ich schwöre es Ihnen, die Fundamente fehlen. Die Grammatik –!« sagte sie leidenschaftlich und atmete heftig aus. »Die Grammatik ist die Askese der Sprache, ohne die man nicht vorwärts kommt.«

Pater Mamertus, im stillen bedenkend, wie Felicitas mit dieser Art von Askese die Novizinnen plagen würde, erwiderte hinterhältig: »Gewiß. Sie ist auch das Gerippe der Sprache, ihr Skelett, der Knochenmann ihres schönen blühenden Fleisches – ist es nicht so? – mit einem Worte: ihr Tod. Insofern ist es vollkommen richtig, wenn Sie sagen, daß man ohne Askese, will bedeuten: ohne Grammatik, Schwester, keinen Fortschritt in dem geistigen Leben der lateinischen Sprache erzielt.« Das Schnabelkinn mit der Hand umschließend, fügte er seinen Worten hinzu: »Aber haben wir nicht im Augenblick alle genug von dem Knochenmann?«

Das Leuchten, das einen Lidschlag lang in den schiefergrauen Augen der Nonne fast kindlich aufgeglänzt war, erlosch; dann sagte Felicitas streng und spröde: »Um zu sterben, sind wir ja hier.«

Dieser erschütternd einfache Ausspruch rührte Mamertus' Herz. Zum erstenmal hatte ihn die Chronistin in seinem eigenen Wesen getroffen, und blitzartig fühlte er, daß die reine und fast übermenschlich lautere Sprache ihrer Jahresberichte; das harsche Salz, mit welchem sie dieselben gewürzt, und die Süßigkeit ihrer sparsamen, zarten und scheuen Adjektive, durch die sie seinem vergilischen Gaumen, ohne, daß er es wußte, so überaus schmackhaft waren, nur die Folge des eigenen Tods der Chronistin und einer sprachlichen Zucht war, die mehr als das: nämlich mönchische Zucht war – das Absterben jeglicher Hoffart 120 des Lebens, jeder Eitelkeit und Magie. »Bene scripsisti«, sagte er leise und hob seine Hand zum Gruß.

Felicitas sah ihn verständnislos an, und Mamertus, ohne sich zu erläutern, fuhr fort: »Ich werde noch heute der Äbtissin den Vorschlag machen, daß man unverzüglich mit der Erklärung der lateinischen Tagestexte beginnt und dem Konvent Gelegenheit gibt, den Zusammenhang zwischen Inhalt und Form selbständig nachzuvollziehen. Sie übernehmen den sprachlichen Teil, liebe Schwester Felicitas, indessen die Äbtissin wie immer ihren Töchtern den Sinn erschließt. Repetition kann auf keinen Fall schaden – auch mir nicht«, fügte der alte Mann mit bezaubernder Demut hinzu.

Als hätte ihr Gott mit den Worten des Mönches die ewige Seligkeit angeboten, verklärte Felicitas sich. »Das wollten Sie wirklich –?« stammelte sie, vollkommen fassungslos . . .

»Freude –«, tönte wie fernes Echo, wie der zwiegespaltene Laut und das Motto einer eben begonnenen Komposition dieses Wort in dem Herzen des Paters nach, als er, von tiefen Gedanken umspielt, nach seiner Zelle ging. Welch eine Urkraft, mächtig genug, um die Welt aus den Angeln zu heben, drückte sich in ihm aus? Und welche Vermessenheit wäre es wahrlich, die Freude zurückzuweisen! Eine Äußerung, die er neulich gelesen und sich notiert hatte, fiel ihm ein; eine Bemerkung, die, wenn er nicht irrte, Klemens Maria Hofbauer machte, als eine Klosterfrau ihm ihr Leid und ihre Verzagtheit klagte. »Die Schwermut stammt aus der Hölle«, hieß diese Äußerung. Die Schwermut also. Nicht Reue, nicht Trauer, ja, nicht einmal der Schmerz. Die Schwermut vielmehr, deren schreckliche Wurzel die Verzweiflung des Satans ist. Von dieser Schwermut, die ohne Hoffnung und ohne Reue war, diesem dunklen Urelement der Hölle, dieser Substanz 121 eines Nihilismus ohne Gesicht und Namen war heute ganz Europa durchtränkt; sie quoll, ohne daß man sie aufsaugen konnte, wie schwarzes Blut aus der offenen Wunde, die der Krieg hinterlassen hatte, und quoll immer von neuem nach. Wer würde sie stillen, die Wunde schließen oder mit glühendem Eisen die Stelle ausbrennen, die sie erzeugte, bevor der ganze Leib einem Schwamm glich, einer verfaulten, scheußlichen Masse ohne jede Kontur? Wer allein als die Freude? Als jene Freude, die man tasten, berühren, ergreifen konnte wie eine geliebte Braut? So unpersönlich die Schwermut war, unspezifisch und ohne Merkmal – so personenhaft müßte die Freude sein; keine ›Idee‹ und kein ›Götterfunken‹, ja nicht einmal [selbst nicht als irdische Freude] die ›Tochter aus Elysium‹ bloß, dieses holde Dichtergespinst. Fabeln und Märchen, wie Paulus sie nannte, dachte Mamertus verächtlich, um Luftstreiche gegen den Satan zu führen, dessen Stärke es war, zurückzuweichen, sich zu teilen wie trübes, schmutziges Wasser und wieder zusammenzufließen. Eine Freude, die keine Einbildung war, sondern unabdingbare, höchste und härteste Wirklichkeit; die Wahrheit und Wirklichkeit an und für sich, Essenz der Schöpfung, Bauplan im Innern der göttlichen Trinität.

Die Hände in seine Kuttenärmel und den Kopf an den Rand der Kapuze schiebend, starrte der Mönch in den Sommer, der von auf- und niederschießenden Schwalben, atmosphärischer Unruhe, flackernder Hitze und einem Flimmern gezeichnet zu sein schien, das mehr auf dem Grund seiner Augen behaust war, als in dem Ätherraum. Er starrte und starrte. Wirbel und Funken tanzten vor seinen Augen, ein ziehender Schwindel wollte ihn warnen, ein dumpfes Brausen in seinen Ohren schwoll auf und ab wie ein ferner, geheimnisvoller Choral. Einen Herzschlag, einen Atemzug noch – dann würde er hinter dem 122 ängstlichen Flattern, dem verhüllenden Zucken, Zittern und Zappeln den Urgrund der Schöpfung sehen. Das freigelegte Antlitz der Maja. Das entschleierte Bild von Sais. Entsetzt schlug Mamertus die Hände vor das ausgezehrte Gesicht. Welch einem Sinnentrug war der Geübte, welch einer Verführung des Nihilismus war er selbst jetzt anheimgefallen? Und was blickte ihn lautlos mit gläsernen Augen und sausenden Schlangenhaaren an, wenn nicht das blanke Nichts; was starrte zurück, wie er selber gestarrt, und enthüllte sich furchtbar, wie sich sein Antlitz vor dem Spiegel des Himmels enthüllt hatte: fühllos und ausgeglüht wie ein Stein? Dies war nicht die Wirklichkeit, die er suchte: dieser saugende Mund, dieser grundlose Schwindel, dieser Höllentrichter, aus dessen Tiefe die Unruhe bis zu dem Firmament emporschlug wie Flossenflimmern; wie das Schwänzeln von Kaulquappen; wie das Rudern und Beben von Glockentierchen . . . es war eine Tarnkappe – feiner gewoben, als jede, welche der Satan bisher seinem Lügenhaupt aufgestülpt hatte. Manichäer und Gnostiker, Atheisten und Mystiker hatten daran gewoben, der Sinnenrausch ebenso wie die Entrückung, das vierzigtägige Fasten des Hochmuts, die Teufelsmesse der Unkeuschheit und die Dichter des l'art pour l'art. Wem es gelang, dieses Spinngewebe, dieses Netz aus Lüge und Schwermut in Einem mit den Händen der Einfalt herunterzureißen, würde den Fürsten der Gegenwart, den Fürsten des traurigen Abendlandes in Gestalt einer Philosophie erblicken, deren blökendes Jammern ebenso kläglich wie das befriedigte, dumpfe Grunzen der Dialektiker war, die unverzagt in der kochenden Hitze der Weltstunde ihre leere, klappernde Mühle bewegten. Diese beiden mächtigen Häresien waren im Grund nur eine, wie das Janushaupt eines war, und niemals würde es Satan gelingen, über die Einzahl zu dem Mysterium der beiden Naturen in Christus 123 oder der drei Personen in Gott, und häufte er alle Irrtümer an, die menschlichen Hirnen faßbar wären, herauszudringen – nein, wahrlich nicht, solange die Erde stand.

Im Grunde, so sagte Mamertus sich, indem er die Tür seiner kleinen Zelle fast gewalttätig öffnete und sich vor dem alten polnischen Corpus, dem Arme und Beine fehlten, auf die Knie ließ, war der Satan wortlos. Er war eintönig, ewige Wiederholung oder schreckliche Tonlosigkeit. Er überredete nicht, er bedrängte den Menschen von innen her. Mit dem Satansengel führte der Mensch eigentlich keine Gespräche, denn das letzte Wort hatte Christus dem Satan abgenommen. »Apage, Satan!« Nun warf er sich wortlos wie eine dunkle, keuchende Bestie über den Menschen, er schlug ihn mit Fäusten und ängstigte oder verlockte ihn mit scheußlichen Traumgesichten. So war er stumm mit gespaltener Zunge und doppelzüngig ohne den Beistand der menschlichen Logosnatur. Er hielt seine Hand hin: Gold, Macht und Wollust funkelte aus der gehöhlten Kralle; er schloß diese Kralle um ein Versprechen, das Fäulnis und Asche war . . .

Mit beiden Händen das Betpult umklammernd, dessen ungepolsterter Schemel grausam in seine Knie schnitt, faßte Mamertus den Corpus ins Auge, welcher auf einem Stück weinroten Samt, der mit goldener Litze gepaspelt war, über dem Betpult hing. Obwohl ihm Arme und Beine fehlten, wirkte er seltsamerweise nicht verstümmelt, sondern machte den Eindruck, als ob sich die ganze Kraft seiner Gottheit und sein ganzes Leiden zugleich in dem Rumpf und dem furchtbar gequälten, wissenden Antlitz zusammengezogen hätte; er war eine Hieroglyphe des Leidens, ein ›Wurm und kein Mensch‹, die gekreuzigte Schlange in der Wüste des Sinai. Wer ihn ansah, verstummte und trat hinüber in das Geheimnis des göttlichen Wortes, das immerwährend und unaufhörlich die 124 Schöpfung gliederte. Er war das Gegenteil jenes ›Nada‹, das Friedrich Am Ende vor wenigen Tagen in der Gestalt der kristallenen Kugel in den Händen gehalten hatte; entleert, war er die Fülle an sich, und zusammengezogen in jenen Schrei der äußersten Verlassenheit war er die Antwort der Ewigkeit. Sein Echo war Freude, und selbst noch da, wo die Schmerzensmutter den göttlichen Sohn auf den Knien hielt, war sie als Mutter dieses gemarterten Gottes die Ursache unserer Freude, außer der es keine andere gab; bis in die erbebenden Wurzeln der Sinne und der Ekstase des Fleisches hinab – er scheute sich nicht, dieser alte Adler, seine Einsicht zu Ende zu denken! – war sie die Ursache unserer Freude und der Freude der ganzen Welt.

Freude. Hier war wieder dieses Wort, das ihn seit dem Gespräch mit Demetria unaufhörlich verfolgte. Es handelte sich um nichts als um Freude, und es würde sich, sollte das Ende der Welt noch nicht auf der Schwelle stehen, auch in Zukunft um nichts anderes handeln als um die Freude allein. Wo er ging und stand, flog ihn dieser Begriff wie eine honigtragende Imme die Einflugsöffnung des Bienenstocks mit sanfter Beharrlichkeit an. Sie näherte sich, sie umkreiste die Festung der Buße und Selbstverleugnung, sie suchte nach einer Mauerritze, einer Scharte um einzudringen; sie war unterwegs und schon gleichzeitig dort, wohin sie kommen wollte, und daß sie im Grunde schon angelangt war, machte ihr Kommen so leicht. Sie würde kommen und mit dem Ziel ihres Weges zusammenfallen, denn das Ziel der Freude war niemals ein andres als diese Freude selbst. Vielleicht – so wollte Mamertus es scheinen – war Freude nur ein anderer Name für die Weisheit, von welcher der Schöpfer die Maße seiner Schöpfung entgegennahm; auf die er hinsah, als er den Menschen, Mann und Weib, bildete: sein schönes Haupt, seine freien Glieder, sein üppiges Geschlecht. »Gib mir die Weisheit, 125 Herr«, sagte Mamertus, den Blick auf das Kreuz gerichtet, »Deines Thrones Beisitzerin. Aus der Zahl Deiner Kinder schließ mich nicht aus. Wäre jemand auch vollkommen: ginge die Weisheit, die von Dir ausgeht, ihm ab, oh Herr – er wäre für nichts zu achten. Bei Dir ist behaust die Weisheit, mein Gott. Sie kennt Deine Werke, sie war zugegen, als Du das Weltall schufst. Sie weiß, was Deinen Blicken gefällt, was recht ist nach Deinen Geboten . . . sie weiß und versteht ja alles. Wir aber – selbst die irdischen Dinge erkennen wir kaum, und mit Mühe verstehen wir rings um uns her, was offen zutage liegt. Wer jedoch kann erst ergründen, was in dem Himmel ist? Wer hat je Deinen Ratschluß erkannt, so Du ihm zuvor nicht Weisheit verliehen und Deinen heiligen Geist ihm nicht aus der Höhe herabgesandt? Durch die Weisheit wurden gerade gerichtet die Pfade der Erdenbewohner, wurden die Menschen belehrt über das, was Deinem Auge gefällt. Nur die Weisheit rettete sie!«

Als Mamertus endete, war das Magnetfeld der sieben Seelen, die auf dem Wege nach Anastasiendorf waren, bereits zusammengeflossen; es hatte die Schicksalsfigur gebildet, die in dem Maß seiner ununterbrochen aufeinander wirkenden Kräfte schon vorgezeichnet war; das verdeckte Palimpsest trat zutage, ohne welches die Entwicklung des Ganzen nicht erklärlich gewesen wäre, und gestattete einen schwachen Begriff von dem, was wir Fügung nennen. 126

 


 << zurück weiter >>