Elisabeth Langgässer
Märkische Argonautenfahrt
Elisabeth Langgässer

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Der dritte Tag war noch nicht zu Ende, als die Wanderer dieses Dorf erreichten, dessen Name auf allen Karten der Mark siebenmal wiederkehrt: ein dumpfer Name von wendischem Tonfall, dem, weil er beständig in der Gefahr ist, in sich zurückzufallen, bald Groß- und bald Klein- vorangesetzt wurde, bald Neu- und bald Alt-, bald aber auch gar nichts, was ihn von sich und den anderen Nichtsen aus der gleichen Familie, der gleichen Sippe, der gleichen Sprachwurzel unterscheidet – genau, als wäre er [wenn er da, stolz wie ein abgehauener Weidenstumpf, aus dem schilfigen Wasser ragte] sich selbst Bedeutung genug. Doch er irrt. Er steht, noch nicht Name geworden, auf der Grenze von Name und Laut; ein beständiges Mückensummen umgibt ihn wie eine Gewitterwolke; eine Wolke aus Pulverdampf hüllt ihn ein, die immer noch in der Luft liegt und irgendwann einmal von den Kanonen eines preußischen Kurfürsten oder Königs ausgelöst worden ist, der über der Stelle geistert und mit Erde, Schlachtenrauch, Schlick und Schilf seine Ruhmestorte zusammengebacken und sie dem gefräßigen Götzen Ehre in den Rachen geworfen hat.

Weil also das Dorf von sich aus noch nichts, weder Fluch noch Segen bedeutet, setzt sich alles ununterschieden und gleichgültig an ihm ab, und das Dorf vermengt es zu jenem Brei, mit dem man die Ritzen der Fenster ausschmiert, den Ziegenstall dichtet, den Torf, das Schilf und das fast schon verrottete Stroh verbindet, das auf den Dächern liegt. Es kommen Kriege und setzen Schmutz, Verzweiflung und Eiter an; es kommt der Friede und wirft ein Versprechen, eine Hoffnung und frisch gedrucktes, zappliges Geld dazu; neue Regierungen, neue Phrasen und das blitzblank geputzte Katzengold verblendender Häresien, 192 die zwar in sich keine Bindekraft haben, aber in ihrem Gefolge den Sturm und die große Worfschaufel bringen, die Maurerkelle, die Windmühlenflügel und alles, was zu vermischen bestimmt ist, durcheinander zu rühren, in eins zu binden und die Voraussetzung für die Trecks und die Umsiedlung ganzer Völker zu schaffen, für die Bettlerzüge mit Sack und Pack, die an den Weidenstumpf dieses Dorfes eine neue Schicht von Beharrungswillen, neuen Besitzstand und das Gefühl des Immersoseins schwemmen. Zusammengeduckt, in sich eingerollt wie ein schmutziger alter Igel, hat das Dorf nur die einzige Absicht: noch und noch dazusein. Nur, wer an einem glühenden Tag seinen verlassenen, winzigen Marktplatz mit den kugelig gestutzten Akazien und den grasdurchzogenen Pflastersteinen, die fest verschlossene, mürrische Kirche und das Spritzenhaus neben der Kirche kennt, weiß erst, was Dazusein für es bedeutet, und er begreift, daß ihm jede Verwandlung außerhalb seiner Mauern zu keinem anderen Zweck und Ende als zu seiner Beharrung dient.

Hier steht auch im friderizianischen Stil das Haus des Steuereinnehmers Marek und seiner Schwiegermutter, der alten, zänkischen, zähen Frau Wuttke, die seit zwanzig Jahren Herrn Marek, ihren verwitweten Schwiegersohn, samt dem Haus, das eigentlich ihr gehört, und dem großen Garten betreut. Wer hätte gedacht, daß diese Frau Wuttke, dieses holzige, verbogene Stückchen, nicht nur den Tod ihrer eigenen Tochter, die im ersten Wochenbett starb, überleben, sondern auch noch dem armen Herrn Marek ihren eigenen derartig lange und boshaft vorzuenthalten imstande sein würde, obwohl doch Herr Marek nach all den Jahren billigerweise erwarten konnte, in den Besitz dieses Hauses zu kommen, das sein treuliches Abbild war.

Herr Marek, mit dem Kalmückenschädel und der preußischen Seele in seiner Brust, die ihn bewog, seiner 193 Schwiegermutter nicht geriebene Meerzwiebel oder Arsen in die Kaffeetasse zu schütten, sondern sie langsam und wohlüberlegt in genau bemessenen Dosen zu Tode zu ärgern, und dieses Haus in friderizianischer Bauart waren wie Schnecke und Schneckenhaus unlöslich miteinander verbunden . . . und wer die eisenumgitterte Treppe mit den fünf steinernen Stufen hinaufschritt, welche sich vor der Front des Hauses zu einer Veranda erweiterten, die im Sommer abwechselnd mit Hortensien und Geranientöpfen bestanden war, ging zwischen kannelierten Pilastern von bescheidener Anmaßung schnurstracks in das Heiligtum einer Weltanschauung von zwar problematischer Güte, doch umso größerer Sicherheit und Unanfechtbarkeit ein. Obwohl Herr Marek bereits seit Jahren im Ruhestand lebte, bewiesen die Räume, daß der Geist eines preußischen Steuerbeamten sie bis in alle Winkel durchdrungen und eine Ordnung hervorgebracht hatte, die nicht nur jedem Stuhl seinen Platz auf dem spiegelnden Fußboden anwies, sondern auch in dem Bezirk des Schönen eine Rangordnung aufgestellt hatte, die niemand und nichts unterbrach. Seit ewigen Zeiten beherrschte ein Bild der Königin Luise, wie sie mit ihren Söhnen eine Schloßtreppe abwärts schreitet, die Hauptwand des Zimmers, welches Frau Wuttke als Wohnzimmer zu bezeichnen pflegte, obwohl noch niemals ein Mensch die Absicht, in ihm wohnen zu wollen, bewiesen hatte; ein anderes, Mareks Arbeitszimmer, das sich durch einen massigen Schreibtisch und das Bild des Eisernen Kanzlers auswies, der eine Dogge am Halsband hielt, und ein Hindenburgbild den Schlafraum Herrn Mareks, aus welchem, bald nach dem Tod seiner Frau, das eine Bett entfernt worden war, um hinüber zu Frau Wuttke zu wandern, die das kleinste von allen Zimmern bewohnte, obwohl sie juristisch das ganze Haus bis auf den Pfeifenwischer besaß, 194 der hinter dem Bismarckbild stak. Daß das Arbeitszimmer tatsächlich noch einmal seinen Namen verdienen würde, hätte bis vor der Eroberung keine Menschenseele geglaubt. Trotzdem war es dahin gekommen, daß aus dem steifen, ledernen Zimmer sogar ein Amtsraum geworden war, in welchem Herr Marek sofort nach dem Umsturz als kommissarischer Bürgermeister die Anweisungen der Russen empfing, Quartierzettel ausgab und seine Gegner von Herzen unschädlich machte. Bei allen Fehlern nämlich, die Marek in reichlichem Maße besaß, hatte jener, ein Nazi gewesen zu sein, ihm wesensmäßig gefehlt. Er hatte ihre Allüren mit Inbrunst und aus ganzer Seele gehaßt, und, wenn er von ihnen sprach, sie nur die ›katholischen Fahnenschwenker‹ genannt – ein Ausdruck, welcher die Pfarrersfrau, welche gleichzeitig Frauenschaftsführerin war, in tiefe Verwirrung stürzte.

Denn ihre fanatische Liebe zu dem, den sie ›unseren Führer‹ nannte, wurde nur noch von dem Gefühl des Abscheus gegen den römischen Katholizismus an Stärke übertroffen. Wenn man sie hörte, war diese schwarze und entsetzliche Religion der Ursprung alles Lasters und aller Unwissenheit, aller Dummheit und alles Aberglaubens, von dem selbst die Reformatoren die Kirche nur unvollkommen gereinigt hatten; vor allem aber – und dies war der schwerste und schlechthin vernichtende Vorwurf, den Frau Pfarrer Jacobsen aussprechen konnte – war sie sinnlich; sinnlich wie ihre Heiligenbilder, ihre Gotteshäuser, ihre Musik und das rote, grüne und veilchenblaue Gefieder, wie die Pfarrfrau es nannte, ihrer Götzendiener, von denen sie glaubte, daß ihre Tätigkeit darin bestünde, mit Weihwasser um sich zu spritzen, zu knicksen und Ablaß zu verkaufen, Mit einer Witterung ausgerüstet, die beständig der Sinnlichkeit auf der Spur war, hatte ihr kalvinistisches Wesen vor dem Ausdruck ›katholische 195 Fahnenschwenker‹ vor Empörung zurückgebebt – gleichzeitig fühlte sie aber auch, daß Marek mit ihm etwas angeschlagen und eine besonders empfindliche Saite in ihr zu schwingen angeregt hatte, die mit ihm in Einklang war. So wurde Frau Jacobsen zwischen dem Abscheu vor Mareks Lästerungen und ihrem nicht eingestandenen Beifall dreizehn Jahre lang hin und her gerissen; und während sie mit ihrem schmächtigen Mann [der auf ihr Betreiben jede Verbindung mit seinen tapferen Glaubensbrüdern im Umkreis abgebrochen und ihnen sowohl wie dem Gotteswort, auf das er verpflichtet gewesen war, die Treue gekündigt hatte], während sie also mit diesem Armen eine Reihe pickelhäutiger Kinder von außerordentlich minderer Rasse und Intelligenz erzeugte, durfte Marek sich in der Sicherheit wiegen, durch Frau Jacobsens schlechtes Gewissen hinlänglich geschützt zu sein. Denn der alte Witwer, bei dem sich die Triebe und niedergehaltenen Süchte des Fleisches in Sadismus und in die perfiden Spiele mit dem Blutdruck der Wuttke verwandelt hatten, wußte sehr wohl um den Zwiespalt in Frau Jacobsens flachem Busen und nahm von jeder Vermehrung ihrer Familie mit süffisantem und angenehmem Lächeln Notiz, für das selbst das goldene Mutterkreuz keine Entschädigung war. Wäre sie nicht im Grunde ihres Herzens ein zwar beschränkter und fanatisierter, doch rechtlicher Mensch gewesen, dem Denunziation und Verräterei gegen die Ehre ging, so war es um diesen Herrn Marek geschehen.

So aber –. Frau Jacobsen quälte sich nämlich, daß es der Pfarrerin nicht gelang, den Gehorsam der Frauenschaftsführerin ohne Anteilnahme zu üben, das heißt: aus reiner Pflicht. Die kalvinistische Hierodule in dem Tempel der vaterländischen Freuden begann, sich allmählich selbst zum Entsetzen, in dem religiösen Bezirk zur Sünderin zu werden, die von ewig her zu 196 Verdammung und Verwerfung vorherbestimmt war. Als es dann in dem Gebälk dieses Tempels immer stärker zu knistern und zu krachen anfing, als die Säulen stürzten, der Marschtritt der Feinde schon deutlich zu hören war, blieb ihr logischer Weise nichts anderes übrig, als sich selbst mit samt ihrer Kinderschar unter den Trümmern des Tempels wie Samson zu begraben – doch wurde dieser furchtbare Vorsatz, der Frau Jacobsen antrieb, sich stracks in den Tod und das, wie sie glaubte, vorausbestimmte höllische Feuer zu stürzen, durch Mareks Dazwischenkommen glücklicherweise vereitelt.

Er nämlich, den Lohn seiner Standhaftigkeit schon seit Wochen vorausgenießend, war mit dem tänzerisch-steifen Gang eines berauschten Gockels am Tag vor dem Einzug der Russen durch das vor Entsetzen gelähmte Dorf und seine Straßen getrippelt, deren Häuser schon weiß bewimpelt waren, während das Pfarrhaus ostentativ die Hakenkreuzfahne hißte, der Pfarrer, im ersten Stock eingeschlossen, auf seinen Knien lag, und die Pfarrerin in der guten Stube alle Kinder versammelt hatte. Herr Marek, weder dumm noch instinktlos, fühlte blitzartig, daß ihn die Pfarrerin um seinen Triumph bringen wollte, und schlug, als selbst wiederholtes Klingeln ihm keinen Einlaß verschaffte, ohne lange zu fackeln, die verglaste Vorplatztür ein. In dem Besuchszimmer fand er dann die unglückselige Jacobsen samt ihren acht Knaben und Mädchen um den runden plüschbehangenen Tisch unter dem Bild des Unholds versammelt, der befriedigt mit faszinierendem Glotzen auf seine Opfer heruntersah und sich das blutbesudelte Maul nach ihnen zu lecken schien. Die Pfarrerin hatte ihr bestes Kleid und das goldene Mutterkreuz angelegt, ihre Kinder starrten mit käseweißen, in Furcht und Spannung erstarrten Gesichtern auf die Mutter hin, die ihnen soeben etwas von Ehre und Heldentod 197 vorerzählt und jedem ein Schlafmittel in die Gläser mit Zuckerwasser geworfen hatte, die vor den Kindern standen. Wie gesagt: Herrn Mareks Dazwischentreten warf den Plan der Familie um. Er goß mit jener Pedanterie, die ihm von berufswegen eigen war, die Gläser in den Abort und beschlagnahmte mehrere leere Schachteln mit dem Aufdruck ›Hirschapotheke‹, die ihm später als Beweismittel dienten, als er mit großer Befriedigung seine Rache an Herrn Apotheker Maheinke, dem Volkssturmführer, kühlte, der ihn zuletzt noch mit Dolch und Revolver und fletschenden Phrasen zwingen wollte, mit der Panzerfaust gegen die Tanks zu marschieren, die schon im Anrollen waren . . .

Maheinke, ein Kerl mit verfetteten Hüften und feigen Rattenaugen, kehrte von diesem Ausflug des Volkssturms wohlbehalten zurück, ohne wie seine verführte Gefolgschaft gefangen und zermalmt zu sein, und tauchte als Erster des ganzen Dorfes mit einem roten Papierfähnchen auf, das er bei jedem Gang auf der Straße wie ein Feigenblatt vor sich hintrug. Doch wahrscheinlich hätte sein schlechter Ruf in Verbindung mit diesem plötzlichen Fähnchen immer noch nicht genügt, um Maheinke einem russischen Standgericht auszuliefern, das an den verborgenen Glasballons, die mit reinem Alkohol angefüllt und im Keller der Apotheke in Reih und Glied aufgestellt waren, sein Wohlgefallen gefunden hatte – wenn nicht der Landarzt, ein Doktor Cuille, den die Bevölkerung Doktor ›Kille‹ oder ›Külle‹ zu nennen pflegte, bei dem Anblick der leeren Giftpillenschachteln aus der Hirschapotheke gemeinsam mit Marek gegen Maheinke vorzugehen beschlossen und ihn erledigt hätte.

Doktor Cuille – von hugenottischer Abkunft, wie schon der Name besagte – war gleichfalls ein leidenschaftlicher Hasser jener Untermenschen gewesen, die Maheinke 198 repräsentierte, aber in einem ein Mann von Welt und fast unwiderstehlichem Charme. Eine dunkle Affäre, bei der, wie man sagte, die Frau eines höheren Offiziers eine Rolle gespielt haben sollte, hatte ihn vor rund zwanzig Jahren in dieses elende Nest verschlagen, wo er – noch immer ein hommes à femmes – jede Assimilierung abgelehnt hatte und mit seiner schildpattgefaßten Lorgnette, die er, wenn er im Kirchenstuhl saß, in Augenhöhe hob, einem Mann des ancien régime glich. Denn im Gegensatz zu seinem sonstigen Leben, wovon noch die Rede sein wird, war Doktor Cuille ein gewissenhafter ›Kirchgänger‹, wie man so sagt – sei es, daß er das Orgelspiel liebte, das durch den freundlichen alten Kantor nicht übel vertreten war, oder daß er wußte, wie schön sein Profil, dieses kühne, adelige Profil, sich gegen den weinroten Samt abhob, der als Erinnerung an den Kirchstuhl eines märkischen Sklavenhalters in dem kahlen, schwarzweißen Betraum übriggeblieben war. Diese Lorgnette, die seidenen Hemden und das Privatleben des Herrn Doktor Cuille waren das ständige Ärgernis der prüden Pfarrerin, deren Abscheu vor Cuille so grenzenlos war, daß sie selbst in dem Augenblick höchster und dringendster Lebensgefahr sich weigerte, ihn hinzuzuziehen, und lieber in Stücke gerissen oder verblutet wäre, als Cuille zu benachrichtigen.

Übrigens löste sich das Verhältnis des Arztes zu Pfarrer Jacobsen bald in dem Maß, als Jacobsen auf das Drängen der Frau sich den Deutschen Christen zu nähern begann und an Nationalfeiertagen das Bild des kinderfressenden Götzen neben die Bibel stellte. Es wäre falsch zu behaupten, daß es dem dürftigen Pfarrer sehr wohl dabei war. Er war ein schwächlicher, armer Mensch mit eingefallenem Brustkorb und einer niemals ausgeheilten und zur Ruhe gekommenen Tuberkulose, die ihn abends mit Temperaturanstieg und auf der Kanzel mit 199 einem flachen, trockenen Husten quälte. Wahrscheinlich um sich selbst zu beweisen, daß er trotzdem ein ganzer Kerl war, bemühte er sich, zu vergessen, was ihm in früheren Zeiten teuer gewesen war: den Patriarchensegen, das Reis, das der Wurzel Jesse entsprang, den Sermon von der Freiheit des Christenmenschen und – ach, mit wieviel Berechtigung! – die großen und kleinen Propheten.

[Er sollte allerdings kurz vor dem Umsturz wieder an sie erinnert werden, als der Besitzer der Ziegelei, bei der ein ziemlicher Haufe Polen und Franzosen beschäftigt war, ihn aufsuchte, um mit drohender Stimme und flackernden Augen zu fragen: »Herr Pfarrer, kennen Sie eigentlich Baruch? Kennen Sie den Propheten Baruch? Ich meine die Stelle . . .« na, und so weiter. Ja, dann entsann er sich wieder.] Trotzdem: dieses Vergessen war nicht einfach für ihn gewesen. Er merkte es erst, als auch andere Dinge davon ergriffen wurden wie zum Beispiel jenes Gedicht von Heine, das seinem Wandervogelgemüt als Inbegriff aller lyrischen Süße bis dahin erschienen war und mit dem dieser Tor seine barsche und ununterbrochen sittlich empörte Ehefrau identifizierte: »Du bist wie eine Blume, so hold, so schön, so rein . . .« Mit solchem Aspekt seiner Pfarrer'schen stand Herr Jacobsen allerdings weit und breit mutterseelenallein – und selbst die mißhandelte, unterdrückte und von ihr selbst mit Entsetzen und Abscheu empfundene Sinnlichkeit seiner Frau zog nicht aus der Schwärmerei ihres Männchens, sondern aus völlig anderen Dingen, die sie sich selber nicht eingestand, Nahrung; nicht zuletzt aus der Tatsache, daß seine Haare, welche die Farbe von nassem Stroh oder verrottetem Stallmist hatten, auf dem Unterschenkel sehr rötlich waren und dichter als auf dem Kopf. Sie nannte ihn für sich ›Samsons Löwen‹, der von ihr [der holden und schönen und 200 reinen Blume Herrn Heinrich Heines] wie ein Böcklein zerrissen wurde.

Alice Jacobsen hätte sich freilich, was ihre derbe Anlage anging, auf Ahnenforschung berufen können: ihre Mutter, die gute, alte Frau Dörr, welche selber eine verwitwete Pfarrfrau an der pommerschen Küste war, pflegte kurzerhand, wenn sie der Drang überkam, ihr Wasser abzuschlagen, im Freien niederzuhocken und sich selbst, wie ein Fuhrmann den Gäulen, zu pfeifen, ohne geniert zu sein. Von ihr stammte auch der klassische Ausdruck, mit dem sie begründete, nicht mit der Tochter zusammenziehen zu können: »Och nä, die Olice is mir zu olt . . .«, obwohl doch dieser Ausspruch wie viele zwischen den nächsten Verwandten auf einem Mißverständnis beruhte, und Alicens überschwenglichen Taten in keiner Weise entsprach.

Diese Taten der Pfarrfrau wurden indessen nicht nur vom Doktor Cuille, sondern auch von Elias Verhoeven, dem Ziegeleibesitzer, mißbilligt. Verhoeven gehörte, wie jedermann wußte, der Sekte der Bibelforscher an und glaubte, aus den symbolischen Zahlen der Apokalypse schließen zu können, daß der Antichrist in Person erschienen und das Weltende nahe war. In jeder größeren deutschen Stadt wäre Verhoeven wohl für diese Meinung in ein KZ gewandert; hier aber, wo es dem feurigen Querkopf an Gesinnungsgenossen, Gemeindebrüdern und überhaupt Freunden fehlte, galt er als harmlos – ein Eigenbrötler, von welchem niemand ahnte, daß er Abend für Abend in der Baracke der Fremdarbeiter bei großen, träge schmelzenden Kerzen mit ihnen unter dem Mantel seiner Entrückung zusammenhockte, und durch die Flammengeißel des Wortes ihren Widerstandswillen und ihre Hoffnung immer neu zu entfachen suchte, indem er sie, wie der andere Elias die Pferde vor seinen Himmelswagen, wie ein Besessener 201 antrieb und peitschte, bis ihm und ihnen Schaum von dem Munde und Feuer vom Hufeisen stob.

Aus einer Seemannsfamilie gebürtig, und aller neun Meere kundig, hatte die Heilsarmee ihn bekehrt, als er, völlig ausgeplündert und nackt, aus einer chinesischen Opiumspelunke auf das glitschige Straßenpflaster geworfen und vorsichtshalber noch mit ein paar Stichen jeglicher Absicht, sich zu entrüsten, ledig gemacht worden war. Ein weiblicher Leutnant der Heilsarmee hatte, rasch entschlossen, das Lied abgebrochen, dessen hohes C sie mit greulich falscher und ebenso unbeirrbarer Stimme gerade erklettert hatte; sie hatte seine sprudelnde Ader am Unterarm, ohne sich zu besinnen, mit einer dicken Bibel beschwert, die ihre Kollegin zum Zweck der Bekehrung mit sich genommen hatte, und darüber den Oberarm mit ihrem Strumpfband kurzerhand abgebunden. Diese Koppelung von Strumpfband und Bibel hatte Verhoeven gerettet. In dem Hospital jener Heilsarmee, wo man ihn nicht nur verbunden, gepflegt, sondern auch [wie schon oben erwähnt] von seinem Sünderleben befreit und ihm die Seefahrt, den Whisky und das Opium verleidet hatte, beschloß seine Retterin Mary Dawson Herrn Elias Verhoeven zu ehelichen – ein englisches Mädchen, das zu dem Kummer seiner Familie in Norfolk unmittelbare Befehle von Jesus zu empfangen behauptete. Unter dem Eindruck von Bibel und Strumpfband, die beide von Blut durchtränkt und als Zeichen des offenkundigen Willens Gottes Verhoeven gereicht worden waren, gab Elias, nicht einmal ungern, nach und pflegte von da ab nur noch, wenn er von seiner Bekehrung erzählte, von dem ›Beweisstück‹ zu reden – womit er nicht nur die Bibel, die das Strumpfband umschnürte, meinte, sondern auch seine Ehe mit Mary, die sich trotz aller Privatvisionen, welche die Dawson nach wie vor hatte, als außerordentlich glücklich erwies, und 202 Elias Verhoeven in den Genuß einer beträchtlichen Mitgift setzte, die ihm erlaubte, kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs, den er mit Mary als Internierter in Hongkong und später als englischer Untertan in dem Mutterland zugebracht hatte, eine Ziegelei zu erwerben und mit dem Aufschwung des Baugewerbes ein gemachter und angesehener Mann, wie man sich ausdrückt, zu werden.

Als dann Mary [Ende der zwanziger Jahre] an einer Lungenentzündung starb, zog es den kinderlosen Verhoeven wieder nach Deutschland zurück. Er erwarb die Ziegelei in der Mark und verspann sich, je stärker die Geisteskrankheit, die seine Landsleute anfiel, zu Tage trat, in die Welt seiner Mystik, die gleichwohl nicht nur aus Bibelsprüchen, welche er mit der Nadel herausstach, sondern auch aus praktischem Handeln bestand und puritanischer Starrköpfigkeit, die nicht Schwarz zu Weiß machen wollte. Obwohl er, trotz seiner englischen, noch immer die deutsche Staatsbürgerschaft nach den gültigen Rechten besaß, nannte man ihn den ›Engländer‹, und es fehlte nicht viel, daß er bei Ausbruch des zweiten Weltkriegs aufs neue in Haft genommen oder des Landes verwiesen wurde. Nun aber zeigte es sich, daß der Geist der verewigten Mary Dawson auf das irdische Leben des Herrn Verhoeven nicht ohne Wirkung geblieben war. Es gelang ihm, den Treuhänder, den man ihm beigab, so vollkommen in die Hand zu bekommen, daß dieser zuletzt den Kopf in der Schlinge seiner eigenen Unvorsichtigkeit hatte und froh sein mußte, wenn nicht Verhoeven den Strick zusammenzog. Dieser Strohmann also – was wollte er machen? – deckte mit seinem Namen jeden geflüchteten Fremdarbeiter und ein Ausmaß geheimer Sabotage, das schlechthin unfaßbar war. Trotzdem wäre die Länge der Zeit auch Verhoeven noch zum Verderben geworden, wenn ihm 203 Doktor Cuille nicht den Rat erteilt hätte, sämtlichen Texten der Heilsarmee die Melodien der ›Lieder der Bewegung‹ unterzulegen.

So kam, weil es nicht ausbleiben konnte, daß aus den verdunkelten Holzbaracken diese Gesänge wie Höllenchoräle an die Ohren Vorübergehender drangen, Verhoeven in den gewollten Verruf, ein Streiter des Führers zu sein. Den alten Tropenhelm auf der roten, verschnittenen Löwenmähne, an die kein Barbiermesser rühren durfte, weil Elias es selber beschnipselte, stand Verhoeven auf einem erhöhten Pult und intonierte mit Marys Gitarre das Heulen der Fremdarbeiter, die um den eisernen Gußofen hockten und auf den Feldbetten lagen: überflackert vom Licht der Feuerzungen, das ihre Gesichter beleckte, ihre Haare und ihre Hände, welche heimlich pornographische Bilder an die Barackenwand schmierten oder Spielkarten aus der Hose wühlten, mit denen sie ihre Langeweile an den Gesangsstunden Herrn Verhoevens niederzuhalten suchten. Wahrscheinlich ahnte Elias Verhoeven, daß er vollkommen in das Leere sang, vielmehr in den fernen himmlischen Raum, wo seine Mary jetzt wohnte. Monomanisch von dem Gedanken besessen, die Selige höre ihm oben zu, begann er im Lauf dieser Abende in die zweite Stimme zu fallen, er predigte mit verzückten Augen, was der Gedanke an Mary ihm eingab, und während hinter seinem Rücken die Wand sich mit Geschlechtsteilen, Schenkeln und mächtigen Brüsten bedeckte, strahlte sein einfaches, gutes Antlitz mit der verschnittenen Löwenperücke und den weitsichtig blauen Seemannsaugen jenen unerhört reinen Glanz von Drüben und den Frieden der Gotteskindschaft aus, den ihm Mary vermittelt hatte –.

Friede, wenn auch ganz anderer Art, war es, den Cuille um die gleiche Stunde zwischen Abend und Mitternacht fühlte, wenn er dem Mädchen Hendrikje, seiner 204 Wirtschafterin gegenübersaß und zwischen ihnen beiden das Schachbrett aufgebaut war. Hendrikje hieß eigentlich Henriette oder Jettchen, wie man hier kurzerhand sagte, doch der Name ›Hendrikje‹, welchen ihr Cuille gegeben hatte, als sie vor Jahren in seine Dienste getreten war [sie war jetzt Mitte der Dreißig und auf merkwürdig rührende Weise an der Grenze, still zu verblühen] – dieser Name Hendrikje also bezeichnete das Verhältnis, das beide miteinander verband: den von den zerfleischenden Furien seiner Erinnerung gejagten Landarzt und jenes Mädchen, das für ihn Balsam und Trost war, ein Schlaftrunk, den er vor Mitternacht verzweifelt herunterstürzte, ohne der Tropfen zu achten, die auf die Erde fielen. In Wirklichkeit wußte Cuille ganz genau, daß er ohne dieses sanfte Geschöpf mit den schweren honigfarbenen Haaren, die schon langsam nachzudunkeln begannen, nicht würde leben können; ohne die Fürsorge ihrer warmen, unendlich fühlsamen Hände; ihre unermüdliche stille Bereitschaft, die ebensosehr vorhanden war, wie sie sich auf den leisesten Wink wieder von ihm zurückzog, ohne daß sich Hendrikje davon beleidigt fühlte. Wenn irgendwo noch der Ausdruck ›Leibeigene‹ füglich zu Recht bestand, dann hier bei diesem Mädchen, das die Verachtung der Pfarrersfamilie, des sittenstrengen Verhoeven, der Bauern und selbst des Ortsgruppenleiters mit jener Gleichgültigkeit ertrug, die aus innerem Gleichgewicht kam, und sich mit dem Sinn ihres Daseins ohne Zweifel in Einklang wußte. Darum hatte Hendrikje auch ihren Zustand noch niemals ändern wollen und war es zufrieden im ganzen Dorf ›Külles Kebsweib‹ genannt zu werden.

Dieser Ausdruck war zustande gekommen, als bei einer der großen Volkszählungen der Steuereinnehmer mit seinen Listen in das Haus Doktor Cuilles gekommen war und mit preußischer Gründlichkeit wissen wollte, als was er 205 die ›Frauensperson‹, wie er sagte, Doktor Cuilles eintragen sollte.

»Schreiben Sie«, sagte der Landarzt voll Hochmut und hob die Lorgnette in Augenhöhe, um Marek zu fixieren, »Wirtschafterin. In Klammer: Kebse.« Hierauf – das erste und einzige Mal die Arme um die Schultern der stillen Hendrikje legend – fragte er sie, als ob er vor Zeugen Hendrikje zur Ehe nähme: »Willst du Külles Kebsweib heißen, Hendrikje?«

»Ja«, sagte sie feierlich.

Trotzdem blieb ihr Verhältnis das gleiche: das Verhältnis einer Leibeigenen zu ihrem gefürchteten Herrn. Sie redete Cuille in der dritten Person an, auch wenn der Doktor sie duzte, und maßte sich selbst in dem glühenden Dunkel ihrer Hingabe keine Vertraulichkeit an, die Cuille nicht gefordert hatte. Er wiederum bemerkte sie kaum, obwohl ihm Hendrikje von Tag zu Tag immer unentbehrlicher wurde. Er lehrte sie einen Verband anzulegen und ihm bei schwierigen Fällen ohne Zucken zur Hand zu gehen; ja, schließlich war es so, daß die Kinder, wenn Cuille ihnen eine Einspritzung machte oder mit seinem Messer einen vereiterten Finger aufschnitt, erst zu bewegen waren, ihr Schreien einzustellen, wenn Hendrikje sie festhielt, beschwichtigte und ihnen ein Märchen erzählte. Der Landarzt lehrte sie auch das Schachspiel, und da Hendrikje nicht nur gefügig und guten Willens war, sondern auch klug, fand er bald in ihr seine Meisterin. Anfangs versuchte Hendrikje noch, ihren Herrn gewinnen zu lassen, aber weil sie fühlte, daß Cuille sich an ihrer raschen Auffassungsgabe und ihrem Talent für das Brettspiel freute, war sie unbefangen genug, ihn jedesmal schachmatt zu setzen. Nach dem Abendbrot, wenn kein Besuch mehr zu fürchten, die Bestecke gereinigt, das Wartezimmer gebohnert und die Kassenzettel geordnet waren, setzte Hendrikje 206 das Feld der Schachfiguren auf und stellte rechts und links von dem Brett die geschwungenen Zinnleuchter mit den dicken, goldgelben Wachskerzen hin. Dann drehte sie das Deckenlicht aus, zündete die zwei Kerzen an und nahm Cuille gegenüber in einem hohen, altertümlichen Sessel Platz, dessen damastbezogene Lehne von einer Goldlitze eingefaßt war, die die Körperlichkeit des Mädchens wie ein Bilderrahmen umschloß und sie seltsam unwirklich machte. Entrückt und schläfrig zugleich, starrte Cuille auf die Erscheinung dieser Hendrikje, die er selbst hervorgebracht hatte. Aus dem festanliegenden moosgrünen Leibchen, dessen tiefes Viereck mit Klöppelspitzen ringsherum abgesetzt war, stiegen wie aneinandergeschmiegte, verschüchterte Turteltauben die Brüste dieser andern Hendrikje und trugen prangend, als ob sie dafür geboren und von immer her dazu bestimmt worden wären, den Schmuck der verstorbenen Mutter des Doktors, einer geborenen Freiin von Liebenwerder, zur Schau. Heute war es ein Halsband aus ätherblauen Saphiren und morgen ein dunkelroter Granatschmuck; übermorgen an dünnem Kettchen ein einziger nußgroßer Perlentropfen, der sich zart in die flaumige Rille schmiegte; dann wieder, fast wie die Arbeit von unterirdischen Zwergen, ein Kragen aus Goldfiligran.

Zwischen Mittelfinger und Daumen hielt Hendrikje behutsam eins der Figürchen und ließ es weiterrücken; jedes Mal schimmerten dann die gekerbten Edelsteinflächen des Wappenrings derer von Liebenwerder für einen Augenblick auf . . .

Als die Russen in einem plötzlichen Vorstoß den kleinen Ort überrannten, wurde der kostbare Wappenring Hendrikje zum Verderben. Sie trug in dieser Schreckensnacht nichts von Perlen und Edelsteinen außer dem Siegelring, und das Kleid, in welchem sie Doktor Cuille an dem 207 Schachtischchen gegenübersaß, war bis zum Hals geschlossen. Sie spielten, weil Doktor Cuille es so wollte, während draußen die ersten Schüsse fielen, und fremde, knabenhaft böse und hohe Stimmen den Garten erfüllten. Sie spielten weiter, als schon das Haustor unter Kolbenschlägen erzitterte, und, gerade als Cuille seit langer Zeit zum erstenmal wieder Vorsprung hatte und im Begriff war, Hendrikje mit dem letzten Zug schachmatt zu setzen, öffnete sich die Tür. Er hob die Hand. So wie Archimedes in Syrakus mit erhobener Hand den Eindringling abgewehrt hatte, hob er geistesabwesend die Hand. Die Soldaten stutzten und blieben stehen. Etwas verwirrte sie, aber etwas in dieser unbegreiflichen Haltung brachte sie, heute wie damals vor über zweitausend Jahren, in Harnisch und Raserei. Wie eine Fasanhenne, welche den Räuber von den Küchlein abzulenken versucht, warf sich Hendrikje vor Doktor Cuille und streckte die Arme aus. Sofort war die ganze Soldateska auf dieses Blonde, Weiche und Runde mit dem blitzenden Siegelring hingelenkt und stürzte über Hendrikje her, die sich verzweifelt zu wehren versuchte, und aus aller Kraft mit der scharfen Kante des Siegelrings einem Soldaten zwischen die Augen schlug. Er taumelte, brüllte, die Anderen drehten Hendrikje das Handgelenk um, ein Offizier riß den Siegelring ab und schoß Hendrikje über den Haufen, ohne genau zu zielen. Sie sank mit einem erstaunten Seufzer langsam zur Erde wie eine Woge, die auf die Düne läuft, verzitterte und lag still . . .

»Du – Doktor?« fragten die Russen den Arzt. Er bejahte. »Komm mit. Kameraden kaputt.«

Doktor Cuille nahm wortlos den weißen Kittel, zog ihn über und ging hinaus.

In der folgenden Nacht hob er eigenhändig ein Grab in dem Garten aus und zimmerte einen rohen Sarg, in den er 208 am übernächsten Tag das Mädchen bettete. Als es später zum Waffenstillstand kam, und auch die russische Kommandantur aus dem Dörfchen abgerückt war, erbot sich Herr Pfarrer Jacobsen ›unsre Schwester in Christo‹, wie er jetzt plötzlich die Tote nannte, zu bestatten und sie nach dem Brauch seines Amtes in die geweihte Erde zu legen. Wieder einmal griff Cuille nach dem Lorgnon und sah seinen Gegner an: einen zusammengeschlagenen Gegner mit erloschenen Augen, der sich am liebsten selbst in die Erde verkrochen hätte, die er [jetzt samt der Vollmacht seines wahrhaftig höchst brüchig und sinnlos gewordenen Amtes] dem Kebsweib des Arztes anbot.

»Glauben Sie nicht«, fragte Doktor Cuille damals, »daß eher, umgekehrt, diese Hendrikje die Erde durch ihren Opfertod weiht, als die geweihte Erde das Mädchen, das ihr alle verurteilt habt?« Er sagte es ohne Vorwurf und ohne Ironie. »Lassen Sie ruhig Hendrikje in meinem Garten liegen – in meiner Nähe . . .«, fügte er noch, über sich selbst verwundert, hinzu; wahrscheinlich war er so grenzenlos erschöpft und übermüdet, daß es ihm nicht zu Bewußtsein kam, weitergesprochen zu haben.

»Aber ich möchte doch, Fräulein Hendrikje« setzte Jacobsen noch einmal hilflos an, »die letzte Ehre erweisen.«

»Da Sie ihr, lieber Herr Jacobsen, die erste noch nicht erwiesen haben, so nützt auch die letzte nichts«, erwiderte Doktor Cuille. »Aber wenn Ihre Schulkinder kommen und für sie singen wollen, sage ich sicher nicht nein.«

Die Kinder kamen auch wirklich mit Kränzen und Blumensträußen. Sie stellten sich vor den einfachen Hügel und sangen zweistimmig ihre Lieder, während sich ihre runden, großen, erstaunten Augen um das Verständnis der Inschrift auf dem Andreaskreuz mühten, dessen lateinische Großbuchstaben sie abzuweisen schienen. et sicut oculi . . . hieß diese Inschrift, Psalm 122. 209

Als später der Arzt und Herr Levi-Jeschower an dem Ende eines langen Gesprächs über das Wesen des Organismus und seine Fähigkeit sprachen, nicht nur Ordnung aus Unordnung zu erzeugen; sondern ebenso einen Strom von Ordnung aus der Umwelt an sich zu ziehen, – kamen sie auch [die erhitzten Köpfe an dem Lufthauch des späten Nachmittags kühlend] an dieses Kreuz, und Jeschower fragte: »Wer liegt hier begraben? Eine slawische Fremdarbeiterin – oder? Aber nein«, verbesserte er sich sofort, »der Name Hendrikje deutet wohl eher auf eine Holländerin?«

»Sie war weder eine Russin noch eine Holländerin, wohl aber eine Wendin.« Cuille zögerte, blickte Jeschower an und sagte kurz: »Meine Leibeigene. Verstehen Sie? Daher das slawische Kreuz. Bei dem Einzug der Russen –«, er breitete seine Arme mit einer sanften Bewegung aus, die Levi-Jeschower durch und durch ging [es war, als ob eine Mutter ihr Kind an sich zu locken suchte,] . . . dann ließ er die Arme heruntersinken und fuhr in sarkastischem Tonfall fort: »Ich hätte sie eigentlich Hagar oder Zelpha wie die Dienerin Lias oder Bala wie Rahels Magd nennen sollen. Aber, sehen Sie, diese Namen gefielen mir nicht so recht.«

»Es mußte also, wenn ich Sie richtig verstehe«, fragte Levi-Jeschower, von Doktor Cuilles Kälte unangenehm berührt, »der Name einer Nebenfrau sein?«

»Einer Zweitfrau. So ist es«, erwiderte Cuille. »Nur mit dem Unterschied, daß die erste keineswegs existiert.«

Der Andere heftete seinen Blick auf die lateinische Inschrift; vielmehr auf das Bruchstück der Psalmenstelle: »et sicut oculi . . .«, stutzte plötzlich und ergänzte langsam mit singender Stimme: ». . . ancillae manibus dominae suae.« Dann sagte er nachdenklich: »Ob nicht im Grunde Ihre Sklavin bei allem, was sie getan hat, auf die Hände der Herrin sah?« 210

»Welcher – Herrin?« fragte der Doktor schroff.

»Sie sind nicht katholisch?«

»Durchaus nicht.«

»Natürlich. Sonst wüßten Sie, wen ich meine.«

Sein Gesprächspartner blickte ihn fragend an.

»Ancilla Domini nennen wir jene, welche die Magdschaft des Alten Bundes durch sich geadelt hat. Ancilla domini – und zugleich das Neue Jerusalem. Die Freie, welche zur Freiheit der Kinder Gottes gebiert.«

»Ein Symbol?« fragte Cuille.

»Oh nein. Kein Symbol. Pure Realität.«

»Ich verstehe langsam«, gab ihm der Andre mit grüblerischem Ausdruck zurück. »Causa entis. Narutar naturans, würde wohl Ihre Scholastik zu diesem Sachverhalt sagen.«

»Unsre Scholastik wohl weniger als unsre Mariologie. Das heißt«, verbesserte sich Jeschower, »wenn es seit Scheeben so etwas gäbe, wie eine Mariologie. Aber ich fürchte, daß in Europa der Boden ausgelaugt ist.«

»Wofür?« fragte Cuille.

»Für die mystische Rose. Die Sophia der Russen: der alten Starosten und des Wladimir Solowjew.«

»Es ist lächerlich«, sagte der Landarzt heftig, »von diesem Volk die Erneuerung der abendländischen Erde zu hoffen. Zwar kann man die Fenster der Sainte Chapelle wieder einsetzen, bester Herr Levi-Jeschower, und bewundernd verehren, wie man den Brustkorb eines frühen Apoll verehrt; doch eine Ikone der Hagia Sophia ist kein Museumsstück.«

»Sie sprechen aus, was ich sagen wollte. Warum aber sollte die Hagia Sophia nicht wieder ein Andachtsbild werden?«

»Sehr aussichtsvoll!« sagte der Andere spöttisch. »Übrigens – warum nicht? Das eine ist Mystik ebenso sehr, wie es das andere ist. Ein Glaube. Das irdische Paradies. Das 211 goldene Zeitalter, das sich bald Himmel, und bald Kolchose nennt. Hören Sie diesen Liedanfang, der mir neulich zu Ohren kam. Können Sie Russisch? Nein? Schade. Dann will ich versuchen zu übersetzen. Das Verschen heißt etwa so: ›Vom Ural bis an die Beresina, Von der Taiga bis zum Wolgafluß Schreitet stolz der Mensch auf dieser Erde, Ist das Leben Frohsinn und Genuß.‹ Sie sehen, was man gemeinhin als die russische Schwermut bezeichnet, scheint hier ganz überwunden zu sein. Das Ziel ist Genuß und Frohsinn, mein Lieber. Was sagen Sie dazu?«

»Ein sehr menschliches, ein sehr hohes Ziel«, gab Jeschower achselzuckend zurück. »Und wenn Sie bereit sind, statt Frohsinn Freude und statt Glück etwa – ›ewiges Heil‹ zu setzen, sagt die uralte, östliche Inschrift auf den Tempelmauern der Hagia Sophia in Konstantinopel das gleiche. ›Freue dich, Heilige Jungfrau, mit jubelndem Herzen, weil Freude, Ewige Freude dir gab der Schöpfer von Himmel und Erde!‹«

Zwischen Jeschower und dieser Inschrift, die er wie eine Erinnerung ablas, welche sich Wort für Wort selber erbaute, flammte plötzlich in einer verzehrenden Flamme, die von oben bis unten über die Inschrift und über die Mauer zuckte, von der sie abgepflückt wurde, das Gesicht der Demetria auf. Diese Blendung war furchtbar. Als ob ein Schwert sich glühend in seine Eingeweide, eine weiße Waffe aus schmelzendem Eisen sich in sein Inneres senke, fühlte er sich von Glanz durchbohrt, von Erkenntnis verwundet, von Einsicht getroffen und zurückgelassen, als die Vision sich aufzulösen begann, in schmerzlichem Ungenügen, in Sehnsucht und Raserei.

[»Freude«, hörte er jemanden sagen – er ahnte nicht, daß es Mamertus war, der vor dem zerstörten, polnischen Corpus auf den Knieen lag, und das Palimpsest dieser 212 verdeckten Reise unablässig ans Tageslicht brachte –, »Freude mag wohl ein anderer Name für die Ewige Weisheit sein. Gib mir die Weisheit, Herr«, flehte Mamertus, »Deines Thrones Beisitzerin.«]

Plötzlich wie das Gesicht gekommen, war es auch wieder verschwunden. Das Andreaskreuz mit dem ovalen Schildchen, das den Namen Hendrikjes und etwas darunter die rätselhaft verstümmelten Worte: »ET SICUT OCULI . . . « trug, lag in den breiten, mächtigen Strahlen der Nachmittagssonne da. Der Landarzt bückte sich zu dem Hügel und brach eine Goldlackblüte ab, die er vorsichtig in das Knopfloch steckte. »Külles Kebsweib«, sagte er sanft . . .

Übrigens war Herr Levi-Jeschower durchaus nicht der Einzige, den dieser Tag mit einer Erkenntnis beschenkte. Der vorangegangenen Diskussion in dem Inneren von Doktor Cuilles Haus, wo die erschöpfte Reisegesellschaft um Übernachtung gebeten hatte, hatten auch Albrecht Beifuß und Ewald Hauteville beigewohnt. Es war die eigentümliche Zeit der Schwebe zwischen zwei Weltepochen, wo man – wie einst jene anderen Pilger im Aufbruch aus Ägypten – bei rohem Lattich und trockenem Brot, den Stock in der Hand und den Hut auf dem Kopf, miteinander ins Reden kam; in Gespräche auf Leben und Tod gleichsam, deren Voraussetzung darin bestand, daß die Möglichkeit jeglicher Folgerung für das eigene oder ein fremdes Dasein in ihnen enthalten war. Man fürchtete nichts, denn man hatte die Furcht schon hinter sich gelassen; man erwartete alles: Milch und Honig des neuen Kanaan, doch auch den Anblick der Wüstenschlange, den Schlag auf den Felsen, und daß die Sonne auf der Höhe dieser pneumatischen Schlachten ihren Donnergang anhalten würde. In dem niemals wiederkehrenden Zustand eines ›Haben als hätte man nicht‹ war Jeder Bettler und König zugleich; die Kommunikation aller Seelen 213 begründete ebensowohl den Besitzstand der materiellen Dinge, wie die Haltung, in der sie genossen wurden, und die eigentümliche Freiheit von Scham und alten Konventionen [sie wurde sehr bald von neuer Verschämtheit und neuer Besitzgier abgelöst] brachte ein Quasi-Gesellschaftspiel mit fließenden Ceremonien hervor, die dem Einzelnen nicht bewußt zu sein brauchten, doch von allen befolgt und eingehalten, ja, weitergebildet wurden.

So sprach man, monomanisch besessen, ununterbrochen von Gaumengenüssen und konnte sich nicht genug darin tun, die Feinheiten eines gebratenen Vogels oder einer Languste zu schildern – saß man jedoch im Freundeskreis nachher vor einer gemeinsamen Sträflingsmahlzeit von trockenen Kartoffeln, so war man imstande, den mehligen Schoß einer derselben so wie ein Gourmand die Artischocke zu öffnen, und unterhielt sich über den Zauber einer Prosaseite von Proust beispielsweise oder den Einfluß der Quanten- und Relativitätstheorie auf den kommenden Weltaspekt. Man hätte wohl schon auf die Kerker der Großen Französischen Revolution und ihre Bewohner zurückgehen müssen, um eine solche Verbindung von Zynismus und Todesmut, Form und Zerstörung wie bei diesen Menschen hier wiederzufinden; doch war auch die Hoffnung größer denn je und die Bereitschaft, mit jeder Erkenntnis von vorne anzufangen. Alte Frauen waren geschlechtskrank geworden, und vergewaltigte Nonnen wußten, daß sie gebären würden, und wiederum wußte von ihnen Allen die neue Menschenrasse und wußte gleichzeitig, daß dieses Wissen durch nichts ersetzt werden konnte. Nicht in Bamberg oder in Vilsbiburg, in Ingolstadt oder Passau wurde solche Erfahrung gewonnen, und wie der Wegerich, der von den Sohlen der weißen Einwanderer in die Steppe und den Urwald mitgeschleppt worden war, war sie nur auf Fluchtwegen anzutreffen, in der 214 Ödnis, zwischen dem Schutt der Ruinen und unter den Brückenbögen, die mit Flaksplittern wie eine Hasenlende mit Speckstückchen vollgespickt waren. ›Wahrscheinlich‹, dachten Levi-Jeschower und Albrecht Beifuß [sie waren nämlich die einzigen aus jener Reisegesellschaft, die reflektierend zu denken vermochten] ›würde man später ohne zu zögern mit den Gotenzügen den heutigen Erdrutsch aus menschlichen Leibern vergleichen, diese Schuttmoräne, welche sich langsam und unaufhaltsam von Osten nach Westen und von Norden nach Süden bewegte.‹ Doch, sie wußten: der Vergleich wäre falsch; ein albernes Wortspiel und eine vage, nichtswürdige Spielerei. Vielleicht war die Eroberung Trojas für die Besiegten nicht weniger gräßlich, und waren die Bilder nackten Entsetzens nicht weniger grausam und blutig gewesen, als die Eroberung Stalingrads für die sechste deutsche Armee – doch weder konnte man Troja mit diesem noch Stalingrad mit jenem vergleichen; es sei denn, man nähme sie beide als Spiegelung einer ersten und weiterzeugenden Katastrophe, die man, je nach Veranlagung, Laune und Bildung, Gigantomachie oder Engelsturz oder schlichtweg Erbsünde nennt.

Dann allerdings näherten sich sehr rasch und über Jahrmillionen hinweg die Geschwister, welche der Mutterschoß dieser ewigen, stets wiederholten und unersättlichen Katastrophe hinausgeboren hatte. Sie erkannten einander, sie sprachen die gleiche, unwiderlegliche Sprache – und wie Taubstumme, die sich mit zuckenden Zeichen verständigen, welche für Andere sinnlos oder rätselhaft bleiben müssen, genügten ihnen nur wenige Worte; die Art, ihr Brot miteinander zu teilen, oder wie sie sich gegenseitig den Rucksack anheben halfen, um vertraut miteinander zu sein . . .

O diese Vertraulichkeit, die oft gemein und nackt wie ein fliegenumschwirrtes Stück Fleisch war, das die Männer aus 215 einem gefallenen Gaul mit dem Frühstücksmesser herausgesäbelt, und die Frauen über dem Reisigfeuer wie Zigeunerinnen gebraten hatten – und oft so verborgen wie in dem Nußkern das winzige, weiße Gebilde, das die Kinder ›Nägelchen‹ nennen!

Bei jenem Feuer des gestrigen Tages, welches Irene geschickt unterhielt, als wäre ihr diese Fähigkeit, im Freien die Kochstelle zu bedienen, bereits von frühester Jugend an durch die Mutter beigebracht worden, war auch zum ersten Mal wieder der Name Butt gefallen; jener Name, der Ewald Hauteville mit dem Aufschlag der Pfeife zurückgekommen, und aus der elbischen Gartentiefe an das Ohr des Gequälten gedrungen war: Butt und danach: Ui-Ui.

»Ui-Ui«, hatte Florentine bewundernd ausgerufen, als es Irene gelungen war, aus einer Handvoll qualmenden Reisigs zwischen zwei Feldsteinen Feuer und Flammen hervorgehen zu lassen, und, sich erinnernd, hinzugefügt: »wissen Sie, Fräulein von Dörfer, ich hatte vor Jahren eine Bekannte, die ihr Großvater ›Butt‹ nannte; ›Butt‹ . . . oder, abwechselnd, auch ›Ui-Ui‹. Ein Käuzchen mit einem gebogenen Schnabel und zornigen, schwarzen Augen; eine Nachteule; auf dem Umschlag der Ohren saßen ihr zierliche Büschel von Haaren wie kleine Teufelshörner. O nein – eine Schönheit war sie wohl nicht, meine arme Butt, und hatte dazu noch ein uneheliches Kind. Ich muß Ihnen doch gelegentlich allen von dieser Butt erzählen«, endete sie [genau wie damals: »ich muß Ihnen allen gelegentlich von Sichelchen erzählen«] – und unwillkürlich lachte Irene im Gedanken an dieses Versprechen auf.

»Doch, doch«, sagte Flora, ein wenig verärgert durch dieses kleine Gelächter, und hatte nach ihrer stürmischen Weise sofort zu erzählen begonnen, obwohl sie mit Irene allein war und behauptet hatte, sie müsse allen von dieser Butt erzählen. Weil aber Flora imstande war, die gleiche 216 Geschichte vor ihren sechs Hörern mindestens sechsmal verschieden zu erzählen; vor sieben Hörern siebenmal anders – und siebenmal siebzigmal wiederum neu, wenn sie vierhundertneunzig Hörern gegenübergesessen hätte, war sie erst bei dem Beginn der Fabel, als Ewald Hauteville mit Herrn Levi-Jeschower und Friedrich Am Ende hinzukam, und durch sein Auftauchen weniger, als durch sein plötzlich erbleichtes Gesicht, das grauenhaft angespannt und verändert, ja fast unkenntlich geworden war, Florentine veranlaßte, abzubrechen und die kräftigen weißen Zähne auf die Unterlippe zu setzen; es sah aus, als ob ein Schulkind den Faden seines Fleißknäuels abgebissen, und das Ganze erschrocken und unzufrieden in den Ranzen geworfen hätte, obwohl doch seine Absicht zu loben, und der Anfang nicht übel gewesen war . . .

Schließlich aber begann sie von neuem, und weil sie die Überraschung des Knäuels, auf den es gewickelt war, bereits kannte, begann sie nun von der Mitte an, von dem Herzchen aus Bergkristall an, zu erzählen, das heißt: von dem Ende her. »Natürlich weiß ich das Letzte nicht, wie es heute noch niemand wissen kann, bevor die Listen ausgelegt werden, auf denen die Namen angekreuzt sind, die wir verloren haben . . .«, sagte sie zu Irene, und Irene erwiderte, neue Hölzchen und brechendes braunes Eichenlaub zu dem kleinen Feuerchen fügend: »Die Kartothek der Toten. Ich weiß. Sie wird bald ausgelegt werden. Diese Leute waren dort sehr genau und haben sorgfältig Buch geführt. Ich kann ein Lied davon singen.« Florentine starrte sie sprachlos an, und Irene sagte mit heiserer Stimme, den Kopf gegen Ewald Hauteville gewendet: »Politischer Winkel. Verstehen Sie?« Zu Florentine: »Hätte die Butt nicht den Südfruchthändler, von dem Sie vorhin erzählten, als Vater ihrer Tochter angeben können?«

»Er war es doch, dieser Diego Bernandez«, sagte Florentine 217 bekümmert. »Das machte die Sache im Grunde nur noch schlimmer. Begreifen Sie es nicht? Wahrscheinlich hat man in früheren Zeiten einen Vorfahren von Bernandez gewaltsam unter Osterwasser getaucht; einen Mohren mit Kraushaar und platter Nase, den man abwechselnd ›Sohn einer maurischen Hündin‹ oder ›Leuchte von Cordoba‹ nannte. Dieser Vorfahre war in Diego Bernandez so reinblütig wieder auferstanden, daß man Diego schon nicht mehr als einen Mischling, sondern nur als Neger bezeichnen konnte; bestenfalls als Spaniole, denn auch semitisches Blut mußte stark und unverkennbar bei diesem Mannskerl hindurchgeschlagen sein. Ich sehe ihn heute noch deutlich vor mir, wie er auf seinen Südfruchtkisten mit den spanischen Stempeln hockte und mit drei Blutorangen jonglierte, während die Kleine vor Übermut krähte und ihn mit den schönen, energischen Händchen an seinen Pantoffeln zog.«

»Vera –?« fragte Ewald Hauteville mit angespanntem Gesicht.

»Ich weiß nicht mehr, ob sie Vera hieß. Gut. Einerlei. Sagen wir Vera.« Florentine, auf keinen Fall länger gewillt, sich unterbrechen zu lassen, winkte ungeduldig dem Störenfried ab und griff Anfang und Ende ihrer Geschichte noch einmal an ihrem Mittelpunkt auf, indem sie zu ihren Zuhörern sagte: »Ich weiß nur, daß Alle sie Herzchen nannten, selbst als sie erwachsen war. Sie war so fein und so hell, diese Kleine, wie ihr Vater schwarz und dickbäuchig war; nur an ihren bläulichen Fingernägeln und ihrem aufgeworfenen Mund war der Neger noch nachzuweisen. Diese Nägel hat sie später lackiert; zuerst so dünn, daß die blaue Farbe immer von neuem durchkam, und endlich dunkelrot. Die Nägel waren ihr einziger Kummer und der merkwürdig aufgeworfene Mund, dessen Lippen sie immer wieder zwischen die Zähne zog. Das gab ihr einen drolligen 218 Ausdruck und anderen Menschen das vage Gefühl, als ob sie sich über sie lustig machte; aber das war nicht der Fall. Wie soll ich Ihnen das Herzchen beschreiben, dieses Dingelchen wie aus Bergkristall, das dem Neger so unähnlich war? Man mußte ihr gut sein; nie im Leben habe ich etwas so Süßes gesehen wie ihren zerbrechlichen, kleinen Körper in dem Gazeröckchen der Balletteuse, die Tag für Tag an der Stangenwand übte und den schwierigen Spitzentanz so beherrschte, daß man glaubte, sie drehe die Pirouetten auf einem Champagnerkorken. Ihr Busen: zwei unreife Apfelsinen, die ihr der Vater gedankenlos unter das Blüschen gesteckt haben mochte; ihre Kinderstirn: eigensinnig gewölbt und über den Brauen ein wenig gebuckelt, so daß sich das Licht darauf fing. Es ist gut möglich, daß dieser Liebreiz ein sehr vergänglicher war; etwas wie irisierender Staub auf einem Schmetterlingsflügel. Nicht vorstellbar, daß etwas anderes in dem Mädchen entwickelt wurde als reine Geschicklichkeit; als bajaderenhafte Bereitschaft und ein Gehorsam der Glieder, der unvorstellbar war. Denn die Mutter, obwohl von guter Herkunft, konnte an menschlicher Torheit nicht übertroffen werden; sie war so außerordentlich dumm, daß Jeder sie haben konnte, jede Liebesbeziehung Folgen hatte, doch kein Einziger war, der sie tragen wollte; geschweige zu einer Heirat bereit war, die dem Stolpern und Fallen dieses Geschöpfes ein Ende gesetzt haben würde. So hatte das Herzchen aus jeder Beziehung seiner Mutter neue Geschwister; weil aber selbst die Natur nicht bereit ist, ihre Schöpferkraft unablässig an nicht Geglücktes und halb Geformtes zu wenden, ging fast jedesmal diese kleine Brut nach der Nottaufe wieder fort.«

Florentine, mit einem dürren Ast das Feuer zwischen den Feldsteinen schürend, sagte achselzuckend: »An dieser Butt ist mir zum ersten Mal klar geworden, daß die Sünde 219 mitunter zu einem Zustand wie Kopfläuse bei dem Zigeuner wird; er hebt schon nicht mehr die Hand sich zu kratzen, weil er das Jucken nicht spürt. Übrigens war die Empfindlichkeit dieser armen Seele wahrscheinlich schon immer sehr stark herabgemindert; und wohl möglich, daß sie die Sünde ertrug, wie der Arme Hunger und Kälte erträgt, weil er glaubt, es müsse so sein. Sie sagte mir damals bei einem Besuch, daß sie ›immer wieder falliere‹; dieses rätselhafte fatalistische Wort kam so unbefangen von ihren Lippen, als ob sie damit ausdrücken wollte, daß es ihr immer wieder bestimmt sei, einen nässenden Ausschlag zu haben oder Ungeziefer an sich zu ziehen, wie andere Leute Geld oder Schnupfen bloß durch die Luft an sich ziehen.«

»Glauben Sie nicht«, fragte Ewald Hauteville und warf einen Brocken Fleisch in die Pfanne, an dem noch ein Stückchen Fell hing, das heftig rauchte und stank, »daß es Konstitutionen gibt, die für das Unglück besonders anfällig sind?«

»Sicher«, erwiderte Levi-Jeschower anstelle seiner Frau. »Es gibt sogar ganze Völker, mein Lieber, die für die Sünde und für das Unglück prädestiniert erscheinen. Die Sünde des Einen – das Unglück des Andern. Wer kann diesen metaphysischen Knäuel von Unglück und Schuld entwirren, ohne Gott in die Karten gesehen zu haben, oder pharisäisch zu sein?«

»Sie sollten nicht so reden, Jeschower!« rief Irene von Dörfer aus. »Oder haben Sie Grund, in sich eine Schuld und in dem Volk, das Ihr Unglück wurde, den Partner geheimer Sünden zu sehen, die Sie beide ins Unglück gestoßen haben; in ein Unglück das Sie von nun ab teilen wie einen gemeinsamen Kanten Brot, der in die Asche fiel?«

Jeschower blickte sie nachdenklich an. »In die Asche. Sie 220 haben recht, Irene. In Sack und Asche sollten die Völker gemeinsam Buße tun.«

»Wofür?« fragte Fräulein von Dörfer zurück.

»Für den Hochmut. In nichts gleicht das jüdische Volk dem deutschen so sehr als in dieser Sünde, welche die Urmutter aller Sünden, und gleichzeitig ihre Krönung ist; die Krönung der apokalyptischen Hure, die den Völkern den Taumelkelch reicht.«

Friedrich Am Ende, der unbeweglich an einem Birkenstamm lehnte, hob unversehens den Kopf; es sah aus, als ob ein magerer Falke plötzlich zu rütteln begönne, um auf die Beute zu stoßen. »Also wäre Hochmut die Wurzel der Sünde?« fragte er.

»Hochmut und Absonderung«, gab Levi-Jeschower zurück. »Zwei Feuersteine, welche so lange gegeneinanderschlagen, bis schließlich die Funken fliegen.«

Florentine stampfte leicht mit dem Fuß. »Nicht jede Sünde ist Hochmut, Arthur«, rief sie ungeduldig dem Gatten zu. »Barbara Rux zum Beispiel –«

»Barbara Rux?« wiederholte Hauteville in sonderbarem Tonfall; es klang, als beweise ein Träumender sich noch, bei vollem Bewußtsein zu sein.

»Ihre Sündhaftigkeit war ganz einfach ein Zustand. Ein Klima, wenn man so sagen darf, in dem sie zu leben gezwungen war, obgleich es ihr nicht bekam. Ihr armes verworfenes Leben, Arthur, war das Sinnbild einer von Fieber und Ratten und Stechmücken heimgesuchten Landschaft, in welcher der Tod gedeiht und sich mästet, während die Menschen widerstandslos und geduldig zugrunde gehen. Anfällig – sagten Sie, Herr Hauteville. Sie war anfällig für das Klima der Sünde, und dieses Klima war schließlich das Klima ihres Landes und ihrer Zeit. Wie viele darunter gelitten hatten, stellte sich später heraus. Sehr wenige waren immun dagegen, der Eine hatte nur 221 manchmal mehr Glück als der Andere, weil ihm zu diesem und jenem bloß die Gelegenheit fehlte. Ihren Nährboden braucht auch die Sünde, wenn sie Format haben soll.«

»Diese Nährböden, diese Kellerkulturen für die bläulichen Champignons der Verwesung genügten Ihnen wohl nicht?« rief Irene, leidenschaftlich bewegt und zitternd vor Empörung, mit heller Stimme aus.

»Und doch ist die Saat des Bösen nicht überall aufgegangen«, sagte Jeschower bestimmt. »Vergessen Sie das nicht.«

»Ich vergesse nicht«, murmelte Fräulein von Dörfer, warf das verzerrte Gesicht in die Hände, und die Hände hierauf im Niederhocken wie ein Hökerweib auf den Schoß. »O nein, ich vergesse nie . . .«

Es war still in der Runde, so namenlos still, wie es nur sein kann, wenn Wasser und Feuer oder das tiefe Brausen des Windes ihre elementarische Stimme erheben, und auf anderer Ebene die Gespräche der Menschen weiterführen. So hatte das Feuer unter dem Tiegel schon seit jeher geknistert; schon, seit Prometheus es aus dem Himmel gerissen und seine Geschöpfe angereizt hatte, in dialektischer Rede sich selbst und den Himmel mit sich zu entzweien. Es hatte geknistert, als Hektors Leichnam an dem Ende des schrecklichsten aller Kriege von ihm verzehrt worden war, und so und nicht anders mochten die Dornen unter den Töpfen des Predigers einstmals geknistert haben, als er dieses Geräusch mit dem Lachen des Toren, dem sinnlosen, irren, verglich. Ob das Fett von der Flanke des toten Helden oder der Pferdelende herablief, die hier in der Pfanne verbrutzelte, war vollkommen einerlei. Denn das Knistern der Dornen, das Flackern der Flamme und das Sausen des unruhigen Sommerwindes in den zitternden Kieferkronen wurde nicht durch die Materie verändert, welche ihm beigefügt war; und wiederum war es, wie 222 Koheleth, der weise Prediger, sagte, immer noch besser ein lebender Hund als ein toter Löwe zu sein. Alles kam wieder . . . selbst Griechenland stieg aus dem trockenen, kargen Boden in der glühenden Mittagshitze herauf, und wo zwischen unruhig flatternden Birken die stahlblauen Seen blitzten, hob sich die schaumgeborene Venus aus dem Wasser und setzte die feuchten Zehen auf das wilde Stiefmütterchen und auf das Kissen des aromatisch duftenden Quendels, dessen Öl sie umschmeichelte. Auch das Dorf auf der anderen Seite des Wassers war zu dieser Stunde wie alle Dörfer, die jemals unter der Sonne lagen, und seine Bewohner waren dieselben, welche Paulus vor annähernd zweitausend Jahren, als er die Kreter vor Augen hatte, ›böse Bestien, Lügner und faule Bäuche‹ in dem Schreiben an Titus nannte; und auch wie Kreta, so sollte noch heute dieses märkische Dorf als das Stierhaupt des Minos zwischen Europa und Asien liegen, wenn Levi-Jeschower die Hagia Sophia vor der geheimnisvollen Beschriftung des Andreaskreuzes beschwören würde; es sollte sich das Gesicht dieses Landes, das die Zisterzienser mit Salböl und Chrysam und Wein begossen hatten, gegen den Osten kehren, und den Bruderkuß mit ihm tauschen. Alles kam wieder. Die schöne Europa zitterte jenem Untier entgegen, das sich ihr in der Geburtenhöhle verwandelt enthüllen würde; sein leises Brüllen erfüllte die Wälder, und seine Füße peitschten den Ginster, so daß die violettgrauen Hülsen mit einem feinen durchdringenden Knall ihre Samenkörper entließen. Aber noch immer schäumte der Ginster, wo die Sonne ihn später getroffen hatte, in einer glühenden, gelben Woge von Schmetterlingsblüten auf, während andere Büsche schon platte Schoten in haariger Hülle trugen . . .

Bis an die Hüften stand Lotte Corneli, die sich mit Beifuß abgesondert hatte, und immer tiefer in ein Gehölz aus 223 Birken, wildem Holunder und Wacholder geraten war, in einer Ginsterflamme; sie fühlte – auch Beifuß fühlte es – sich selbst zurückverwandelt in den mythischen Kern ihres Wesens, umzüngelt von dem goldenen Feuer, das einer riesigen männlichen Gottheit unterhalb seines Beckens entsprang, und fortgetragen von stierhaften Kräften, die sich ihr nähern konnten, weil ihre Natur sie erwartet hatte; ja, schließlich herbeigezogen. Das leise Brüllen kam näher und näher; es war Drohung und pure Verlockung zugleich: versucherisch süße, schreckliche Drohung und Überwältigung.

»Hören Sie –?« fragte Lotte Corneli; in der Tat kam über das Wasser ein Seufzen, als ob in dem Schilf die gekoppelte Syrinx, die ein Silen an die Lippen hielt, ihren ersten ungeduldigen Ton wie zur Probe entlassen hätte. Gleich danach hörte man menschliche Stimmen – auch sie wie aus weiter Ferne. Oder war es nur ihre unsagbare Fremde, die sie so weit entfernt scheinen ließ; ein Tonfall, der über der Stimmbruchgrenze fast kastratenhaft rein verschwebte, und gleichzeitig auch ein brünstiges Wiehern und das prahlerische Gekräh und Gekoller zorniger Truthähne war?

»Kommen Sie, Lotte. Kehren wir um!« sagte Alfred Beifuß beschwörend. »Die Anderen warten auf uns.«

»Wer – wartet auf uns?« fragte Lotte Corneli mit verwunschener Stimme und griff in den Ginster, den sie leicht auseinanderbog; sie war nun schon bis zu dem Gürtel verwandelt, die dunkle Lethe stieg höher und höher, keine Warnung erreichte sie mehr.

»Reginald –!« sagte Beifuß verzweifelt; es war, als ob er mit diesem Namen den Bann zu brechen suchte, der sie gefesselt hielt. »Wir wollten ihm doch einen kleinen Bogen aus Weidenruten schneiden und eine Handvoll gefiederter Pfeile für seinen Köcher machen; erinnern Sie sich nicht?« 224

Sie seufzte, bewegte den Kopf hin und her und sagte dann: »Reginald. Habe ich Ihnen erzählt, daß die Schwester meines Mannes ihn hütet, solange ich weg bin? Natürlich. Sonst wäre es wohl nicht zu fassen, daß ich nicht unruhiger bin.«

Albrecht Beifuß legte ihr brüderlich die Arme um die Schultern und zog sie zu sich heran. Fast übermenschliches Mitleid mit ihr durchbebte ihn augenblicklich und verzehrte sogar die wilde Begierde, den unbewußt schweifenden Teil ihres Wesens, ihre Verfallenheit an sich zu binden, und die Stürzende aufzufangen. Aber kaum berührte er ihre Hände, ihr schlangenhaftes lockeres Haar und ihre medusischen Arme, als er schon wußte: vergeblich. Sie war nicht aufzuhalten, sie wehte wie Löwenzahnflocken an ihm vorüber, sie war wie Lerchensporn, welcher schon abends, kaum, daß er morgens geblüht hatte, samte, und die Früchte zur Erde warf. Wer immer sie auch besaß und umarmte, war nur stellvertretend für einen Befruchter, der Wind oder Wasser hieß; für einen Dämon, für eine Gottheit, die schon längst auf sie wartete. »Lotte . . .«, sagte er so wie damals, als die glühenden Schatten der Häuserruinen sie beide verborgen hatten. Wie zwei Verdammte, dazu verurteilt, mit Küssen und Zärtlichkeiten einander ihre furchtbare Lage bewußt zu machen, umschlangen sich beide und ließen später erschöpft und verfinstert von ihrem Gefährten ab.

»Gehen wir!« sagte Lotte Corneli. Es klang, als hätte sie sagen wollen: ». . . ganz einerlei, wohin –.«

»Was vergessen Sie nie, liebes Fräulein von Dörfer?« fragte nach langer Zeit Florentine und legte der Hockenden ihre Hand mit leisem Druck auf die Schulter.

Die Angeredete zuckte zusammen und richtete sich auf. »Den Hades. Das Gebrüll und die Tiere. Die Rauchwolke. Die vergifteten Farben. Die Peitschen. Den Galgenthron.« 225

»Sind Sie Vera Rux dort unten begegnet?« fragte Flora eilig und sanft und fuhr in ihrer Erzählung fort, ohne auf Antwort zu warten: »Ich meine Vera Bernandez. Der Maure, im Stolz auf sein hübsches Kind, hatte ihr seinen Namen gegeben. Natürlich zu ihrem Unglück, wie sich später herausstellen sollte. Sie galt als Zigeunerin, ihre Mutter hatte man vorher schon in ein Lager für Asoziale gesteckt. Als ich zum letzten Mal Butt besuchte, schwebte das Damoklesschwert über beiden, ohne daß sie es ahnten. Natürlich war das längst vor dem Krieg, und das Herzchen noch bei dem Ballett. Barbara Rux war alles in allem: Souffleuse, Schneiderin und Modistin und wohnte in einem Dachbodenraum, den sie stolz ihr Atelier nannte. Nebenan schlief das Herzchen in einer Kammer, das heißt in einem Lattenverschlag, an welchem die Kerle vorüber mußten, die zu der Mutter kamen. Wahrscheinlich ist noch niemals ein Kind so wenig behütet worden und so harmlos dabei geblieben; mir wenigstens schien es so. Dieses Atelier: drei, vier Wackeltischchen auf dünn vergoldeten Rokokobeinchen, die überall abblätterten; eiserne Stühle und eine Couch, die über und über mit Handarbeitskissen und Sofapuppen beladen war; in der Ecke das kleine Kanonenöfchen, auf dem in der blauen Emaillekanne der Kaffee brodelte, und auf hohen Ständern überall Hüte, die mit Herzkirschen, Heckenrosen und Veilchen, mit Vergißmeinnicht, Heliotrop und Jasmin, oder mit Kolibris, Reiherfedern und Hahnenbestecken aufgeputzt waren, wie für einen Maskenball. Inmitten dieses entsetzlichen Plunders hockte das Herzchen mit nichts bekleidet als einem Büstenhalter und einem winzigen Spitzenhöschen, auf einem Kissenpuff an der Erde und besserte ihr Ballettröckchen aus, ohne den Kopf zu heben. Ich war, wie ich sehr bald feststellen konnte, in eine Familienbesprechung geraten. In der Ecke, die merkwürdig schlaffen 226 Hände über dem Bauch gefaltet, saß wie ein formloser, graubrauner Schatten der ältliche Südfruchthändler und ließ zum Zeichen der Ratlosigkeit die Unterlippe hängen; er war damals bereits schwer leberleidend und steckte in seiner vertrockneten Haut, die ihm überall viel zu weit war, wie ein holziger Dattelkern. Gerade mußte die Butt einen Vorschlag von Bernandez abgelehnt haben – sie kollerte sichtlich aufgebracht noch immer laut vor sich hin und begrüßte mich wie eine Bundesgenossin, deren Mithilfe außer Zweifel steht, während Bernandez noch tiefer in seinen Schatten zurücksank und die Augäpfel melancholisch verdrehte, als ob er am Absterben sei. Man erklärte mir, daß Herr Diego Bernandez, der im Begriff war den Südfruchtladen, in welchem jetzt schon Mohrrüben, Zwiebel und Sellerie überwogen, zu verkaufen, Deutschland den Rücken zu drehen und nach Spanien zurückzukehren, sein Töchterchen mitnehmen wolle. Dagegen protestierte die Butt ohne ersichtlichen Grund. Sie vermengte ihre Argumente nicht anders, als ob sie Blumen und Früchte zu Hutgarnituren zusammen raffte, die sie sich überstülpte, wobei sie mich jedesmal fragte: ›Habe ich recht oder nicht?‹

Die kleine Hauptperson an der Erde nähte weiter und lächelte mir verstohlen auf eigentümlich erwachsene Weise, fast unbeteiligt, zu. Wie soll ich euch dieses Lächeln schildern, dieses entrückte, wissende Lächeln, wie man es manchmal auf den Gesichtern von toten Mädchen findet, die nur wenig gelitten haben? Weil es von unten heraufkam, wirkte es fast verzogen; ein wenig schief und spöttisch zugleich, als wäre es stehengeblieben. Ich lächelte unwillkürlich zurück und unterdrückte dabei ein tiefes, mir unerklärliches Grauen; denn obwohl ich Bernandez zustimmen mußte, hatte ich damals schon das Gefühl, als ob das Schicksal über uns alle bereits entschieden habe, 227 und diese kleine Atridentochter, bevor der trojanische Krieg noch begann, schon als Opfer auserwählt sei.«

»Atridentochter?« fragte Hauteville.

»Ja, denken Sie: diese ganze Familie, aus welcher Mutter und Tochter stammten, diese ursprünglich bürgerliche Familie kam mir vor wie Atreus' Geschlecht. Mag sein, daß der wilde, heidnische Haß, den der Großvater gegen die Enkelin hegte, dieses verächtliche, böse Ui-Ui, mit welchem er jede Erwähnung begann und ebenso endete, die scheinbar sinnlose Vorstellung: ›Atreus‹ oder ›Das Haus der Atriden‹ bei mir hervorrufen mochte. Es mußte ein Element der Empörung in dieser Familie walten; eine wütende Blindheit, welche sie antrieb, ihr eigenes Fleisch und Blut zu hassen, sich zu vernichten und aufzufressen; nicht zuletzt eine dumpfe, fanatische Trägheit, die das einmal begonnene Unheil zwar sah, aber nicht aufhalten wollte. Immer wieder, wenn ich dann späterhin den Sippenbüchern des Müllkutschers Schulze und des Briefträgers Lehmann begegnete, wo auf der ersten Seite der Stammbaum seine Wurzel ausfächerte, eine behäbige, fette Wurzel, die sich mit Jauche, Blut, Fäulnis und Tränen ganz vollgesogen hatte, kam die Familie der Barbara Rux und gleichzeitig das Geschlecht der Atriden mir zwangsläufig in den Sinn. Es war da eine Art Stellvertretung, es deckte sich etwas, Blatt für Blatt, und deckte sich gleichzeitig mit der Familie aller Schulze, Meier, Schmidt, Müller und Krause, die als Gattungsnamen auf ihre Weise das Ganze versinnbildlicht hatten. Ja. Atreus' Geschlecht. So muß es wohl sein. Die die Götter verderben, können allein die Götter wieder entsühnen.«

»Götter –!« sagte Jeschower streng. »Wir sollten dieses Wort nicht gebrauchen. Es erklärt und entschuldigt nichts.«

»In dem Petrusbrief«, hob Florentine an. 228

»Ihr seid Götter – ganz richtig. Nicht die Planeten, nicht ein Augur oder das schmutzige Eingeweide von Ziegen oder Stieren haben über uns Gewalt. Daß die Atreustochter geopfert wurde, veranlaßte wohl die Ausfahrt der Griechen, doch verhinderte dieses Schattenopfer den Tod Agamemnons nicht.«

»Kehren wir also«, erwiderte Flora, »zu den Verwandten des Atreusmädchens, vielmehr zu ihrer Fotografie auf der Kommode der Butt zurück; dem Vetter und der Kusine der Rux, in welche dieses arme Geschöpf solche Hoffnung setzte, wie in der Geschichte ›Saids Schicksale‹ der geprüfte Jüngling in das silberne Pfeifchen der Fee. Es waren ihre ›Verwandten aus Norddeutschland‹, wie sie sagte – ich habe niemals herausbekommen, wo die beiden eigentlich lebten. Auch diesem Foto auf der Kommode war eigentlich nichts zu entnehmen. Es wurde bei einem Besuch der Eltern mit ihren beiden Kindern da unten in Mainz gemacht und stellte die übliche Gartenbank vor einem Waldprospekt dar, auf der ein etwas dicklicher Junge und sein schönes Schwesterchen saßen.«

Florentine blickte Ewald Hauteville mit der gegenstandslosen Adhäsion eines Erzählers an, dessen Aufmerksamkeit durch die Körper hindurchgeht, die ihm ins Blickfeld geraten, während Hauteville sie versteinert ansah, ohne sich zu bewegen.

[Nur einmal, und zwar wie aus tiefem Schlaf – Florentine hatte inzwischen langsam weitergesprochen – hob er die Hand, um Lotte Corneli zum Schweigen zu bewegen; seine Schwester erwiderte diese Gebärde mit einem blitzhaften Nicken der Lider und versank aufs neue in ihren Zustand der Ausweglosigkeit.]

»Ich weiß nicht«, war Flora fortgefahren, »welche Hoffnung Barbara Rux auf den Jungen oder das Mädchen setzte. Sie mußten beide im Alter zwischen Vera und 229 Barbara stehen: jünger natürlich als meine Freundin doch wesentlich älter als Vera sein; es ist ja auch einerlei. Ich sehe heute noch die Bewegung, mit welcher Barbara Rux dieses Bild in seinem metallenen Jugendstilrahmen mit den wild geschwungenen Ornamenten aus Undinen und Seerosenpflanzen von der Kommode nahm: eine Gebärde, wie sie, so stelle ich es mir wenigstens vor, eine alte Chinesin haben mag, wenn sie die tönernen, kleinen Figürchen der Familiengötter ein Stockwerk tiefer vor die Schüsseln mit Reisbrei hinsetzt, damit sie sich von ihrem Lieblingsessen und dem wohlgefällig schwelenden Duft der Räucherstäbchen ernähren. Wahrscheinlich traute sie ihren Göttern nicht nur Güte, sondern auch Allmacht zu; eine Allmacht, die in beträchtlichem Reichtum und jenem Untier der Zeit bestand, das unter dem Namen ›Verbindung‹ gerade geboren wurde; dieser hundertarmige, weiche Seestern, der damals allen besseren Leuten zur Verfügung zu stehen schien, und sie selbst in Kontakt mit anderen Göttern aus der gleichen Familie brachte. Aber auch hier erwies es sich wieder, daß Barbara Rux nicht nur leicht zu haben, sondern auch leicht zu betrügen war; nicht zuletzt von ihrer eigenen Dummheit und Putzmacherinnenphantasie, die ihrem Wuschelkopf vortäuschen mochte, daß man schlankweg Rosen und Gänseblümchen zusammenbinden könne. Sie war fest überzeugt davon, daß ihr Vetter, dieser träge, dickliche Junge von damals, und ihre hübsche kleine Kusine sich sofort, wenn das silberne Pfeifchen ertönte, von der Gartenbank vor dem Waldprospekt mit den Birkenstämmen erheben würde, um ihr zu Hilfe zu kommen; ja, daß das Vorhandensein ihrer großen und mächtigen Verwandten an sich schon genügen würde, sie hinreichend zu beschützen. Nun schön. Ich ahnte von Anfang an, daß dieses lächerliche Vertrauen sich nicht erfüllen würde. Nicht, weil ich besonders viel Menschenkenntnis, 230 sondern weil ich manchmal Einsichten habe, die bloß durch die Sinne gehen.

Ich weiß, daß ihr sagen werdet, man solle nicht auf das Äußere sehen. Aber wißt ihr: jedesmal, wenn ich mich auf das Äußere verlassen habe, habe ich recht behalten. Ein Klosettbürstchen, das einen Schnurrbart vorstellt und Hüften wie eine Buttercremetorte, oder Henkelohren, ein Zwickergesicht mit hin- und herrollenden kleinen Augen wie aus dem bekannten Geduldspiel, wo man die Kügelchen in den Kopf von Kalb oder Katze zu glittern versucht – diese halbgeglückten Visagen aus Schleim und dazwischengesteckten Küchenmessern haben mir immer mehr gesagt, als später der ganze entsetzliche Wust ihrer Taten mir sagen konnte.

So war es auch hier, als ich jenes Foto der beiden ›Verwandten aus Norddeutschland‹ sah, wie Butt sie zu nennen pflegte. Auf diesen trägen und wohlgenährten, gut angezogenen kleinen Jungen und dieses elfenhaft schöne Mädchen mit den mühsam gebändigten wilden Locken war sicherlich kein Verlaß. Denn die Trägheit des Bruders war gleichzeitig Schwermut; jene böse, lähmende Traurigkeit, die jeder Handlung den Zugang verwehrte, die sie entthront haben würde; und die Schönheit des Mädchens war launischer, als Schönheit gewöhnlich zu sein pflegt; sie war die Schönheit von Nixen und Elfen, die keine Seelen haben. Aber hätte ich damals der Barbara Rux ihre Hoffnung ausreden sollen? Sie erfuhr es später noch früh genug, und erst recht hatte Vera es wohl erfahren, daß das Pfeifchen der Fee, das die Mutter ihr rasch, bevor sie fortgeholt wurde, noch in die Tasche steckte, voll Wasser gewesen war.«

»Wieso ist es voll Wasser gewesen?« fragte Fräulein von Dörfer gespannt. »Hat sein Ton die beiden Verwandten nicht mehr herbeigerufen?« 231

»Das eben weiß ich nicht ganz genau«, sagte Flora mit Achselzucken. »Ich bin erst in den Kriegsjahren wieder, kurz bevor wir den gelben Stern tragen mußten und nicht mehr reisen konnten, zu Barbara Rux gekommen. Das Atelier war bereits versiegelt und Vera knapp vor der Theaterschließung nach Osten abgewandert. Wie sie sich überhaupt so lange nach der Trennung von ihrer Mutter in dem Holzverschlag halten konnte, ist mir vollkommen rätselhaft. Denn etwas anderes hatte sie, nachdem die Restbestände der Bude, wo die beiden ihr Leben gefristet hatten, ausgeräumt worden waren, anscheinend nicht bewohnt. Noch stand ihr zusammenklappbares Feldbett, ein Stuhl, eine Waschschüssel auf dem Stuhl und ein Gaskocher hinter den Latten, an welchem fliegenverdreckte Fotos berühmter Filmschauspieler und die beiden sixtinischen Engelsköpfchen mit Wanzen angepickt waren. Wahrscheinlich hatte man Vera vergessen, als man die Mutter holte, oder in anderen Listen geführt, als die Liste, in der ihre Mutter geführt war; auf die Listen kam es ja ganz allein an, und natürlich auch darauf, daß sich ein Mensch in einen Lattenverschlag zu schicken und auf einem Feldbett zu schlafen verstand, das er morgens wieder zusammenklappte und gegen die Latten lehnte.«

»Der Mensch vermag vieles«, warf Arthur Jeschower mit umdüsterter Miene ein, »wenn er zu leben entschlossen ist. Erinnerst du dich nicht? Ich habe von einem Fall gehört«, fuhr er mit festerer Stimme fort, »wo der Flüchtling, es war ein Soldat in Zivil, bei der Ankündigung einer Kettenstreife ganz einfach dem vollen Eisenbahnzug entstieg und, zusammenprallend mit dieser Streife, die Bemerkung, daß er aussteigen möchte, so unbefangen riskierte, daß niemand auf den Gedanken kam, seine Absicht durchkreuzen zu wollen. ›Petri Kettenfeier‹, sagte sein Freund, der mir diese Geschichte erzählte.« 232

Ewald Hauteville lachte mißtönend auf. »Nennen Sie eigentlich diese Sache einen Beweis für den Lebenswillen des Menschen, Herr Jeschower? Ich denke eher, es ist die Haltung der vollendeten Gleichgültigkeit, ein Spaziergang durch Niemandsland, Vorhölle, Steppe; ein spiritistischer Zustand gleichsam, wo die Tische durch einen ominösen und wenig vertrauenswürdigen Geist von ihrer Stelle gerückt und zu tanzen veranlaßt werden.«

»Sie haben recht«, sagte Fräulein von Dörfer mit fiebriger Eile und einer Art leidenschaftlicher Zustimmung, die ihn betroffen machte. »Solche Handlungen geschehen im Trance und haben keinen Wert. Ich meine: keinen moralischen Wert«, fügte sie noch hinzu.

»Aber vielleicht einen Wert vor Gott«, sagte Florentine sehr sanft. »Wen er retten will, läßt er zurück in den Zustand der Marionette fallen. Und auch den, durch den er die Rettung auszuführen gedenkt.«

»Maria war keine Marionette«, sagte Irene fest.

»Im Gegenteil!« Friedrich Am Ende stimmte ihr plötzlich bei. »Sie hat sich eingemischt. Wie? Hätte sie nicht die Geschichte der Menschheit von neuem angefangen, wäre alles schon längst vorbei.«

»Was – alles?« fragte der Schauspieler Beifuß, der aus den Bäumen heraustrat.

Friedrich Am Ende lächelte schlau. »Die Humanität und das Abendland, unsre Kultur, unsre Art zu denken und unsere Philosophie.«

Albrecht Beifuß nickte ihm leise zu. »Wahrhaftig, sie hat sich eingemischt. Sie hat sich als Element der Freude überall eingemischt.«

»Der Gnade –«, setzte Arthur Jeschower seinen Gedanken fort.

»Verflucht sei die Freude«, gab Friedrich Am Ende den beiden Männern zurück; er sprach es mit leidenschaftsloser 233 Stimme und unbewegtem Gesicht. »Verflucht sei diese gewittrige Sache, die Sie die Gnade nennen.«

»Gewittrig?« fragte ihn Albrecht Beifuß. »Es ist richtig: wenn sie erst ausgelöst wurde, folgt sie wie Donner dem Blitz. Ich weiß es nur allzu gut.«

»Dann wäre unterm Gesetz der Gnade der Mensch wieder das, was Sie eben die Marionette nannten?« fragte Friedrich Am Ende schnell.

»Doch wer stellt ihn unter dieses Gesetz?« fuhr Jeschower langsam und nachdenklich fort. »Und hat er die Möglichkeit, sich vor dem Donner die Ohren zuzuhalten? Denn wie, wenn Blitz und Donner so rasch in ihrer Wirkung einander folgten, daß beide zusammenfielen?«

»Ich habe mich«, sagte Flora gelassen, »noch immer vor einem Gewitter in Sicherheit bringen können.«

»Nicht, wenn es dich wie ein Dieb in der Nacht überfallen hatte, mein Kind«, erwiderte ihr Mann. »Oder – entsinnst du dich nicht? Erinnere dich. Die Erinnerung ist ja die Gnade an sich. Das Vergessen ihr Gegenteil. Aber wo wir diese Erinnerung suchen und ob wir, an unseren Fäden hängend, den Ausgangsort der Bewegung finden – nur darauf kommt es an. Auf die Hände, die uns am Fädchen halten . . .«, setzte er flüsternd hinzu.

»Wer Marionette sagt, sagt auch Zufall oder besser, Zwangsläufigkeit«, beharrte Friedrich Am Ende ruhig und zog befriedigt die Unterlippe unter die Schneidezähne; einen Augenblick lang huschte wölfische Lust über sein stilles Gesicht.

»Ich bitte euch, laßt mich zu Ende erzählen und entscheidet dann, ob sich in Veras Schicksal die Freude, die Gnade, die Bosheit oder ganz einfach die menschliche Trägheit hineingemischt hatte«, rief Flora aus. »Vielleicht, daß wir uns später von selbst den Fortgang ergänzen können.«

»Und ich bitte euch: teilt jetzt das Lendenstück aus, das 234 schon halbwegs verbrutzelt ist«, sagte Jeschower freundlich. »Teilt euch in diese arme, gefallene Kreatur an dem Wegrand, aber verwechselt sie nicht mit der Sünde, die jeder von euch persönlich und ohne, daß die Gemeinsamkeit ihres Charakters ihn von ihr erleichtert, bis zum Ende zu tragen hat.«

Sie schnitten ihr Kartoffelbrot auf, diese glitschige, scheußliche Vortäuschung dessen, was früher den Namen ›Brot‹ verdient hatte, und legten ein Stückchen Fleisch darüber, dessen Ränder angesengt waren. Während sie aßen fuhr Florentine nach einigen hastig geschlungenen Bissen in ihrer Erzählung fort.

»Ich sagte schon, daß ich erst kam, als Vera– bemerkt ihr, daß ich jetzt ›Vera‹ und nicht mehr ›Herzchen‹ sage? – die Bodenkammer verlassen hatte. Die Hausbewohner berichteten, sie sei von einem Tag auf den andern fast ohne Vorahnung abgeholt worden, und auf den grünen Gestapowagen, der mit Weinen und Fluchen angefüllt war, so heiter hinaufgeklettert, als handle es sich um eine Spazierfahrt nach unbekanntem Ziel. Man hatte sie lächeln und winken gesehen, bis ihr einer der Mitfahrer, blind vor Wut, die Hand herunterschlug. Hinterher erzählten die Leute mir noch, es sei erst vor wenigen Tagen ein fremder Herr dagewesen und habe nach Vera gefragt. Sie beschrieben ihn auch: er sei stattlich und dunkel und unentschlossen gewesen. Unentschlossen? wollte ich wissen. Jaja, sagten sie. Ob er heute noch weiter oder die Nacht über dableiben wolle, hätten sie ihn gefragt. Und ob er nicht den Theaterportier noch einmal aufsuchen möge, um nach Vera Bernandez zu fragen? Er müsse weiter. Und den Portier –? Nein, nein, sie möchten sich nicht bemühen, es hätte doch keinen Zweck. Hin und her. Er ging fort und kam wieder zurück. Wo der Portier denn eigentlich wohne? Soso. Um die Ecke? Na, einerlei – er war nachher 235 doch nicht dort. An dem früheren Laden des Südfruchthändlers wollen ihn später einige Leute in Gedanken versunken gesehen haben, wie er das Schild mit der Inschrift studierte: ›Bernandez, Südfrüchte, spanische Weine‹ und den hermetisch verschlossenen Laden ohne Regung betrachtete.« Florentine stützte den Ellbogen auf und sagte: »Ich langweile euch. Wie viele Jalousien sind rasselnd seitdem herunter gegangen, wie viele Schilder haben gelogen, wieviel Wein ist vergossen worden, Milch ist verschüttet und Früchte sind achtlos zertreten worden; wie viele Menschen wie Früchte zertreten, wie Milch vergossen, wie Wein verschüttet und unwiederbringlich dahin. Nichts bleibt als ein schiefes, gespenstisches Lächeln, ein erlöschender Schimmer, ein Strauß Asphodelen und eine Erinnerung . . .«

»Aber könnte nicht Vera wie Viele gerettet worden sein?« fragte Ewald Hauteville mit verzweifelter Stimme und blickte Irene an.

»Wie Wenige, meinen Sie, Herr Hauteville«, gab ihm Fräulein von Dörfer zurück. »Und was wäre dann? Heißt ›Gerettetsein‹ schon ›Leben‹, mein armer Freund?« setzte sie leise hinzu.

[Auch sie ist weiter nichts als gerettet, dachte Arthur Levi-Jeschower in flammendem Mitgefühl. Aber sie lebt nicht in Wirklichkeit – diese dunkle Eurydike. Sie ist noch gefesselt. Sie muß zurück, denn Orpheus dreht sich um. Orpheus – dachte er gleich darauf und blickte Ewald an. Wer ist nicht übrigens Orpheus heute, und wer nicht Eurydike? Die Seele im Orkus, die Leier zerbrochen, Geduld und Wissen dahin.]

Gleich danach erhoben sich alle wie auf Verabredung. Florentine seufzte. »Gehen wir weiter. Es wird ein Gewitter geben.«

»Noch lange nicht«, erklärte Jeschower. »Die Wolken 236 sind viel zu hoch. Aber wir müssen zum Seeufer hin und schauen, ob man uns übersetzt, damit wir Quartier bekommen. Zwei Nächte in leeren Schreberhütten und Wellblechbaracken genügen mir, auch wenn es Hochsommer ist.«

 

Sie fanden im Uferschilf auch tatsächlich das große verlassene Fährboot, dessen lustig knatternder Motor schon lange abmontiert, und durch zwei mächtige Ruder, die träge auf dem faulig riechenden Boden lagen, von Werweißwem ersetzt worden war. An dem Heck saß eine verblaßte Fahne von himbeerfarbenem Rot, unter den Bänken lag allerlei Kram, der erst kürzlich gebraucht worden war: eine Dose Fett und ein Abschmierlappen, verschiedene Schraubenzieher, ein Hammer und eine leere Whiskyflasche, welche, als man sie fortwarf, noch immer ihren Duft wie aus Feuer und scharfen, hellen Trompetentönen entließ. Sie gluckste und verschwand in dem Wasser mit einem schwachen, schnalzenden Laut; es war, als habe ein trunkener Nöck den letzten Schluck entgegengenommen als eine Unterweltgabe.

»Wir sollten nicht über das Boot verfügen, als ob es uns gehörte«, sagte Jeschower bedenklich. »Diese Dinge gehen oft übler aus, als man voraussehen kann.«

»Ich rudere, wenn Sie drüben sind, das Boot an seine Stelle zurück«, sagte Friedrich Am Ende, »und laufe dann im Bogen um den See.«

»Aber Sie werden nicht mehr vor Abend das Dorf auf dem anderen Ufer erreichen«, erwiderte Irene und breitete ihre Karte über den Knieen aus. »Sehen Sie nicht, wie langgezogen die Wasserfläche ist? Sie gleicht fast einem Kanal.«

»Nun gut«, sagte Friedrich. »Wenn Sie das Boot an dem Ufer abgesetzt haben, lasse ich meine Kleider bei Ihnen und rudere zurück. Eine Kleinigkeit diesen See zu 237 durchschwimmen. Ich habe schon breitere Wasser als das hier in Rußland überquert.«

»Der See führt Algen und Schlinggewächse in ungewöhnlicher Zahl. Sein schönes Stahlblau ist trügerisch, ich weiß es von früher her«, gab ihm Irene zurück.

Er erwiderte nichts und begann schon, mit einer langen Stange das Boot in das Wasser zu staken; dann legte er sich in die schweren Riemen und fing zu rudern an. Zum ersten Mal fühlten alle die ungeheure Kraft seines Körpers; eine fast anonyme Gewalt, die niemand in ihm vermutet hätte, weil er hager und unbiegsam war. Es schien, als flöge das große Boot fast mühelos dahin; während er ruderte, zeichnete sich mit jedem Heben und Senken die Kristallkugel – anonym auch sie – unter der Jacke ab, die er geöffnet hatte. Der Takt dieser ruhigen Ruderbewegung schien Friedrich in sich zurückzunehmen und sein Wesen, das sich in Frage und Antwort wie die Kristallkugel ausgesprüht hatte, von neuem in einer Begrenzung zu sammeln, die unzerbrechlich war. Sein Gesicht, zuerst still, wurde maskenhaft, je länger er ruderte; er glich jetzt, mehr noch als vorher, einem ägyptischen Sperber, der über das Wasser äugt.

»Wie er Charon ähnlich sieht!« dachte Jeschower. »Und ob wir wohl alle für diese Fahrt unsren Obolus zahlen müssen? Aber wir sind ja im Grunde schon dort, wohin er uns bringen wird.«

Auch Irene von Dörfer gab sich dem Gleiten des dunkel geteerten Bootes hin und ließ die Hand in das Wasser sinken, das kühl und verführerisch war. »Wie süß die Lethe ist«, dachte sie. »Wie süß, wie süß, wie süß.«

Ewald Hauteville sah sie schweigend an: ihre geschmeidigen schönen Beine, die sie hoch gestellt hatte, den zarten Schoß, die mädchenhafte Brust. Ein glühender Durst überfiel ihn plötzlich, eine Welle von Blut stieg in ihm hoch, die 238 er förmlich zu schmecken meinte – etwas, das wie gelöste Salze in umgeackerter Erde war, wie flüssiges Eisen und wilder Honig, der aus der Baumspalte quillt. Er beherrschte sich mühsam. »Sind wir denn alle durcheinander geworfen worden?« blitzte es ihm durch den Sinn. »Wie die Blättchen in einem Kaleidoskop, dessen Trommel von einer Hand gedreht wird, die den Zufall in ein Gesetz verwandelt und den Wirrwarr in eine Figur?« Er streckte die Hand aus, das junge Mädchen mit dem kleinen gemeißelten Kopf einer keuschen, dianahaften Erinnye legte die Linke hinein; ihre Rechte blieb in dem Wasser hängen und fühlte, wie sich der Seetang, die Algen und die glasigen Stengel der Wasserrosen an ihr vorüberschoben. Ein Kreis war auf diese Weise geschlossen, der von ihrer Rechten hinab in die Tiefe und über ihre Linke in Ewalds Rechte ging; eine unablässige Botschaft pulste und teilte sich wie durch geheime Osmose ihrem Gefährten mit.

[Lotte Corneli, obwohl von Beifuß und der Benommenheit ihrer Sinne fast vollkommen abgezogen, nahm die Bewegung des Bruders wahr, und wie sie beantwortet wurde.]

In diesem Augenblick wiederholte Florentine Jeschower noch einmal die Frage, die sie im Weitererzählen liegen gelassen hatte. »Sind Sie etwa Vera Bernandez in einem der Lager begegnet, liebes Fräulein von Dörfer?« fragte sie träumerisch.

Das junge Mädchen zuckte zusammen und hob die rechte Hand aus dem Wasser, umklammerte heftig den Bootsrand und schüttelte ihren Kopf; diese Hand wirkte totenhaft durch ihre Kälte und war von der schleimigen Wasserblüte auf dem Rücken grünlich verfärbt.

[»Olala«, dachte Lotte Corneli. »Sie wird uns noch alle herunterreißen; meinen Bruder Ewald zuerst.« Die Nacht 239 vor dem Aufbruch, die Fledermaus und das Motiv der Karfreitagsratsche schwankten durch ihren Sinn.]

Unwillkürlich sah Ewald zu Lotte hinüber. »Ich liebe sie nicht, beruhige dich«, schien dieser merkwürdig leere und unbeteiligte Blick zu sagen, »vielleicht sogar hasse ich sie. Wer könnte auch eine Erinnye lieben, wer möchte mit seinem Gewissen schlafen und Kinder mit seiner Erinnerung zeugen, welche er nachher wie Kronos Stück für Stück wieder verschlingt?«

[Lotte Corneli seufzte befriedigt und legte ermüdet den Kopf an die Schulter von Albrecht Beifuß zurück, während ihr Bruder fortfuhr zu denken . . .]

»Schlafen – das ist es –. Beschlafen und Kinder mit ihr zeugen. Flügelkinder wie sie.« Irenes Hand, die er immer noch hielt, bewegte sich vorsichtig in der seinen; es lag eine sanfte, erschütternde Demut in der Art, wie sie ihm nicht nur die Hand sondern auch sich selbst überließ.

Auf der Wasserfläche spielten Libellen, Wasserjungfern und rötliche Fliegen ihr ewiges Hochzeitspiel. Der schwache Duft, der den offenen Kelchen der Wasserrosen entströmte, vermischte sich mit dem Geruch der Bretter, auf welchen die Sonne lag; die Federn des Haubentauchers blitzten; immer wieder zog der gestreckte Schatten der Wildenten über den See; Bläßhühner tauchten herauf und herunter, und brünstiges Froschgequack lag wie Vibrieren in der zum Zerreißen angespannten, glühenden Sommerluft. Alles paarte sich, alles suchte einander und verschränkte die flüchtige Spur seines Daseins mit anderen Daseinsspuren, die genau so vergänglich waren. Aber indem es sich suchte und paarte, und in der Paarung wieder verging, ergänzte es auch den Schoß der Natur, die es selbst hervorgebracht hatte; es wiederholte die ersten verdunkelten Kosmologien und setzte mit ihren uralten Mythen die Weltgeschichte fort. In dem Käferschild spiegelte sich 240 noch Achilles; in den eiligen Stelzen des Wasserläufers der Bote von Marathon; keine Mohnkapsel, welche nicht Cäsars Gebeine, und keine Lilie, die nicht die Insignien Caroli magni enthielt. Das Bedeutende wurde nichtig am Leichten, das Leichte wurde schwer; die Erde durchsichtig wie ein Kristall, und undurchsichtig die Flut . . .

So glitt das Fährboot wie Charons Nachen immer weiter dem anderen Ufer zu und ließ das erste sehr rasch zurück wie einen verwehenden Traum. In der Mitte des Wassers angekommen, zog Friedrich die beiden Ruder ein und atmete ruhig vor sich hin. Die Blicke der kleinen Reisegesellschaft umfaßten abschiednehmend das Land, woher sie gekommen waren, und ihre Erinnerung – unwillkürlich der Zerstörung, dem Feuer, den schwarzen Ruinen und den zerbrochenen Stufen verhaftet – sah aus der Entfernung die Elemente der scheinbar heilen Natur noch immer zu Schreckensbildern zusammen, die der Seele eingeprägt waren: das bewaldete Ufer, von hellen Lücken unregelmäßig durchbrochen, dünkte den Wanderern [da sich die Hitze mit niedersinkenden Feuerschwaden in diese Ausschnitte preßte] einer Zeile brennender Häuser zu gleichen, aus deren Kellern sich Säulen von Rauch und hüpfende Phosphorgeister erhoben, die in das Freie drängten; Wacholderbüsche waren wie Gruppen erstarrter Kopftuchfrauen; die Wolken wiederholten Gomorrha auf immer wechselnde Art –.

Ein Schauder blieb hinter ihnen zurück, der ihren Nacken streifte, ein Gefühl wie von spielenden Schlangenzungen, die ihre Ferse berührten. In ihrer Vision schien nicht nur das Ufer, das sie verlassen hatten, zu brennen; auch nicht nur die große Stadt ihrer Herkunft, sondern von Lissabon bis nach Kiew und von Helsingfors nach Gibraltar das ganze Abendland. War es wirklich noch Charons finsterer Nachen, der sie sich selbst und der Heimat entführte – 241 oder hatten nicht diese Menschen im Grunde die ewige Argo betreten; die Arche des Bundes, aus Hoffnung gezimmert und verpicht mit der zähen Sehnsucht nach Freude, die die Planken zusammenhält? Welch ein Augenblick zwischen Himmel und Erde! Welch ein Atemholen und welche Ruhe – hier zwischen Wiege und Grab! Welche Stille. Sie schwebte über den Wassern mit Kranich- und Reiherflügeln; mit diesem Hieroglyphen der Frühzeit, die den Weg in das zaubrische Kolchis wiesen und nach dem Goldenen Vliess. Nichts als das leise Glucksen der Tiefe, das Knacken des Holzes, in welchem der Span der dodonischen Eiche zu sprechen anfing, und die Zukunft verkündigte.

Als sie weiterfuhren, gab Friedrich Am Ende die Ruder an Albrecht Beifuß ab, der das Fährboot mit raschen, kräftigen Schlägen zu dem anderen Ufer trieb. Friedrich Am Ende entkleidete sich, beschwerte sein verschossenes Zeug mit einem groben Feldstein und ruderte zurück. Es wurde verabredet, daß Hauteville und Irene von Dörfer hier warteten, während das Ehepaar Levi-Jeschower samt Lotte Corneli und Albrecht Beifuß in dem Dorf um Unterkunft bitten und neuen Proviant für den Fortgang der Reise auf dem Tauschweg erwerben sollten. Noch schien die fast unerträgliche Sonne ihre Ausstrahlung zu vermehren, und die Hitze mußte, obwohl der Mittag bereits überschritten war, sich in den hohen Wolkengebilden wie in Behältern gesammelt haben, in kochenden Kratern, blauen Verliesen und großen, basaltenen Felsenkesseln, deren Wände von ihr trommelten, dröhnten und leise zitterten.

»Wollen wir baden?« fragte Hauteville. »Wir können beim Schwimmen ebensogut die Kleider im Auge behalten. Was meinen Sie dazu?«

»Und, wenn ein Dieb kommt, nackt wie Odysseus auf das märkische Seeufer springen?« erwiderte Irene. »Aber 242 gehen Sie ruhig in das Gebüsch und ziehen Sie sich aus. Während Sie schwimmen, gebe ich acht, dann wechseln wir beide die Rollen, wenn Sie gebadet haben.«

Eine halbe Stunde darauf lag Ewald neben Irene am Strand; sie waren erfrischt von dem kurzen Bad und dampften von Feuchtigkeit. Ihre Ellbogen aufgestützt, sahen sie blinzelnd über die Wasserfläche und erwarteten den Gefährten geduldig, der sich versäumt haben mußte. »Erzählen Sie etwas, Fräulein von Dörfer«, sagte Hauteville gedankenlos. »Erzählen Sie mir, wie ein Barfräulein sich die Kenntnis der Odyssee erwirbt und das akzentlose Sprechen einer Tochter aus gutem Haus.«

»Ich sagte Ihnen doch schon, Herr Hauteville, daß ich heimlich davongelaufen bin«, gab ihm Irene zurück. »Nein«, fuhr sie plötzlich entschlossen fort. »Ich will Sie nicht länger täuschen. Ich gehörte seit dem Münchener Putsch einer Widerstandsgruppe an und war nicht mehr zuhaus. Aber ich wurde sehr bald erwischt, denn wir waren zersplittert, schlecht organisiert und standen ganz auf uns selbst. Wahrscheinlich, so unglaubwürdig das klingt, konnten wir, als wir im Lager waren, für unsere Zwecke mehr erreichen als in der Freiheit; mehr unterminieren, mehr verhindern, mehr Anhänger sammeln, als wenn wir draußen geblieben wären – draußen in dieser Festung aus Lüge und Irrealität. Wo wir standen, war granitener Grund, hier war das Leben bis auf den Ursprung in sich zurückgenommen; bis auf die Elemente des Daseins; die reine, nackte Substanz. Sie erinnern sich vielleicht an das Märchen von Cordelia und König Lear? Das Kostbarste ist noch immer das Salz, weil sich das Dasein in ihm erhält und vor der Fäulnis bewahrt – in diesem Geschöpf, in dem Feuer und Wasser sich zu vereinigen scheinen. Was bleiben sollte, war eingesalzen; es war gewissermaßen geschützt durch eine Lake von Salz.« Irene starrte über 243 das Wasser, auf dem sich das gewendete Fährboot den Blicken entzogen hatte, und fuhr fort: »Es war ringsum gewälzt in Salz; auch die Erinnerung. Eine Mandel, in der das Innere keimhaft, das Äußere salzig ist. Eine Mandel, eine Mandorla gleichsam, in der das Gedächtnis eines Martyriums und das Bild der Märtyrer aufbewahrt ist, die erst, wenn die Zeit sie kanonisiert hat, auf die Altäre steigen.«

»So lange der Fries dieser neuen Altäre«, sagte Ewald Hauteville versonnen, »nicht so schön ist, wie es die Friese des Pergamonaltares, die Friese des lykischen Sarkophages und die Friese der Alexanderschlacht sind, muß das Gedächtnis an ihren Inhalt zurückverwandelt werden, Irene; auch die Erinnerung, die Sie beschwören, sollte eingesalzen werden, der Keim vergraben, der Name vergessen, das Totenopfer ins Blaue verschwendet, der Tag nicht gefeiert werden. Nein, zucken Sie jetzt nicht zurück, Irene« – er faßte das Mädchen zart bei den Händen und küßte behutsam ihre Gelenke, den Unterarm und die duftende Höhle zwischen Busen und Oberarm. »Helfen Sie mir!« sagte Ewald Hauteville. »Denn Sie allein können es. Sie wissen den Weg in die Totenstadt, ohne gestorben zu sein; ihren Bauplan und ihre Gabelung, nach der ich in meinen Träumen suche – vielleicht sind Sie selbst diese Totenstadt und zugleich ihre Herrscherin«, fügte er leise hinzu.

»Nein – nein – –« erwiderte sie gequält und schüttelte ihren Kopf. »Ich bin nicht die Herrscherin, ach Hauteville, ich bin gefangen wie Sie. Gefesselt, ausgepeitscht und gequält, bis einer mich erlöst.«

»Wer quält Sie?« fragte Ewald Hauteville mit eifersüchtiger Stimme. »Wer hält Sie dort unten fest?«

»Ein schöner, ein sehr schöner Mann«, sagte sie fast wie von Sinnen, »der das Weberschiffchen bewegt.« 244

»Vergiß ihn«, erwiderte Ewald Hauteville, ohne verstanden zu haben. »Vergiß ihn, und auch ich will vergessen. Ich will sagen: dies ist sie, die Totenstadt. Dein Schoß: ihre Pforte, und deine Schenkel: ihre grausame Gabelung. Laß uns zusammen die Stadt hinter der Lethe wie zwei Kinder durchstreifen – einer dem anderen so wie jetzt als Lethewasser gegeben.«

»Die Falltür, auf welche wir treten müssen, damit sich der Abgrund auftut und die Vergessenheit.«

»Du schöne Stadt. Du verlorene Stadt«, murmelte Ewald Hauteville. »Du Stadt, die der Grundriß all unserer Städte von Troja bis Hiroshima ist, du Stadt voller Aschenurnen und Türmen, voll Friesen rings um die Sarkophage, voll Asphodelen und Mohn.« Er setzte seine Liebkosungen fort, doch beide sahen einander nicht an, sondern Friedrich Am Ende entgegen, der das Boot zu dem Ufer hingebracht hatte, wo es nun wieder verlassen und einsam in der glitzernden Schilfbucht schlief . . .

»Nicht mehr lange«, dachte Friedrich beruhigt, indem er sich in das Wasser warf, mit einigen Stößen den offenen See und die grünblaue Tiefe gewinnend, »nicht mehr lange, dann werde ich nicht mehr sein. Nicht getötet –. Auch nicht hinweggenommen wie Methusalem oder Elias. Ganz einfach nicht mehr sein. Ich werde mich zu mir selbst überschreiten und handeln, als ob nicht ein sterblicher Mensch aus mir handelte, sondern die Freiheit an sich, ich werde meine Freiheit sein, meine Mythe, mein Leben und mein Tod. Keine Grenze – nur Freiheit. Kein Sinnentrug, weil das Leben in mir nicht bleiben will, sondern weitergeht wie das wandernde Licht auf den Dolmen der Osterinseln. Handelnd, werde ich selbst verhandelt und eine Tauschmünze sein, deren Wert diese Münze sich selber gibt. Wie das Boot in der Schilfbucht, so schwebt mein Dasein genau in der Mitte von Sein und Nichts, und 245 wenn ich jetzt wieder Himmel und Erde durch meine Arme bewege, so treibt jeder Schlag mich näher auf das Nirwana zu. Dieses Nirwana bewegt meine Arme, den Stand der Sonne, das Himmelsgewölbe, die Ekliptik, den Tag und die Nacht. Das Nirwana also bewegt die Zeit; die Zeitlosigkeit hebt die Zeit aus den Angeln und zieht sich selber wiederum ein in den Rachen der Zeitlosigkeit. Ich werde bleiben«, dachte er weiter, »auch wenn ich mich fortbewege. Ich bin der archimedische Punkt, der die Welt aus den Angeln hebt. Wenn ich handle, meditiere ich nur, denn jede Meditation ist Handlung, und jede Handlung vermehrt den Bestand an reiner Meditation. Handeln und meditieren, ist Eines –« er hob die Arme von neuem an; das Wasser floß an ihnen herunter und bildete kleine, zerspringende Kugeln, die im Weiterrollen schon ihre Form an das nächste Kügelchen abgegeben, und sich mit der Unform des Elementes wieder vereinigt hatten.

»Nur Einer aus dieser Reisegesellschaft«, dachte Friedrich Am Ende weiterschwimmend, »weiß, daß der Handelnde sich betrügt, wenn er nicht gleichzeitig sich bewußt bleibt, daß die Gottheit in ihm meditiert. Dieser Eine ist Herr Levi-Jeschower: der ewige Hiob, der sich den Schorf von seinen Wunden kratzt. Nichts weiter: er sitzt auf dem Abfallhaufen und kratzt ein wenig, während die Freunde und seine Frau ihn bedrängen. Versunken in seinem Gestank aus Eiter, kratzt er mit einer Scherbe den Schorf von seinen Wunden ab. Handelt er? Nein. Aber Gott und Satan verhandeln über ihn. Denn es gibt nichts zwischen Gott und dem Satan außer dem Menschen; er ist die Beziehung zwischen den beiden, und wenn es dem Menschen gelingen sollte, sich aufzuheben, sich auszulöschen und nicht mehr zu sein, ist dieses Gespräch an sein Ende gekommen, diese unglückselige Relation, an welcher die Schöpfung hängt. Doch Hiob ergibt sich. Er 246 kratzt und handelt, indem er sich ergibt. Dieses bißchen Kratzen: handeln, verkaufen und auf die Perle hoffen mitten in Schmutz und Dung – es ist die Bewegung, welche nicht zuläßt, daß das Hin und Her zwischen Gott und dem Satan, daß die Hoffnung auf eine Erlösung gerinnt, auf den Messias, den Gott im Fleisch, den fleischgewordenen Gott. Nicht Heraklit ist der Gegner Buddhas, der Geheimnisvolle, dem alles fließt; nicht Griechenland ist die Schwelle, an der das Nirwana zerbricht. Es ist Hiob, und nach dem Dulder Hiob der kleine Handelsjude; seine zappelnden Hände, sein kluger Kopf halten die Welt in Bewegung; sein bißchen Kratzen, seine Geduld, seine tätige Meditation. Er kommt aus Ur im Lande Chaldäa und wandert bis Cordoba. Er bringt nicht nur Flöhe in seinem Sack, sondern auch den Kuppelpelz mit zwischen Asien und dem iberischen Zipfel Europas, zwischen Chaldäas Sternwarten, Türmen und der spanischen Hochschule, wo sich die Welt in Kegelschnitten, Hyperbeln und Kurven zu neuen Erkenntnissen schließt. Der ewige Kuppler, das ›Schadchen‹ zwischen den Kontinenten, die Unruhe in dem Leib der Menschheit, ohne die das Dasein nicht endigen kann, weil es mit ihr beginnt. Wer hinter diesen Beginn gehen könnte, hätte das Dasein besiegt. Aber wo liegt er, der Anfang der Spiele, wer spielt diese Schöpfung zusammen aus purer Lust an dem Spiel? Spielen und über dem Chaos schweben . . . auf dem Dunghaufen sitzen und seinen Schorf von den eitrigen Wunden kratzen – diese Bewegung hörte nicht auf, wahrscheinlich sogar war sie selbst nur ein Teil von einem noch größeren Spiel –.«

»Ich möchte immer hier liegen bleiben«, sagte Ewald Hauteville mit verdunkelter Miene, »und über das Wasser sehen. Deinen Rücken streicheln und deine Hüften wie einen großen verwunschenen Fisch, dem Einer den Rogen abstreift, während er zappelt und laicht.« 247

Irene lachte scheu und beunruhigt. »Und wenn ich leer bin, läßt du mich einfach zurück in das Wasser gleiten?«

»Wahrscheinlich«,sagte er langsam und träge. »Aber erst, wenn der Strom der Myriaden Geschichten deine Blutbahn verlassen hat. Wenn ich weiß, was du dort unten erlebt hast, und ob du Vera Bernandez in dem Lager begegnet bist.«

Irene warf sich plötzlich herum und sah ihn entgeistert an. »Du – bist ihr Verwandter?« fragte sie heiser. »Ihr beide, deine Schwester und du, auf der Waldbank vor dem gemalten Prospekt aus Birkenstämmen, wie?«

Er preßte die Zitternde heftig an sich und suchte ihr Gesicht; es war, als ob er den offenen Mund einer lautlos schreienden, wilden Erinnye mit einem Kuß oder einem Biß oder beidem in einem zu schließen versuchte, während sie schrie und schrie . . .

»Hilf mir«, sagte er wie vorhin. »Du süße Mitwisserin. Mitschuldig, wenn du mich liebst.«

»Ich liebe dich«, sagte Irene klagend.

»Einen Mörder?«

»Ja«, sagte sie. »Einen Mörder. Ich habe dich immer geliebt. Du – meine Erinnerung.«

»Meine Rachegöttin«, sagte Hauteville. »Meine schwarze Persephone.«

»Ich bin keine Rachegöttin, Hauteville.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte er triumphierend. »Mein leidenschaftlicher Schatz.«

Sie horchte verloren in sich hinein und unterschied nicht mehr, ob es die Stimme von Ewald Hauteville, oder ob es die Stimme des achilleischen Offiziers war, der die Weberselektion leitete, und, vor der Gaskammer stehend, den Finger von einer Seite immer zur anderen führte – immer von rechts nach links.

»Sage mir, daß du mitschuldig bist«, flüsterte Ewald Hauteville. 248

»Wer lebt, ist schuldig«, gab sie zurück und starrte von neuem über das Wasser, wo sich jetzt Friedrich in blendender Ferne wieder zu nähern begann. »Rette mich vor der Erinnerung, indem du dich über sie deckst wie der Schatten über den heißen Sand«, fügte sie noch hinzu.

[Beschatten, dachte Ewald Hauteville. Beschatten – das ist es. Beschlafen und Kinder mit ihr zeugen. Flügelkinder wie sie . . .]

»Hier bin ich«, sagte Friedrich Am Ende, indem er dem Wasser entstieg. Irene warf ihm ihr Handtuch zu, er trocknete sich ab, zog sich an und bemerkte gleichmütig, daß er sich nachher von der Reisegesellschaft verabschieden wolle, um wieder allein zu sein.

»Das wird Herr Levi-Jeschower bedauern«, sagte Ewald Hauteville mit der Aufrichtigkeit, welche damals alle Menschen beherrschte, und sah Irene mit einem Blick an, in welchem sich Einverständnis und Abwehr gleichzeitig kreuzten. »Bleiben Sie wenigstens morgen noch, bis das Reisebildchen von Ihnen allen geknipst worden ist, Herr Am Ende«, fügte er noch hinzu. »Auch Sie nehmen sicher gerne ein kleines Andenken mit. Eine – Erinnerung. Sobald ich es später entwickelt habe, schicke ich es Ihnen zu.«

»Wohin?« fragte Friedrich Am Ende belustigt. »Oder können Sie in die Zukunft sehen, geehrter Herr Hauteville?«

»Bleiben Sie!« bat ihn Irene heftig, »bis wir gemeinsam gefunden haben, was jeder von uns sucht – jeder auf seine Art.«

»Ich habe nichts gesucht«, sagte Friedrich und zog die Schultern hoch. »Vielmehr, ich habe das Nichts gesucht. Jedoch das Nichts, liebes Fräulein, findet man nur allein. Es verträgt auch die beste Gesellschaft nicht«, sagte er fast galant. 249

»Aber wenn Sie das Nichts gefunden haben«, antwortete Fräulein Dörfer, »dürfen Sie dieses Nichts nicht behalten, denn wenn Sie es behielten, mein Herr, hätten Sie etwas und hätten nicht nichts – oder ist das Wortspielerei?«

Er schwieg betroffen und sagte dann: »Gut. Ich werde Ihnen beweisen, daß mir daran nichts liegt.«

»An dem Nichts?«

»Nein. Auch an dem Nichts liegt mir nichts«, sagte er mit entrücktem Ausdruck – ekstatisch zugleich und entleert.

Irene betrachtete ihn gespannt. »Schenken Sie dieses Nichts, Herr Am Ende, der Äbtissin Demetria. Sie wird es in ihre Hände nehmen, wie die Frau des Brahmanen die Wasserkugel in die Hände genommen hat.«

»Und was tut sie mit dieser Kugel aus Nichts, die Äbtissin Demetria?«

»Sie wirft sie ihrem Schöpfer zurück, und der Schöpfer wirft sie ihr wieder zu«, sagte Irene ruhig.

»Und dann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber ich«, sagte Friedrich Am Ende zornig und blickte Irene an. »Sie beginnt von neuem, die Schöpfung vor ihm zurecht zu spielen. Sie verführt ihn zu einem neuen Beginn. Dann beginnt es wieder, das alte Lied, das schon zu Ende war. Ich aber – verlassen Sie sich darauf – ich werde für mein Teil alles tun, damit das elende Spiel des Daseins nicht wieder von neuem beginnt.«

»Sie meinen: das Spiel der politischen Macht? Das Spiel der Kräfte? Das Spiel um die Liebe oder das Spiel um den Haß?« fragte Ewald Hauteville gelangweilt und zog mit der Fußspitze einen Kreis in den von keinem Lüftchen bewegten, höllenhaft heißen Sand.

»Ich meine etwas dahinter«, sagte Friedrich Am Ende streng. »Wenn ich nur auf den Vordergrund sähe, so wäre wenig getan. Man wird sehr bald wieder Brötchen backen, 250 Journale drucken, Stiefel besohlen und die ausgeschlagenen Bahnhofstreppen mit gutem Zement verschmieren; die Weiber werden bald schwanger gehen, und aus den Krämpfen um neue Worte und neue Ideologien wird sich ein Mäuschen gebären.«

»Die Kugel aber gehört Ihnen nicht«, sagte Irene ohne zu ahnen, daß Friedrich vorhin mit seiner Bemerkung die blaue Kristallkugel meinte. »Es wird Ihnen eher das Licht und der Schatten auf dem geplanten Foto gehören, das Sie unmöglich vermissen kann, weil es sonst nicht vollkommen wäre.«

»Es scheint also, liebes Fräulein von Dörfer, daß die Vollkommenheit, daß das ganze Dasein mich nicht entbehren will, wie?« fragte er fast belustigt zurück. »Ich bin der Wurm in dem faulen Apfel, der Schlangenbiß in dem Giftreptil, wenn es endet, indem es sich schließt?« Eine Eitelkeit, die zu groß und entsetzlich und gleichzeitig auch zu hoffnungslos war, um den Namen Eitelkeit zu verdienen, ließ jedes Wort, das er aussprach, in einen Abgrund von Traurigkeit fallen, in einen Brunnen, aus dem der Schall nicht mehr vom Grunde zurückkam. »Nun gut. Ich werde noch stille halten. Ihnen, Hauteville, und dem Bruchteil jener fatalen Sekunde, wo das Tageslicht mich umfließt. Auf das Bildchen lege ich keinen Wert«, setzte er nach einer Pause gedankenlos hinzu . . .

 

Die Dorfstraße lag, obwohl schon die Sonne den Zenith überschritten hatte, in ständig sich steigernder Hitze und völliger Leere da. Alle Fensterläden waren geschlossen, die gelangweilten, steifen Hortensien und Oleanderbäume auf den eisenbeschlagenen Treppenstufen gaben jedem Haus in Verbindung mit der Verwahrlosung, welche der Krieg, die Eroberung und die Furcht, von neuem geplündert zu werden, zurückgelassen hatte, etwas Orientalisches. Selbst 251 die Linden und die Platanen, welche im Viereck den Marktplatz umgaben, waren nicht wirklich: die Blätter aus Blech und die Stämme mit Vitriol übergossen, in rostigen Behältern, von schiefen, sinnlosen Gitterstäben umgeben, die nichts zu bedeuten hatten. Auch die Hunde schienen sich in die Häuser zurückgezogen zu haben; die Häuser selbst, zusammengekrümmt, wirkten, als ob sie sich unter Träumen in ihre Traumsubstanz eingerollt hätten – jedes Haus eine Festung, das ganze Dorf ein zusammengebackenes Festungsgelände mit feindlichen Forts und gebuckelten Wällen, die schon von dürrem Gras überzogen und an das Gesetz der Vergänglichkeit zurückgefallen waren. Wahrhaftig: die Paläste von Kreta konnten nicht älter sein; nicht abweisender für den Fremdling am Weg und nicht enttäuschender für den Blick, der sich Marmor und Schätze versprach.

Doch man fühlte, daß sie im Gegensatz zu jenen Totenhäusern nicht ausgestorben waren. Ein dünner Rauch stieg kerzengerade über ihnen empor, Blicke stachen durch Fugen und Ritzen der verrammelten Fensterläden, ein Lispeln wie von gespaltenen Zungen begann, sich dahinter auszubreiten; Abwehr und Lüge vereinigten sich, um jeden Bittsteller schon auf der Schwelle abzuweisen; und das Wesen der Leute: ›Bösewichter, faule Bäuche und Lügner‹ zu sein, trat wie bei gereizten Tieren die Waffe – Stachel und Eckzahn – hervor. Denn im Grund hatte nichts diese Menschen verändert. Die Vergewaltigung ihrer Weiber war über sie hingegangen wie der Hahnentritt über die Henne, welche sich unter ihm duckt; die Arbeitsfron ihrer Männer hatte keinen in einer Tätigkeit oder auch nur in dem Wunsch unterbrochen, anders zu leben als so: den Rücken zur Erde niedergebeugt und die Fäuste um einen Spaten geschlossen – gleichgültig heute ein Loch aufwerfend, das man morgen wieder mit Erde 252 füllte; einen Schießplatz errichtend, den man gleich wieder, wenn die Truppen sich weiterbewegten, einebnete und vergaß; eine Mauer bauend, welche schon morgen niedergerissen wurde. Das Leben war sinnlos und war es schon vorher, und nicht sinnloser blieb es auch jetzt. Es war nicht weniger und nicht mehr, nicht oberflächlicher und nicht tiefer, nicht weiter und nicht enger geworden, als es schon immer war. Es beharrte. Es ruderte in sich selbst und um den winzigen Tropfen herum, der ihm wie einer Amöbe einst zugemessen war . . .

Selbst Doktor Cuille lebte eigentlich so, nur mit dem einzigen Unterschied, daß er selbst darum wußte und deshalb sein Dasein zu verhöhnen imstande war; zu distanzieren und manchmal auch über sich nachzudenken. Mit Erstaunen stellte er fest, daß er sich, obwohl doch erst kurze Zeit seit dem Tod Hendrikjes vergangen war, nicht glücklicher fühlte als eh; ja, daß sogar der Tod dieses Mädchens gewissermaßen den Namen abgab für jene immer fließende Schwermut, die nicht zu fassen war. Zum ersten Mal hatte er einen Anlaß, den man benennen konnte; einen Verlust, den auch nüchterne Menschen nachzuempfinden vermochten; einen Schmerz, der vernünftig war, und eine Trauer, die ihm niemand verübeln würde. Weil er wahrnahm, daß ihn die Leute plötzlich bedauerten, empfand er zum ersten Mal ihre Nähe, wo er sonst nur Zudringlichkeit oder Neugier bei ihnen gesehen hätte; gleichzeitig wurde er ihrer bedürftig, und obwohl er sich vorkam wie ein seniler, gebrochener Lebemann, der mit einer Flasche Rotspon zu Bett geht, weil seine Lenden versagen, täuschte ihm in gewissen Stunden seine mit Lustgefühl untermischte unaufhebbare Einsamkeit vor, noch immer ein Halbgott zu sein. Anfänglich mochte Cuille vielleicht glauben, daß er Hendrikje wirklich geliebt und nicht nur besessen hatte. Er betrachtete lange den kostbaren 253 Schmuck, der einst wie ein schillernder Taubenkranz um ihren milchweißen Hals lag, und spielte Schach mit sich selbst. Dann, weil es ihn reizte, die Kombinationen mit Anderen auszuprobieren, bat er Elias Verhoeven zu sich und ließ sich von ihm seine Abenteuer auf den neun Meeren erzählen. Verhoeven war zwar ein schlechter Spieler, aber ein Mensch, der gut erzählen und sein Seemannsgarn stundenlang spinnen konnte; so wurde die seltsame Freundschaft der Beiden sowohl ihm wie Cuille unentbehrlich und verbarg ihnen die gespenstische Leere, die ihre Ursache war.

Denn auch Elias Verhoeven hatte den Sinn seines Daseins verloren, als ihn die Fremdarbeiter verließen, und die Russen seinen Bekehrungseifer mißzuverstehen drohten, ja, ihn wahrscheinlich Mrs. Verhoeven in den Himmel nachgeschickt haben würden, wenn nicht das britische Bändchen im Knopfloch des wütenden Heilsarmeeoffiziers sie abgehalten hätte. Nun gut – auch die Russen gingen vorbei, die Kommandantur wurde aufgehoben und wechselte ihren Platz. Was sollte also Verhoeven beginnen, da die Nazis verschwunden waren, seine Freunde, die Fremdarbeiter, die Russen; da die Ziegelei noch nicht wußte, ob sie der Wille der Arbeiter zu einem Betrieb erklären, den man damals ›volkseigen‹ nannte, oder ob man sie Verhoeven belassen und ihn selbst zum Betriebsführer machen würde, um dem Kind einen Namen zu geben.

In diesem Zwischenzustand fiel alles wieder in sich zurück: die Herstellung stockte, die Bauern fluchten, wenn ihnen der Regen den blutroten Faden des Ziegelmehls unter die Hoftore peitschte, weil der bürokratische Marek befahl, die Straßen sauber zu halten, und die Arbeiterschaft – verdrossen und unruhig – kaute stumm auf den Fingernägeln. Verhoeven ging Schach spielen oder lud den Doktor zu sich ein. Cuille kam auch und kletterte mit 254 Verhoeven die Leiter aus Schiffstauen hoch, die zu der ›Kabine‹ führte; einem Lattenverschlag, den Elias mit nautischen Geräten und Globen, Landkarten, englischen Büchern und Atlanten vollgestopft hatte. In einem tiefen Wandschrank verborgen, standen die zahlreichen Schnapsflaschen noch, die den Krieg überdauert hatten. Ihnen zuzusprechen, war jetzt der Trost des Ziegeleibesitzers; und während er schon seit Jahren keinen Tropfen mehr angerührt hatte, sondern nur in Träumen mit diesen Flaschen wie ein schnauzbartgezierter Feldherr mit seinen Zinnsoldaten groß vor sich selbst paradierte, geriet er nun von neuem in den lieblich schillernden Suff und Sumpf, aus dem ihn Mary gezogen hatte, und wurde wieder der alte Elias, der er einmal gewesen war. Er erzählte von seinen großen Reisen, von Seeräubern, Haifischen, Geishas und chinesischen Lasterhöhlen; er ließ seiner Phantasie freien Lauf und endete schließlich, emphatisch gerührt, bei seiner Bekehrungsgeschichte. Angekommen an diesem Punkt seiner reichlich wilden Navigation in sagenhaften Meeren, legte er dann den Kopf auf die Arme und begann ein Erweckungslied zu singen, das durch die Wände drang; wäre die einsame Ziegelei nicht so abgelegen gewesen, so hätten wohl die Bewohner des Dorfes diesen Singsang für einen Gespensterchoral oder für Windesheulen gehalten, das aus dem Kaminschlot kam.

Der Doktor betrachtete ihn verächtlich, indem er das schildpattgefaßte Lorgnon in Augenhöhe hob. Sein Herz, das sich mit Sternbildern, Schiffen und Palmenküsten angefüllt hatte, floß wieder aus und zog sich zusammen, während Verhoeven sang. Eisige Schwermut und Kälte des Weltraums erfüllte ihn trotz der Hochsommerhitze, unter der die ›Kabine‹ knisterte; er murmelte etwas von Krankenbesuchen, warf die Strickleiter abwärts, stieg hinunter und tauchte in die Nacht. 255

In dem Pfarrhaus war gewöhnlich noch Licht, wenn er vorübertappte. Eine Ölfunzel warf ihr blakendes Licht, das Schmetterlinge und Motten anzog, über die Bücher der alten Propheten, deren Weissagung in Erfüllung gegangen und bis auf das letzte Komma nun eingetroffen war. Der Pfarrer, von seinem Husten gequält und daher häufig schlaflos, saß oft bis zum ersten Dämmern in seinem Studierzimmer auf. Er las und schrieb oder dachte nach. Er las zuerst Baruch, wie ihm Verhoeven damals geraten hatte; dann den geheimnisvollen Ezechiel mit seinen vier Flügelwesen, die Weissagungen des Propheten Daniel über die Weltzeitalter und zuletzt Jesaia und Jeremia; den Brief des Jeremias an Baruch und die Buchrolle des Ezechiel, die mit Klageliedern, Seufzen und Weheklagen innen und außen bedeckt war. Er las diese Bücher mit einer Spannung, als ob er sie heute zum ersten Mal läse, er las sie langsam und grübelnd zu Ende und fing wieder von vorne an. Während das Rüböl in seinem Lämpchen sich allmählich verzehrte und niederbrannte, leuchtete immer stärker der altertümliche Schriftsatz des Buches, das schon sein Großvater, als er fast blind war: der Justitiar Jacobsen aus Stettin, benutzt hatte, in seinem Innern auf und machte es schließlich so hell wie das Feuer, das zwischen den vier geflügelten Wesen wie ein Weberschiff hin und her ging und von rötlichen Blitzen durchzuckt war. Bis sie ihn blendeten, sah der Pfarrer auf diese vier Wesen hin und hinein in den Himmel von Eiskristall, über welchem der Thron aus Saphir stand und darauf die Gestalt eines Mannes, die außen von Silbergold war, aber innen von Feuer und Glut. Auch seine Ohren schlossen sich auf und hörten das Flügelrauschen und den Lärm, den die Flügel machten – wenigstens glaubte er eine Zeitlang, daß das Rauschen in seinen Ohren wäre, und die Blendung in seinen Augen, die auf die vier Wesen starrten . . . aber 256 dann merkte er, daß dieses Blitzen und das Donnern, welches den Blitzen folgte, in seiner eigenen Brust war, die nun anfing, davor zu beben.

Er nahm den Richtspruch über die bösen und eigensüchtigen Hirten entgegen und las, daß, weil sie vergessen hätten, das Schwache zu warten, das Kranke zu heilen, das Gebrochene zu verbinden, ihrem Hirtenamt ein Ende gemacht, und die Schafe ihnen für immer entrissen werden sollten. Er dachte nach. Dieser Spruch war gerecht, denn er hätte es wissen können. Er hätte, was Recht und Unrecht war, was zu fürchten und zu verwerfen, auch ohne die Gabe, die Paulus ›Unterscheidung der Geister‹ nannte, an jenem Brief lernen können, den Jeremia dem Baruch schrieb, damit er den gefangenen Leuten, welche der Babelkönig in die Konzentrationslager führte, zur Stärkung verlesen werde. Diese Götzen – »sie sind wie ein Balken, der aus dem Hause hervorsteht; ihr Inneres, sagt man, ist aber von Erdwürmern ausgehöhlt; auf ihrem Leib und auf ihrem Kopf fliegen Fledermäuse und Schwalben und andere Vögel herum; ebenso springen Katzen darauf – – kommt Krieg oder sonst ein Unheil, so beratschlagen ihre Priester über die Götterbunker – – wie kann man da nicht begreifen, daß keine Götter sie sind? Bricht einmal Feuer aus in dem Haus der Gold- und Silbergötzen, so fliehen ihre Priester und retten sich bei Zeit; sie selber aber, wie Balken, brennen dann mitten durch« Und wieder und wieder die Frage: »Wie kann man da ernstlich glauben, daß jene Götter sind?«

Trotzdem hatte er selber zu den Lügengöttern gebetet und würde auch weiterhin noch zu falschen, immer zu falschen Göttern beten: heute wie gestern und übermorgen, weil die Gabe der Unterscheidung ihm fehlte, und niemand da war, um ihm zu sagen, was er anzunehmen, was zu verwerfen und was zu behalten hatte. Jetzt freilich, da das Unglück geschehen und nicht mehr gut zu 257 machen oder in seinen Folgen zu eliminieren war – jetzt wurde ihm das Warum der Dinge endlich erbarmungslos klar. Das Warum der Dinge, und wie sie den Fortgang aus ihrer Ursache nahmen: »ein jedes ging gerade vor sich hin«. Er fragte nicht mehr nach alter Weise: wofür der Herr, unser Gott, uns dies antat; denn schon die Väter dieses Geschlechts aßen Herlinge, aber den Söhnen erst wurden die Zähne stumpf. Ja, Herlinge, dachte er. Herlinge alles, was die Väter auf ihren Schulen genossen und später von den Kanzeln herunter den Hörern hingeworfen und zur Speise gegeben hatten. Herlinge – aber jetzt: »verzehren wir all unser Brot nach Maß, wir holen es mit Einsatz unsres Lebens in der Wüste und trinken unser eigen Wasser nur um Geld«. Recht so. Sie waren schon lange gewarnt, die Hirten, die Wächter waren gewarnt und hatten nicht hören wollen. »O Menschensohn«, las er im Weiterblättern, »du wohnst im Haus der Widerspenstigkeit, bei solchen, die zum Sehen Augen haben, doch nicht sehen; zum Hören Ohren, doch nicht hören, gerade weil ein Haus der Widerspenstigkeit sie sind.«

O Menschensohn –! Er las: »An jenem Tag des Schreckens wirft in die Ratten- und die Fledermäuselöcher Jeder die Götzenbilder, silberne und goldene, die er zur Anbetung sich angefertigt hatte.« Vor den Augen des Pfarrers, die er jetzt schloß, weil der beißende Rauch des Rüböls sie quälte, ging noch einmal der Zug der Eroberer mit Roß und Wagen vorüber, dröhnend von weitem, den Tag verdunkelnd, »doch schon ists wieder Nacht.« Er sah den Sendboten auf dem Wagen, der anhebt und spricht: »Gestürzt ist die Hauptstadt – und ihre Götter hat man zerschmettert an der Erde . . .«, doch er wußte nicht, ob diese Worte Babel oder Jerusalem galten, denn Gericht war alles hüben und drüben, und überall fielen die Götzenbilder von ihren Postamenten, denn nur Einer war Gott, und nur Einer 258 übte Gerechtigkeit; er kam von dem Sinai und von Edom, der große Keltertreter mit seinem geröteten Kleid. Und wieder ließ der Pfarrer die Hände heruntersinken, mit denen er seine Augen bedeckte, seine Daumen, mit denen er wie ein Knabe die Ohren sich verstopfte, und die Arme, auf die er sein Kinn gestützt hatte, und horchte in die Nacht . . .

»Ich sah das Land, und es war wüst und öde – und dann gen Himmel, und sein Licht ist fort . . . Ich schau, und sieh: da gibt es keine Menschen, und alle Vögel unterm Himmel sind davon . . . Ob des Geschreies: ›Reiter! Bogenschützen!‹ sind alle Städte auf der Flucht.«

War es gestern erst, daß die Feinde kamen, oder war es schon lange her? Der Pfarrer blätterte vor und zurück und las bei Jeremias: »O seht, ich brachte über euch ein Volk aus fernem Lande. Ein unverwüstlich Volk war es, ein uralt Volk. Ein Volk, von dessen Sprache du nichts wußtest, von dem du nicht verstandest, was es sprach. Und deine Ernte, wie dein Brot verzehrte es. Verzehrte deine Söhne, deine Töchter. Verzehrte deine Schafe, deine Rinder. Verzehrte deinen Weinstock, deinen Feigenbaum. Zerstörte deine festen Städte, auf die du dich verließest mit dem Schwert.«

Und bei Isaias die dunklen Worte: »In einer häßlichen und fremden Sprache wird Er zu ihnen reden: saw, lasaw, saw, lasaw; kaw lakaw, kaw lakaw. Schon angeordnet! Nur warten, warten! Kurzformen hier und dort . . .«

Der Pfarrer stöhnte. Gott sprach nicht mehr. Selbst in dem Buch der Propheten sprach er zu ihm nicht mehr. Auch in der nächsten Zeit, die jetzt folgte, und zu den Geretteten, die das Schwert und den Hunger vielleicht überdauern würden, sprach der Gott der Verheißung nicht mehr. Denn sie waren verhärtet. Sie trieben weiter, was sie vorher getrieben hatten. Und er las bei Ezechiel: »O Menschensohn, siehst du, was Jene treiben? Siehst du, was dort 259 die Ältesten im Finstern treiben? Sie sagen ja: ›Es sieht der Herr uns nicht; es hat der Herr das Land verlassen‹

»Mein Land, mein Land!« sagte Jacobsen laut; es klang, als hätte ein Echo die Klage aus der trostlosen Nacht zurückgeworfen, die vor dem Fenster stand. Ihm war zu Mute, als ob alle Häuser bereits von Menschen entleert, und die Felder, obwohl es Hochsommer war, über und über von Disteln bedeckt und für immer verlassen waren. Noch einmal Isaias. Ja, ja. So war es. So würde es künftig sein: »In seinen Schlössern wachsen Dornen; in seinen Burgen Nesseln, Disteln. Zur Wohnung dient es den Schakalen, zu einem Tummelplatz den Straußen. Mit Wölfen streiten wilde Katzen sich um Plätze. Bocksgeister treffen dort einander; es herrschet auch der Nachtgeist dort und findet eine Ruhestatt für sich. Die Pfeilschlang' nistet da und legt und brütet aus und rollt in seinem Schatten sich zusammen. Dort sammeln Geier sich, zu seinesgleichen Jedes. Befragt das Buch des Herrn und lest!«

Jetzt gab sich der Pfarrer endlich gefangen. Ein rauhes Schluchzen, von Blut untermischt, drang plötzlich aus seiner Kehle. Er spie und glaubte die Herlinge, welche die Väter genossen hatten, aus seinem Mund zu speien; aber indem er schluchzte und spie, empfand er nicht mehr den bitteren Herling, auf dem Jene herumgekaut hatten, sondern den süßlichen, dumpfen Geschmack seines ungehorsamen Blutes, das ihn jetzt stoßweis verließ. Er empfand einen Frieden inmitten der Trauer, die wie eine Woge war, wie ein Meer, ihn sanft hinwegzutragen. Er war angenommen. Ihm war vergeben, er fühlte und wußte es. Trotz seiner Torheit war ihm vergeben, trotz seines irrenden, armen Herzens und seiner Kurzsichtigkeit. Wenn er klagte, klagte er nicht mehr allein: Jeremias klagte, und jener Dritte, dem die Bruderkirche am Kreuz die Worte des Klagegesangs in den Mund gelegt hatte, klagte mit 260 beiden mit. Seine Verse gliederten dieses Land durch Aleph, Beth, und Ghimel, die den Strophen vorangestellt waren. »Aleph. Ich bin der Mann, der sein Elend, sein ihm zugemessenes, sah und Seines Grimmes Rute. Aleph. Mich drängte er in das Finstre und führte mich nicht zu dem Licht. Aleph. Er kehrte seine Hand gegen mich; immer wieder den ganzen Tag. Beth. Verschrumpfen machte er meine Haut und brach mein Gebein entzwei. Beth. Er umbaute mich ringsumher mit Steinen und gab mir Galle zu essen. Beth. Er versetzte mich in das Dunkel, zu den ewig Toten mein Herz. Ghimel. Ummauerte mich, daß ich Ihm nicht entkäme, und legte Fesseln mir an. Ghimel. Ob ich auch rufe und bitte, weist er mein Flehen ab. Ghimel. Mit Quadersteinen versperrt er mir meine Wege und untergräbt meine Pfade, damit ich nicht fliehen kann.«

Gut so. Er würde jetzt nicht mehr fliehen, er würde sich nicht mehr verbergen, wenn Gott ihn suchen sollte. Große Wegweiser standen über dem Land, das Land war abgesteckt wie eine Karte, auf der nichts vergessen war. In kyrillischer Schrift, in hebräischen Lettern stand Gottes Gericht über diesem Land und würde noch langes tehen . . .

 

Auch der Argo, die über dem Wasser der Trübsal, dem Wasser der Tränen, dem Wasser der Reue unter heillos glühendem Himmel ruhte, wiesen die Lettern den Weg. Wie ein Matrose den anderen erkennt an seinem merkwürdig schwankenden Gang, der Tätowierung oder allein schon an dem durchgestochenen Ohrläppchen mit dem winzigen goldenen Ring, so hatte auch Verhoeven die Argo und die drei Argonauten erkennt, die sich – taumelnd vor Hitze – die Straße entlang und zu dem Marktplatz bewegten. Warum Elias gerade zu dieser Stunde [angetrieben vom Geiste wie einer der Propheten] seine lächerliche Kabine verließ, um in das Dorf zu gehen, wußte er 261 selbst nicht zu sagen. Denn er liebte es nicht, sich wie Katzen und Hunde der Sonne auszusetzen, die auf der zerschnittenen Löwenmähne des erweckten Elias Verhoeven wie Feuer brüllte und brannte, die ihn schwindelnd machte und ihm den Tag in Nacht verwandelte. So war denn auch heute für sein Gefühl kein Unterschied zwischen beiden, und die gleiche Finsternis, die den Pfarrer beim Lesen der Propheten und dem inneren Anblick des Landes umgeben hatte, entflammte nun plötzlich des guten Elias Gehirn. Er war wie ein altes Segelschiff, das auf dem indischen Ozean ohne Sterne und ohne das leiseste Lüftchen um Mitternacht stille liegt, nur auf sich selbst angewiesen; auf seine Ahnung, auf sein Gespür und die magischen Navigationsgeräte, die sein Geist aus sich selbst hervorgebracht hatte; vielleicht auch noch auf die Galionsfigur mit den blonden, gedrehten Locken und weitgeschnittenen blauen Augen, die ›Mary‹ hieß und von dem kindlichen Herzen des verrückten Steuermanns unaufhörlich um Fürbitte angefleht wurde.

Mit seinem leise wiegenden Gang trat er auf Ewald Hauteville, Irene und Friedrich Am Ende zu und fragte woher und wohin. Irene – mit schweißübergossenen Zügen und tödlich erschöpft unter glühender Röte – sank seufzend auf die einzige Bank, die in dem dürftigen Schatten der durchsonnten Platanen stand. Mochte Ewald ihm antworten, wenn er wollte; ihr selbst war es einerlei. Friedrich Am Ende, wieder einmal in seiner Absicht gehindert, sich von den Andern zu trennen, betrachtete den älteren Mann mit dem Tropenhelm und dem britischen Bändchen halb mißtrauisch, halb mit der Neugier des Menschen dieser Zeit. Nur Ewald Hauteville gab Verhoeven Antwort und fragte ihn, ob in dem einsamen Dorf eine Unterkunftsmöglichkeit sei; irgend ein Gasthaus, ein Bürgermeister, bei dem man die Nacht über bleiben könne, und 262 wo auch die Vorhut der Reisegesellschaft wahrscheinlich schon untergekommen wäre, fügte er noch hinzu.

Elias lachte mitleidig auf. »Sie sind der Erste, mein lieber Herr, der hier auf der Sandbank gestrandet ist«, sagte er in seinem üblichen, befremdenden Jargon. »Und eher schluckt Sie der Erdboden ein, als daß eine Tür sich auftut, um Ihnen Zutritt zu geben.«

»Er muß wohl oder übel unsere Freunde schon eine Weile eingeschluckt haben, denn sie wollten nicht weitergehen und sind auch nirgends zu finden«, erwiderte Ewald ruhig.

Verhoeven sah ihn nachdenklich an. »Dann – kann ihr Schiff nur von Külle aufgebracht worden sein«, sagte er zu sich selbst. »Los, Mädel!« rief er gutmütig aus und faßte Irene unter den Arm. »Ich zeige euch den Weg. Zehn Minuten, dann sind wir da. Five o'clock tea mit einer Mischung aus Kamillen und Pfefferminz, und wie bei Ezechiel, geröstetes Brot auf Rindermist gebacken. Oha, meine Herrschaften – denkt ihr vielleicht, Verhoeven sei verrückt?«

»Besoffen und bibelkundig«, erwiderte Ewald Hauteville gelassen und lächelte Fräulein von Dörfer mit verstohlener Heiterkeit zu.

»Richtig«, sagte Verhoeven behaglich. »Besoffen und bibelkundig und durch Gottes Gnade erweckt. Jawohl –!« schrie er glücklich und sprang wie ein Affe auf die arme, eiserne Anlagenbank, die unter ihm wackelte. »Setzt euch her. Ich muß euch allen erst von meiner Bekehrung erzählen – und wie Mary das Strumpfband über die Bibel und mit der Bibel die Schlagader abband, an der ich fast schon verblutet wäre«, setzte er mysteriös hinzu und blickte alle der Reihe nach an, um die Wirkung dieser komischen Worte an ihren Gesichtern abzulesen, die ihm sprachlos zugewandt waren.

Schließlich setzten sich alle hin, weil ihnen ja auch im 263 Grunde nichts anderes übrig blieb. Verhoeven griff listig blinzelnd in die Brusttasche seines Leinenjacketts und holte ein flaches Fläschchen mit Zwetschgenwasser heraus, schraubte den Deckel ab, goß Irene mit beruhigendem Brummen ein und hielt es ihr an den Mund; sie lächelte, schluckte, verschluckte sich und reichte den Becher an Ewald weiter, der seinen Inhalt hinunterstürzte und den Schraubverschluß wieder Verhoeven zurückgab, der ihn von neuem füllte. Friedrich Am Ende winkte ab, ohne den Mund zu verziehen. »Ich möchte meinem Nirwana nicht mit Schnaps im Wege stehen«, sagte er höflich; es klang wie ein Scherz, den man nicht zu belachen wagte.

»Soso. Vielleicht hast du recht Kamerad«, knurrte Verhoeven verlegen. »Vielleicht würde Mary genau so denken«, sagte er schuldbewußt.

»Ist Mary Ihre Frau, lieber Herr?« fragte Irene freundlich.

»Meine Frau – mein Schiff – und mein Hoffnungsstern«, gab Verhoeven gerührt zurück. »Es ist hübsch von der Dame, nach ihr zu fragen; auch Mary war eine Dame, mein Fräulein, wie es keine Damen mehr gibt. Sie war sogar eine englische Miß und ein Heilsarmeeoffizier. Wollte ich ihr meine Liebe beweisen, so nannte ich sie Miß Dawson oder auch Leutnant Dawson, obwohl ich sie schon lang Verhoeven hieß. Verhoeven –«, setzte er mit dem Versuch einer Verbeugung hinzu und deutete auf das britische Bändchen an seinem Leinenjackett.

»Ein eigenartiger Liebesbeweis«, murmelte Ewald erstickt vor Lachen und blickte Irene an.

»Eigenartig. Sehr richtig. Mary war eigenartig. Sie war die eigenartigste Frau, die mir jemals begegnet ist«, sagte Verhoeven entzückt. »Obwohl sie Jesus-Visionen hatte, war sie ungeheuer praktisch veranlagt und färbte mit ihrem Wohltätigkeitssinn wohltätig auf mich ab. Sie 264 hätte natürlich niemals geduldet, daß ich auf offenem Marktplatz hier mit Ihnen Zwetschgenschnaps trinke, o nein, sondern hätte wahrscheinlich unverzüglich mit Ihrer Bekehrung begonnen.«

»Ich zweifle nicht daran«, sagte Hauteville mit steinernem Gesicht. »Die Hitze ist enorm.«

»Nichts besser als Branntwein gegen die Hitze oder ein heißes Bad von Graden, wie die Japaner es lieben. Ich habe da einmal in Tokio –« Plötzlich schlug er sich vor die Stirn und blickte Irene an. »Lieber Gott, meine Dame, entschuldigen Sie«, sagte er ganz normal. »Ich glaube, Mary hätte am Ende doch praktischer gehandelt und Sie zuerst zu Külle gebracht, damit Sie sich erholen.«

»Külle – wer ist das?« fragte Hauteville.

»Das ist Doktor Cuille oder Külle, wie die Bevölkerung sagt. Der Medizinmann. Die Russen haben sein Weibsbild erschossen: Jette, Hendrikje, wie er sie nannte. Ein braves Stück Hurenfleisch. Mary hätte gesagt –«

»Nicht doch, mein teuerster Herr Verhoeven«, fiel ihm Irene ins Wort. »Das führt uns wieder zu weit.«

»Richtig«, sagte Verhoeven gehorsam. »Das führt uns entschieden zu weit. Es ist besser den kürzesten Weg zu Doktor Cuille zu gehen. Avanti! Allons, enfants! Let us go! I expect – – na, geben Sie mir mal den Arm, liebes Fräulein. Ich tue, wie Nelson es wollte, nichts weiter wie meine Pflicht.«

Gleich darauf setzte der wankende Zug sich wirklich in Bewegung. Im Weitergehen erläuterte Verhoeven halb mit Lokalstolz, halb mit Verachtung die Merkwürdigkeiten, die das Dorf den Reisenden bot. »Der Obelisk hier: ich bitte Sie, sich alle einzubilden, daß Sie in merry old England auf dem Trafalgar Square stehen. Wie meinen Sie? Lächerlicher Vergleich? Fühlen Sie nicht, daß dieses Symbol eine Magnetnadel ist? Geben Sie acht, ich meine das 265 so: solch ein Ding hier in der märkischen Wüste läßt keinen Zweifel darüber zu, daß wir weder in Afrika, noch in Ägypten, sondern in Brandenburg sind – meinetwegen auch in Paris: auf der Place de la Concorde, meine Lieben, oder in Karlsruhe, dieser Stadt, die einem Kasernenhof gleicht. Kurzum – in Europa, das die Symbole der anderen Erdteile aufgeschluckt hat wie ein Walfisch, der, wenn er das Maul auftut, ganze Züge von Heringen und nebenbei auch manchmal einen Propheten verschlingt, welcher ihm Magenschmerzen bereitet und wieder ausgespuckt wird.« Er lachte über den eigenen Witz schallend und kindlich auf. »Herrschaften, Herrschaften«, sagte er dann, »Europa hat einen Katzenjammer und spuckt Asien in Übelkeit, Konvulsionen und zitternder Angst wieder aus. Obeliske, Sphinxe und Pyramiden, die Nofretete, den Marmorolymp und den Tempel von Boro-Budur. Das alles steigt jetzt Europa hoch, weil es so wenig verdaut worden ist, wie damals der Prophet. Überall findet man östliche Dinge, die Europa ausgespuckt hat, vielleicht ist die Jungfrau schwanger, wer weiß es, und bringt etwas Unerhörtes zur Welt, das wir jetzt noch nicht ahnen können.«

»Und wie wird dieses Monstrum aussehen, he, das Europa hervorbringen wird?« fragte Friedrich Am Ende kalt.

 

Etwas Ähnliches fragte auch Doktor Cuille, als sie alle beisammensaßen, Herrn Levi-Jeschower; er fragte nämlich, ob er wohl glaube, daß dieses Deutschland, dieses Europa noch immer der Ausbildung neuer Gestalten und Ordnungsprinzipien fähig sei – vergleichbar mit der Anwesenheit der ›aperiodischen festen Körper‹, die den höchsten Grad von Assoziationen der Atome darstelle, wie er sagte; eine mit nichts vergleichbare Ordnung und Regelmäßigkeit.

Dieses Gespräch wurde seltsamerweise in dem 266 Ordinationszimmer Cuilles geführt; es war Mittwoch, die Sprechstunde ausgefallen und die Nesselvorhänge zugezogen, sodaß der Behandlungsraum in der kalten und sachlichen Atmosphäre seiner Bestimmung lag. Man hatte sich dorthin zurückgezogen, weil es hier am erträglichsten war, und einer geheimen Logik zur Folge entwickelte sich sofort jene Frage, die bei Tee und Keksen begonnen hatte [es war übrigens schwerer russischer Tee aus einer schönen, bemalten Büchse, die die Russen zurückgelassen hatten], in der Nähe von Reagenzgläsern, Scheren, Skalpellen und Pinzetten zu einem der großen Sternengespräche, die in den eisigen Räumen des Geistes, das persönliche Schicksal beiseite lassend, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit bis auf den Kern herunter geschält, oder als reine Essenz der Gedanken einer Verbindung ausgefällt werden, die sie hinderte, ihren belebenden Duft in aller Wirksamkeit zu entfalten wie Ozon und ätherisches Öl. Natürlich ging Rede und Gegenrede in erster Linie zwischen Jeschower und Cuille hin und her; hernach zwischen beiden und Albrecht Beifuß, zuletzt auch Friedrich Am Ende und Ewald Hauteville einbeziehend, welcher – er wußte selbst nicht warum – dieses Gespräch als etwas empfand, das einer Reinigung ähnlich war; der Desinfektion einer Wunde vergleichbar, welche durch ätzende Prozeduren dem Zugriff des Messers bloßgelegt wird, das in der Tiefe des Körpers fortsetzt, was auf der Oberfläche der Haut erst vorbereitet war.

Herr Levi-Jeschower wollte dem Arzt, seine Prämisse beiseiteschiebend, die sich nach Art des Naturwissenschaftlers auf Chromosome, Assoziationen und andere Gebilde bezog, schon antworten, als sich Cuille erhob und in dem Zustand starker Erregung auf und ab zu gehen begann. »Was ich klarmachen möchte«, sagte er rasch, »ist die Tatsache, daß wir heute fast alles, was wir von 267 Wandlung und Mutation der lebenden Materie bisher zu wissen glaubten, über Bord werfen müssen, mein Herr. Es scheint nämlich, daß die erstaunliche Gabe des lebenden Organismus, Ströme von Ordnung auf sich zu ziehen und damit dem unausweichlichen Rückfall in atomares Chaos geheimnisvoll zu begegnen, mit der Anwesenheit – ich sagte es schon – gewisser Moleküle in Verbindung steht und im Gegensatz zu dem wohlbekannten Prinzip, das Ordnung aus Unordnung hervorbringt, den Gedanken an eine Ordnung zuläßt, die sich aus Ordnung ernährt. Welch eine Vorstellung«, fuhr er mit unterdrückter Leidenschaft fort, »daß der lebende Organismus Ströme von Ordnung auf sich versammelt, ja, Ordnung aus Ordnung trinkt! Daß bisher die Physiker nur das Prinzip: ›Ordnung aus Unordnung‹ kannten, ist uns schon lange bewußt, und mit Recht sind sie stolz darauf, diese Herren, weil nämlich darin allein das Verständnis der großmaßstäblichen Züge aller Naturvorgänge und zum Beispiel das wohlbekannte Gesetz ihrer Unumkehrbarkeit liegt.«

»Aber –?« fragte Jeschower gespannt und erhob sich von seinem Stuhl.

Der Arzt strich behutsam die Asche von seiner Zigarre ab und sagte nachdenklich: »Aber zur Deutung der Vorgänge innerhalb der belebten, der organischen Natur, liebe Freunde, reicht dieses Gesetz nicht mehr aus.« [Im stillen wunderte sich Doktor Cuille, daß ihm die Redensart ›liebe Freunde‹ unkontrolliert entschlüpft war.]

»Also handelt es sich«, fragte Beifuß rasch, »um kein physikalisches Grundgesetz mehr, sobald wir an das Phänomen ›Leben‹ und seine Ordnungen rühren?«

»Dieses ›Aperiodische‹, wie Sie es nannten«, fuhr Lotte Corneli atemlos fort, »das innerhalb des organischen Lebens den Atomaufbau reguliert, wäre so etwas wie eine Verbindung von Naturgesetz und Magie? Ein 268 kompositorischer Vorgang gleichsam, in welchem sich Mathematik und Rhythmus die Hände geben, wie?«

Der Arzt von ihrer Schönheit betroffen, die plötzlich wie der silberne Strahl eines Springbrunnens zwischen den Männern emporstieg, streichelte mit einer sanften und flüchtigen Bewegung, die einer Huldigung gleichkam, über ihr flimmerndes Haar. »Nein, Melusine«, sagte er ruhig. »Hier waltet keine Magie.« Und zu Beifuß gewendet: »Ich glaube, nun gehen Sie zu weit. Die beiden Vorgänge: Ordnung aus Ordnung – und Ordnung aus Unordnung zu erschaffen, sind doch nur abgewandelte Typen desselben Naturgesetzes. Vielleicht aber darf man vorwegnehmend sagen, das neue Prinzip in dem Aufbau des Lebens sei nichts anderes als das Prinzip der Quantentheorie.«

Florentine schüttelte sich mit einem kleinen Lachen und sagte: »Um Ordnung aus Ordnung zu ziehen, müßte doch etwas wie eine Insel von Ordnung noch unter uns sein.« Über sich selbst erstaunt, fuhr sie fort: »Aber zu solch einer Insel sind wir ja unterwegs.« Sie erhob sich mit einer geschmeidigen, entschlossenen Bewegung, die sie um Jahre verjüngte, füllte von neuem Tee in die Tassen und bot aus einem silbernen Körbchen die Hagebuttenkekse, ein bitterlich schmeckendes, hartes Gebäck, mit freundlichem Lächeln an. »Ich glaube«, fuhr sie dann unbefangen und mit der Sicherheit einer Frau fort, die es von früherer Zeit her gewöhnt ist, ein Männergespräch zu lenken, »das ist es doch, was Sie mit Ihrer Frage nach der Möglichkeit eines Ordnungsprinzips in Deutschland wissen wollten?«

»Durchaus. Genau das meinte ich eben«, erwiderte Doktor Cuille. »Zeichnet sich irgend ein Kräftefeld ab? Ein Grundriß? Die Lineatur eines Planes, den wir erst ahnen mögen?«

»Man kann auf so verschmutztem Papier nichts unterscheiden, Herr Doktor Cuille. Man weiß nicht, was alt und was neu ist«, warf Ewald finster ein. »Wahrscheinlich wird 269 man das ganze Blatt kurzerhand umdrehen müssen«, fügte er noch hinzu.

»Ich fürchte«, gab Doktor Cuille zurück, »es ist schon allzu oft umgedreht worden, und wenn man es heute wieder von neuem versuchen wollte, schlüge das Blut und der Eiter auf seiner Rückseite durch.«

»Ich denke, man sollte weiterblättern«, warf Friedrich Am Ende ein.

»Und Klio«, fragte Jeschower spöttisch, »schreibt dann ein neues Kapitel auf dieses Unschuldsblatt?«

»Sie wird überhaupt nichts mehr schreiben, Jeschower. Verlassen Sie sich darauf. Sie wird sich ein paar Gedächtnishilfen und einige Fußnoten machen zu ihrem eigenen Gebrauch. Den Brotpreis. Die Notierung von Dollar oder Pfund. Keine Hymne. Keine Anabasis mehr . . .«

»Aber vielleicht ein Gebet«, sagte Irene still. Schweigen verbreitete sich in dem Raum der Hoffnungslosigkeit. Ein großer Brummer schlug immer wieder mit dumpfem Knallen gegen das Fenster, er mußte sich unter der Vorhangleiste schon lange verfangen haben und setzte nun seine Bemühungen fort, ohne das Helle, wogegen er anstieß, als das zu begreifen, was es doch war: nämlich undurchlässiges Glas.

Endlich sagte Herr Levi-Jeschower: »Aber die aperiodischen Körper – die Ordnungsmagneten des Organismus, die heilen Inseln in diesem Meer aus Eiter, Blut und Tränen –« er brach ab und blickte Irene an, um leise fortzufahren: »Sie sagten – vielleicht ein Gebet.«

»Ich sagte es«, erwiderte jene.

»Sie haben recht«, fuhr Jeschower fort. »Das Stundengebet. Die nicht endenden Horen, die einander die Hände reichen.«

»Anastasiendorf?« fragte der Doktor scheu. »Ich habe davon gehört. Sind Sie dorthin unterwegs?« 270

»Ich glaube, wir sagten es Ihnen bereits, als wir uns vorgestellt haben«, erwiderte Florentine.

»Die Insel des Friedens«, fuhr Ewald fort. »Die heile Ordnung. Das Ziel der Argo. Das Haus zu dem Goldenen Vliess.«

»Dann sind Sie wohl selber die Argonauten?« fragte der Arzt erheitert. »Keine ungefährliche Unternehmung, wie mir erinnerlich ist.« Er trat auf Lotte Corneli zu und betrachtete mit dem reinen Entzücken eines Kunstkenners die verlockende Bildung ihrer mädchenhaften Erscheinung: den lazertenhaft sich entziehenden Körper, die schimmernden Arme, das braungoldne Haar, das in sanften Wellen die Schläfen herabfloß, die volle, weibliche Brust. »Man dürfte solche Frauen wie Sie nicht an Bord eines Schiffes nehmen«, sagte er dann galant. »Sie stören seinen Kurs.«

In diesem Augenblick wachte Verhoeven, der bisher den Gesprächen mit halbem Ohr und schläfrigem Mißvergnügen gefolgt war, wie auf ein Stichwort auf. »Sie haben recht«, rief er streitsüchtig aus. »Man fährt nicht mit einer Nixe als Galionsfigur über See.«

»Nun, nun, Elias«, brummte der Arzt. »Wen sollte man, deiner Meinung nach, sonst zur Galionsfigur wählen?«

Der Andere starrte den Doktor an und fiel in sich zurück. »Mary . . .«, murmelte er wie im Schlaf. »Mary natürlich. Wen sonst . . .«

Diesem Gespräch schloß sich der Gang in den Garten zu dem Grabkreuz Hendrikjes an.

Man hatte noch endlos fortgestritten und kam in stets wiederholter Bemühung auf den Lebensprozeß zu sprechen, und wie Leben sich regeneriere; auf Zwang und Freiheit, Gesetz und Willkür, Zufall und Kausalität. So war es auch nicht von ungefähr, daß die Schritte von Jeschower und Cuille zu der Stätte hingelenkt worden waren, wo das Mädchen Hendrikje ruhte, das wie die Biene der Liturgie 271 aus Unordnung Ordnung gesogen, und mit dem eigenen Leib die Zelle, die es selbst hervorgebracht hatte, gegen den Tod, den Zerfall und die Willkür ohne Zögern verteidigt hatte. Ihr Geheimnis hatte ›Demut‹ geheißen, eine Demut, durch die, wie Jeschower sagte, ›die Magdschaft des Alten Bundes geheiligt worden war‹. ›Demut. Rettung des Menschengeschlechts. Regeneration und Heilung – und zuletzt Freude‹, dachte der Arzt, als am folgenden Tag seine Gäste weitergewandert waren. Wie hieß doch die alte griechische Inschrift auf den Tempelmauern der Hagia Sophia, die Jeschower ihm vorgesagt hatte?

Er setzte sich an dem Grabkreuz nieder und ließ den feinen, pulvrigen Löß gedankenvoll durch die Finger rinnen, während er sich besann. ›Freue Dich, Heilige Jungfrau‹, so lauteten ihre Worte, ›mit jubelndem Herzen, weil Freude, Ewige Freude dir gab der Schöpfer von Himmel und Erde.‹

Der Goldlack glühte tiefer und dunkler, die Levkojen dufteten immer stärker, und die heiteren Farben des Bauernphlox schienen an Leuchtkraft zuzunehmen, während der Himmel sich mehr und mehr mit einem Schleier bezog. Die mächtigen, nachtblauen Blüten der Winden, die das Kreuz überrankten, begannen schon ängstlich, weil die Luft sich allmählich mit Feuchtigkeit füllte, ihre Kelche wie zarte, brüchige Fächer in den Adern zusammenzuschließen, ein Schmetterling taumelte ihm auf die Hand und ahmte eine Weile das Bild der geschlossenen Winde nach, bevor er weiterflog. Die Sonne stach mit grausamen Speeren langsam und zögernd durch die Gebüsche, die ein schwacher Windhauch entfaltete, jeder Strahl war wie ein Insektenrüssel, der sich mit feinem, bohrendem Brennen in das grüne Blut und die süße Narbe der zitternden Schöpfung drängte. Mittagsstunde. Der letzte Patient war gegangen, und kein Krankenbesuch so dringend, daß dieser 272 panische Augenblick davon berührt worden wäre. Die Natur war wieder mit sich allein: keine Harke und kein Gespräch unterbrach sie; ja, nicht einmal der spürbare Wechsel der atmosphärischen Luftgeister konnte eine Unrast aufscheuchen, einen Seufzer in ihr zum Tönen bringen. Denn diese letzte, geheimnisvolle Ruhe vor dem Gewitter verstärkte nur noch ihre Einsamkeit; ihre brausende Stille, die wie ein Sog war, in den sich mit sanftem Donnern die Bienen und Hummeln stürzten; ein Abgrund aus Äther; die farblose Brandung unendlich ferner Zeiten, die immer wieder aufs neue den Ursprung des alten Abendlandes an die ägäische Küste des Traumes und der Erinnerung warf: den wilden Lorbeer, die starre Zypresse, den frühesten Apoll. Die griechischen Inseln, Demeter, Kore, die Vorsokratiker. ›Abendland‹, dachte der einsame Mensch am Fuß des Andreaskreuzes. ›Wann begann es, wann hörte es auf? Nichts mehr wollen, nichts mehr erstreben, sondern nur noch still in der Seele sammeln, was dort an kostbaren Ingredienzien, an verschwiegenem Wissen, sakralen Bildern und nicht mehr zu entschlüsselnden Zeilen auf zerbrochenen Tontafeln wie der Rest eines öligen Aphrodisiacums in der Narde hängen geblieben war, und nach Tod und Vergessenheit roch . . .‹

Abendland – und in Sevilla über dem Plattenboden der dämmernden Kathedrale der kultische Tanz der sechs Knaben. Das mystische Ballspiel. Fluß und Bewegung. Geheimniswort aus den dunklen Fragmenten des dunkleren Heraklit: daß der Äon in Wahrheit ein Spielkind wäre – Brettsteine schiebend – König und Kind . . . Brettsteine hin und her. In Sevilla über den Plattenboden. Über den Elfenbein-Ebenholzschachtisch in dem eisigen Escorial. Abendland – Werden, Strömen und Sinken wie der Judenfriedhof in Worms. Seine Grabsteine: maurisch geschwungene Bögen und kleine Minarette, welche die Steinpyramide 273 tragen, Kieselstein, Sandstein, alles gehäuft und übereinandergeschichtet zum Zeichen: auch ich war da. Abendland – Augustinus, Virgil und die Totenmaske Pascals. Abendland – provenzalisches Glänzen, Gesang der Troubadoure. Die Schulen von Köln und Paris. Bonaventura. Die Viktoriner und ihre strahlende Mystik von Bräutigam und Braut. Die Traubenlese der tiefsten Farben in den Fenstern der Sainte Chapelle. Johannes vom Kreuz. Die große Theresia. Greco und Goya. Der Mann mit dem Goldhelm, und dem Genius ein Armengrab . . . Rätsel am Anfang, Rätsel am Ende. Rätsel der Sphinx vor dem Eingang von Theben – – und am Ende neun Tage im windigen Baum: ›Ich selbst, mir selbst.‹ Weltende. Untergang. ›Manches verkünde ich, mehr noch weiß ich. Wollt ihr noch mehr?‹

Nein, dachte Cuille. Es genügt mir. Nein, wirklich: ich wünsche mir nichts mehr. Ich möchte hier sitzen bleiben und warten, bis das Grabkreuz in großen Unkrautruten und Brennesseln versinkt. Unter den Brennesseln sitzen wie eine uralte Kröte mit sanften, gelben Augen, an der sich nichts bewegt. Keine Bewegung. Das Dasein betrachten, sein Gleichmaß, nicht seine Katastrophen, und endlich weise werden. Einschlafen. Träumen und in dem Traum die schleifenden Schritte hören, das Schlurfen und Schleifen der Weltgeschichte; nicht ihre Sprünge am Hexentanzplatz, mit denen sich ihre Vergangenheit im Begattungssprung überspringt. Dieses letzte Glück – ach, Hendrikje, du hast es mir gegeben; dieses Rumpelkammerglück eines Alten, der vorsichtig mit der Ebenholzkrücke zwischen verschossenem Massenkram wühlt: Morgenröcken und indischen Shawls und langen Pantalonen aus kaffeebraunem Samt . . .

Nun war der ganze Himmel bezogen und mit Wolken bedeckt, die von Westen her aus Auberginenblau, 274 Purpurblau, in Dunkelblau und zuletzt in das Schwarz von feuchten Salamandern herüberwechselten, und nur noch an dem äußersten Rande einen Schimmer von Helligkeit aufbewahrten, der kurz darauf erlosch. Noch immer war kein Donner zu hören, und außer dem hohlen Sausen des Windes, der durch die Bäume fuhr, deutete nichts auf den wolkenbruchartigen Regen hin, der bald herniedergehen und den Hügel Hendrikjes zerreißen würde, die kleinen Stiefmütterchen entwurzeln, die ihn einfaßten, und nichts übrig lassen außer den schlanken Winden, die das Grabkreuz umklammerten. Sie allein würden dauern. Sie würden von neuem die großen Kelche öffnen und ihre spiraligen, dünnen Hände in der Richtung des Uhrzeigers drehen, der mit der Sonne ging. Die Bewegung der Winden, die Drehung des Zeigers, der Schatten, den eine Sonnenuhr warf, wenn die Wetter vorüber waren – dieses Leiseste machte gleichfalls Geschichte und ließ die Welt dabei heil . . .

Als Doktor Cuille sich endlich erhob, um zurück in das Haus zu gehen, hatten die ersten klatschenden Tropfen schon die Reisegesellschaft in jene Hütte mit dem Reisighaufen getrieben, wo die ›Geschichte von Sichelchen‹ ihre Ohren erwartete, aber im Grunde nicht ihre Ohren, sondern den aufgebrochenen Acker ihrer Erinnerung. Diese Erinnerung teilten alle, wie die Glieder eines einzigen Leibes miteinander die Liebeslust teilen: das Auge den Anblick, das Ohr das Geflüster, die Nase den Duft, und die Haut die Berührung, die Zunge den Geschmack. Seufzend und widerwillig ertrugen diese zusammengeschmiedeten Menschen die Verstrickung, in welche sich alle immer tiefer hineinbegaben; die Unentwirrbarkeit ihrer Beziehung und das Bild jener Vielgestalt, welches sie waren: ›in Honig und Teer und Federn gewälzt, geblendet, ausgepeitscht und zuletzt sich selbst überlassen‹, wie Sichelchen sagte, und wie sie wohl fühlten, ohne zu wissen, daß mit jedem Blitz, der die 275 Hütte durchzuckte, das blaue Schwert, das sie trennen sollte, schon im Himmel geschmiedet wurde. Aber noch zappelte diese Gestalt wie die Ehebrecherin Aphrodite unter dem Netz des Vulkan. Sie gab ihr Beilager allen Augen, und ihre schamlosen, schändlichen Küsse dem Gelächter der Götter preis, die rings um ihre traurige Hütte hinzugetreten waren. Denn erst, indem sie sich ganz und gar preisgab, konnte ihr auch verziehen werden; und indem sie ihre Strafe empfing, durfte sie hoffen, daß ihre Blöße durch die Buße zugedeckt würde.

So hörten sie auch Florentines Erzählung nur oberflächlich an; sie hörten jedoch eine andere Stimme, die sie mehr und mehr zu sich selber hin und in die mondbeschienenen Grotten ihrer Erinnerung drängte. In diesen Grotten begegneten sie dem Schattenbild ihrer selbst. Sie waren – nicht nur Ewald allein – in die Traumstadt des Minotaurus geraten, in die Totenstadt der Eurydike, die für Ewald Irene hieß; für Beifuß Lotte, für Friedrich das Nichtsein, für Jeschower die Judenbraut. Welch ein Auftrag, die eigene Seele aus dem Orkus heraufzuholen! Diese Seele, die in der Gestalt der Geliebten ihnen, von Leichentüchern umwunden, verschleiert entgegenwinkte! Ein jeder war zum Orpheus bestellt und mußte ohne andere Hilfe als das Lied, das den Unterweltfürsten bewegte, sein Herz aus der Tiefe holen. Das orphische Lied, das die Felsen rückte – wer gab es jedem von ihnen ein, und wer weihte ihn durch das Lied zu dem Orpheus, der ein Abbild des göttlichen Orpheus war, der für die Seele Eurydikes den schrecklichen Preis bezahlte: dem Tod in das Auge zu sehen? Wer machte ihn zum Mitmysten Gottes: descendens ad inferos?

Wer sonst als die Gnade, das zuckende Tasten nach ihrem erschrockenen Herzen? Die blitzhafte Helligkeit einer Einsicht, die gleich darauf wieder in Dunkel stürzte, während das Brüllen der wilden Tiere sie überschüttete. Von Stufe 276 zu Stufe tasteten sie in die Gänge des Labyrinthes hinunter, das ihre Vergangenheit war. Sie fühlten, wie sie gestoßen wurden, und sich dem Augenblick näherten, wo sie Eurydike sahen, das Totenantlitz, das Bild von Sais, das sich entschleierte. Diesen Schemen galt es heraufzuführen, diese Erinnye, ihnen im Rücken, die sie zum Licht geißeln würde. Wie der Dulder Odysseus an seinem Mastbaum, würden sie an ihre Schuld gebunden und von dem Windhauch des Schicksals weitergetrieben werden; sie würden das Goldene Vliess erreichen und bei seinem Anblick endlich wissen, daß sie es niemals gefunden hätten, wenn nicht es selbst sie herangewunken und ihnen wie das Blinklicht am Himmel, das in Abständen um den Horizont geht, den Weg gewiesen hätte. Jedesmal, wenn es ein Zeichen gab, fühlten sie seine Berührung: ein leises Brennen, und wie sich ihr Herz erschrocken zusammenzog. Denn dieses zarte und zugleich starke, unwiderstehliche Element, das dem Himmel sowohl wie der Erde geheimnisvoll beigemischt war, konnte man ebenso gut als Licht wie als Bewegung bezeichnen. Es war Bewegung und Licht in Einem, gelenktes Licht und erhellte Bewegung, und zum ersten Mal war es Hauteville erschienen, als er in jener Nacht vor dem Aufbruch, die ihn an Vera erinnert hatte, auf den Balkon getreten und den Himmel betrachtet hatte, über den die Finger des Scheinwerfers gingen: der erste, der zweite und auch der dritte, der mit dem ersten und zweiten zusammen das an die Sterne entrückte Zelt des Ajax und Agamemnon erbaute; ein Heerlager, wie aus Versen errichtet, aus Licht und Gedanke, eben noch hier und gleich darauf schon wieder abgetragen und einen Flügelschlag weiter von neuem aufgebaut; als das ganze Gewölbe aus Atmosphäre und gelenktem Licht in Bewegung gekommen und lauter Unruhe war; Gehen, Kommen, Verschwinden und plötzliches Wiederkehren. Es war eben derselbe Augenblick, als das 277 Flugzeug über das Atelier von Albrecht Beifuß dahinzog: ein flüchtiges Beben über den Scheiben, nicht mehr als eine Berührung im Traum, dessen Wirkung dem Schläfer zum Anlaß einer Verknüpfung innerer Bilder und tiefer Visionen wird. Es war die Ursache, daß damals Beifuß das Fenster hochgestellt hatte, und das Mondlicht in breiter, blendender Bahn über das Pult des Briefschreibers strömte, und über die Hände des Schreibenden, die wie unter Wasser lagen; als von dem Grund herauf Worte und Sätze wie quadratische Blöcke, Säulen und Architrave stiegen, und die Stadt erbauten, nach deren Maßen alle übrigen angelegt waren – jene vollkommen unzerstörbare Stadt, die nicht berührbar vom Fluch der Zeit und der Vergänglichkeit war. Die ewige Argo: Goldenes Haus und Mystische Rose zugleich.

Gnade. Sie hatte auch Friedrich Am Ende in der Kellerhöhle, als mitten in seiner bösen Ekstase der Wassertropfen sich löste und auf die Steinplatten sprang, berührt; als der Vogel in Florentines Träumen gegen Fenster und Türen des Schlafzimmers anstieß und klatschend herunterfiel; als Lotte das Motiv einer Ratsche in dem Surren der Fledermausflügel erkannte, und Jeschower in dem gemauerten Rund der Zisterne, die er mit Wasser füllte, die Mondsichel schwimmen sah. Denn immer war die Gnade zugleich Erinnerung gewesen. Memoria, wie sie die Alten nannten, die dem Weltenschöpfer im Arm lag, als er die Musen zeugte und durch die Musen in Klang und Bild noch einmal die heile Welt . . .

Nun rührte sich wieder am Grund ihres Herzens die Kraft der Erinnerung. Sie war wie Wind, der das Laub der Bäume von unten nach oben kehrt, und die Wolken jäh auseinandertreibt, damit die ewigen Sternbilder wieder und ihre Figuren sichtbar würden, die lange verborgen waren. Sternbild um Sternbild trat oben hervor, und Stern um 278 Stern fügte sich auf den zerstörten und eingesunkenen Tempelmauern zu jener Inschrift zusammen, die nicht nur Flora vergessen hatte, sondern ein ganzes Volk. Hatte Sichelchen, während Flora erzählte, diese Erinnerung aufgeschlossen, oder Jene, die über der Mondsichel steht, und sich so häufig noch nie wie jetzt zu erkennen gegeben hatte? Die das ewige Licht der Welt geboren, ging schüchtern und majestätisch zugleich über dem Totenfeld auf, das unter ihr dämmerte. Seine Wege, die in die Vergessenheit führten, waren hoch überwuchert von Herbstzeitlosen, Myrten und weißen Veilchen, die [starr und duftlos] das Attribut der finsteren Proserpina waren, und ihr erinnerungsloses Haupt mit dem Kranz der Ohnezeit kränzten; von Gauchheil, Knopfkraut und Hungermiere, die die Hinterhöfe der Städte erfüllten, und den niedergefahrenen Treppenaufgang der zusammengehauenen Häuser durchwuchsen, von welchem Herkules und Fortuna mit Keule und Füllhorn herabgestürzt waren und zerschmettert am Boden lagen. Diese Gnadenreiche über der Sichel erhellte mit ihrem barmherzigen Schein selbst die eingesunkenen Kellergewölbe, aus denen der Schrei der Verschütteten nicht mehr emporsteigen konnte, weil ihre Lungenflügel gerissen, und sie mitten in der Gebärde der Angst für immer versteinert waren; er durchdrang die kalkbeworfenen Gräber der Häftlinge, die diese Unglücklichen sich selber geschaufelt hatten – und wie gleichzeitig und von überall her der Mond erblickt werden kann, so stand sie über dem Ghetto von Warschau, der kugeldurchlöcherten Mauer in Rom, an der die Geiseln fielen, dem Hafen von Calais. Sie stand über jedem einzelnen Herzen, das sich ihr öffnen wollte, und fand in diesem Herzen den Jammer und die kindlichen Schreie von Warschau wieder, das Blut der Geiseln, die Keller von Köln, die Trümmer von Calais. Diese Erinnerung, die zugleich Weisheit und als Weisheit auch Liebe war, hielt 279 nicht nur Himmel und Erde zusammen, sondern ebenso die gespenstige und vage Unterwelt. Wie Viele schon waren hinabgestiegen, um sie heraufzuholen; wie Viele hatten vergeblich nach dem Ort, wo die Weisheit wohnte, gesucht; wo ihre Schätze aufgehäuft waren – der lebendige Goldglanz der Welt. Als Baruch in dem Land der Verbannung verzweiflungsvoll seinen Blick nach ihr kehrte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter und ließ ihn geheime Dinge wissen, die bisher noch kein Mensch erfuhr. Wie jene Königstochter der Sage sich ihrer Freier erinnern mag, die vergeblich sie zu entführen versuchten, machte sie ihn mit den Händlern von Teman und Medan bekannt, die sich um Einsicht mühten. Er sah sie mit den Vögeln des Himmels, selber wie schlanke Vögel gebildet, mühelos spielen, mit Wildkatzen fahren, die ihren Wagen zogen, und Gold und Silber sammeln – aber die Weisheit entzog sich ihnen, ihre Stätte fanden sie nicht. In Teman wurde von ihr nichts verlautet, in Kanaan hatte man sie nicht gesehen, bei den Riesen wohnte sie nicht. Und Baruch setzte von neuem den Griffel auf seine Tafel und las und schrieb – aber was er schrieb, hatte nicht er selbst, sondern die Weisheit geschrieben: ›Wer stieg zum Himmel und holte sie? Wer brachte sie aus den Wolken herab? Wer fuhr nach ihr durch das Meer?‹

Als die letzten Donnerschläge verrollt und die Regenflut abgerauscht war, traten die Argonauten über die Schwelle der Wildhüterhütte und streckten prüfend die Hände aus, auf welche die Kronen der Eschen und Eichen ihren Tropfenfall schütteten. Der Himmel war weithin aufgerissen, die Büsche glänzten wie überrieselt von großen Edelsteinen, die, je nachdem das Licht auf sie traf, in allen Farben des Regenbogens flirrten und flimmerten. Der ganze Wald war ein offener Sesam, eine Zauberhöhle, in welcher der Donner die Duftphiolen der Blumen plötzlich erbrochen 280 hatte; jener wilden, genügsamen Ödlandblumen, die überall Wurzel schlagen, und sich bemühen, den kleinen Bläuling in der kurzen Sommerspanne zu locken und mit dem scharfen Geruch ihrer Narbe zur Dauer zu verführen. Es roch nach dem honigduftenden Labkraut, dem würzigen Quendel, der starken Kamille und dem leidenschaftlichen Mädesüß; in der Erde duftete das Geflecht der künftigen Pfifferlinge und auf der Unterseite der Farne der unbedeckt liegende Same, der Heilkraft und die Fähigkeit hat, jedem Wanderer, wenn er in seinen Schuh kommt, die Wege zu wirren oder zu weisen: die Wege nach Orplid.

Solch ein Same mußte wohl auch Herrn Jeschower unter die Sohle gekommen sein, als er plötzlich zu hinken begann. Unwillig über den Vorschlag Floras, die darauf bestand, ihm den Schuh abzuziehen, behauptete er, daß der Schmerz nicht vom Schuh, sondern von seinem Hüftgelenk den Ausgang genommen hätte. Wahrscheinlich sei eine alte Entzündung von neuem aufgebrochen oder, fügte er spöttisch hinzu, habe er sich mit dem Jakobsengel, während Flora erzählte, eingelassen und sich die Hüfte verrenkt. Dieser Gedanke, mit ebenso großer Bestimmtheit, wie Selbstironie geäußert, löste allgemeine Heiterkeit aus; ein Behagen unerklärlicher Art, wie es durch alte Vokabulare und ihren gemeinsam tradierten Inhalt, durch bewußten Doppelsinn und durch das Spiel eingehaltener Regeln begründet zu werden pflegt. Selbst Friedrich Am Ende war von dem Gefühl jener Befreiung nicht ausgenommen, das ihn und seine Reisegefährten auf einer Wolke von silbernem Rauch aus der Mühsal ihres begrenzten Daseins in das Freie getragen hatte: in eine als Beispiel gedachte, verklärte Landschaft von Claude Lorraine oder mitten in eine der Metamorphosen des Fabeldichters Ovid. Ohne ersichtlichen Grund und Anlaß begann ein Ballspiel fröhlicher Scherze, eine Burleske am Rande des Kraters, und eine von allem Stofflichen 281 entbundene Trunkenheit flammte und schwirrte, wie auf französischen Gobelinen ein nicht erklärbares Rot oder Blau inmitten eines Heerhaufens aufhüpft und die Farben von Rose und Krokus annimmt, durch die Runde der Reisegefährten.

Sie stellten gleichsam die Waffen beiseite, Speere, Spieße und Hellebarden, entledigten sich ihrer Ringelpanzer und gaben einer Entspannung nach, die nicht nur das Gewitter bewirkt, sondern die stille Erwartung auch, ihrem Wanderziel nahe zu sein, in ihnen ausgelöst hatte. Wie in alten Märchen der Winterpelz des verzauberten Bären hier und da reißt, und durch die Risse und Löcher der Glanz seiner wahren Erscheinung blitzt, leuchtete ihnen durch das Gesträuch der Gespräche, welche sie führten, durch Einsicht sowohl wie Mißverständnis, durch Nähe und Fremde, Trübung und Klärung, schon von weitem das Goldene Vliess. Bis zu diesem Augenblick hatten sie alle einander die Katze über dem Weg, und jeder dem Andern den Nagel im Schuh, doch sich selbst das Hufeisen und die Schnuppe oder den Glücksklee gegönnt; sie hatten sich abwechselnd fern und nahe und also wahrscheinlich nicht anders gefühlt, wie sich in einem siderischen Zeichen die einzelnen Sterne fühlen mögen, die nur das Auge eines Betrachters als Ganzes zusammenschließt. Nun aber wurde ihnen bewußt, daß sie alle nicht nur im Bösen allein sondern auch im Guten zusammengehörten – verbunden von einem göttlichen Auge, dem es gefiel, sie durch seinen Blick am Leben zu erhalten; und daß sie einen gemeinsamen Namen von allem Anfang an trugen – nicht Leier, Schwan oder Wega schlechthin – sondern ›Schwan-kleb-an‹, wie Frau Flora Jeschower die ganze Gesellschaft nannte.

 

Fast gleichzeitig mit diesem spaßigen Ausdruck, den alle bereit waren, gutzuheißen, tauchten Pat und Patachon auf. 282 Vielmehr, sie wandelten wie zwei Türme auf unsichtbaren Füßen unter den herrlich erquickten, immer noch rieselnden Bäumen den Reisenden entgegen, die verblüfft und verwundert den beiden Nonnen – denn das waren die Türme in Wirklichkeit – mit Spannung entgegensahen.

»Verzeihung«, sagte die kleinere Nonne, die man fortab ›Patachon‹ nannte, mit merkwürdig tiefer Stimme. »Gehen die Herrschaften gleichfalls nach Anastasiendorf?«

»Wir hätten uns dann«, fiel die Große ein, »den Herrschaften angeschlossen.«

Es stellte sich heraus, daß die beiden von ihrem Mutterhaus nahe der Oder zur Erholung verschickt worden waren; das heißt natürlich nicht nur zur Erholung, sondern um mit der Äbtissin von Anastasiendorf ein gemeinsames Anliegen zu beraten, das man, weil es die fremde Besatzung und ihre Anordnungen betraf, nicht schriftlich erörtern konnte. Doch gehörten die wandelnden Doppeltürme nicht dem Orden der Zisterzienser, sondern nur einer geistigen Schwesternschaft an, wie sie als krankenpflegende Nonnen überall tätig sind; sie waren, ihrer Abstammung nach, zwei märkische Bauernmädchen, pfiffige Frauen mit einer Würde, die ihnen keineswegs bloß das Gewand und die Nonnenhaube verlieh, sondern ein Selbstbewußtsein, das echt, und eine Strenge, die nicht pharisäisch, sondern reine Gerechtigkeit war; etwas wie eine Verbindung von kristallklarem Wasser und Salz. Sie hatten runde, kindliche Augen mit einem durchdringenden Blick. Ihre Haut war derb, aber rosig und frisch wie ein Apfel mittlerer Güte, ihre Hände verleugneten nicht die Arbeit, und ihre Füße beulten das Leder der grob geschnittenen Schuhe, die schon brüchig und schadhaft waren. Jede von ihnen trug eine Tasche, deren Fassungsvermögen unergründlich schien. Auf der einen stand in Perlstickerei das Wort ›Salve‹ und auf der anderen die rätselhafte Bezeichnung ›Ata, Imi, Persil‹. 283 In der Tasche, auf welcher ›Salve‹ stand, war, wie sich später herausstellen sollte, der geistliche Besitzstand der beiden: Rosenkränze, Gebetbücher, Kreuzchen und zwei Habits, die sie gegen die alten, vielfach geflickten Gewänder, mit denen sie sich unterwegs befanden, an dem Reiseziel auswechseln würden; in der anderen Tasche ein Kochgeschirr, Waschlappen, Seife und Handtücher und zusammenlegbare Eßbestecke, deren Messer sie gleichzeitig dazu benutzten, um Brot zu schneiden, Pilze zu stechen, sich verstohlen unter der Haube zu kratzen und den Schnürsenkel von Herrn Jeschowers Schuh [wie das Schwert den berühmten gordischen Knoten] kurzerhand durchzuschneiden.

Als ob nämlich Herrn Jeschowers Fuß nur auf die Nonnen gewartet hätte, um plötzlich anzuschwellen, zeigte es sich, als der große Pat sich vergeblich bemühte, den engen Schuh von dem furchtbar schmerzenden Glied abzuziehen, daß der vielfach geknüpfte, lieblose Senkel nicht rasch genug gelöst werden konnte, und man, um Herrn Jeschower von seiner Qual zu befreien, den Knoten durchschneiden mußte. [Als dann später das eingangs erwähnte Photo der Reisegesellschaft geknipst werden sollte, versuchte Flora – indessen Hauteville die Schärfe regulierte – diesen mehrfach verschlungenen Senkel zu entknoten, aufs neue zusammenzubinden und wieder durch die Löcher zu ziehen, wobei sie den Schuh ein Stück von sich forthielt, um besser sehen zu können; ihn perspektivisch dadurch vergrößernd und zum Symbol dieser Reise machend, in der sich plötzlich das Auge Gottes vor die Linse der Kamera schob.]

Pat und Patachon also schlossen sich der Reisegesellschaft an. »Wissen Sie«, sagte der große Pat zu Frau Levi-Jeschower, die von den Nonnen einer besonderen Zutraulichkeit und Achtung gewürdigt wurde, »diese Gegend ist in den letzten Tagen sehr unsicher geworden. Man spricht 284 von russischen Deserteuren, die sich im Wald herumtreiben sollen und bereits mehrere Überfälle auf die Dörfer ausgeführt haben.«

»Schnickschnack, Madameken«, fiel der kleine, rundliche Patachon ein. »Sie müssen nicht gleich wie das Kätzchen am Bauch die Farbe verlieren, wenn's donnert, und sich in das Bockshorn jagen lassen wie ein Kind von dem Nikolaus – auch wenn der Nikolaus einmal Iwan oder Petrowitsch heißen sollte«, fügte sie tröstend hinzu.

»Aber trotzdem wollen wir Gott nicht versuchen durch unsere Leichtfertigkeit«, sagte der lange Pat in salbungsvollem Ton.

»Ich glaube«, erwiderte Flora lachend, »Ihre Oberin hat bereits Gott versucht, als sie Sie fortgeschickt hatte.«

»Was blieb ihr sonst übrig?« entgegnete Pat. »Wir waren die Mutigsten.« Diese Feststellung sprach die lange Nonne als eine Tatsache aus, deren sie sich weder rühmte, noch die sie unterschlug.

»Wir haben«, ergänzte Patachon mit ihrer hohlen Weinkellerstimme, »das Vieh und den Garten besorgt. Das gibt Muskeln, glauben Sie mir. Wenn unsere Klosterwirtschaft auch klein war, so ist uns doch schließlich für alles nur ein einziger Knecht geblieben: ein richtiger Lazarus, taub wie ein Stock und an Händen und Füßen krumm gezogen von der Altmännergicht. Wir haben gepflügt, die Gespanne geführt, die Ernte eingefahren. Daß wir melken können, versteht sich von selbst«, setzte sie mit bescheidenem Stolz und durchtriebenem Augenzwinkern hinzu, »und ebenso, daß wir nicht zimperlich waren, wenn Eine die Ziege zum Sprungstall führen und die Kuh beim Kalben festhalten mußte, damit sie nicht verwarf. Das ist keine Nonnenarbeit, versteht sich, aber schließlich haben wir alle gelernt, daß man das kleine Brevier beten kann, während man Viehfutter kocht.« 285

»Man kann sogar«, sagte der lange Pat mit eiserner Miene, »beten, wenn man geschändet wird. Viele von unseren jüngeren Schwestern haben das lernen müssen, und sind nicht gestorben dabei.« Der salbungsvolle Pat schöpfte Atem und sagte mit abgeleierter Stimme: »Unser Trost war der heilige Augustinus, der den gottgeweihten Jungfrauen Mut in ihrer Verzweiflung zusprach, als die Völkerwanderung über sie kam, und manche von ihnen ertragen mußte, was wir ertragen haben.«

Der Ausdruck ›Jungfrauen‹ in Verbindung mit dem Epitheton ›gottgeweihte‹ klang in dem Munde des langen Pat so unwiderstehlich komisch, daß Flora Mühe hatte, die Fassung zu bewahren; gleichzeitig aber durchzuckte sie die einfache Erkenntnis, daß hier die Weltgeschichte mit Gott wie Ochs und Esel an Christi Krippe durch das schäbige Seil einer mühsam erlernten und trockenen Redewendung für immer verbunden war.

»Der heilige Augustinus meinte«, fuhr Pat in lehrhaftem Tonfall fort, »daß, wenn auch der Leib vergewaltigt wird, die Seele jungfräulich bleibt.« Diese Worte, vollkommen ahnungslos und unbefangen wie ein Gedicht, das ein Schulkind auswendig lernt und hersagt, vor aller Ohren gesprochen, bestätigten, was bereits Florentine im stillen gemutmaßt hatte.

»Wir beide sind aber nicht angerührt worden«, fuhr nämlich der kleine Patachon fort. »Wir wissen selbst nicht warum. Ich konnte übrigens etwas Polnisch von meiner Großmutter her . . .«, fügte sie noch hinzu.

Später erzählte sie Florentine in einer vertraulichen Viertelstunde, wie ein Russe zu ihr in den Stall gekommen und mit ihr geplaudert hatte. »Er war ein Bauernkind, Frau Jeschower, wie auch ich ein Bauernkind bin. Ein guter Junge mit einem Paar Grübchen und dickem, verschwitztem Haar. 286

›Komm, Frau. Nimm Kämmchen und lause mich‹, sagte er, hockte sich vor den Melkstuhl und legte mir seinen Kopf in den Schoß, damit ich ihn lausen sollte. Meine Güte, er hatte wirklich mehr Läuse als Haare auf dem Kopf. Als ich fertig war, fragte er: ›Hast du ein Kind?‹

›Nein‹, sage ich. ›Ich habe kein Kind.‹

Er fragte mitleidig: ›Auch keinen Mann?‹

›Nein‹, sage ich wieder. ›Auch keinen Mann. Kein Kind und keinen Mann.‹

›Dann will ich heute Nacht mit dir schlafen‹, sagte er treuherzig. ›Wenn du willst, so schlafe ich heute mit dir. Willst du?‹

›Nein‹, sage ich. ›Ich will keinen Mann und will auch nicht mit dir schlafen.‹

›Arme Frau – nix Mann und nix Kind und nix schlafen‹, sagte er ganz betrübt. ›Warte –‹. Dann fuhr er in seine Tasche und stopfte mir Geld in die Hand. ›Behalte das‹, sagte er. ›Willst du noch mehr? Ich dir geben soviel du willst!‹«

Der kleine Patachon sah vor sich hin und sagte: »Er war ein guter Junge. Wenn er lachte, bekam er rechts und links Grübchen. Ich bete täglich für ihn.«

Obwohl die Reisegesellschaft den ›Türmen‹ allmählich näher kam, wurde trotzdem niemand vertraut mit ihnen; ja, es schien sogar, als ob mit jedem Gespräch eine unübersteigbare Schranke zwischen der Welt der Nonnen und jener der übrigen aufgerichtet und die Entfernung erst sichtbar würde, aus der es geführt worden war. Mehr noch: ihre Gespräche waren etwas wie Scheidewasser; etwas das – kaum in Berührung gekommen mit dem Gegenstand, den sie betrafen – nicht nur die Welt der Reisegesellschaft von der Welt der beiden Patachons trennte, sondern darüber sie selbst untereinander entzweite; vielmehr: nicht entzweite, wenn damit Streit und Unverständnis gemeint sein 287 sollte, sondern einfachhin unterschied. Es regnete auf das verfilzte Gefieder des ›Schwan-kleb-an‹ mit den sieben Hälsen, die sich aufstellten und ihre zischenden Schnäbel, ihre angsterfüllten, nachtschwarzen Augen gegeneinander kehrten. Jeder Tropfen klatschte und lief bis zur Haut, Fahne und Federkiel leiteten den Sturzbach der Worte weiter, den Sturzbach der eigentümlichen Flut, die das Fett auf den Federn zersetzte, und dieses dämonisch-wilde Geschöpf seiner selbst bewußt werden ließ. Die sich eben erst als eine Einheit erkannt und in der Konstellation eines Sternbilds ihren zugewiesenen Standort entgegengenommen hatten, fühlten sich jetzt wie die Sterne, die Baruch auf ihren versprengten Posten erblickte, zur Rechenschaft gerufen – ›er ruft sie, und sie antworten: Hier!‹

Wahrscheinlich ahnten die beiden Nonnen, die Doppeltürme, die Bauernmädchen mit den verbeulten Schuhen, den abgedroschenen Redensarten und den aufgeplusterten Umgangsformen, in denen sie sich bewegten, weder etwas von ihrem geheimen Auftrag, noch von dem unermeßlichen Abstand, der sie von jedem der Menschen trennte, bei dem sie ihre ehrbaren Sprüche und ihre in vielen Klosterjahren eingesalzene Weisheit verkauften, die ebenso schrecklich wie ehrwürdig war, so lächerlich wie ernst. Sie wußten nichts. Weder von Baruch, noch von den spirituellen Räumen, die sie von ihren Gefährten trennten, wußten sie das geringste. Sie hätten als taktlos gelten müssen, als zudringlich, töricht oder absurd, wenn diese Begriffe auf ihre Erscheinung überhaupt hätten Anwendung finden können – aber das taten sie nicht. So zogen sie vor Gericht, wen sie wollten; sie nannten jedes Ding bei dem Namen, und dieser Name, in aller Sanftmut und Offenheit ausgesprochen, war ungeheuerlich.

»Das ist Hurerei«, sagte Pat zum Beispiel, als Lotte Corneli sie spöttisch fragte, ob Albrecht Beifuß sie küssen dürfe, 288 wie ein Schauspieler seine Partnerin auf der Bühne zu küssen pflege. »Sie dürfen uns nämlich nicht mißverstehen«, war sie gleich darauf fortgefahren. »Wir spielen gewissermaßen dem Schicksal, oder wie Sie es nennen wollen, unsere Wünsche vor. Wir spielen, wie Kongoneger und Südseeinsulaner den Regen oder die Fruchtbarkeit spielen, damit es regne und ihre Felder von neuem befruchtet werden.«

»Dann ist es also nicht nur Hurerei, wenn Herr Beifuß Ihnen die Bluse öffnet«, sagte der lange Pat gelassen, »sondern gleichzeitig« – hätte das Wort ›Magie‹ ihr zur Verfügung gestanden, so hätte sie sich seiner bedient – nun sagte sie: »Hexenkunst.«

Lotte Corneli, erstaunt und befriedigt über den merkwürdig treffenden Ausdruck, den die Nonne gebrauchte, sah Pat mit bezauberndem Lächeln an und erwiderte langsam: »Hexenkunst. Sie haben vollkommen recht. Herr Beifuß und ich treiben Hexenkunst und machen dem Schicksal so lange vor, wie es wäre, wenn Wilhelm Corneli zurückkommt, bis das Schicksal ein Einsehen hat. Wir lieben uns also durchaus nicht anders, wie zwei Wilde sich lieben: ein Mann, eine Frau, die sich lang auf die Erde legen . . .« [sie wählte in einer Art dumpfer und jäher Besessenheit ihre Worte sorgfältig nach dem inneren Grad der Schamlosigkeit, den sie hatten, aus . . .] »damit das Getreide sich angereizt fühlt, es ihnen nachzumachen; die Schalen zu sprengen, emporzuquillen – –.« Lotte hielt inne und sah die Nonne mit dem gleichen Lächeln an wie vorhin; dann verzerrte sich diese Maske des Lächelns zu einem gespenstigen, bösen Lauern, das in den Mundwinkeln saß. »Lang hinlegen. Auf die Erde legen«, sagte sie triumphierend der Nonne mitten in das Gesicht. »Warum halten Sie Ihren Rosenkranz fest?« fragte sie plötzlich scharf. »Haben Sie Angst vor mir?« 289

»Vor Ihnen habe ich keine Angst«, entgegnete Pat mit verständnisloser und unberührter Miene. Ihr vollkommen schlichter, amusischer Geist begriff keine Gleichnisrede. »Aber ich habe Angst vor dem Satan, für den Sie die Kornpuppe spielen.«

»Ich bin also eine Hexe, nicht wahr?« fragte Lotte Corneli zurück. »Und eigentlich sollte man mich verbrennen? Denken Sie das nicht auch?«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Pat. »Sie brennen ohnehin. Aber man sollte den Anderen sagen, daß sie sich hüten müssen, in Ihre Nähe zu kommen«, fügte sie offen hinzu. »Herrn Beifuß vor allem. Er tut mir leid«, sagte die Nonne ruhig.

»Herr Beifuß braucht Ihnen nicht leid zu tun, mein hochverehrter Pat. Ich habe ihn nicht behext. Im übrigen freut er sich, mir zu helfen, und ist bereit, seine Hurerei, wie Sie sich ausgedrückt haben, mit der Seligkeit zu bezahlen.«

»Das wäre zu teuer«, entgegnete Pat mit unerschütterter Stirn.

»Was wissen Sie –«, fragte Lotte verächtlich.

»Was man braucht, um in den Himmel zu kommen«, sagte der lange Pat. Sie streifte mit einem raschen Blick das verzweifelte junge Gesicht und ergänzte: »Ich meine, um selig zu werden.«

»Selig? Wer sagt Ihnen, daß Herr Beifuß mit Ihrer Seligkeit tauschen möchte, wenn ihn die Hölle umschließt? Warten Sie, was ich jetzt ausdrücke, Pat, werden Sie zwar nicht begreifen, aber das schadet nichts. Sie sagten: ich brenne. Ich füge hinzu: diese geistigen Flammen werden auch nicht durch Albrecht Beifuß gelöscht. Ich brenne, wie die getroffenen Häuser noch wochenlang weiterbrennen, obwohl das Feuer durch nichts mehr genährt wird, und die Flammen, jeder Berechnung nach, schon längst erstickt sein müßten. Sie brennen aus sich. Sie sind selber der 290 Brand, wie ich selber die Hölle bin. Weil ich die Hölle bin, stößt mich nichts tiefer – weder die Hexenkunst, wie Sie sie nannten, noch Hurerei oder Ehebruch – in die Hölle hinein, lieber Pat. Könnte ich eine Sünde begehen«, sie blickte mit irren Augen umher, »aber ich kann nur die Sünde selbst sein, die Hurerei, die Magie. Darum sagte ich, daß ich die Sünde bloß spiele, wie eine Schauspielerin ihre Rolle oder ein Wilder den Fruchtbarkeitszauber für sein Dorf in dem Urwald spielt. Sündigen – ach! Wer noch sündigen kann, kann auch die Sünde bereuen, während ich – begreifen Sie nun? Natürlich begreifen Sie gar nichts. Sagen Sie ja oder nein!«

»Ich begreife nur, daß Sie sprechen müssen«, sagte der große Pat. Es war deutlich, daß sie nicht zugehört, sondern zwei Finger der linken Hand, die über dem Rosenkranz lagen, von Perle zu Perle fortbewegt hatte, als hielte sie sich fest.

»Sprechen Sie!« wiederholte Pat und sah Lotte Corneli mit furchtlosen Augen, ohne zu zittern, an.

»Wer . . . spricht?« fragte Jene zurück. Ihre Stimme hatte sich plötzlich verändert und ging in ein Heulen über, das unerträglich war. »Ich will nicht mehr sprechen. Lassen Sie mich! Es ist grausam, mich so zu quälen.«

»Ich befehle Ihnen.« Während sich Lotte schmerzlich zusammenkrümmte, faßte die Nonne sie fest um die Schultern und hielt die Zitternde an sich gepreßt – nicht anders, wie dieses Bauernmädchen einer Henne die Beine zusammengebunden und das geängstigte Tier an den Flügeln emporgehoben hätte.

»Gehen Sie, Pat! So gehen Sie doch! Was habe ich mit Ihnen zu schaffen?« stöhnte Lotte an ihrer Brust; ihre Stimme war wieder menschenähnlich, ihr Körper vollkommen schlaff geworden und so schwer, daß Pat nur mit größter Mühe ihn aufrecht halten konnte.

Dann fing Frau Corneli zu sprechen an. Ein Strom von 291 Unflat, lasziven Flüchen und unverständlichen Worten ergoß sich aus ihrem Mund.

Von Zeit zu Zeit wischte Pat den Schaum, der sich auf ihren geschminkten Lippen in Bläschen gesammelt hatte, mit ihrem Taschentuch ab. »Was hat Herr Beifuß mit Ihnen zu schaffen?« fragte die Nonne streng.

»Opfer«, sagte die Andere wild. »Opfer, damit Corneli zurückkehrt, und ich bereuen kann. Herr Beifuß hilft mir zur Reue, indem er mit mir sündigt und mich die Sünde nachahmen läßt, die ich selber nicht tun kann. Die Hölle sündigt nicht mehr.«

»Sie feiern mit ihm die Teufelsmesse«, sagte Pat und machte mit Anstrengung das Kreuzzeichen über Lotte Corneli, die langsam niederbrach.

Als die Ohnmächtige wieder zu sich kam, bemerkte sie, daß das Gesicht der Nonne von Kratzern gezeichnet war. »Warum haben Sie auch befohlen, Pat, daß ich sprechen soll?« fragte sie.

»Ich habe Ihnen doch nichts befohlen?« sagte Pat erinnerungslos.

Von da ab hielt sich Lotte Corneli von Pat und Patachon fern und verkehrte mit Albrecht Beifuß auf hochmütig-konventionelle Weise, die jener schweigend ertrug.

»Reginald«, sagte er einmal zu Flora, »sollte nicht länger auf seinen Vater warten und ihn entbehren müssen. Ich glaube, daß er noch mehr sein Sohn, als der Sohn seiner Mutter ist.«

»Aber Sie kennen den Kleinen doch nicht?« fragte Florentine erstaunt.

»Nein«, erwiderte er gedankenverloren. »Doch ich wäre bereit –«, er stockte.

»Nun?« fragte Flora.

»Nichts weiter.« [Er hatte sagen wollen: mein Leben für ihn zu geben, damit er glücklich wird.] Übrigens fühlte er, 292 seit er Pat und Patachon gesehen und mit dem unbestechlichen Blick ihrer geraden Augen in Berührung gekommen war, daß dieses Opfer schon angenommen und in der Tiefe der Gnadenwahl bereits vollzogen war.

 

In einer fast unerklärlichen Haltung, die ein Gemisch von Ironie, Nachsicht und mühsam gezügelter Hochachtung war, drängten sich, wie die Eisenteilchen zu dem Magneten, die Reisegefährten zu Pat und Patachon hin, um ihnen Rechenschaft abzulegen, ihre einfachen Ratschläge zu befolgen und sich dem Urteil zu unterwerfen, das, einmal von ihnen ausgesprochen, unwiderruflich war. Natürlich kamen nicht alle in ein Gespräch mit ihnen, doch genügte schon ihre Gegenwart, einen Menschen wie Friedrich Am Ende zur Neugier zu verführen, zu einer von ihm kaum gewußten und wahrgenommenen Spannung auf den Fortgang dieser verrückten Sache, in die er sich eingelassen, und von der er geglaubt hatte, daß er, wenn er nur wirklich wollte, sich jederzeit lösen könne.

»Sicherlich will ich das«, sagte er, als ihn Pat – oder war es Patachon – fragte [er war an einer Kreuzung, deren Schilder er lange betrachtete, wie versteinert stehen geblieben], ob er sich von den Anderen trennen und für sich allein weiter wandern oder gar umkehren wolle. »Morgen. Nein – übermorgen«, fügte er in gereiztem Tonfall und dann mit einem Lachen hinzu, das dem keckernden Ruf eines Eichelhähers an Verlorenheit ähnlich war.

»Übermorgen«, gab Patachon mit freundlichem Lächeln zurück, »ist es für Sie zu spät. Dann sind wir nämlich da.« Sie faltete ihre rundlichen Hände über dem Gürtel und redete weiter: »In Anastasiendorf.«

»Ich will nicht nach Anastasiendorf.«

»Darnach, Herr Friedrich Am Ende, werden Sie nicht mehr gefragt«, sagte Patachon mit Bestimmtheit und fuhr bei 293 der siebenten Perle fort, ihr Rosenkranzgesetzchen zu beten, als sei das unterbrochene Ave ein Teil ihrer Antwort gewesen.

Ihre Finger tasteten diese Perle rund herum ab, und Friedrich hatte die unbestimmte Empfindung, von der Perle nicht unterschieden zu sein, die da in ihrer Kugelgestalt, ihrem Wesen und ihrer Bedeutung rund herum angerührt wurde. Er fühlte, was er schon lange nicht mehr empfunden hatte: den eigenen Umriß, Bein und Fleisch und die Grenzen seiner Person. Dieser Augenblick war wie ein kleiner, jäher Zusammenstoß seiner Vorstellung mit sich selbst. Es war, wie wenn Perle an Perle trifft und einen winzigen Laut von sich gibt; einen Ton, der im Grunde unhörbar und außerhalb [oder innerhalb] der sinnlichen Wahrnehmung ist. In einem damit entsann sich Friedrich der Kristallkugel unter dem Rock. Aber während an dieser jede Substanz sich aufzulösen begann, und sie selber das betörende Gleichnis des Nihilismus war, der tiefer hinab in das Wesenlose, in das Nichtsein und zu dem Mittelpunkt der Leere hinunterführte, gaben die Perlen des Rosenkranzes, indem sie zurückflossen bis zu dem Kreuz, das ihr Ausgang gewesen war, diesem betenden Bauernmädchen die Würde, ganz und gar sie selber zu sein. Denn worin sonst, dachte Friedrich verwirrt, war die Sicherheit dieses Wesens begründet als in dem unauflösbaren Kern ihrer Person, die sich selbst erklärte und keiner andern Begründung bedurfte als des Grundes, der sie entlassen hatte und immer aufs neue entließ.

Übrigens schienen die Doppeltürme von dem Gefühl ihrer Unbildung und Bedeutungslosigkeit tief durchdrungen und damit einverstanden zu sein, daß man in ihrer Gegenwart nur von den gewöhnlichsten Dingen sprach, die ein gewöhnliches Hirn erfassen kann und für die eine ganz gewöhnliche Art sich auszudrücken genügt. So erzählte ihnen zum Beispiel 294 Flora von ihren Söhnen Joseph und Jakob und ihrer Tochter Lea, der Sängerin in Melbourne.

»Etwas Süßeres als meine kleine Lea konnte man sich nicht denken, Pat«, sagte sie zu der langen Nonne und sah das amusische, hagere Wesen mit versunkenem Ausdruck an. »Sie war eine Überkreuzschönheit, wie man das allgemein nennt, und hatte zu goldblonden Haaren schwarze, mandelförmige Augen und Brauen wie Schwalbenflügel. Ihre Haut war wie Elfenbein, und ihr Zahnschmelz wie frisch gemolkene Milch. König Salomon muß sie vorausgeahnt haben, als er von Sulamith sprach. Auch ihre Brüder waren sehr hübsch, junge Hirsche mit braunem Fell. Zwei Hirsche und eine Taube«, sagte sie schwärmerisch. »Daß sie gerettet sind, war mein Trost in den vergangenen Jahren und ist es heute noch.«

»Sind sie wirklich gerettet?« fragte Pat und versuchte, sich mit dem einzigen Messer unter die Haube zu fahren.

»Wie denn sonst? Warum – sollten meine Kinder denn nicht gerettet sein?« gab Flora unruhig zurück.

Herr Jeschower zog seine Gattin an sich und fragte mit verdüstertem Ausdruck: »Sie denken dabei an den Wehrdienst? An Zufälle? Gar an den Ku-Klux-Klan oder andere Narreteien?«

»Ich denke an keinen Kuckuck, nein«, sagte der sture Pat. »Aber wie können Sie heute schon hoffen, daß Ihre Lieben gerettet sind und wirklich an ihrem Ziel? Das könnten Sie doch nur, Frau Jeschower, wenn Sie wüßten, daß Gott sie im Stande der Gnade zu sich genommen hätte – oder als kleine Kinder«, fügte sie noch hinzu.

»In dem Stand der Gnade, sagen Sie, Pat!« brauste Frau Flora auf. »Und ich hätte ihm wohl noch dafür zu danken, wenn ich hörte, daß Gott meine lieben Kinder, durch Wegzehr und Ölung wohl vorbereitet, zu sich genommen hätte?« 295

»Das hätten Sie«, sagte Pat. »Dann wären Ihre Kinder am Ziel . . . in der ewigen Seligkeit.«

Herr Levi-Jeschower beugte sich vor und blickte die kleine Patachon an, die ihrer Mitschwester zugenickt und mit kräftigem Räuspern die Meinung Pats nachdrücklich bestätigt hatte. »Und wenn sie in Deutschland geblieben wären«, sagte er mit entfärbter Stimme, »und ihr Ziel, meine gute Patachon, wäre das Krematorium gewesen? Oder die Gaskammer? Nun?«

»Für den Gläubigen ist der Tod kein Ziel, sondern ein Durchgang, Herr Levi-Jeschower. Das wissen Sie doch selbst. Ob es der Tod in der Gaskammer ist, auf dem Schlachtfeld, in einer Seuchenstation, in Deutschland oder Amerika ist vollkommen einerlei«, entgegnete Patachon.

In diesem Augenblick mischte sich plötzlich Fräulein von Dörfer ein. »Sehr schön, Schwester Patachon«, sagte sie mit furchtbar entstelltem Gesicht. »Ich selber kann Ihnen die Unterlage, ich meine den sinngetreuen, passenden Text dazu liefern, denn ich kenne ihn Wort für Wort.« Sie preßte die Hände gegen die Schläfen, als müsse sie dadurch verhindern, daß ihr Kopf auseinanderspringe, und sagte in leicht blasphemischem Tonfall: »Deinen Gläubigen, Herr, kann das Leben ja nicht entrissen werden; es wird nur neu gestaltet, und wenn das Haus ihres Erdenwallens in Staub zerfallen ist, steht eine ewige Heimat für sie im Himmel bereit.«

»Die Totenpräfation, liebes Fräulein«, sagte Patachon hochachtungsvoll. »Das eben meinte ich.«

»Meinten Sie auch die Ungetauften?« fragte Irene hart. »Oder wissen Sie nicht, daß Tausende von ungetauften Kindern den Gastod erlitten haben? Sagen Sie nichts«, schrie sie jammervoll auf, »von Gottes Barmherzigkeit. Diese Kinder haben ihr Ziel nicht erreicht. Sie sind nicht wiedergeboren aus dem Wasser und dem heiligen Geist – habe ich recht oder nicht?« 296

»Vollkommen«, sagte Patachon ernst. »Es gibt hier nichts abzuhandeln. Wir sind nicht dazu berufen, die Heilige Schrift zu deuten, wie es uns selber gefällt.«

»Das ist schrecklich«, entgegnete Florentine mit angespanntem Gesicht.

»Ja. Schrecklich wie die Sünde«, sagte die Nonne fest. »Umso mehr als nicht diese kleinen Kinder persönlich gesündigt haben.«

»Ihre Schuld war es also, geboren zu sein?« fragte Friedrich Am Ende. »Wahrhaftig. Es gibt keine größere Schuld.«

Der lange Pat sah ihn grübelnd an. »Gottes Wille –«, sagte sie langsam und sank in den Schultern nach vorne über, als habe man ihr eine allzu schwere hölzerne Last aufgeladen, unter der sie zusammenbrach.

»Gott müßte also, genau genommen, diese Kinder um Entschuldigung bitten«, fuhr Friedrich Am Ende fort. »Wer hat ihn geheißen, sie zu schaffen? Und wenn er sie erst geschaffen hatte – warum erlöst er sie nicht? Warum überhaupt –.« Er hielt inne, als sei schon zuviel gesagt.

»Sie meinen«, ergänzte Levi-Jeschower, »warum überhaupt ist etwas geschaffen, und warum ist nicht nichts? Denn ich glaube, zu dieser Frage müßten wir doch wohl zurück.«

»Ich nicht«, sagte Florentine plötzlich. »Ich muß nicht, wie ihr alle behauptet, zu dieser Frage zurück. Ich bin frei, und ich lobe den Schöpfer gegen alle Vernunft. In jedem Augenblick bin ich frei, dem Schöpfer für seine Schöpfung zu danken; und obwohl es mir nicht freistand, ihr Guten, von ihm geschaffen zu werden, steht es mir frei, ihn zu lieben und ihm durch diese Freiheit ebenbürtig zu sein.« Sie lachte mit einemmal, wie wohl die Frauen der Erzväter hinter dem Eingang des Zeltes gelacht haben mochten, wenn Gott ihre Männer mit Verheißungen überhäufte gegen alle Vernunft. »Ein freies Geschöpf und ein freier Gott rechnen einander nichts auf.« 297

»Sie haben vor kurzem noch anders gesprochen«, bemerkte Irene finster. »›Rahel trauert um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen‹, haben Sie damals gesagt.«

»Warum glauben Sie, daß ich getröstet bin?« gab Florentine zurück. »Selbst die Kirche ist bis auf den heutigen Tag noch nicht getröstet, Fräulein von Dörfer, obwohl sie weiß, daß die Seelen der unschuldigen Kinder aus der Schlinge geschlüpft sind wie Vöglein– sicut passer erepta est . . . sicut passer delaqueo venantium –, wie sie selber von ihnen sagt. Denn wie könnte ich sonst noch Rache fordern für das auf die Erde verströmte Blut der Heiligen, wie sie es tut? Oh nein. Nicht getröstet, aber getrost«, sagte Frau Levi-Jeschower still und legte das Gesicht in die Hände, hinter denen die lautlose Flut ihrer Tränen ungehindert entsprang.

»Und warum«, forschte Fräulein von Dörfer weiter, »sind Sie getrost, während Rahel weint, und rechnen Gott nichts vor?«

Florentine ließ ihre Hände sinken und blickte Irene an. Ihr leidenschaftliches, nasses Gesicht war von Schmerz und Jubel zugleich entstellt, als sie ausrief: »Weil ich gewiß bin, daß mit den ersten Kindern, die aus der Schlinge geschlüpft sind, auch die letzten gerettet werden. Ein Strom von Blut aus Jerusalem, der bis an das Ende der Zeiten über die Erde geht. Wer den ersten Tropfen geheiligt hat, fängt auch den letzten auf.«

»Eine sehr bedenkliche Theologie«, sagte der lange Pat. »Auch die ausgesetzten Chinesenkinder, die Negerkinder, die Hurenkinder, die im Straßengraben erdrosselt werden, haben vor Gott keine Schuld. Aber ich will Ihnen etwas sagen. Gottes Ratschluß und Gottes Erbarmung sind nur zwei Worte für eine Sache, die nicht in Gott selber getrennt ist, sondern nur in unserem eigenen Geist wie im Abendmahl Brot und Wein. Und doch stellt jede der beiden Substanzen den ganzen Christus dar.« 298

Diese Rede von den beiden Substanzen, deren Ausdrücke unverkennbar aus einer Sakramentshymne stammten, die das Volk, auch ohne sie zu verstehen, mit dem gesteigerten Selbstbewußtsein, sich als Lateiner zu fühlen, singt, war die längste, welche die große Pat je von sich gegeben hatte; eine Rede, über welche sie selbst einigermaßen erstaunt war und der, nach ihrer bescheidenen Meinung, nichts zuzufügen blieb.

 

»Verrückt«, sagte nachher Ewald Hauteville zu Levi-Jeschower. »Verrückt, solche Brocken von Urgestein aus der Unglücksbrühe tauchen zu sehen. Walfische. Astronomische Türme, oder womit Sie die beiden da, die wir Pat und Patachon nennen, vergleichen wollen, wie?«

»Wahrscheinlich sind sie die einzigen Bilder, die in die Landschaft passen«, sagte der Angeredete mit nachdenklichem Gesicht. Er wandte sich zögernd zu Albrecht Beifuß und fragte: »Was meinen Sie?«

Der Schauspieler überkreuzte die Arme und erwiderte: »Kennen Sie Eugen O'Neille, der seine Figuren als Maskenträger angelegt hat, Jeschower? Kein Regiescherz, sondern bitterer Ernst. Personen, die durch die Maske tönen. Masken mit einfältig rohen Gesichtern über steifen, symmetrischen Kleiderfalten auf wankendem Kothurn. Ich glaube, daß sich mit solchen Gestalten das Bild in seinen Ursprung zurückzieht und sich von neuem darauf besinnt, kultisches Zeichen zu sein. Natürlich erscheint es uns sonderbar und außerordentlich ungewöhnlich, wenn hinter diesen heiligen Masken die Dämonen zu sprechen beginnen: die Flügelerinnyen, die Rachegötter, die Harpyien und solches Zeug. Vor allem deshalb, weil das, was solche wie unsere beiden Nonnen in aller Unbefangenheit äußern, nicht ihr persönliches Eigentum ist, sondern bloß von ihnen verwaltet und weitergegeben wird.« 299

»Ich dächte«, sagte Levi-Jeschower, »daß weniger ›solches Zeug‹, wie Sie sagten, sondern der Alte vom Sinai hinter den Masken spricht. Das Gesetz. Ja, ja und nein, nein. Natürlich auch alles, was in den kleinen abendländischen Zipfel herübergepreßt worden ist. Die verdeckten Symbole, die großen Begriffe, welche kostbaren Münzen in einem Sack, den man oben zugebunden hat, gleichen – niemand weiß mehr, wieviel sie eigentlich wert sind, außer Kinder und Narren, die ihre Aufschrift für bare Münze nehmen und ihre wunderbar ernsten Spiele mit diesem Einsatz bezahlen. Bare Münze, das ist es«, schloß Levi-Jeschower mit ungewöhnlicher Heftigkeit und fügte noch hinzu: »Solange wir nicht die Wahrheit für bare Münze nehmen, sind wir, ich schwöre es Ihnen, verraten und verkauft. Ein Hottentottenstamm, der die Pfunde seines göttlichen Häuptlings in Gold aufwiegt, scheint mir realer zu handeln als jene Horde von Psychologen, die uns einreden wollen, daß Gott und Satan – wie in den buddhistischen Litaneien des tibetanischen Totenbuches – nur phantastische Ausgeburten der Seele, ihrer Schuldgefühle, verdrängter Begierden und kindischer Ängste sind.« Er kehrte sich wieder zu Ewald Hauteville, der ihn mit weit geöffneten Augen und einer stillen Verzweiflung ansah, die um Gnade zu bitten schien. »Nein«, sagte er. »Nein, es hilft nichts, uns vorbeizudrücken, Hauteville.«

»Woran?« fragte jener mit brüchiger Stimme.

»An den Wegweisern. An diesen hölzernen Schildern, die für uns aufgestellt sind. Natürlich bleibt es uns unbenommen, nach der falschen Richtung zu gehen. Aber das Ziel verändert sich nicht und liegt nach wie vor in der Gegend, die uns gezeigt worden ist.«

»Sie irren«, rief Friedrich Am Ende heftig. »Das Ziel liegt in uns und nicht in den Schildern. Wenn Sie das nicht begreifen, Jeschower, folgen Sie einem Trugbild und irren 300 von Schein zu Schein. Sie halluzinieren. Was Sie als fest und unumstößlich bezeichnen, führt Sie nur immer tiefer hinunter in jenes schreckliche Labyrinth, das die Inder Sangsari nennen: das wirbelnde Rad, die ewige Drehung und am Ende die Wiedergeburt.«

»Und Sie glauben«, fragte Jeschower ruhig, »auf die Nabe zu treten, wenn Sie die Welt als Bewußtseinstäuschung erklären, und Ihr Bewußtsein als das, was die Summe der Täuschungen produziert, die wir als ›Welt‹ bezeichnen?«

Friedrich Am Ende hob seine Schultern, als ob er abwehren wollte, und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was Sie sagen müssen, Jeschower.«

»Nun?« fragte der Andere scharf.

Irene mischte sich wieder ein. »So dürfen Sie nicht fragen, Jeschower«, sagte sie sanft, aber fest. »Wer auf der Nabe steht, unterscheidet sich und die Welt nicht mehr. Er hat sein Bewußtsein ausgelöscht und mit dem Bewußtsein die Welt. Innen und Außen fallen zusammen, das Alles und das Nichts. Vielleicht« [sie hörte sich weitersprechen, doch nicht sich selbst, sondern jenen Andern, der ihre Erinnerung, ach, noch immer in Fesseln geschlagen hatte] »vielleicht, ich weiß es nicht, gibt es, wie in den Schlössern der Fee Morgana, eine gewisse Stelle, eine Falltür, welche die Tiefe des Abgrundes und der Vergessenheit auftut, und die mich am Ende mir selber entwenden und mich endlich auslöschen kann. Mich mir selber entwenden . . .«, sagte sie schmerzlich und blickte Ewald an.

Der träge Träumer zuckte zusammen und hob den Photoapparat hoch, den er umklammert hatte. »Ich möchte nicht nur Sie, sondern alle sich selbst entwenden«, bemerkte Ewald, »und Ihnen mit dem Bild, das ich mache, jene Aura aus Schuld und Strafe stehlen, die man das Negativ nennt.«

»Dann dürften Sie hinterher, Herr Hauteville, diese 301 Geisterfotografie nicht entwickeln«, rief ihm Irene zu. »Es sei denn, es käme etwas ganz Anderes als das, was wir fürchten, heraus.«

»Und auch Sie«, setzte Albrecht Beifuß fort, »sollten auf einem zweiten Bild Ihre Aura preisgeben wie wir alle, und Ihren Schatten verlieren als ein anderer Peter Schlemihl.«

»Ich habe nur noch diese eine Platte.«

»Dann verwenden Sie doch einen Selbstauslöser«, sagte Frau Florentine, »und schließen Sie sich uns an.«

So also war das erwähnte Foto der Reisegesellschaft zustande gekommen, auf dem nur die beiden Nonnen fehlten – wahrscheinlich, weil die Allwissenheit Gottes sie mit oder ohne Aura als die, die sie eigentlich waren, erkannte und ihr künftiges Bild, das, ›zusammengenommen‹, wie Ewald Hauteville später sagte, ›der heiligen Mutter Cabrini glich‹, bereits vorausgesehen, in das reine, untäuschbare Licht entrückt und mit dem Siegel der Auserwählten für immer bezeichnet hatte.

Hinterher steckte Patachon die Kassette und das zusammengelegte Stativ kurzerhand in den weltlichen Sack, auf dem ›Ata, Imi, Persil‹ stand, indem sie behauptete, daß darin der Fotoapparat besser verwahrt sei als an jedem anderen Platz. »Sie werden die Aufnahme doch erst entwickeln, wenn wir in Anastasiendorf sind. Und wenn Ihnen unterwegs etwas zustößt – ich meine, wenn Ihnen der Rucksack geleert wird – haben Sie die Gewißheit, daß sie sicher ankommen wird.«

»Wird er Ihnen denn nicht geleert?« fragte Ewald Hauteville erstaunt.

»Nein«, behauptete Patachon.

 

Inzwischen hatte der Himmel sich mit schläfrigen Sommerwolken bedeckt, die die Feuchtigkeit aus der Erde gesogen, und sich von Stunde zu Stunde mit Wasserfracht beladen, 302 verkörperlicht und sich abgegrenzt hatten gegen das lichte Blau. Die Schatten füllten sich, wurden tiefer, und wenn einer über die Maulwurfshügel der verkrauteten Haferfelder in Gestalt eines niedrig fliegenden Vogels oder russischen Bombers dahinzog, wischte er wie die Hand eines Riesen über die Augenlider der Menschen und hinterließ ihnen die Empfindung, von seiner scharfen, flüchtigen Spur vergewaltigt worden zu sein. Man war jetzt in einen schütteren Wald mit wildem Hopfen, Haselnußsträuchern und alten Kiefern geraten, die ganze Ballen von Misteln und Hexengarn in den Kronen trugen, und erblickte, wenn hier und dort eine Lichtung, eine Birkenallee, ein Waldstück sich auftat oder beiseite rückte, kleine Tümpel und verfallene Schuppen, die mit ausgebleichten, eisgrauen Netzen wie mit Wurzelflechten behangen und vom Wasser verrottet waren. Auch vermorschte Zaunstücke waren zu sehen, die schon lange keine Bedeutung mehr und nichts hatten, was sie einzäunen konnten; sie waren schief zueinander gesunken und glichen an manchen Stellen dem Scherengatter von Weidenzäunen oder waren mit zerschlagenen Töpfen und zerbrochenen Krügen verziert, als hätte das Catherlieschen des Märchens von ›Frieder und Catherlieschen‹ sie mit den Symbolen des Wahnsinns und der Zerstörung gekrönt. Gefühl von weiterrückenden Schatten, tastenden Händen und Angelhaken, von Vogelschlingen, Leimruten, Fallen verbreitete sich hier. An einem der Zaunpfähle hing ein schiefer, hölzerner Briefkasten, dessen Klappe nicht mehr vorhanden war. Ein Rotschwänzchenpaar hatte dort sein kleines Nest angesiedelt; als man sich näherte, hörte man ein ununterbrochenes Schrillen: die Alten umkreisten mit Warnungsrufen die Brutstätte, die ein Briefkasten war, und brachten Botschaft von Menschen und Mardern, die ihr gefährlich werden und sie bedrohen konnten. Noch, als die Wanderer 303 Kasten und Vögel und das Nest mit den Jungen im Rücken hatten, hörten sie das Geschrei. Nun klang es so, als ob nicht mehr den Jungen, sondern ihnen, den Wanderern, eine Botschaft und Kunde zugetragen und sie gewarnt würden, weiterzugehen und sich tiefer in diese Landschaft vager Chimären hineinzubegeben, die ihnen gleichwohl bekannt vorkam und sie an etwas erinnerte, was sie eben verlassen hatten –.

An den Augen Irenes schob sich langsam der Gespenstersalon ihrer Mutter vorüber mit seinem sentimentalen Krimskrams und den entwerteten Souvenirs, die samt und sonders auf Spinnenbeinen, deren Füßchen hier und dort fehlten, standen; weshalb man ihnen ein Stückchen Stanniol untergeschoben hatte, das jämmerlich glitzerte, eine Spielkarte oder den roten, abgesprungenen Siegellack eines kindischen Liebesbriefs. Die Gegenstände, zwergenhaft klein, verloren nichts an Schärfe, indem sie sich, weiterwandernd, entfernten; sie schienen von einem umgekehrten Theaterglas eingefangen und in ihm gespiegelt zu sein.

Einen solchen, man könnte sagen ›metaphysischen Operngucker‹ hielt auch Ewald Hauteville vor die Augen und holte aus der unendlichen Tiefe des mondbeschienenen Stadtrandgartens eine hellblaue, kleine Emaillevase mit schmaler Taille herauf, die an vielen Stellen schon abgeblättert, aber in ihrer zierlichen Rundung mit den randumlaufenden Heckenröschen von rührender Schönheit war. Sie schien einem blutjungen Mädchen zu gleichen, an dem er schuldig geworden war – wahrscheinlich, weil er gezögert hatte, sie in das Haus zu nehmen. Mit schiefem Lächeln stand sie dort unten zwischen den Erbsenreisern und sah zu ihm empor . . .

Friedrich Am Ende hingegen erblickte die Kapelle inmitten der Plünderung auf den Anhöhen vor Smolensk. Er sah sie, wie sie von oben bis unten entzwei gebrochen war: 304 ein Sesam, der sich geöffnet hatte, eine Schatzschatulle, die sich den Blicken preisgab, die von überall her nach ihr zielten. Der Himmel zerriß, eine Fülle von Licht, das durch die Wolken gefächert wurde, drang strahlenförmig ein. Die Ikonen kamen geheimnistragend und schwarz aus dem goldenen Hintergrund, welcher sich öffnete; Altargeräte fingen das Sprühen der Wintersonne auf und füllten sich mit Wein. Eine Kugel aus Bergkristall rollte Friedrich gerade vor die Füße; sie war durchlöchert, ihre Geschwister, die dem gleichen Rosenkranz angehört hatten, waren in alle Welt zerstreut und wußten nichts mehr von der frommen Übung, der sie früher verpflichtet waren. Schon bückte sich Friedrich herunter, um die Kugel vom Boden aufzuheben, als irgend etwas ihn warnte. Oder glaubte er nur, weil das dünne Schrillen des Rotschwänzchenpaars noch zu hören war, es habe ihn damals schon etwas gewarnt, was er heute vergessen hatte? Er schloß die Augen, in seinem Gedächtnis verschwanden die kostbaren Meßgeräte, als habe sie seine Erinnerung versehentlich eingeschmolzen, die Plünderung verschwand und der Wirrwarr, der ihn umgeben hatte – –

Und Albrecht Beifuß, in seiner Rechten einen Wachsstock auf zinnernem Leuchter tragend, ging die vier Wände des Ateliers ab, das für seine Vorstellung weniger wirklich als für Friedrich die Schatzkapelle war, und nur noch aus Echostellen bestand, welche auf Schallwellen reagierten, die für das menschliche Ohr zu kurz und also nicht wahrnehmbar waren; aus täuschenden Formen, die durch das Bewußtsein in die Luft gehaucht worden waren, indessen die Dinge selbst von dem Holzwurm der Vergänglichkeit ausgefressen und nicht mehr existent zu sein schienen, mindestens aber nicht wirklicher waren als das Aschenhäufchen, das Levi-Jeschower und Florentine auf ihrem Platz in der linken Ecke des Chorgestühls immer wieder zu sehen 305 vermeinten, wenn das Glöckchen von Anastasiendorf sie zu dem Chorgebet rief. Er ging die erste Wand und die zweite, die dritte und die vierte entlang und kam endlich wieder zurück zu dem Schreibpult mit den mondbeschienenen Blättern, deren Buchstaben wie unter Wasser lagen, und sich jetzt umgekehrt spiegelten, weil das Bildnis der Frau, das in ihnen beschworen und angerufen war, sich leibhaftig über sie beugte: sie, deren Gleichnisbild Troja, Orplid und das ewige Jerusalem waren, diese Städte, welche vom Hinfluß der Zeit für immer verschont zu sein schienen. War Albrecht Beifuß dort angekommen? Hatte die Wanderung, welche damit, daß er das Atelierfenster hochhob und das Mondlicht sich in den Raum ergoß, ihren Anfang genommen hatte, ihr Ende gefunden? War das Zeichen des Gedeon, das er sich damals von Gott erbeten, bereits gewährt worden? Und sein Spiel, das [unter der Maske verborgen] dem Höhepunkt zuging – trat es hinüber aus dem Gleichnisraum in die Wirklichkeit; hinüber aus der Tragödie zu dem heiligen Bocksgesang? Plötzlich erblickte Beifuß sich selbst als ein Schlachttier, das unter der schwarzen Kappe seiner Bestimmung entgegentrieb; eines maskierten männlichen Tieres, dessen Fell man nachher abziehen, gerben und auf der Tenne ausbreiten würde, damit die Tenne den Tau empfing, während es trocken blieb? »Nein!« sagte er laut und heftig und wischte sich über die Augen, vor die der Hunger ein flimmerndes Netz von Täuschungen ausgespannt hatte, von Phantasmagorien, Visionen und ängstlichen Schattenspielen. Nach einem Halt greifend, faßte er die Schulter von Florentine Jeschower, die mit verstörtem Ausdruck an seine Seite getreten war und selber wie eine Schlafende auf das ferne Geschrill der Vögel lauschte, das sich in dieser Glocke aus dunstiger Atmosphäre gefangen haben mußte; in diesem Raum, der aus Schwüle und Finsternis gemacht war, obwohl die Sonne noch ziemlich 306 hochstand, und die Konturen der Gegenstände jenen äußersten Grad von Deutlichkeit erreicht hatten, welcher sie teilnehmen ließ an der Natur der Träume und des prophetischen Seins.

»Die Vögel –« sagte sie zitternd. »Ich konnte als Kind keine Feder berühren, und als mein Vater mich einmal zum Scherz mit einem Taubenflaum streichelte, bekam ich ein Ekzem.«

Albrecht Beifuß sah sie verständnislos an, und Florentine fuhr hastig fort, auf diesen höflichen, ruhigen Menschen, der den Eindruck machte, ebenso schweigsam, wie zuverlässig zu sein, mit flackernder Stimme einzureden, als hinge ihr Leben von diesem Geständnis und seiner Wirkung ab.

»Seit wir wieder von Anastasiendorf nach Hause zurückgekehrt sind, fängt sich jede Nacht ein Gespenstervogel in unserem Schlafzimmer, ratscht an den Fenstern und an den Türen herunter, schlägt zur Erde, klatscht an dem Boden auf und verwandelt sich in einen klumpigen Mann – schwarz und gesichtlos – der mit einer Zange, einem Schraubenzieher und einem Dietrich an einem Kästchen herumhantiert, das er gewaltsam aufbrechen will, um etwas Bestimmtes ans Licht zu bringen – vielleicht den Vogel, der er ja selbst ist – vielleicht«, sie atmete kurz und heftig und endete unvermittelt mit einem furchtsamen Laut. Er schwieg, sie setzte von neuem an und sagte: »Warum schreien die Vögel noch immer, obwohl wir vorüber sind? Sie schreien«, fuhr sie gleich darauf fort und schauderte zusammen, »als ob Jehowa an ihrem Nest vorübergegangen sei.«

»Jehowa?« fragte Herr Beifuß endlich und kehrte sich Flora zu.

»Ja. Ja. Jehowa, den man erst kennt, wenn man ihm auf den Rücken sieht.«

»Warum fürchten Sie sich, Jehowa auf den Rücken zu sehen, Frau Levi-Jeschower?« fragte der Andere. 307

»Wir Kinder Israels wissen, warum wir die Augen schließen«, sagte sie, fast ohne Laut. »Auch die Engel vor dem Edelsteinthron bedecken ihr Gesicht mit den Flügeln, um nicht geblendet zu sein.«

[Geblendet sein und sich selber verblenden, ist zweierlei, dachte Beifuß bei sich. Ihr Kinder Israel habt euren Gott mit Purpurteppichen, Byssusgeweben und Bildlosigkeit solange bedeckt, bis er euch unsichtbar war. Ihr habt seinen Namen solange verschwiegen, bis die Steine geschrieen haben.] Laut aber sagte er: »An uns allen ist Gott vorübergegangen, nicht nur an Ihnen allein. Wir haben das Rauschen gehört und den Wind, den sein Vorübergang machte, auf unsern Gesichtern gefühlt. Wahrscheinlich ist uns allen davon ein Ausschlag zurückgeblieben, ein mystisches Ekzem.« Er fuhr unwillkürlich gegen die Wange und sagte: »Es peinigt und brennt. Wir sind gezwungen, davon zu sprechen, wenn wir den Mund auftun. Wir vergessen es selbst nicht im Schlaf. Es ist uns immerfort gegenwärtig wie Hunger oder Durst. Ach«, schrie er plötzlich hemmungslos auf, »wir fallen einander lästig damit, weil es uns selber lästig und auf die Nerven fällt. Aber können wir anders? Sie und ich? Ihr Gatte, Friedrich Am Ende, Hauteville und seine Schwester Lotte? Hören Sie«, sagte er ruhiger, zog sie auf einen Baumstamm herunter und setzte sich neben sie, »wir sind in eine Falle gegangen, ich habe es längst gefühlt. Von einem gewissen Zeitpunkt ab war uns der Ausweg verstellt. Wir drehen und wenden uns, glauben uns frei, beginnen irgend ein harmloses Thema und wollen uns über belanglose Dinge belanglos unterhalten: über Koch- und Literaturrezepte, Familienklatsch, Reiseerinnerungen, kosmetische Mittel, Bruchbänder, Filme und Hühneraugenpflaster, über Zahnprothesen und Fußeinlagen, Bezugscheine, Glücksspiele, Lieblingsfarben oder moderne Kunst – aber merken Sie nicht, daß jedes Thema bereits ein 308 Schlageisen ist? Gott ist zum Fallensteller geworden an einem jeden von uns. Worüber wir auch immer sprechen mögen – wir sprechen über Ihn.« Er kratzte ein Stückchen Borke ab, warf es fort und sagte gedankenlos: »Wer das Ohr und sonst nichts an uns allen hätte, könnte auf den Gedanken kommen, diese verrückte Reisegesellschaft sei ein Theologenverein.«

»Ich kann Sie versichern«, erwiderte Flora mit einem leichten Lachen, »daß eine Theologengesellschaft über alles andere eher spricht als über den lieben Gott. Aber Sie haben vollkommen recht, wir sind in etwas hineingeraten, das keiner von uns vorausahnen konnte, als er mit seinem Rucksack, einer Zahnbürste und Ersatzschnürsenkeln sich auf den unübersichtlichen Weg nach Anastasiendorf machte.«

»Unübersichtlich ist er jetzt nicht mehr, seit Pat und Patachon aufgetaucht sind«, gab Albrecht Beifuß zurück. »Die Türme. Die Leuchttürme, denen wir folgen und die wir im Auge behalten müssen, um an das Ziel zu gelangen.«

Florentine blickte ihn offen an. »Ich glaube nicht, daß Frau Lotte Corneli an das Ziel zu gelangen vorhat, das die Türme uns anvisieren.«

Er wollte hochfahren, zuckte zusammen und sagte dann unerwartet: »Sie sehen es genau. Mehr noch – sie ist das Gegenlicht zu Pat und Patachon. Das Irrlicht, das von dem Weg fortlockt, und Jeden, der sich verleiten läßt, seinem zärtlichen Zucken zu folgen, hinab in den Orkus führt.«

»Aber Sie werden nicht, lieber Beifuß, an diesem zärtlichen Zucken zum Selbstmörder werden!« rief Florentine und legte ihm ihre Hand auf die Schultern . . . diese mütterliche und starke Hand einer kundigen Beduinenfrau, deren langgegliederte, bräunliche Finger um Lust wie Trauer wissen, und in dem Schatten des Wüstenzeltes mit den Händen des Erzvaters spielen. 309

»Doch«, sagte er unter dem sanften Druck, nahm Floras Hand von der Schulter herunter, küßte sie ehrfurchtsvoll und fuhr fort: »Wenn es sein muß, liebe Frau Levi-Jeschower, werde ich auch für Lotte zu einem Selbstmörder werden, auf dessen Schultern sie treten kann, wenn sie im Sumpf einbricht; zu einem Weidenast über dem Sumpf oder wie der ›Getreue Johannes‹ zu einem graublauen Stein.«

»So sehr –?« sagte Florentine entsetzt.

»Ja«, sagte er ruhig. »So sehr.« Sein Gesicht, im Gegensatz zu dem Ton der eben geäußerten Worte, war entstellt von Liebe und Raserei; es glich einem weißgeglühten Metall, das im Begriff ist, zu schmelzen, seine Grenzen zu überfließen und in eine neue Form seines Daseins lautlos hinüberzutreten. Dann nahm sich Beifuß wieder zurück und sagte mit rauher Stimme zu Flora: »Jedes einzelne Haar auf Lottes Haupt wäre wert, daß ein Mann sein Leben dafür und seine Seligkeit ließe.«

[Wie schön er ist, dachte Flora traurig. Ein Opfertier, das um die Würde seines Todes zu wissen scheint.] Laut sagte sie: »Jedes einzelne Haar ist auch auf Ihrem Haupte gezählt und ebensoviel wert.«

»Wenn es Gott nichts wert wäre«, sagte Beifuß, »hätte es keinen Sinn, Frau Jeschower, mich an Lotte Cornelis Stelle als Lösegeld anzubieten.«

»Dieses Lösegeld«, rief sie beschwörend aus, »hat ein Anderer schon für Lotte bezahlt und im Himmel für sie hinterlegt.«

»So weit hinauf kann Lotte nicht reichen«, entgegnete Beifuß ruhig.

»O nein, das können wir alle nicht. Doch der das Lösegeld für uns gezahlt hat, kam selbst herab in das Fleisch.«

»Ich weiß. Ich weiß alles, Frau Levi-Jeschower«, sagte Albrecht mit angewiderter Miene und fügte erbebend 310 hinzu: »In das Fleisch. Gott hat sich mit Fleisch und Haaren und Sterblichkeit bedeckt . . .«

»Vor dem Schoß der Jungfrau«, erwiderte Flora, »hast Du Dich nicht entsetzt – non horruisti«, ergänzte sie noch und faltete unwillkürlich die Hände über dem Leib. »Was haben Sie?« fragte sie gleich darauf, als Beifuß sich erhob.

»Nichts. Aber ich verstehe allmählich Ihren Widersacher, Friedrich Am Ende, und seine Sehnsucht, sich aus dem Zwiespalt von Geist und Fleisch zu lösen«, erwiderte er kurz.

Florentine sah unsicher zu ihm auf. »Meinen – Widersacher?« entgegnete sie.

»Ja. Hat nicht Jehowa euch Juden geboten, das Fleisch zu beschneiden, zu waschen, es abzusondern und mit dem Blut von Böcken und von Stieren allmonatlich zu besprengen zum Zeichen der Reinigung? Doch eben dieser geistige Gott umkleidete sich mit Fleisch; er machte einen schwärzlichen Brei aus Speichel und staubiger Erde und nannte ihn ›Epheta‹. In den Bauch der Erde stieg er hinab und führte die Toten herauf. Dies alles, weil er sich nicht entsetzt hat vor dem Schoß der Jungfrau, Frau Levi-Jeschower, mit der die Schöpfung von neuem anfing, die schon beendet war. Dieses neu begonnene göttliche Spiel, diese unvollendete Schöpfung setzen wir alle fort: Sankt Paulus, der in seinen Gliedern ergänzte, was an Christi Leiden noch mangelt; der alte Ignatius von Antiochien, der von gefräßigen Bestien zerrissen, und als Weizenkorn von ihren Zähnen zermahlen zu werden wünschte. Ergänzen – zerrissen – und zwischen den Zähnen unvernünftiger Tiere zu der Vollgestalt Christi ergänzt werden, ach! Welch ein Mahlwerk, dessen riesige Räder sich vom Himmel zur Erde drehen und wieder zum Himmel zurück –! Wer entzieht sich ihm? Wen schaufelt es nicht in sein ewig kreisendes Rad?« Plötzlich sah Beifuß sehr abgespannt aus. »Gehen wir«, sagte er. »Pat und Patachon warten auf uns.« 311

»Wo ist Lotte?« fragte Flora beunruhigt.

»Im Schatten der Türme, trösten Sie sich, verehrte Frau Jeschower. Die beiden haben sie aufgefordert, ihnen von Wilhelm Corneli und Reginald zu erzählen. Der kleine Patachon scheint sehr kinderlieb zu sein und der große in allem höchst sachverständig, was das Geschwätz angeht, das die vielen Heimkehrer machen, wenn sie von ihren Begegnungen, Wünschen und Mutmaßungen erzählen. Übrigens wollen sich beide Nonnen noch heute von unsrer Gesellschaft trennen und einen Haken schlagen, obwohl auf Fräulein von Dörfers Karte unser Weg der kürzeste ist. Soviel ich hörte, besuchen sie noch einige Bauernhöfe, an die sie Botschaften haben.«

»Wahrscheinlich gehen sie betteln«, sagte Frau Flora enttäuscht. »Sie haben für dieses fromme Geschäft das Gesicht und die richtigen Säcke mit ›Salve‹ und Eßgeschirr. Es wäre am besten, wir schlössen uns an. Mir kommt es nicht recht geheuer vor in diesem toten Gehölz.«

Als nachher Florentine Jeschower ihren Wunsch im Namen der Reisegesellschaft den beiden Nonnen vortrug, protestierten die Türme augenblicklich und waren erst nach langem Geflüster, das sie untereinander führten, bereit, Florentine in den besonderen Auftrag, der sie zu dem geplanten Umweg veranlaßte, einzuweihen. Es handelte sich nämlich darum, einige Mitschwestern, deren Schändung während des russischen Vormarsches nicht ohne Folgen geblieben war, durch zuverlässige Christen über die Zonengrenze und in bestimmte Klöster zu bringen, wo sie gebären würden – Novizinnen, aber auch ältere Nonnen in bäuerlicher Kleidung, die, von dem alten Pankow behütet, den der kleine Patachon damals einen ›richtigen Lazarus‹ nannte, zu den betreffenden Ortschaften stoßen und dann von unterrichteten Leuten auf Schleichwegen nach dem Westen geführt und dort versorgt werden sollten. Pat und Patachon also 312 hatten die Leute auszumachen, zu instruieren und gleich darauf nach Hause zurückzukehren . . . nicht ohne vorher noch die Äbtissin von Anastasiendorf rasch gesprochen und Briefe an die betreffenden Klöster im Westen empfangen zu haben.

Frau Jeschower, bis unter die Haare erblaßt, faßte nach Patachons Rock. »Ich verstehe nicht, daß Sie uns anfangs suchten und sich jetzt von uns trennen wollen«, sagte sie wie ein Kind.

»Wir haben kein Gelübde gemacht, daß wir für immer und ewig mit Ihnen zusammenbleiben«, erwiderte Pat gefühllos, und ihre Gefährtin fuhr ebenso fort: »Sie haben uns auf den Weg gebracht, basta, und werden, so Gott will, auch ohne uns nach Anastasiendorf kommen.« Sie zögerte einen Augenblick lang und blickte ihre Mitschwester an, ohne, daß sich in ihrem Gesicht eine Miene veränderte. Dann sagten Beide aus einem Mund: »Wenn alle drei Damen mitkommen wollen –?« und der lange Pat fügte eilig hinzu: »Natürlich nur die Damen. Das versteht sich ja wohl von selbst.«

Es verstand sich ebenso wohl von selbst, daß die Frauen sich von ihren Begleitern unter keinen Umständen trennen wollten, obwohl von da ab der Sog begann, der sie zeitweilig auseinanderreißen, und fast jeden von ihnen als Einzelnen, als Gescheiterten oder Schiffbrüchigen in Anastasiendorf ankommen ließ; nicht anders wie die Helden der Argo, von der, wie man weiß, die Sage erzählt, daß sie an den verschiedensten Orten der Welt gesehen worden, und zu den verschiedensten Zeiten vorübergesegelt sei; ja, deren Zug sich auf Räume und über Zeiten erstreckte, die mit den Mitteln der Zeit, die die Sonne dem perspektivischen Raum zumißt, nicht mehr erfahrbar waren. So mochte wohl auch den Gefährten der Argo, nachdem sie zurückgekehrt und die Segel des zaubrischen Schiff es für immer 313 eingezogen, die Heimaterde betreten und das Abenteuer beendet hatten, zumute gewesen sein: sie wußten nicht mehr, ob sieben, ob hundert Jahre zwischen dem Aufbruch und der Heimkehr gelegen hatten; oder ob nur am Ende ein einziger Atemzug damals die Segel ihres Schiffes geschwellt, und ihr Dasein so gründlich verändert hatte, daß es in nichts mehr dem früheren Leben und seinen Bedingungen glich. Vielleicht kann man sagen: sie hatten alle ein Sakrament empfangen, wenn Sakrament soviel heißen soll wie Vereinigung mit der Gottheit, die es gestiftet hatte – – Einer von ihnen zuletzt noch die Totenkommunion. Nun waren sie wirklich jenseits von Raum und Zeit geraten . . . in einen Bezirk, wo vor Gott tausend Jahre nur einen Tag bedeuten, ein Tag aber tausend Jahre.

Wohl möglich, daß innerhalb dieser Zeit, welche eigentlich ›Ohnezeit‹ heißen müßte, und innerhalb dieses Raumes, der ›Ohneraum‹ heißen sollte, der Gesang des Russen, welchen sie alle [nicht nur Beifuß und Lotte Corneli allein] bald nach dem Abschied von Pat und Patachon hörten, in Gottes Ohr sich vereinigt hatte mit der Stimme des Vogels, der in der Legende den Mönch von Heisterbach fortlocken durfte und ihn sich selber ganz entwenden, daß er bei seiner Rückkehr nur Staub und Asche war – oder, daß er zusammenfiel mit dem entrückten, überirdischen Pfeifen, das die letzte Bombe auf Erden machte, als sie sich niedersenkte: diese hohe Kadenz, dieser lautlose Ton, in dem die Natur aller Töne sich aufhob und sich gleichzeitig so zusammendrängte, daß die Materie an ihm zersprang und nicht mehr stofflich war. Aber wem wäre mit diesem Wissen für seine Seele gedient?

»Wir können zwar«, heißt es bei Pater Mamertus in einem Tagebuch, das ›Die letzten Ereignisse und Begebenheiten der Argonautenfahrt‹ festhält, und sie gleichzeitig meditiert, »wir können zwar über die reine Form, auf welche der 314 Geist sich zurückführen läßt, einige Aussagen machen, doch bleiben sie mathematischer Art und schließen weder das Wesen, noch die Bewertung der Inhalte ein, die ihre bloß ästhetische Formel zum Entzücken des Künstlers beschreibt.«

 

Es geschah also – alle hörten es, und jeder zog, wie es ihm gemäß war, aus dieser Wahrnehmung für sich selbst eine andere Folgerung – es geschah, daß sich der kastratenhaft klare und wilde Gesang erhob. Zum erstenmal griff wieder Albrecht Beifuß nach Lotte Cornelis Hand. »Ja?« flüsterte seine Freundin mit weit geöffneten Augen, als ob sie fragen wollte: »Ist es nun wirklich so weit?« Oder wie in dem Märchen der Flußspiegel ruft, wenn die Grundwässer schwellen: »Die Stunde ist da – ist auch der Mensch da?« Oder einfach: »Ist Wilhelm da?«

Sie waren allein. Schon hatten die Andern sich mehr oder minder eilig an die Fortsetzung ihres Weges begeben, den man auf höchstens zwei Tage noch veranschlagte, wenn nichts dazwischenkommen oder sie ablenken würde. Ihre Konstellation war die gleiche geblieben, nur Friedrich Am Ende hatte sich von den übrigen abgesondert; allerdings nicht mit der Absicht, Anastasiendorf aufzugeben. Auch diese Anderen, mit einem jähen bedeutungsvollen Erschrecken, dem Hingerissenheit beigemischt war, hatten den fernen Gesang gehört, der von überall her zu dringen schien: unbestimmbar, an keinen Ort gebunden, ja, nicht einmal einem bestimmten Wesen, einer begrenzten Person gehörig, der man ihn zuordnen konnte.

»Verstehen Sie, was er singt, Irene?« hatte Ewald Hauteville gefragt.

»Er?«

»Oder Es«, gab Hauteville zurück und zog sie vorsichtig näher, die leise zu zittern begann. 315

In seinen Armen flüsterte sie: »Ich höre – Liebe. Ich höre – Sehnsucht. Ich höre Freiheit und Tod. So hat es nachts, als die Artillerie plötzlich geschwiegen hatte, und die russischen Panzer wie schwere Gewitter an dem Zuchthaus vorüberrollten, vor der Todeszelle gesungen, in der ich eingesperrt war. Ein Gewitter von Tönen, das Schloß und Riegel mit seiner Gewalt zu zerreißen drohte. Ach, und zugleich eine Kraft: so zart wie das kleine, weißgrüne Glöckchen, in den Laubwäldern von Masuren, das man Salomonssiegel nennt. In diesem Augenblick glaubte ich, daß es mir wieder vergönnt sei –«

»Zu leben?«

»Nein. Zu vergessen, was ich erfahren habe. Aber jetzt weiß ich: vergessen genügt nicht. Es ist umgekehrt wie in der Sage, Hauteville. Nur, wenn sich Orpheus umdreht, und Eurydike bei der Hand nimmt, kann sie gerettet werden.«

»Ich habe mich umgedreht«, sagte Ewald und hob ihr Gesicht zu sich auf. Dann fuhr er in großer Offenheit fort: »Doch ich liebe Eurydike nicht. Ich begehre sie nur, wie das Fleisch begehrt, wenn es in Träumen mit einem Phantom, einem Mädchennamen und einer Sehnsucht zu lange geschlafen hat.«

»Sie lieben – Vera?«

»Wie kann man lieben, was man niemals gesehen hat?« erwiderte er ruhig. »Aber als ich Sie suchte, Irene, habe ich Vera gemeint. Sie waren nur stellvertretend für sie. Heute ist es mir klar. Und auch Sie«, fuhr er fort, »haben mich nicht in Wirklichkeit geliebt, sondern den ›schönen, sehr schönen Mann‹ in mir vergessen wollen, von dem Sie einmal gesprochen haben, als wir am Seeufer lagen – erinnern Sie sich nun?«

Irene, noch immer in seinen Armen, drängte sich selbst vergessend und wild mit dem ganzen Körper an seinen 316 Leib: ein Waldgeschöpf, das ihn mit Laub und Zweigen und klammerndem Efeu einzusaugen, und in die Natur der Bäume zurückzuverwandeln suchte.

Er machte sich unter Küssen frei, ohne sie loszulassen, und streichelte ihren Arm. »Begreifen Sie«, sagte er, während er nichts als den Wunsch, sich mit ihr zu vermischen, hatte; sie zu besitzen, zu schlagen und mit Gewalt, ja, mit äußerster Roheit ihr Erinnerungsbild zu verdrängen, »daß ich nicht neue Schuld auf mich laden und zu der ersten die zweite fügen will, die noch ärger wäre als sie.«

»Sie behaupten, daß Sie mich nur begehren, wie das Fleisch begehrt, Herr Hauteville? Wer sagt Ihnen, daß ich mehr erwarte?« fragte Irene verzweifelt; ihr Mund, wie der einer tödlich verwundeten Dryade, blieb halb geöffnet stehen; ihre milchweißen Zähne schimmerten mit dem rührenden Glanz der Jugend unter dem streng gezeichneten Bogen der blassen Oberlippe, die durch den Einfluß der Hitze von zarten Sprüngen durchzogen und ausgetrocknet war.

Blitzhaft erinnerte sich Hauteville an die Behauptung Irenes, eine Bardame auf den Knieen der Männer gewesen zu sein – eine Bardame, kundig der Odyssee, wie sich später herausgestellt hatte! –, und die Erkenntnis, daß nur die Unschuld, sich so preiszugeben, imstande war, wie dieses Mädchen sich preisgab, rührte an Ewalds Herz. »Sie wissen nicht, was Sie verlangen, Irene«, murmelte er erstickt. »Ich wäre nicht besser als dieser Mann, der die Weberselektion leitete, wenn ich mir nachgeben wollte.« Plötzlich fuhr er sie zornig an. »Es ist wahr: ich habe Verlangen nach Ihnen. Ich brenne. Ich stehe in Flammen. Ich bin gegeißelt von Lust und Begierde nach Ihrem kleinen Schoß. Aber ebenso wahr ist es, Fräulein von Dörfer, daß ich nicht Liebe für Sie empfinde; daß Sie mir fremd sind und unvertraut, fremd wie der eigentümliche Tonfall Ihrer masurischen Sprache und die Mischung von Hochmut und Sklaverei, 317 die Sie zutage legen. Ich bin nicht für Sie geschaffen, Irene, in der Art wie Männer und Frauen für einander geschaffen sein können: ohne Frage, ohne Zucken und Zaudern, mit Übereinstimmung aller Gefühle, die schon auf dem Knie ihrer frühesten Herkunft bewußtlos miteinander gespielt und sich wortlos verständigt haben.«

[›Liebe‹ tönte es aus der Tiefe des himmlischen Empyreums, in welchem Sichelchen wohnte, ›Liebe, was ist sie im Grunde andres als eine Bewegung der Sphären nach Weise der Musik?‹]

Eine tiefe Ratlosigkeit überfiel ihn, Empfindung von Ohnmacht und Müdigkeit, der er nichts entgegenzusetzen hatte als das Bewußtsein, zum ersten Mal seit der Begegnung mit Fräulein von Dörfer menschlich gehandelt zu haben.

»Ich danke Ihnen, lieber Hauteville«, sagte Irene scheu. »Wollen wir weitergehen?« Sie streckte ihm ihre Hand hin, er ergriff sie, drehte den Rücken nach außen und legte seinen traurigen Mund auf die kühle geäderte Innenseite dieser wesenhaft adligen Hand; dabei war ihm zumute, als ob ein Durst, der nicht aus den Sinnen käme, langsam gelöscht würde, und eine Kraft, die nicht in dem trägen Blut des Träumers enthalten gewesen war, durch seine Adern dringe . . .

 

Eine andere Flut, eine strömende Quelle, die weder in Worte gefaßt werden konnte, noch einer Begrenzung fähig war, weil sie allen Poren der Erde entquoll, jedem Blatt, jeder Blütennarbe, der Rinde der Bäume, dem Schamberg der Moose und den Holunderzweigen, die gekoppelt zu dem zaubrischen Bau der panischen Syrinx dienen, erfüllte die laue Luft. Es war das Lied und die Antwort der Schöpfung auf eben dieses Lied: das Gewieher der Hengste, das leise, entzückte Geschrei der Gimpel, das Brüllen der Rohrdommel in dem Schilf, das Windesrauschen, das Locken des 318 Nöck – es war der Gesang der Natur. Keine Substanz war ihm beigemischt, die ihn zittern und schwanken machte; keine Farbe außer dem harten Blau des strahlenden Hochsommerhimmels, dem rasenden Rot des Venenbluts, wenn es fast schwarz zu der Herzkammer stürzt, dem geilen Grün fetter Wasserpflanzen, dem triumphierenden Messinggelb, das die Posaune des Muttermunds ausstößt, wenn die Zeit in der Schwebe ist.

Diese Töne bedienten sich eines Menschen, wie sich die Brandung der Welle bedient und Sturm der Äolsharfe; sie durchliefen und verwandelten ihn und ließen ihn zurück, wie der Wind die Roggenähre zurückläßt, die er befruchtet hat, Symbol der Demeter und zugleich die Fülle der Mysterien, welche ihr Name umschließt. Mann und Frau waren Eines in dem Gesang der aufgerufenen Zeugungskraft und brauchten nicht nach Ergänzung zu streben, weil er vor Aufspaltung der Geschlechter einem Doppelwesen entsprungen war, einer Herme, die unter dem Mantel des Fleisches – wie jene unter dem Mantel aus Stein – die Zeichen beider trug. War es Licht, war es Luft, was das helle Geäst der miteinander verschränkten, zitternden Äste der Melodieen hinauf- und hinunterlief; ihre Bögen, ihre biegsamen Ruten, die züngelnden Blätter, das Purpurportal der zwiegeschlechtlichen Weide: der Weide am Hadestor? Immer näher kam der geheimnisvolle, ekstatische Gesang und entfernte sich gleichzeitig immer mehr. Er verteilte sich so wie Tau oder Regen, der im Niederfallen bereits verdunstet; er senkte sich auf Albrecht und Lotte als Schoß einer Magna Mater herunter und nahm Besitz von ihnen. Er machte sie willenlos, schwach vor Furcht und überquellend von Lust. Wohin sich wenden? Wohin entfliehen? Mit jeder Bewegung verstrickten sie sich in dem unerschöpflich wuchernden Garn, das eine unsichtbar kreisende Spindel vor ihre Füße warf; 319 mit jeder Wendung gerieten sie neu in eine Zauberspirale, die tiefer und tiefer führte.

»Wir müssen umkehren«, sagte Beifuß, »sonst sind wir verloren, Lotte. Ahnen Sie nicht, woher diese Töne, woher dieses Singen kommt?«

»Ein – Rotarmist?« fragte Lotte und spielte mit einer Kuckucksblume, die sie soeben abgepflückt hatte, blies das zipflige Krönchen auf und nieder und atmete seinen Duft.

»Ein Russe – aber kaum ein Soldat«, gab Albrecht Beifuß zurück. »Wahrscheinlich ein Deserteur in Zivil oder ein Fremdarbeiter, der sich weigert, nach Hause zu fahren. Diese Leute sind natürlich bewaffnet und gefährlicher als eine ganze Truppe von Wölfen in Uniform. Aber ich fürchte, es ist schon zu spät, vor ihm davonzulaufen. Geben Sie mir Ihren goldenen Ring, und was Sie sonst noch an Schmucksachen haben. Man soll nicht vergessen, daß etwas schon reizt, wenn es nur blinkt und blitzt.«

Er zog seinen Lederbeutel hervor, den er nach der Gewohnheit der Zeit zwischen Haut und Hemd trug, um seine Uhr sicher darin zu verwahren; sie warf ihre Kuckucksblume fort und zu der Uhr den kleinen Brillantring, der über dem Ehering saß. Dann löste sie diesen selbst von dem Finger und fügte ihn hastig bei. Ein hellerer Streifen Haut blieb zurück, den schon seit Jahren die Sonne nicht mehr getroffen hatte; Lotte hob unwillkürlich den Fingerknöchel zum Mund und preßte ihre geöffneten Lippen auf die blaß gewordene Stelle, als habe sie sich verbrannt. »Das Singen hat aufgehört«, flüsterte sie, während Beifuß das Beutelchen wieder verbarg und über ihrer gemeinsamen Habe die Jacke zusammenknöpfte.

Es war so. Der Gesang war verstummt, als sei ihm wie Minotaurus auf Kreta ein Opfer in den Rachen geworfen, und er besänftigt worden. Diese plötzliche Stille war ebenso zart, wie ungeheuerlich. Es war, als habe das riesige Untier 320 sein stierhaftes Haupt zu den Füßen, und über den Füßen die Kniee langsam zur Erde gesenkt; es brach nieder, lautlos, mit fließendem Fell, welches sich zwischen den Hörnern lockte, und wartete gleichsam wie Zeus gewartet und sich stille verhalten hatte, als ihn die holde Europa in ihre Dienstbarkeit zwang.

Jenen Ausdruck auf Lottes Zügen gewahrend, der wieder einmal, wie schon oft, aus Lust und Wahnsinn gemischt war, wußte Beifuß: er war an dem Ziel. »Haben Sie sonst keine Kostbarkeiten, die Sie verbergen möchten?« fragte er doppeldeutig und betrachtete sie mit der Selbstbeherrschung, die ihm die Nähe des Schreckens verlieh – wissend und liebevoll.

»Untersuchen Sie mich!« sagte Lotte und hob ihre Arme empor. Die Nachmittagsonne stand ihr im Rücken und fing sich in ihren Haaren; das Licht, wie die Hände eines Verliebten, umgriff ihre Schultern, tastete langsam an ihren Hüften herunter und teilte ihre Schenkel. Um Haaresbreite von Albrecht getrennt, fragte Lotte: »Kann man verbergen, was aus den Kleidern tritt?« Sie ließ die Arme heruntersinken und taumelte, von der Hitze betäubt, gegen einen der morschen Zäune, die kreuz und quer durch das tote Gelände und über moorige Grasflecke liefen, die trotz der Trockenheit Grundwasser führten, mit Wiesenkerbel, mit Sumpfstorchschnabel und Sauerampfer bewachsen waren und Spuren von Kulturpflanzen zeigten, die aus früheren Zeiten stammen mochten, wo hier eine hugenottische Siedlung von Fischern und Bienenzüchtern zu finden gewesen war.

Alte Apfel- und Birnbäume breiteten ihre unfruchtbar gewordenen Kronen über eingesunkenen Beeten aus, deren Grenzen durch Feldsteine, dürren Buchs und verwilderte Himbeersträucher noch immer bezeichnet waren. Goldraute drängte sich in den Ecken der früheren Grundrisse 321 dicht zusammen; aus einem Rondell, dessen Grenze das Gras noch immer achtete, schlugen wie kühle, hellblaue Flammen einige Rittersporne, und eine hohe, einsame Lilie auf düsterem Kandelaber erleuchtete mit gespenstigem Weiß das grüne Labyrinth. Solche Lilien, aber auch Kaiserkronen, die sich dicht an der Erde verzweigten, und Feuerlilien, die unvermittelt aus der Zwiebel zu brechen schienen, wurden zahlreicher in dem Maße, als Beifuß und Lotte in ihren Bezirk eindrangen; in das Geviert der verlassenen Siedlung, die [von raschelndem Hopfen und wildem Wein, der die Zähne fiebrig umklammerte, von Cymbelkraut und von Steinbrech bedeckt] wie ein Wald im Wald überdauerte: ein verwunschenes Schloß der Herren von Frankreich, die ihre geheiligte Wappenblume auf den Rasen geworfen hatten, wo sie weiterknospte und trieb. Bis an die Grenze des kretischen Dorfes, das, mit dem Stierhaupt des Minos gekrönt, sich gegen den Westen kehrte – bis dorthin, wo mit kyrillischen Lettern neue Wegweiser aufgestellt waren, und die Botmäßigkeit des Abendlandes zu Ende gegangen war, war dieses Stück Erde vorgeschoben – und seine Geschichte, die einst begann, als Zisterzienser und Ordensritter die Wälder gerodet hatten, stieg immer noch in Formen und Farben, die Vergangenes in der Art eines Traumes, wie der Weltgeist ihn träumt, wiederholten, aus dem märkischen Heideboden. Alles war Gegenwart. Wäre jetzt lautlos ein hoher zweirädriger Bauernkarren die Wegespuren entlanggefahren, so hätte die Isle de France ihn geträumt, ihn Heinrich von Navarra gelenkt, und Theseus ihn hier in Empfang genommen und die Maultiere abgeschirrt.

Auch die Bienenstöcke, an denen Albrecht und Lotte vorüberkamen, mußten von jeher schon dagewesen, und ihre summenden, unruhigen Völker, in denen sich etwas anzubahnen und vorzubereiten schien, mußten Zeuge von allen Wanderungen und Sagenzügen gewesen sein – zuletzt von 322 dem nicht endenden Treck, der sich wie eine pelzige Raupe immer weiter nach Westen schob. In der Tiefe des verzauberten Forstes, dessen Gelände sich ungleichmäßig zu einem stehenden Wasser hin senkte, stand, halb verdeckt von mannshohen, schwarzen, dichten Wacholderbüschen, ein abgebrochenes Haus. Vier steinerne Wände, Fensterhöhlen, die stark verwittert waren, ohne Decken und Balken: so bot es sich den Gewalten von Sonne und Regen dar, die es stündlich veränderten. Auch an ihm hingen ausgebleichte, verrottete Fischernetze; sie waren an vielen Stellen zerrissen und wohl seit Monden und Jahren nicht mehr verwendet worden. Tiefe Brennesselgräben umgaben es und schützten es durch ihr beißendes Feuer, das Tieren und Menschen den Zugang verwehrte; das verrostete Drahtseil einer Glocke lief an der Eingangswand nieder, die noch Reste von Pfosten aufwies – der Glockenmund aber, von Spinngeweb und Fäden überzogen, tönte selbst in stürmischen Nächten nicht mehr, weil der Klöppel an dicke Mooskissen schlug, die jeden Laut erstickten, und das wimmernde Rufen der kleinen Glocke, wenn der Wind sich heulend über sie warf, den Ohren unhörbar machte . . .

In der Mitte des Grundrisses war der Schößling einer Trauerweide im Lauf der Zeit so üppig ausgetrieben, daß die niederhängenden Zitterzweige den imaginären Raum fast erfüllten, und je nach der Jahreszeit eine Wölbung aus grünem Licht oder Schattenpfeilern, Bewegung, sanftem Blättergeriesel und Kätzchenstaub bildeten. »Dort möchte ich ausruhen«, sagte Lotte. »Schlafen, bis dieser Tag sich abkühlt, und die Sonne am Horizont steht.« Ihre Stimme hatte, von Sehnsucht gepeinigt, einen klagenden, kindlichen Klang.

»Es ist gefahrvoll«, erwiderte Beifuß, »sich allzu lange hier aufzuhalten. Fühlen Sie das nicht selbst?« Er hob sie, entgegen den eigenen Worten, auf seine Arme und trug sie über 323 die Brennesselschwelle; die Weidenäste teilten sich freudig und schlugen wieder zusammen, als er sie niederließ.

»Schlafen –!« sagte Lotte noch einmal, ohne die Augen zu schließen; er bettete sie auf das trockene Gras und legte ihr kleines Nixenhaupt zärtlich in seinen Schoß. Tiefes Schweigen. Kein Lufthauch rührte sich, durch die Schattengitter der Weidenkrone flirrte und flimmerte eidechsenhaft das unruhige Licht und bewegte sich, als liefe ein verlorener Geist die gefügigen Ruten hinauf und hinunter und suche Unterschlupf. »Warum singt er nicht weiter?« fragte Lotte und warf den Kopf hin und her. »Glauben Sie, daß sich der Sänger entfernt hat? Oder schleicht er sich leise heran? Er soll mir noch einmal diesen Gesang in die Ohren spielen wie ein Zigeuner, der das Orchester auf Katzenpfoten mit seiner Fiedel verlassen hat, und sich geigend über die Schulter der Auserwählten beugt«, sagte sie tollkühn und schnell. »Sein Singen ist auf mich zugekommen wie die letzte Komposition meines Mannes, von der ich Ihnen erzählte, Albrecht, als wir uns kennen lernten.«

»Der letzten Komposition Cornelis«, erwiderte Albrecht Beifuß zerstreut und blickte auf sie herunter – seine Finger verhielten in ihren Haaren und blieben dann in der Nackenrinne gedankenschwer und verloren liegen, während er weitersprach –, »dieser Sonate fehlte es an Unvollkommenheit. Sagten Sie es nicht selbst?«

»Heute kommt es mir nicht mehr so vor«, entgegnete Lotte unruhig. »Heute höre ich mitten darin eine Karfreitagsratsche. Das Mahlen der Mühle und den Gesang der wahnsinnigen Grille, die nicht mehr aufhören kann. Ein Todesmotiv. Oder irre ich mich? Auf dem letzten Notenblatt habe ich ein seltsames Wort gefunden, das mir dunkel geblieben ist. ›Bevor‹, heißt es, ›böse Tage kommen und Jahre, von denen du sagen wirst: ach, sie gefallen mir nicht . . .‹ Wissen Sie, lieber Beifuß, woher diese Worte 324 stammen: ›ach, sie gefallen mir nicht‹?« Er schwieg betroffen; sie sagte rasch: »Ein Schauspieler weiß doch viele Zitate, er ist doch ein Gefäß voller Worte, in welchem die Dinge noch aufbewahrt werden, die wir andern schon lange vergessen und fortgeworfen haben?«

»Sind Sie sicher«, erwiderte Albrecht Beifuß, »daß die Zeile anfing: bevor . . ?«

»O ja.«

»Dann kenne ich dieses Zitat und kann es Ihnen ergänzen, wenn Sie es hören wollen.«

»Ich will es nicht hören«, sagte sie rasch. »Ich will jetzt nicht wissen, was es bedeutet, und wie es weitergeht. Als das Cellokonzert in unserem Haus zum ersten Mal zu Gehör gebracht wurde, gaben wir vor geladenen Gästen ein unwahrscheinliches Fest. Es war Frühsommer. Rosen, Jasmin und Holunder blühten in einem einzigen Rausch wie irre geworden an Zeit und Raum, in dem Garten zwischen den Grunewaldkiefern verwirrt und süß durcheinander. Überall Windlichter und Lampione. Schauspieler, Musiker, Maler. Offiziere der Luftwaffe, Tänzerinnen aus dem Ballett der Staatsoper, Männer in dunkelblauen Fräcken, ein Dramatiker, der mir beim Tanzen erklärte, was es mit seiner Vergötterung des Staates auf sich habe, den er vorgab, zu zelebrieren. Nun ja – auch hohe Parteifunktionäre mit ihren Freundinnen oder Frauen kamen zu diesem Fest. Seltsame Leute; in Einem zynisch, sinnlich und sentimental. Brutal zugleich und kokett. In dem Haus brannten Kerzen und flackerten über die Notenblätter; zwischen hochgetürmten, beladenen Schüsseln standen alte, silberne Leuchter und warfen ihr Licht auf Delikatessen, deren Namen uns heute Tantalusqualen und spanische Degen bedeuten und uns das Eingeweide durchbohren, wenn wir sie aussprechen würden.

Man redete von Musik und Theater, von Hölderlin und dem 325 kommenden Krieg wie von etwas, das man vertonen würde, bedichten oder malen. Ich sehe noch deutlich die schicken, schön gewachsenen Offiziere: jeder ein kleiner Clausewitz, jeder ein Don Juan, der die Länder wie schwache Frauen erobern, sie ausplündern, ihren Reichtum besitzen, ihr Bett bewohnen würde. Man prophezeite, prahlte geschmackvoll, erzählte jüdische Witze und baltische Anekdoten und flüsterte von dem Blitzkrieg der Panzer, der alles niederrollen, und den Krieg schon zwischen zwei Atemzügen entschieden haben würde. Weil der Tod bereits mitten unter uns war, fühlten wir wohl das Leben so brennend wie noch nie.

Erst in der Dämmerung gingen die Gäste. Ein Auto nach dem andern fuhr fort. Man hörte, wie die Motoren liefen, und dann das leiser werdende Sausen, entferntes Hupen, dann nichts mehr – und gleich darauf wieder der nächste Wagen, das Gelächter, das höfliche Türenklappen, ein Rollen, ein Summen – vorbei. In dem Musikzimmer war der Flügel schon wieder zugeschlagen; weil die Kerzen alle heruntergebrannt und die Vorhänge noch nicht aufgezogen, das elektrische Licht nicht angedreht war, glich das einsame dunkle Musikinstrument fast einem Sarkophag. Die Partitur war noch schwach zu sehen; sie lag, als ob Wasser über den Deckel des Flügels geflossen wäre, auf dem Instrument.

Ehe die letzte Kerze verzischt war, schrieb Wilhelm, über die Noten gebeugt, das kleine Wort ›bevor‹. ›Bevor‹, schrieb er, ›böse Tagen kommen und Jahre, von denen du sagen wirst: ach, sie gefallen mir nicht . . .‹

»Nun will ich es hören. Erklären Sie mir: woher stammt dieses Wort? Wer hat es zum ersten Mal ausgesprochen? Verheimlichen Sie es nicht!« sagte Lotte und schob sich höher zu Albrecht Beifuß heran.

Jener, ihre gespannten Brüste mit beiden Händen umschließend, als ob er zweimal die ganze Erde in seinen Händen, seinen machtlosen Händen hätte, erwiderte: »Dieses alte Wort schrieb der Prediger Kohelet. Er schrieb es auf die 326 Rückseite gleichsam; auf das letzte Blatt, wo sein Lehrgedicht endet, und seine Buchstaben sich verwischen, weil die Augen schwächer geworden sind, und der Prediger müde ist. Er sitzt an dem Fenster, Star überm Auge, und hört mit fast schon erloschenen Ohren, wie die Türen nach dem Markt sich schließen, wie das Lärmen der Mühle geringer wird und die Musikinstrumente leiser und immer leiser tönen. Er fürchtet sich, die Straße entlang und auf die Höhe zu gehen –

›Ohnmachten gibt es am Wege.
Der Mandelbaum blüht –
    und mühsam schleppt sich die Heuschrecke hin.
Die Kaper bricht auf,
    der Mensch geht dahin zu dem Hause der Ewigkeit.
Er geht, bevor der Silberstrick reißt,
Bevor die goldene Kugel zerschellt,
Bevor der Krug an dem Brunnen zerbricht,
Bevor das zertrümmerte Rad hinunter
    in die Zisterne fällt.‹

Und er schließt mit den Worten: ›O Eitelkeit. Alles, alles ist eitel . . ‹« Sie schwiegen, eine brausende Wolke zog über ihnen weg: das Bienenvolk in den verwilderten Stöcken, an denen Albrecht und Lotte vorüber gekommen waren, verließ mit der alten Königin sein schrecklich entzweites Haus.

Als das Brausen auf seiner Höhe war, und der Schatten der Bienenwolke die Weide wie eine Hand bedeckte, ertönte von neuem, ganz aus der Nähe, der russische Gesang. Wieder konnte man glauben, daß er an keinen bestimmten Ort, kein vereinzeltes Wesen gebunden und überall wie nirgends, oben wie unten war. Dieses Mal war eine maßlose Trauer, die um sich selbst nicht wußte, eine Schwermut, wie die von verwehten Pollen, eine Sehnsucht nach Erlösung des Leibes und gleichzeitig auch die phallische 327 Hybris des ungetauften Fleisches den Tönen untermischt. Man hörte plötzlich den Aufsprung von Füßen, das Singen brach ab, es knackte und knisterte in den Büschen, verhielt sich still wie ein Tier, das wittert, und pirschte sich vorsichtig näher heran, eine Lichtbahn fiel in die Weidenglocke – – und der durchschrittene Vorhang der Zweige riß von oben bis unten entzwei.

Mit geöffneter Bluse, die Kappe von dem festen, geschorenen Schädel herunter bis in den Nacken geschoben, stand ein gedrungener, schöner Kerl, den Karabiner über der Schulter, vor dem entsetzten Paar. Er war erstaunt, sein erhitztes Gesicht mit dem Ausdruck geistiger Abwesenheit füllte sich langsam zuerst mit Begreifen, dann mit Mißtrauen und zuletzt mit nackter Begierde an. Den Karabiner auf Beifuß gerichtet, schob er geschickt sein gestiefeltes Bein zu Lottes Hüfte hinüber, ohne Albrecht aus den Augen zu lassen, und sprach das erwartete, schreckliche Wort aller Eroberer aus. Er sagte: »Komm, Frau!« Und schon ungeduldig, sagte er: »Frau, komm mit!«

Blitzschnell hatte ihm Albrecht Beifuß das Gewehr nach oben geschlagen und sich rasend auf ihn gestürzt. »Lauf, Lotte, lauf!« schrie er wild und hoch; sie fing zu rennen an, stolperte, stürzte, raffte sich wieder auf und lief weiter, ohne sich umzudrehen.

Der Kampf der Männer in ihrem Rücken ging rasch und fast lautlos zu Ende. Ein Stilett in der Hand des Soldaten blitzte und stach auf Beifuß ein; es gelang dem Schauspieler ihm die Hand im Gelenk herüberzudrehen und das Messer in seinen Besitz zu bringen. Gleich danach schoß ein Strahl Blut aus der Kehle, die noch eben den starken Gesang der Erde aus sich entlassen hatte . . .

Über den toten Soldaten gebückt, wischte Beifuß das Messer mit Kalmusblättern langsam und sorgfältig ab, verwahrte es wieder in seiner Scheide und steckte es zu sich 328 ein. Dann zog er mit äußerster Mühe den Mann über den Brennesselgraben und das geneigte Gelände bis zum Tümpel hin; füllte Feldsteine in die Bluse des Russen und versuchte lange vergeblich, den Leichnam auf seinen Rücken zu laden und bis zu der Tiefe zu gehen, wo er ihn abzuwerfen gedachte und in den Teich zu versenken. Endlich gelang es ihm. Taumelnd richtete er sich auf. Eine tödliche Schwäche wollte ihn warnen, ein plötzlich sich verstärkender Schmerz unter den Rippenbögen – er griff nach der Brust: sein Hemd war von Blut über und über verkrustet und fing jetzt wieder zu nässen und durchzuweichen an. Trotzdem ging er Schritt für Schritt weiter. Seine Ohren dröhnten, trommelten und rauschten, als ob von neuem Musik ihre Muscheln bis in die farblose Tiefe der Flüssigkeit erfüllte, wo die Gehörsteinchen sich bewegten, und vergeblich sein Gleichgewicht zu verbürgen, und ihn aufrecht zu halten suchten; auf seiner Netzhaut flimmerten, rudernd wie winzige Glockentierchen, bei geschlossenen Augen purpurne Funken, die der Flußspiegel einer Lethe zurückwarf, die hoch und höher stieg.

Das Dröhnen verstärkte sich; unter Stampfen und trunkenem Taktieren entband sich eine geheimnisvolle, bacchantische Melodie. Sie schien auf gefleckten Panthern zu reiten, sie zog über ungeheuerlich große, einsame Ebenen hin; sie wurde schwerer, sie floß wie Honig aus aufgebrochenen Waben, sie trat in den Hintergrund heiliger Bilder und umflutete sie wie Gold. Vierfach geflügelt, kam sie hervor; sie trug von neuem ein Fell um die Hüften und nährte sich von der eifernden Stimme ekstatischer Zikaden; sie drängte sich in die gebündelten Pfeifen einer mächtigen Orgel zusammen, sie wurde zu einem ehernen, strengen, majestätisch geführten Choral –.

In der Mitte des Wassers angekommen, stürzte der zweite Aeneas mit seiner Bürde nieder. Über ihm schlug die 329 grünbraune Tiefe gurgelnd und schmatzend zusammen. Gestachelte Algen, Wasserpest und die Stiele wandernder Wasserrosen umschlangen beide Toten. Sie kränzten unterschiedlos ihre Häupter und zogen sie zum Grund . . .

 

Von einem der folgenden Frühlinge erst wurden sie wieder, noch immer verbunden, gemeinsam nach oben getragen. Inzwischen waren furchtbare Winter über sie hingefahren, sie waren in harten Särgen aus Eis fest eingeschlossen gewesen, aufgetaut, in Verwesung und neue Vereisung übergegangen, bis endlich eine Reuse, die der Rußlandheimkehrer Karl Pachulke in den See zu setzen gedachte, an ihnen hängenblieb. Als er fühlte, woran er gestoßen war, und was ihn aus dieser Tiefe um Bestattung gebeten hatte, kehrte er um und kam in Gesellschaft eines anderen Bauern wieder zurück, der ihm helfen sollte, die beiden Toten in ein ehrliches Grab zu legen. Bei diesem Begräbnis erzählte Pachulke von seinen Erlebnissen drinnen in Rußland, und der Andere hörte ihm zu. Pachulke, ein Sohn jenes roten Schmiedes, bei dem die Klosterpferde von Anastasiendorf beschlagen zu werden pflegten, war ein grüblerisch verschwiegener Mensch, dem nur selten das Glück vergönnt sein mochte, in Worten auszudrücken, was sich an feuerflüssigen Farben seiner Seele eingesenkt hatte, und dort in reinen, sparsamen Sätzen [wie mit Asche und Silberlot gleichsam] den Hinterglasbildern seines Daseins deutlichen Umriß gab.

Erst als er bei einem seiner Besuche in Anastasiendorf dem alten Mamertus noch einmal davon berichtete und ihn gleichzeitig bat, die verborgene Grabstatt der Toten einzusegnen, gelang ihm diese Erzählung ganz, die dann als letzte Berichterstattung über die Abenteuer der Argonautenfahrt in das Tagebuch des Mamertus einging und hier in geheimer Stellvertretung der zerschlagenen Glasfenster vor Smolensk diese selbst überdauert hatte. 330

 

Der zeitlose Innenraum jenes Berichtes, der wahrhaftig wie aus Ikonen und gefiltertem Sonnenlicht aufgebaut war, und dessen genauen Wortlaut man auf den letzten Seiten der ›Argonautenfahrt‹ nachlesen kann, schloß aber nicht nur das Totengedächtnis der feindlichen Brüder ein, sondern auch – wie über heidnischen Tempeln und ihren Fundamenten sich die Kirche der Erlösten erhebt – die Wohnungen der Medea und in den Wohnungen der Medea das Schicksal ihrer Kinder, welches jetzt unter dem Titel

Die Kinder der Medea

berichtet werden soll. In dem dämmernden Chor der österlich kühlen, mystischen Oberkirche hockt ein bescheidener, kleiner Mönch, welchen die Phantasie des Dichters wie Maus oder Wiesel dem Chorgestühl mit dem Messer eingeschnitzt hat. Er stützt seinen Arm gedankenvoll auf und legt sein Gesicht in die flache Hand, während er in der Lebensgeschichte der Mutter Cabrini liest. In dem ersten Winter nach Kriegsende nämlich – das Mönchlein blättert vor und zurück! – geschah es, daß der Name Cabrini nicht etwa nur in den Acta Sanctorum der Bollandisten in Rom (ja, vielleicht dort überhaupt noch nicht) aber überall aufzuleuchten begann, wo sie als ›Mutter der Heimatlosen, der Pilger, der Waisenkinder‹ vor den Thron der Erbarmung trat. Ein neues Stück Tuch wurde damals dem Rock der Kirche verwoben, eine neue, bäuerlich frische und unverdorbene Milch schoß ihren Brüsten ein; um ihre Füße, die sich nicht scheuten, den Weg durch die Ruinen, die Höhlen, die verwucherten Hinterhöfe zu nehmen, wuchs das Gleichnis der Cabrini als Nessel und Löwenzahn empor: Heilkräuter, welche in aller Armut das Blut und die Säfte des ganzen Körpers zu reinigen vermögen. Grobe Schafwolle also, Kräuter und Milch – diese drei Elemente, um Kinder 331 zu wärmen, zu heilen und zu nähren, vereinigten sich in dem Gegenbild der mörderischen Medea, die den Leichnam des kleinen Bruders zerstückte, um auf der heimwärts segelnden Argo die Rache des verfolgenden Vaters mit seinen Gliedmaßen aufzuhalten, mit Händen, Füßen, Kopf, Rumpf. Ein weiblicher Chronos, schonte Medea auch der eigenen Kinder nicht, sie verschlang wieder, was sie geboren hatte; sie war die unbarmherzige Zeit, die Opfer um Opfer forderte, ohne gesättigt zu sein. Noch nach Jahren erinnerten sich die Menschen mit Schaudern ihres Bildes und fluchten ihr, ohne sich einzugestehen, daß dieses verwilderte, schreckliche Wesen auch ihre Mutter war. Sie war ihre Mutter und wurde zugleich von ihnen hervorgebracht; sie hätte von ihnen verändert, sie hätte erlöst werden können, wenn nur die Menschen sich selber hätten erlösen lassen. Denn die Zeit ist in uns, nicht außerhalb unseres eigenen Herzens. Sie ist als solche die Gnade schlechthin und kann auch die Hölle sein; die Verwandlung und das Gericht. In ihrem Besitz war das Goldene Vliess der Einsicht und der Reue – aber ebensowohl das Katzengold der Schieberlabyrinthe. Hierhin verlockte sie ihre Kinder und schlachtete sie ab; in diesem unterirdischen Fuchsbau stellte sie ihre Töpfe und Tiegel mit dem ekelhaften Gebräu der Opiate, der gefälschten Penicillinampullen und der vergifteten Öle auf, an denen die Menschen schnell oder langsam, doch sicher zugrunde gingen. Hier trieb sie ihr Unwesen – aber nicht länger, als es Gottes Langmut gefiel. Hier brütete sie ohne alles Begreifen über dem Schicksal, das sie sich selbst so gründlich verdorben hatte. Hier hoffte sie, ohne zu wissen, daß sie noch hoffen konnte, und erwartete dumpf ihren Anteil an Freude, ohne welche, selbst in dem Inferno nicht, keine Seele bestehen kann.

Die Wohnungen der Medea jedoch umfaßten nicht nur die Labyrinthe und Fuchsbauten unter der Erde. Sie stiegen, 332 durch Kamine und Schächte geheimnisvoll verbunden, bis zu der Beletage der Bürger, die über dem Abgrund hing; über die eingeschlagene Treppe, die empor aus dem Kohlenkeller zu Küche und Speisekammer und in gewundene Flure führte, zu dem Berliner Zimmer, das sich wie eine Fischblase hier, und zu stumpfen Gelassen, welche sich dort zu staubigen Hängeböden und Mädchenkammern blähten, oder vergeblich in schmalen Balkonen und übel beleumdeten Durchgangszimmern auszubrechen versuchten. Termitenbauten, Korallenriffe und Gebilde aus Schwämmen, Muschelkalkhaufen und vertrockneten Wespennestern, durchzogen sie nicht nur die Häuser, die stehengeblieben waren, sondern ebenso auch die Seelen; die Sprache der Menschen und ihre Träume, ihre Gebärden und alle Zeichen, die ihnen zur Verständigung dienten; sie setzten Stoff an aus jeglicher Nahrung, und wie sich Markthallen, Lagerhäuser und Vorratsspeicher nicht nur aus Balken, Backsteinen, Eisenstangen und Gewölbeträgern erbauen, sondern mehr noch aus ihrem beweglichen Inhalt, ihrer veränderlichen und wandernden Substanz – so waren die Wohnungen der Medea Speise und Kot zugleich; sie waren das Assimilierte und Abgestoßene; die Form an sich und der Wein in den Fässern, der, wie die Sage behauptet hat, noch ›in der eigenen Haut‹ liegt, wenn alle Dauben schon abgefault sind . . . geformte Trunkenheit, trunkene Form und von gespenstischen Wölbungen zusammengehaltenes Nichts.

Es hielt zusammen, es dehnte sich aus. Es bildete Wirbel; hier eine Razzia, dort einen Haufen Säcke, auf dem die Ankömmlinge aus dem Osten mit ihrem Elendgut saßen. Die Säcke erweiterten sich und platzten, doch was zum Vorschein kam, war nicht der Rest ihrer geretteten Habe, sondern weniger noch als nichts. Die Nichtigkeit spiegelte sich in dem Nichts, das Nichts warf wie ein erblindeter Spiegel 333 die Nichtigkeit zurück. Damals verloren die meisten Dinge den angestammten Namen; vielmehr der Name verlor die Dinge, die er früher bezeichnet hatte. Ein schmutziges Federbett war kein Bett mehr, sondern die Lagerstatt trüber und trauriger Chimären; ein zusammengedrückter, verrotteter Schafpelz hieß abwechselnd Mantel und Bettvorleger; fünf Stricknadeln und eine Schachtel gehüteter Schwefelhölzer errichteten wie ein Kinderspielzeug das surrealistische Zelt des Behagens und den Trost der verlassenen Welt. Was heute ein schäbiger Koffer war, war früher ein Bauernschrank; von der Küche voller Messing und Kupfer war nur die Mohnsamenmühle geblieben; ein ganzer Gutshof mit Kühen und Schweinen ging in die abgegrenzte Kabine der heulenden Flüchtlingsbaracke. Zuletzt war alles nur Flüchtlingskaserne, Durchgang- und Auffanglager, ein staubiger Wirbel, eine Bewegung, in welche sich das Beständige und Feste aufgelöst hatte; eine gedrehte, sich drehende Säule aus Hoffnungslosigkeit. Wie eine Windhose fegte sie über die großen Städte und warf noch einmal die Trümmer um, die der Krieg hinterlassen hatte, sie raste bis auf das freie Feld und verschonte selbst nicht die Schrebergärten und in den Schrebergärten am Bahndamm die abgestellten und ausgeglühten, in Hütten, Behelfsheime, Unterschlüpfe verwandelten Eisenbahnwagen, die sich klappernd vom Boden hoben und gleichfalls zu kreisen begannen – rostig, von grauschwarzer Wäsche umflattert und von abscheulichen Krähen begleitet, die aus den Wolken fielen. So zogen die Wohnungen der Medea über Ströme und Länder dahin . . . Heilige Mutter Cabrini, wir bitten dich: bitte für uns!

 

In einem Eisenbahnwagen wie diesen, aber mit Vorhängen ringsum mühselig ausgestattet, verzuckten die letzten Bewegungen einer sterbenden alten Frau. Ihre Hände fuhren 334 mit leichtem Kratzen über die Bettdecke hin und schienen etwas suchen zu wollen, was ihnen entfallen war. Sie wurden unruhiger in dem Maß, als der Druck ihrer Finger schwächer wurde, und schließlich glich das Geräusch, das sie machten, dem Surren einer Fliege, die auf dem Rücken liegt, setzte aus und kam in Abständen wieder, die immer länger wurden. An dem Fußende dieses Sterbebettes stand ein Geschwisterpaar. Der Knabe, ein außerordentlich schönes, großgewachsenes Kind von etwa dreizehn Jahren, hielt die Augen furchtlos und kühl auf die sterbende Frau gerichtet; seine Schwester, ein Jahr jünger als er, schluchzte in einer Art vor sich hin, wie sie schon andere Leute an anderen Sterbebetten hatte weinen und schluchzen gesehen. Als das Kratzen schließlich aufgehört hatte, sah sie zuerst ihre Großmutter an; dann, immer lauter schluchzend, ihren Bruder und endlich ihr nasses, zerdrücktes Taschentuch, das keinen Tropfen mehr aufnehmen konnte, weil es von Feuchtigkeit ganz durchtränkt und zu dem traurigen Zweck, dem es diente, nicht mehr zu brauchen war. Sie beschloß daher auf der Stelle, ihr Schluchzen aufzugeben, und stieß den Bruder vorsichtig an, der immer noch seinen prüfenden Blick auf die Tote gerichtet hielt.

»Hellmuth«, sagte sie weinerlich und übersatt aller Tränen, die sie vergossen hatte, »ist es jetzt ganz und gar aus?«

»Ich glaube«, sagte der Bruder, ohne den Kopf zu drehen.

»Soll ich sie waschen oder zuerst ein Gesetz Rosenkranz beten?« fragte die Kleine gewohnheitsmäßig und steckte ihr Taschentuch ein.

Endlich sah sie der Bruder an; sein Gesicht drückte ein Gemisch von Verachtung und stolzer Abwehr aus. »Es ist jetzt keine Zeit mehr, die Großmutter zu waschen«, sagte er hart und laut. »Bis die Fürsorgerin vorbeikommt, muß es geschehen sein.«

»Was muß geschehen sein?« fragte sie furchtsam. 335

Der Knabe gab keine Antwort, ging zu dem Eisenofen hinüber und fachte vorsichtig mit dem Inhalt einer fast schon geleerten Petroleumflasche das Feuer von neuem an. »Hast du den Rucksack fertig gepackt?« fragte er, an dem Ofen hantierend; das Feuer brauste ungestüm auf, der Lichtschein leckte wie eine schmale, grausame Hundezunge über sein kaltes Gesicht. »Natürlich wirst du trotzdem die Hälfte wieder vergessen haben«, fügte er noch hinzu, indem er sich erhob.

»Ich möchte doch sehr viel lieber in das Waisenhaus gehen, Hellmuth«, sagte das Mädchen schüchtern und blickte den Bruder an.

Er schien zu zögern, dann sagte er: »Nein. Wenn sie dich fragen sollten, würdest du mich verraten. Oder würdest du das vielleicht nicht?«

»Doch, Hellmuth.«

»Also –«, sagte er kurz und wandte sich wieder ab. Er ging zu dem Totenbett, das er mit Reisig und alten Lumpen bedeckte, goß den klebrigen Rest aus der Flasche darüber und zündete alles an. Dann schleuderte er die leere Flasche in den heulenden Eisenofen, riß die Fenster auf, faßte die Schwester am Arm und verließ mit ihr die Eisenbahnhütte, ohne sich umzudrehen. Der Wagen lag auf dem freien Feld – verlassen für sich allein. Es war vollkommen dunkel, der Himmel voll Wolken und ohne einen Stern. Außer dem fernher kommenden Tuten eines träge ziehenden Kohlenschleppers auf dem Charlottenburger Kanal war keine Orientierung, kein Anwesen weit und breit. Aus dem Eisenbahnwagen schlugen jetzt Flammen, die der Wind an die Erde drückte, und wieder durch die geöffneten Fenster zurück in den Wagen jagte. Rötlicher Qualm ohne Helligkeit verbreitete in begrenztem Umkreis einen lemurischen Schein. Dann brannte der Wagen samt seinem Inhalt: der Leiche, dem wenigen Bettgerümpel und einigen Säckchen 336 voll Hirse und Bohnen, den Fotografien aus Oberschlesien und dem Gesangbuch der armen Alten mit dem sammetbeschlagenen Deckel gründlich und ganz und gar aus. Als das Feuer nichts mehr zu fressen fand, duckte es sich mit leisem Wimmern wie ein Tier an die Erde nieder; es umspielte noch einmal den Eisenofen und erhellte mit einem leisen Flackern die rostigen Wagenwände, die nun schon zum zweiten Mal ausgesondert und keiner Verwendung mehr fähig waren – es sei denn für ein Grab.

Der Knabe Hellmuth ging nachtwandlerisch über die Ebene hin. Er schien keines Wegweisers zu bedürfen; ja, diese Finsternis war wie ein Zustand, der ihm entsprach wie den Möwen das Meer oder dem Geier der Sierra Nevada die schreckliche Einsamkeit. Es war ein Abend im Januar und außerordentlich kalt. Nur die Tatsache, daß der Wind sich jetzt legte, konnte über den schneidenden Frost einigermaßen täuschen; über den wachsenden Grad der Erstarrung, die sich wie ein ertötendes Hemd aus feinen Eiskristallen an alles Lebendige schmiegte. Das Mädchen fragte: »Ist es noch weit?«

»Nicht sehr«, erwiderte er.

»Also nah?«

»Nicht weit und nicht nah.«

»Nicht weit?«

»Ja, es ist nicht mehr weit.«

Nach einer Weile fragte sie wieder: »Weißt du, ob das der richtige Weg ist?«

»Ich glaube.«

»Du weißt es also nicht sicher?«

»Nein. Ungefähr«, sagte er.

»Du weißt also nicht sicher, ob das der richtige Weg ist, und ob wir bald hinkommen werden?«

»Nein.«

»Aber du glaubst es doch?« 337

»Ja, ich glaube, daß das der richtige Weg ist, und daß wir bald hinkommen werden.« Sie gingen weiter, ohne zu wissen, wie lange sie schon gegangen waren, dann fing das Mädchen von neuem an: »Ist es ein sehr großer Keller, von dem du gesprochen hast?«

»Ein sehr großer Keller.«

»Aber die Häuser über dem großen Keller sind ganz und gar zerstört?«

»Nein. Einige Häuser in dieser Reihe über dem großen Keller sind halbwegs stehen geblieben.«

»Dann wohnen aber doch Leute über dem großen Keller, und sie benützen ihn?«

»Von diesen Wohnungen aus ist kein Zugang. Der Keller ist verschüttet nach der Seite der Wohnungen hin. Niemand weiß davon, daß der Keller noch einen anderen Eingang hat«, sagte der Knabe heftig und fügte ungeduldig hinzu: »Niemand, außer den Leuten natürlich, die das Lager angelegt haben.«

»Das Warenlager?«

»Das Warenlager. Was fragst du mich, da du es weißt?«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Wie heißen die Leute?«

»Ich weiß es nicht. Es ist auch einerlei.«

»Sagtest du nicht, daß die Männer Carlo und Kasimir heißen?«

»Und Stevo. Der Dritte heißt Stevo. Das Mädchen heißt Gisela.«

»Ist das Mädchen die Schwester von Carlo oder von Kasimir?«

»Ich weiß es nicht. Höre nun auf zu fragen, wir kommen sonst nicht voran.«

Sie verfolgten jetzt, ohne zu sprechen, die Richtung, in der die Stadt liegen mußte – diese große, in Dunkelheit, Not und Verzweiflung ganz eingehüllte Stadt. Ab und zu tauchten kahle Bäume und Telegrafenstangen, Wellblechbaracken 338 und Schuppen wie Teile eines treibenden Wracks aus der trostlosen Finsternis; an dem Himmel zog eine Flugmaschine mit Positionslichtern langsam dahin und pflügte unter Donnern und Brüllen das Wolkenmeer wie ein Leviathan, der sich bewußt ist, das Gleichnis der Siegermächte zu sein. Obwohl sich zwei Scheinwerfer überkreuzten, konnte man immer noch nicht behaupten: hier ist die Stadt oder hier. Zwar war sie jetzt nicht mehr abgeschirmt von dichten Verdunkelungen, aber das Fehlen der schwarzen Rouleaus erlaubte nur einem begrenzten Bezirk innerhalb der vier Wände wirklich erleuchtet zu sein – einer Hand, die sich unter die Glühbirne schob, einem Küchentisch und dem harten Brot, welches von dieser zögernden Hand in Stücke geschnitten wurde. Die hellen Flecke vermehrten sich, ohne zusammenzufließen; sie blieben voneinander getrennt, große Flächen von Dunkelheit lagen dazwischen, die Dunkelheit übertraf das Licht, das Licht war nicht eigentlich unterschieden von dem Charakter der Finsternis, sondern nahm teil an ihr. Über riesige Strecken von Dunkelheit war Licht von Licht getrennt; es konnte sich nicht verständigen oder sich Trost zusprechen; es endete, wo seine eigene Kraft, und es verging, wo sein eigener Lichtschein zu Ende gegangen war . . .

Die beiden Kinder vermieden es sorgsam, in die Nähe der ersten Laternen zu kommen, sie schlugen einen Bogen um sie, wie sie früher, als sie noch Sonntagskleider und feine Schuhe trugen, einen Bogen um Wasserpfützen und Regenkandeln geschlagen hatten, aus denen die Nässe spritzte. Ihre Vorsicht wäre nicht nötig gewesen. Die wenigen, dünngesäten, mit ihrer grellen Sinnlosigkeit prahlenden Neonlampen hatten nur die Funktion zu zeigen, daß nichts zu erleuchten war; ebenso wie der mechanische Wechsel der rot-grün-gelben Augen an den Kreuzungen keinen Verkehr zu regeln, und das Plärren der Lautsprecher an den Masten 339 nur sich selbst zum Zuhörer hatte – ein Organismus, welcher zugleich Maul, Darm und wiederum Ohr war . . . Ohr, Darm und zuletzt wieder Maul. Die Verwechslungsmöglichkeit aller Dinge und also auch ihre Austauschbarkeit war wie in Träumen unendlich groß. Sie war die Ursache einer Osmose, die keine Grenzen kannte, und von dem Schatten das Licht nahm, die Finsternis von dem Licht.

Schließlich fühlten die Kinder selbst, daß sie auf unerklärliche Weise von der Gesetzlosigkeit geschützt und verborgen wurden vor der Enthüllung ihrer eigenen Schutzlosigkeit. Furcht und Vorsicht fielen von ihnen ab und machten einem Vergnügen Platz, das sie früher vielleicht empfunden hatten, wenn sie in ihren Spielen bald Räuber waren und bald Gendarm, bald Plumpsack und bald Taler. Plötzlich gingen sie mitten auf einer breiten Straße, die noch unzerschlagene Bürgersteige und bewohnte Miethäuser hatte, welche sich zu Arkadenläden, Spielhöfen, Grasflächen um einen Halbkreis, in dessen Mitte ein Brunnen stand, gefällig erweiterten; sie bestiegen den kleinen Brunnenpodest und betrachteten bei dem spärlichen Licht einer schaukelnden Bogenlampe den ›Hans im Glück‹, der mit breitem Lachen die Gans unterm Arme hielt; sprangen von dem Podest herunter und verfolgten ihre plutonische Straße wie Tote, welche nichts ablenken kann, obwohl sie noch hin und wieder die Gesten der Lebenden nachzuahmen und fortzusetzen vermögen. Die Wohlerhaltenheit dieser Straße hielt freilich nicht lange an; sie machte neuen Zerstörungen Platz, die ebenso unvermittelt begannen, wie sie kurz darauf endigten; eine Brandmauer stand wie Niobe sinnverloren und schwarz an dem Rand eines gewaltigen Kraters und starrte, keiner Empfindung mehr fähig, zu geschonten Häusern hinüber, die ohne jede Begründung stehen geblieben waren. In diesem Wechsel setzte sich endlos Verhängnis und Zufall fort . . . 340

»Werden wir heute noch hinkommen, Hellmuth?« fragte das Mädchen laut.

»Wenn du lernen wolltest den Mund zu halten«, sagte der Bruder gedämpft, »wären wir wohl schon da.« Sie schwieg verschüchtert, er sagte ruhig: »Siehst du die kalkweiße Siedelung dort drüben im Park? Jetzt reißen gerade die Wolken über den Kiefern auf.«

Das Mädchen legte den Kopf in den Nacken und schaute unbeweglich nach oben, als wäre da, wo der riesige Mond wie ein entfalteter Schwan aus den Buchten und schilfgrauen Wölbungen der Atmosphäre trat, der Eingang zur Unterwelt. »Ja«, sagte sie gehorsam. »Ich sehe die Siedelung.«

»An ihrer Rückseite – fast in der Mitte der ganzen Häuserreihe, wo die Gebäude durch Sprengbomben, Brand und Einsturz zerstört worden sind – liegen Kanalrohre; eines davon steht in Verbindung und Schallkontakt mit dem geheimen Lager, zu dem wir jetzt kommen werden«, erklärte der Knabe genau.

»Woran erkennt man das richtige Rohr?«

»Es ist markiert. Eine Nummer – mit Leuchtfarbe angestrichen.«

»Weißt du das Klopfzeichen?«

»Ja. Übrigens wechselt es jede Woche, wie du dir denken kannst. Heute ist es lang, lang, kurz, kurz und wieder lang, lang – kurz.«

»Klopfen die Leute von drinnen zurück?«

»Nein. Aber sie nehmen den Hund an die Leine, wenn das Klopfzeichen richtig ist.«

»Und dann?«

»Dann kriechen wir durch das Rohr und lassen uns am Ende des Rohres in einen Schacht hinunter, an dessen Wand eine Feuerleiter stehen geblieben ist.«

»Und sind in dem Keller?« 341

»Immer noch nicht. Wir sind erst in einem der schmalen Gänge, die zu dem Lager führen. Jeder Gang ist mit einem Pfeil bezeichnet, der nach dem Hauptkeller weist.«

»Werden wir nicht in den Gängen ersticken?«

»Es sind doch Entlüftungsanlagen da aus der Zeit, als das große Warenlager ein Luftschutzkeller war.«

»Aber es ist kein Licht in dem Keller?«

»Natürlich ist Licht. Eine eigene Leitung mit Akkumulatoren, die ständig aufgefüllt werden.«

»Werden die Leute nicht böse sein, wenn du ein Mädchen mitbringst? Sie haben doch schon eines.«

»Ich glaube nicht, daß die Gisela da ist, um ihre Strümpfe zu stopfen und das Lager sauber zu halten.«

»Was tut sie denn, wenn sie die Strümpfe nicht stopft und das Lager nicht sauber hält?«

»Sie geht als Lockvogel und steht Schmiere, wenn die Männer den Wagen entladen.«

»Aber ich selbst muß nicht Schmiere stehen oder als Lockvogel gehen?«

»Nein«, sagte der Bruder verächtlich. »Du bist zu dumm dazu.«

Sie war einen Augenblick lang beleidigt, dann fing sie von neuem an. »Wirst du auch als Lockvogel gehen, Hellmuth, oder Schmiere beim Abladen stehen?«

»Ich weiß es nicht. Irgend etwas werde ich wohl dafür arbeiten müssen, damit wir zu essen haben.«

»In dem Waisenhaus hätten wir auch zu essen.«

»Ja«, sagte er.

»Und eine warme Stube.«

»Ja«, sagte er gelangweilt und ging auf die Häuser zu.

Als die Kinder das Rohr durchkrochen hatten, ließen sie sich in den Schacht hinunter, kletterten langsam die Leiter abwärts und sprangen am Boden auf. Der Kellergang war durch ein Deckenlicht nur undeutlich erhellt; ein Pfeil 342 führte weiter, sie folgten ihm, das Licht verstärkte sich, und der Pfeil bog unversehens um. Nun hörten sie Stimmen, aber von weit her, Jazzmusik und das Quäken des launischen Saxophons, näselnden Singsang, ein Negertrio, nervöse Triangeln, der dumpfe, düstere Anschlag der Pauke, die wie die Peitsche des Sklavenhalters, welche die Neger beim Baumwollpflücken erbarmungslos vorantreibt, immer rascher und rascher wurde. In einem rasenden Wirbel von Tönen brach plötzlich das Trio ab; man hörte ein Knacken, das Radio verstummte, eine ungeduldige Männerstimme rief unvermittelt: »Herein!«

Wie ein Märchen aus ›Tausend und Eine Nacht‹ tat sich der unterirdische Keller vor beiden Kindern auf. Eine Fülle von Licht ergoß sich in ihre geblendeten Augen; auf einem Ruhebett, über und über mit Teppichen, Polstern, Kissen beladen, saßen drei Männer vor einem Tischchen in orientalischem Stil, rauchten und hatten Likörflaschen, Gläser und Schalen vor sich stehen, die mit Knackmandeln gefüllt waren. Zu ihren Füßen lag eine große schwarzgelb gestromte Dogge, die der Mann, der soeben ›Herein‹ gerufen hatte, mit zwei Fingern am Halsband hielt. »Kusch, Senta!« sagte er zu dem Tier, das Miene machte sich zu erheben, und blickte die Kinder prüfend an, wandte sich dann zu seinen Gefährten und fragte etwas in einem Idiom, das halb serbisch, halb italienisch war und mit polnischen Brocken vermischt. Der Knabe hörte gespannt darauf hin; das Polnische war ihm nicht unbekannt, seine Großmutter hätte wohl, dachte er, Wort für Wort jener Sache folgen können, die da verhandelt wurde.

»Er gefällt mir«, sagte der Mann mit dem Hund. »Wenn man ihm erst den Spaß daran beibringt, wird er leicht zu dressieren sein.« Die anderen lachten, der Erste fuhr fort, den Knaben genau zu mustern, dann sagte er auf das Mädchen deutend: »Aber die kleine Nutte können wir nicht 343 gebrauchen. Was soll sie eigentlich hier?« Er winkte das Mädchen zu sich heran, stopfte ihm Schokolade ein und tastete es ab. »Dürr wie ein Stecken. Kein Bauch, keine Brust. Schafft sie mir wieder fort.«

»Das geht nicht mehr, Stevo«, sagte ein Zweiter. »Jetzt würde sie uns verraten.«

»So, Kasimir?« sagte der Stevo Genannte. »Du meinst also, daß der Junge es wert ist, wenn wir die Kleine in unserem Stall sich dick und satt fressen lassen?«

»Das mußt du ja selber am besten wissen, was dir der Junge wert ist«, erwiderte Kasimir. »Ich habe nicht dem Jungen gesagt, daß er hier einsteigen soll. Ich bin hier nicht der Chef.«

»Gut, daß du weißt, wer der Chef ist«, sagte Stevo wieder in schleifendem Ton, setzte die Kniee breit auseinander und beugte sich blinzelnd vor. »Wie, Carlo« – er wandte sich an den Dritten –, »ist es nicht gut, daß Kasimir weiß, wer hier der Chef ist? He?« Plötzlich sprang er brüllend vom Diwan und ging auf Kasimir los. Der Pole zuckte geschmeidig zurück und riß wie auf dem Theater einen Revolver heraus; der fette Carlo, ein träger Kerl mit unwahrscheinlich kräftigen Händen, nahm ihm die Waffe sanftmütig ab und sagte gelassen: »Was soll das Fuchteln mit deiner Pfefferbüchse?« Und zu Stevo: »Wenn das der ganze Spaß ist, den du dem Jungen beibringen willst, wirst du ja Glück bei ihm haben. Schneide lieber der kleinen Nutte da die Gurgel durch, guter Stevo, damit sie nicht länger mit ihrem Geschrei unsere Gemütlichkeit stört . . . Laß das Weinen, mein Kind. Onkel Carlo kann Kinder nicht weinen sehen. Es stößt ihm das Herz entzwei.« Nun wandte er sich an den Knaben und fragte: »Wie heißt deine Schwester?«

»Helga«, sagte der Knabe steif.

»Gib Helga deine Hand, lieber Hellmuth, und sage ihr, daß sie nicht heulen soll, sonst schmeißen wir euch heraus.« 344

Der Knabe, dunkelrot vor Beschämung, ballte die festen Fäuste und sah haßerfüllt von ihm fort.

»Ich sagte es doch: er gefällt mir!« rief der schwarze Stevo entzückt. »Gebt ihm zu trinken. Der Helga auch. Komm zu mir, mein Prinz! Willst du Süß oder Bitter? Du kannst haben, wovon du willst.«

Man schenkte den Kindern Schnäpse ein und stieß mit ihnen an. Sofort begann sich der ganze Raum vor ihren Augen zu drehen, ein Strom von Wärme durchflutete sie, ein Glücksgefühl und eine trunkene Tollheit, deren sie in normalem Zustand nicht fähig gewesen wären, riß alle Dämme in ihnen ein und verwandelte ihre Welt. Vor ihnen saßen drei herrliche Räuber mit Revolvern und Juchtenstiefeln, der größte von ihnen hieß Stevo und war ihrer aller Herr. Seine Stimme klang wie entfernter Donner, seine Augen waren wie Feuerräder, in seinen Händen lag alle Macht, zu geben und zu nehmen.

[›Befiehl mir, für dich in die Hölle zu reiten und den Teufel heraufzuholen. Verlange eine Probe von mir, schicke mich bis an das Ende der Welt und wieder zu dir zurück!‹]

»Wie alt bist du eigentlich?« fragte Stevo und legte den Arm um Hellmuths Schultern, glitt mit der Hand seine Hüfte hinunter und zog ihn zu sich heran.

»Dreizehn.«

»Aha – erst dreizehn. Und du hast noch kein Mädchen gehabt?«

Der Knabe starrte ihn hingerissen und gleichzeitig unsicher an. »Nein«, sagte er verwirrt.

»Das ist gut. Kein Mädchen und noch kein Stimmbruch?«

»Nein«, sagte er noch einmal.

Seinen Mund an dem Ohr des Knaben, sprach Stevo auf ihn ein. Was er sagte, verstand der Knabe nicht; seine Unerfahrenheit, wie ein dünner, geschmeidiger Kettenpanzer, umgab ihn von Kopf bis Füßen und machte ihn unverletzbar 345 für Feuer oder Dolch. Die beiden anderen Männer sahen zu Stevo hinüber und riefen ihm etwas zu; ab und zu schlugen sie sich auf die Schenkel, wieherten vor Vergnügen und schüttelten den Kopf. Plötzlich stieß Stevo den Knaben mit wütendem Ausdruck fort. »Man wird ihm noch eine ganze Menge beibringen müssen«, rief er und wandte sich von ihm ab.

In diesem Augenblick schlug von neuem das Morsezeichen an. Der Hund heulte auf, die Männer stutzten, dann sagte der fette Carlo langsam: »Das kann nur Gisela sein. Wahrscheinlich kommt sie früher nach Haus, als wir gerechnet haben. Auf jeden Fall: Vorsicht!«

Sie zogen sich langsam in den Hintergrund des Kellers zurück, nahmen die Dogge zu sich und machten sich schußbereit. Die Kinder blieben im Vordergrund stehen; der Knabe schob seine Schwester zurück und horchte gespannt in der Richtung der Schritte, welche jetzt näher kamen.

»Halloh!« rief eine weibliche Stimme. »Hat mich keiner von euch gehört? Warum habt ihr mir nicht von der Leiter geholfen? Mein linker Absatz ist futsch.« Ein Mädchen war um die Ecke gebogen und starrte, gleichfalls vom Licht geblendet, den fremden Knaben an. »Halloh!« sagte sie, höchst erstaunt, und riß die Pelzkappe von dem Kopf; eine Sturzwelle zottiger Messinghaare umgab, die Schläfen herunterfallend, ihr ordinäres Gesicht; ihr Fohlenmantel schlug auseinander und ließ zwei schlanke, kräftige Beine in hohen Schnürstiefeln sehen, die mit Silber benäht waren, glitzerten und gebogene Absätze hatten. Einer davon war abgebrochen, sie näherte sich hinkend und ging, wie ein großer Wasservogel die Füße vorsichtig setzend, auf den staunenden Knaben zu. Die drei Männer hielten sich noch zurück und betrachteten amüsiert, wie der Knabe plötzlich die Arme hochhob und sie gleich darauf wieder sinken ließ – versteinert und ratlos, als sei die Dame nur eine Illusion. 346

»Hab ich dich nicht schon früher gesehen?« fragte das Stiefelmädchen. »Natürlich! du bist doch der Junge, der Schmiere gestanden hat, als wir neulich den Eisenbahnwagen auf dem Verladebahnhof von seinen Plomben befreit und ausgehoben haben? Weißt du jetzt, wer ich bin?«

»Sie sind die Räuberprinzessin, Fräulein, und heißen Gisela.«

Die Männer im Hintergrund brüllten vor Lachen, das Straßenmädchen, davon gereizt, warf sich rücksichtslos auf den Diwan und streckte die Beine fort. »Los, doch«, sagte sie zu den Kindern. »Schnürt mir die Dinger auf. Meine Beine sind ganz geschwollen von dem ewigen Hin und Her.« Sie goß sich ein großes Glas Zwetschgenschnaps ein und stürzte es hinab.

Als der Knabe sich über den Schnürschuh beugte, kam ein Schwall von schwerem Nelkenparfüm betäubend auf ihn zu; seine Finger verhaspelten sich in den Senkeln, eine Welle von Blut stieg ihm heiß in die Backen, seine Augen, er wußte selbst nicht warum, verdunkelten sich, wurden naß von Tränen und irrten verzweifelt ab.

»Du hast wohl noch keine Nutte gesehen?« rief Kasimir ihm zu.

»Laß den Jungen in Ruhe, sage ich dir«, knurrte der Chef den anderen an. »Komm her zu mir, mein Sohn!« Der Knabe erhob sich augenblicklich und ging auf Stevo zu.

»Du bist mein Junge. Hast du verstanden?«

»Ja, Herr.«

»Und gehörst niemanden sonst?«

»Nein, Herr«, sagte der Knabe stolz mit glücklichem Gesicht.

»Ich gratuliere«, rief Gisela spöttisch. »Das geht ja schnell bei euch. Weiß er schon, was er soll?«

»Keine Ahnung«, sagte der fette Carlo. »Er ist nicht aus Berlin.« 347

»Wo bist du her?« fragte Gisela.

»Aus Oberschlesien«, erwiderte Hellmuth ohne den Kopf zu drehen.

»Soso. Dann verstehst du wohl Polnisch?« fragte ihn Kasimir lauernd. Er gab keine Antwort. »Du hörst wohl nicht gut? Ich frage dich, ob du Polnisch verstehst?«

»Nein«, sagte der Knabe ruhig.

»Was war denn dein Vater?«

»Förster.«

»Lebt er noch?«

»Nein.«

»Deine Mutter?«

»Nein.«

»Kannst du schießen?«

»Ein wenig.«

»Mit was?«

»Mit der Büchse. Dem Drilling –«, verbesserte er.

»Auch mit dem Revolver?« fragte ihn Stevo.

»Nein, Herr.«

»Ich lehre es dich«, sagte Stevo. »Es ist eine Kleinigkeit.«

Gisela mischte sich plötzlich ein. »Habt ihr in einem Forsthaus gewohnt?«

»Ja, Fräulein.«

»Mitten im Wald?« Der Knabe starrte in weite Fernen; ein Beben, wie Wind über Gras und Laub, lief über sein Gesicht. »Hast du schon kämpfende Hirsche gesehen?«

»Ja, Fräulein.«

»Ganz nahe?« fragte sie schnell. Der Knabe sah sie verwundert an, sie fragte gierig: »Tun sie das oft?«

»Nein, Fräulein«, sagte er voller Unschuld. »Das tun sie nur in der Brunft.«

Mit einem halb unterdrückten Laut wandte Gisela sich an den Chef. »Nein« sagte sie leis und heftig. »Es ist eigentlich schade um ihn.« 348

»Ich will ihn haben«, sagte er finster.

»Zum Teufel, ja. Ich weiß.« Sie gähnte, reckte die Arme und sagte: »Ich gehe jetzt in mein Loch. Wenn einer noch mit will, muß er sich eilen. Mir fallen die Augen zu.«

Sie kehrte sich nach den Kindern um: »Wo sollen die Beiden eigentlich schlafen? Die Kleine pennt ja schon an der Erde –.«

»Morgen kommt sie mir fort«, knurrte Stevo. »Der Junge schläft bei mir.«

»Mir ganz egal«, sagte Gisela. »Aber du wirst dir noch alles verderben, wenn du so eilig bist.«

Er stutzte und sagte dann: »Meinetwegen. Er kann vorläufig in der Kammer schlafen, wo die Weizenmehlsäcke stehen. Lattenverschlag 7B. Gib ihm Kissen und Decken. Wir müssen fort. Heute Nacht wird auf dem Görlitzer Bahnhof der Unrra-Zug ausgeladen. Los, Leute!« Sie warfen die Mäntel über, machten sich fertig, pfiffen der Dogge und verließen den Lagerkeller.

 

In den nächsten Tagen fing Hellmuth an, die Arbeit aufzunehmen. »Merkt ihr nun, was uns der Bursche wert ist?« fragte Stevo die Andern. »Klug wie ein Schäferhund, treu wie Gold, verschwiegen wie das Grab.«

Auch davon, daß man die kleine Helga beiseite schaffen wollte, war nicht die Rede mehr. Sie stopfte die Strümpfe des Stiefelmädchens, wusch Wäsche unter dem Leitungsrohr und kehrte den Keller aus.

»Wie ist euer Vater denn umgekommen?« fragte das Fräulein sie.

»Gefallen.«

»Und deine Mutter?«

»Meine Mutter hat sich gewehrt.«

»Ach, so.« Sie sah eine Weile mit leerem Blick das kleine Mädchen an, das gerade einen seidenen Strumpf über das 349 Stopfei zog. »Wie seid ihr denn beide hierher gekommen?«

»Na – mit dem Flüchtlingszug.«

»Allein?«

»Die Großmutter war dabei.«

»Und? Lebt sie noch?«

»Nein, sie lebt nicht mehr. Mein Bruder hat sie verbrannt.«

»Bist du verrückt?« schrie Gisela sie an. »Erzähle mir mal genau.«

»Ach, das war so.« Weil die Kleine dumm und ebenso geschwätzig wie sensationslüstern war, beschrieb sie alles ausführlich und fügte am Schluß hinzu: »Er wollte nicht in das Waisenhaus, Fräulein. Lieber tot, als in das Waisenhaus gehen, hat er zu mir gesagt. Lieber tot, als eingesperrt sein.«

»Na ja – das kann ich verstehen«, sagte das Straßenmädchen. »Aber, daß er gerade als Pupe geht –«

»Als was?« fragte Helga.

»Nichts. Halte das Maul. Du redest viel zu viel.« Die Kleine sah sie erschrocken an und Gisela lenkte ein. »Du mußt hier lernen, das Maul zu halten, sonst geht es noch schlimm für dich aus. Ich meine es gut mit dir.«

»Ja, Fräulein«, sagte die Kleine gehorsam und beugte sich über den Strumpf.

Manchmal waren die beiden Kinder mutterseelenallein in dem Keller. Sie durchstreiften den unterirdischen Bau, von dem sie jetzt wußten, daß er nicht einen, sondern mehrere Ausgänge hatte: getarnte Türen aus schwerem Eisen, deren Riegel man fortschob, wenn Kisten und Kasten in den Keller eingebracht wurden. An einigen Stellen waren die Mauern so dick wie Festungswände, an anderen wieder so dünn, daß es kaum eines einzigen Hammerschlags bedurft hätte, um die Steine aus ihrem Verband zu lockern und nachtschwarze Löcher bloßzulegen, hinter denen das Nichts und der Abgrund gähnten; die Zerstörung, die ausgebrannten Kamine, die zersprungenen Wasserrohre. 350

An einer solchen Wand blieb der Knabe mit grübelndem Ausdruck stehen. »Hörst du nichts?« fragte er seine Schwester.

»Nein, Hellmuth.«

»Lege das Ohr an die Wand.«

»Ich glaube, jetzt höre ich es.«

»Was hörst du?«

»Stimmen. Musik«, sagte Helga.

»Das wird wohl ein Radio sein.«

»Ja, Hellmuth.«

Er preßte sich dicht daneben. »Jetzt hört man gar nichts mehr.« Er dachte einen Augenblick nach. »Das kommt und geht mit dem Wind verstehst du?«

»Ja, Hellmuth«, sagte sie.

 

In dieser Zeit zwischen Weihnacht und Lichtmeß knüpften die drei Banditen neue Verbindungen an. Sie suchten sich in Devisengeschäfte und Rauschmittelschiebungen einzuschalten und waren viel unterwegs. Inzwischen hatte die Luft sich verändert, war das Wetter launisch geworden. Immer wieder kam es vor, daß der Frost für einige Tage nachließ, und wie ein Mann, dem man unversehens einen Schlag zwischen Nacken und Schulterblatt gibt, in seine Kniee brach – immer wieder erhob er sich, taumelnd und wild, und führte von neuem ein Regiment, das zu hart war, um dauern zu können. Während sich aber hier in dem Keller kaum Tag und Nacht unterschieden, geschweige denn Sonne und Regen, Tauwetter oder Frost, und Tag und Nacht nur am Kommen und Gehen der Räuber und ihrer Räuberprinzessin gemessen werden konnten, hatte sich draußen der Atmosphäre ein Element untermischt, das der Jahreszeit wesensfremd war, und ihre harten, vereinzelten Farben auflöste und durcheinanderrührte, als ob ein Wäschestück in den Kessel der Tage geraten wäre, das sie 351 unverläßlicher, bunter und aufgeblähter machte. Der Himmel über den Kiefernkronen am Rand des Stadtparks teilte den Bäumen einen vagen, grauroten Schimmer mit, der über das schmelzende Blei der Wolken als eine irisierende Haut aus blinzelnder Erwartung wie Schmieröl ausgegossen und ebenso dauerhaft war; wenn der Wind die Krähennester bewegte und in den Mistelballen der Zweige wie ein Zigeuner in dem verfilzten und nassen Haar seines Mädchens wühlte, triefte die Luft von zarten Gerüchen und schlug sich als Tau oder Nebel nieder; der Fuß, der das dürre Laub aus dem Vorjahr in seiner Trauer störte, legte wie eine verrückte Hoffnung die blassen, kleinen Knollen der goldgelben Feigwurz bloß.

In einer Tauwetternacht kam Stevo ohne die beiden anderen Männer unerwartet nach Hause und bahnte sich durch Stapel von Waren und zwischen eingeschleppten, quellenden Säcken den Weg nach dem Lattenverschlag 7B; er war entschlossen, sich Hellmuth jetzt mit brutaler Gewalt zu nähern und auf das warnende Vogelgeschwätz der Dame Gisela keinen Pfifferling mehr zu geben.

Zu seinem Ärger fand er das Mädchen vor dem verschlossenen Lattenverschlag, in welchem Hellmuth schlief. Sie hockte auf einem hölzernen Schemel und hatte den linken Fuß, wie jetzt häufig, in einer Waschwanne stehen, badete ihn in einem Absud von Salbei und Kamillen und brummte vor sich hin. »Der Fuß ist wieder einmal geschwollen«, sagte sie unwirsch zu Stevo und sah ihn mißtrauisch an. »Seit ich damals an dem Kanalrohrende von der Leiter herabspringen mußte, ist er nicht mehr in Ordnung gekommen.« Sie zog das geschwollene Glied aus dem Wasser und trocknete es unter Stöhnen ab, schlüpfte in einen Kamelhaarpantoffel und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Lattenverschlag.

»Mach, daß du fortkommst. Ich muß hinein«, knurrte 352 Stevo das Mädchen an. Er schien getrunken zu haben, sein Atem roch unverkennbar nach Schnaps.

»Der Junge ist krank«, sagte Gisela scharf. »Er muß sich neulich, als er im Regen auf die Morphiumpäckchen gewartet hat, erkältet haben, Stevo. Jetzt hat er Fieber –«

»Ich auch.«

»Hohes Fieber«, fuhr sie hartnäckig fort.

»Ich werde ihn messen.«

»Das möchtest du wohl!« sagte sie wuterfüllt.

»Wenn du nicht augenblicklich Platz machst –« Er packte sie am Handgelenk und schlug ihr gegen die Brust.

Sie taumelte unwillkürlich, fing sich von neuem und drückte Stevo mit Bauch und Beinen fort. »Du kannst dich anstecken«, keuchte sie. »Die Alliierten impfen die Leute gegen Typhus, daß du es weißt.«

»Er hat keinen Typhus.«

»Wahrscheinlich hat er. Komm her und sieh ihn dir an!«

»Verdammt.« Er zog sich zögernd zurück. »Ich gehe noch einmal fort.«

»Ja, tu das. Nimm Camel und Chesterfield mit. Ich bleibe . . . bei dem Kind.«

Als Stevo den Keller verlassen hatte, trat Gisela in den Lattenverschlag und blickte den schlafenden Knaben an, der sich unruhig auf seiner Pritsche herumwarf, und laut im Traum vor sich hin sprach. Sie legte die Hand auf die Stirn des Schläfers, teilte sein Nachthemd über der Brust und prüfte seine Haut. Während sie sich herunterbeugte, schlug der Knabe flüchtig die Augen auf und machte sie gleich wieder zu. »Mutter –!« murmelte er.

Die ganze Nacht über blieb das Mädchen auf dem Hocker vor dem Lattenverschlag, das Haupt in den Händen, sitzen und grübelte vor sich hin. Er müßte fort von hier, dachte sie. Die kleine Helga auch. Aber wohin? Man wird ihn nach all dem in die Besserungsanstalt stecken. Ein 353 Brandstifter – und ein Hehler – ein Rauschmittelschieber, ein Vagabund – ein . . . Aber diesen letzten Gedanken dachte sie nicht zu Ende.

 

Als Hellmuth nach einigen Tagen wieder vom Bett aufstand, fragte ihn Gisela: »Geht es dir gut? Wie gefällt es dir eigentlich hier?«

Der Knabe sah sie erstaunt und kühl mit unausgesprochener Abwehr an und sagte: »Es geht mir gut. Es gefällt mir.«

»So? Und der Chef? Der Stevo? Gefällt er dir auch?«

Wie ein zorniger Erzengel zog der Knabe die weißblonden Brauen zusammen und warf mit ungestümer Bewegung eine Haarlocke aus der Stirn. »Herr Stevo gefällt mir am besten von allen. Besser als Carlo und Kasimir –.«

»Natürlich. Und daß du hier Schokolade und Speck und Weißbrot hast.«

»Nein«, sagte er böse. »Das ist es nicht. Das ist es nicht allein«, verbesserte er sich gleich.

»Sondern?«

»Ach –.« Eine flüchtige Röte stieg Hellmuth in die Backen und überflog mit zärtlichem Schimmer sein sprödes, blasses Gesicht. »Du bist mein Junge, hat er gesagt.«

»Ich weiß.«

»Er hat auch gesagt, wenn er wieder zurückfährt nach Jugoslawien, Fräulein, wird er mich mit sich nehmen. Dort im Gebirge gibt es noch Bären, auf die man Jagd machen kann. Wilde Bären in großen Wäldern, Fräulein, und Hirten mit Dudelsackpfeifen, die nachts um das Feuer sitzen.«

»Was hat er dir denn sonst noch erzählt?«

»Nichts weiter.«

»Und deine Schwester, die Helga? Wird er die auch mit sich nehmen?«

»Natürlich nicht«, sagte der Knabe kalt. »Dort kann man kein Mädchen gebrauchen.« 354

»Meinst du nicht«, fragte Gisela plötzlich, »daß es besser wäre, du machtest dich fort? Ein Waisenhaus ist das Schlimmste noch nicht. Ich bin selber dort aufgezogen.«

Der Knabe starrte sie sprachlos an, seine Augen füllten sich langsam mit Tränen, dann sagte er mit kindlicher Stimme: »Ich bin kein Verräter, Fräulein. Ich habe ihm Treue geschworen«, setzte er stolz hinzu.

Gisela blickte ihn kopfschüttelnd an und lachte verzweifelt auf. »In den nächsten Tagen wird er sich ohne dich behelfen müssen, mein Sohn. Er fährt mit Carlo und Kasimir für eine Woche fort. Vielleicht, sie wissen es noch nicht genau, wird der ganze Fuchsbau geräumt werden müssen, und das Warenlager fliegt auf. Mit kleinen Sachen verdient es sich leichter – Pervitin, Penicillin. Du wirst also hier den Verwalter spielen, bis Stevo wiederkommt.« Sie warf einen Blick aus dem Augenwinkel zu Hellmuth und fragte: »Was wirst du tun? Wirst du türmen, hm? Oder Geschäfte machen, die die Bande nicht kontrolliert? Du könntest natürlich Alle«, sagte sie langsam und überlegt, »bei der Polente verpfeifen. Gib mir vorher nur einen Wink.«

Ihre letzten Sätze sprach sie ins Leere, Hellmuth war schon hinausgegangen, ohne Gisela und ihre seltsamen Fragen einer Antwort gewürdigt zu haben.

 

Die Männer waren tatsächlich in der nächsten Woche verschwunden, auch Gisela ließ sich nur selten blicken, die Kinder blieben sich selbst überlassen und lebten in dem traumhaften Zustand einer durch nichts beschnittenen, wuchernden Phantasie; sie stießen nicht mehr an der Wirklichkeit an und waren König in einem Reich, dessen Grenzen immer weiter hinaus in das Meer der Möglichkeiten zu schieben, ihnen Glück und Verheißung war. Mit der Absicht, vor Stevo sich groß zu tun, legte Hellmuth mit Tintenstift ein Verzeichnis der Warenbestände an. Er 355 katalogisierte genau jede Büchse Schweinefett und die Dosen mit kondensierter Milch; er hätte, wäre es möglich gewesen, jede Kaffeebohne gezählt.

Auf diese Weise kamen die Kinder in die entlegensten Teile des Kellers, sie krochen unter dem Rohrgewirr durch und klemmten sich zwischen die Abstützbalken, die den Keller gehalten hatten. Sie hörten Geräusche, die sie nicht deuten, und solche, die sie erkennen konnten: Musik und Stimmengewirr wie schon früher, als sie das Ohr an die Wand gelegt und über die Herkunft dieser Geräusche nicht schlüssig geworden waren. »Das ist die Stelle, wo wir schon einmal gestanden haben, Helga«, sagte der Knabe zu seiner Schwester. »Erinnerst du dich noch?«

»Ja, Hellmuth.«

»Und, daß ich sagte, das kommt und geht mit dem Wind?«

»Ja, Hellmuth.«

»Der Wind kommt heute von Süden. Ich habe es gemerkt, als ich vorhin noch einmal austreten mußte.« Er dachte nach mit gesammeltem Ausdruck und suchte sich vergeblich die Lage des Kellers vorzustellen. »Ich glaube«, sagte er, »wenn man die Mauer an dieser Stelle aufschlagen würde, käme man zur Dienstbotentreppe, die hinter der Brandmauer liegt.«

»Die Dienstbotentreppe führt in die Küche.«

»Ja. Aber wenn große Gesellschaft ist, läßt die Köchin die Tür nach dem Flur zu offen, die in das Speisezimmer und in das Musikzimmer führt.«

»Was ist das: ›Große Gesellschaft‹, Hellmuth?«

»Nun – wenn sie Gäste haben. Ich mußte doch neulich in solch einem Haus eine Kiste Likör abliefern.«

»In diesem?«

»Nein. Aber die Häuser sind alle ähnlich gebaut.«

»Willst du die Wand hier durchbrechen, Hellmuth? Ich hole den Werkzeugkasten.« 356

»Nein, laß.«

»Du willst es also nicht tun, und ich soll nicht den Kasten holen?« fragte die Schwester enttäuscht.

»Meinetwegen«, sagte er schwankend. »Aber die Mauer wird fester sein, als wir uns vorgestellt haben.«

Die Mauer war zwar nicht dicker, aber der Mörtel der Steine so hart, daß sie aufhören mußten und sich zuerst ein stärkeres Werkzeug holen, ehe sie weitermachten.

»Genug für heute«, sagte der Knabe. »Es ist besser, wir brechen die Mauer durch, wenn die Töne aufgehört haben.«

»Warum?«

»Weil die Gäste dann fort sind, und die Aussicht, ungestört einzusteigen, größer geworden ist.«

»Willst du denn wirklich einbrechen, Hellmuth?« fragte das Mädchen ängstlich.

»Nicht so. Ich möchte nur wissen, was hinter der Mauer ist.«

Hinter der Mauer wand sich tatsächlich noch ein Stück der Dienstbotentreppe entlang; doch führte sie nicht mehr bis in den Keller, sondern hing frei in der Luft. »Vielleicht, wenn wir die Leiter anstellen, reichen wir bis zu der untersten Stufe. Allerdings weiß ich noch nicht, wie wir dann weiter kommen, und ob die Treppe uns aushält«, sagte Hellmuth – mehr zu sich selbst.

Sie schleppten eine Leiter herbei, zogen die Schuhe aus und begannen wie zwei Eichhörnchen rasch und geschickt die Sprossen hinaufzusteigen. An der steinernen Treppe angekommen, probierte Hellmuth zuerst im Hang ihre Haltefähigkeit aus; dann kletterten sie vorsichtig weiter bis zu der ersten Tür. Sie mußte von innen verrammelt, vielleicht sogar zugemauert sein. Kein Lichtschein drang durch die hölzernen Fugen, kein Ton, kein Atemzug. Nun kletterten sie unverdrossen und zäh zum nächsten Stockwerk weiter und wollten schon wieder abwärts steigen, als die 357 Augen des Knaben, an Dunkelheit und an die Valeurs der Dämmerung durch den Aufenthalt in dem Keller gewöhnt, eine Ausschachtung neben der Treppe bemerkten, ein tiefschwarzes Viereck, das er jetzt langsam abzutasten begann. »Hier ist ein offener Einstieg«, flüsterte Hellmuth leise. »Ich sehe nach, wohin er wohl führt. Vielleicht in einen Kamin.« Der Einstieg, er führte tatsächlich in eine gemauerte Esse, erweiterte sich mit einemmal zu einer Kaminhaube; schwaches, doch unverkennbares Licht aus der Tiefe schlug dem Knaben entgegen – er ließ sich in die Haube hinunter und sprang dann tollkühn ab; gleich danach sprang auch das Mädchen hinunter und fing, als sie unten gelandet war, leise zu schimpfen an.

Auf dem Teppich vor dem alten Kamin saß ein kleiner Knabe im Schlafanzug und sah entzückt, wie die beiden Kinder, zwei rußigen Teufeln ähnlich, durch die Kaminhaube kamen. »Seid ihr die Kinder des Nikolaus?« fragte er außer sich. »Füllt ihr meine Schuhe, die vor dem Kamingitter stehen?« Es war ersichtlich: in seinem Köpfchen ging alles durcheinander – der Nikolaus, der durch den Schornstein reitet, die Schuhe, die er am Nikolaustag des verflossenen Jahres herausgestellt hatte, und das Märchen, das ihm erzählt worden war, von des Teufels rußigem Bruder.

Die beiden Kaminreiter lachten, daß es sie schüttelte. »Wir sind nicht die Kinder des Nikolaus«, sagten sie schließlich aus einem Mund. »Sonst hätten wir doch«, fuhr Hellmuth fort, »den Sack und die Rute dabei.«

»Dann kommt ihr auch nicht aus der Hölle?« fragte der Kleine, dem wieder das Märchen von dem rußigen Bruder einfiel.

Die Kinder stutzten, dann sagte Hellmuth: »Das wird wohl nicht so sein.«

Gleich darauf merkte er, daß sie beide in den Himmel 358 gekommen waren. Ein Zimmer in süßen, zärtlichen Farben, von einem venezianischen Lüster strahlend und lieblich erhellt, hatte sie aufgenommen. Der Lüster war aus geblasenen Blumen und klingelnden Traubengehängen; ein tonnenförmiges, grünblaues Öfchen, auf dessen Kacheln springende Hirsche, Jäger und Hunde eingebrannt waren, verbreitete eine behagliche Wärme; überall lagen Kissen und Rollen aus Seide, Samt oder buntem Chintz; eine Vase, die auf dem Boden stand, entließ einen feurigen Strahl von Forsythien, der dem schlanken Gefäß wie eine Fontäne aus Licht und Wasser entsprang. Auf einer Couch in der Nähe des Ofens war das Lager des Kleinen gerichtet, das er verlassen hatte, als die geheimnisvollen Geräusche aus der Kaminhaube kamen.

»Schläfst du hier?« fragte Hellmuth das Kind.

»Nur, bis meine Eltern nach Hause kommen. Dann packt mich meine Mutter zusammen und trägt mich ins Gitterbettchen«, sagte der Kleine erfreut.

»Kommen denn deine Eltern immer so spät nach Hause?« fragte ihn Hellmuth rasch. »Ist dein Vater auch heute fort?«

Eine glasüberstürzte antike Uhr setzte zum Schlagen an und schlug mit eiligen Silberschlägen die neunte Stunde aus.

»Ja freilich«, sagte der Kleine freundlich. »Er muß doch dirigieren, damit die Musiker spielen können, und die Sänger den Einsatz haben«, erläuterte er stolz.

»Ach so. Dein Vater macht also Musik«, sagte der große Knabe. »Spielt er in einem Café?«

»Aber nein. Mein Vater spielt überhaupt nicht«, sagte das Kind erstaunt. »Er holt mit seinem Taktstock die Töne aus den Flöten und Geigen heraus. Aus den Trompeten und Bratschen«, setzte er seine Belehrung fort. »Ich habe ihm in der Oper selbst einmal zugesehen.« 359

»Wie heißt denn dein Vater?«

»Wilhelm Corneli. Generalmusikmeister steht auf dem Schildchen an unserer Tür.«

»Dann ist er wohl etwas sehr Feines, dein Vater?« fragte Helga ihn ehrfurchtsvoll.

»Ja. Aber meine Mutter erst recht«, sagte das Kind beglückt. »Das ist ihr Bild. Das dort auf dem Tischchen. Betrachtet es nur ruhig.«

Der große Knabe nahm vorsichtig das Bild in seine Hände und blickte es lange an. »Sie ist noch schöner als Gisela«, stellte er danach fest.

»Sie ist die Schönste und Beste von allen«, erwiderte das Kind. »Mein Vater sagt es auch.«

»Wie heißt sie denn?« fragte die kleine Helga. Es war ersichtlich, daß sie den Namen einer Märchenprinzessin erwartete – Allerleirauh oder Jorinde zu hören, hätte sie nicht erstaunt.

»Lotte. Und ich heiße Reginald«, fügte er höflich hinzu.

»Wohnt ihr schon immer hier?« fragte Hellmuth.

»Nein. Ehe mein Vater zurückkam, haben wir beide mit Onkel Ewald im Grunewald gewohnt. Aber wir konnten nicht wohnen bleiben, weil das Haus jetzt beschlagnahmt ist.«

»War dein Vater gefangen?«

»Ja, er ist jetzt erst zurückgekommen«, ergänzte Reginald seinen Bericht und fragte seinerseits: »War dein Vater auch in dem Krieg?«

Der Knabe preßte die Lippen zusammen, die kleine Helga verzog ihr Gesicht und brach in Tränen aus.

Reginald sah sie erschrocken an. »Soll ich euch etwas vorspielen? Hm?« fragte er eifrig. »Ich kann schon ganz gut auf meiner Blockflöte spielen. Oder wollen wir lieber ein Brettspiel machen? Oder würfeln?« schlug er bereitwillig vor. »Ich hole ganz rasch die Sachen aus meinem Kinderzimmer.« 360

»Nein, laß«, sagte Hellmuth beunruhigt. »Ich glaube, wir müssen jetzt fort.«

»Ach, bleibt doch noch«, bettelte Reginald die beiden Kinder an. »Die Oper ist sicher noch lange nicht aus . . . und wir haben noch nicht mit einander gespielt«, sagte er jämmerlich. Plötzlich kam Reginald ein Gedanke. »Klettert ihr wieder durch den Kamin?« fragte der Kleine schlau.

Hellmuth sah ihn entgeistert an. Unvermittelt fiel dem Besonnenen ein, daß er den Rückzug noch nicht bedacht, und sich in das ganze Abenteuer wie ein Träumer begeben hatte. Es war ihm natürlich vollkommen klar, daß es ausgeschlossen sein würde, im Klimmzug den Einstieg zurückzugewinnen. So blieb nur, wenn er den Raum verlassen und die Straße erreichen wollte, das Fenster im zweiten Stock. »Du hast wohl keinen Flurschlüssel, wie?« fragte er Reginald.

»Nein. Auch das Haustor ist abgeschlossen. Aber bis hoch hinauf zu dem Dach läuft seit gestern ein Baugerüst. Onkel Ewald hat es anlegen lassen, weil das Dach repariert werden muß, und die Einschußlöcher der Wände vermauert werden sollen«, sagte der Kleine bedächtig. »Onkel Ewald kann alles. Er hat das Geld und die Leute gleich an der Hand.«

»Oh, das ist gut«, sagte Hellmuth erleichtert. »Aber du mußt das Fenster hinter uns schließen, hörst du, damit deine Mutter nichts merkt.«

»Kommt ihr bald wieder?«

Hellmuth blieb schwankend inmitten des Zimmers stehen und betrachtete mit durstigen Augen den Leuchter mit den geblasenen Blumen, die bunten Polster, die Ofenkacheln mit Jäger, Hirsch und Hund. »Nur, wenn du versprechen willst, nichts zu erzählen. Aber du mußt es schwören«, sagte er feierlich. »Du mußt sagen: ich schwöre bei meinem Leben, daß ich euch nicht verraten und nichts weiter erzählen will.« 361

»Darf ich auch meiner Mutter nichts sagen?« fragte das Kind betrübt.

Hellmuth folgte dem Blick seiner Augen und bemerkte das Foto der schönen Dame, welche ihm zuzulächeln und ihn leise zu locken schien; er fühlte ein Brennen und Ziehen am Herzen, etwas wie Heimweh und eine Empfindung aus seiner Kinderzeit. Sich losreißend sagte er: »Nein. Auch deiner Mutter nicht. Sonst kommen wir niemals mehr. Willst du schwören?«

»Ich schwöre«, sagte der Kleine mit glühendem Gesicht.

»Drehe das Licht aus«, befahl ihm Hellmuth. »Wir klettern jetzt hinaus.«

Als das Zimmer im Dunkel lag, merkten die Kinder, daß das Baugerüst seine Schattenkreuze auf den seidenen Vorhang warf.

»Es ist mondhell«, sagte Hellmuth zu Helga. »Wir müssen acht geben, daß uns niemand beim Abwärtsklettern sieht.«

»Wenn ihr morgen wiederkommt, spielen wir mit meinem Puppentheater. Kommt ihr morgen wieder?« rief Reginald und sah sie flehentlich an.

»Vielleicht.«

»Ihr müßt es mir schwören. Wollt ihr es schwören? Sagt ja! Ich habe ja auch geschwört.«

»Geschworen«, verbesserte Hellmuth in brüderlichem Ton.

 

An dem nächsten Abend fuhren die Kinder von neuem durch die Esse und sprangen unten auf; Reginald hatte vorsichtshalber seine Steppdecke auf den Boden gebreitet, damit der Sprung auf die Steine durch sie gemildert würde.

»Hat deine Mutter etwas gemerkt?« fragten sie nach der Begrüßung den Kleinen.

Reginald schüttelte stumm den Kopf. »Das Puppentheater –!« sagte er eifrig. »Es steht in der Nische da.« 362

»Hast du es selber dorthin gestellt?« forschte ihn Hellmuth aus.

»Ja, freilich. Ich darf es immer bei dem Einschlafen neben mir haben und ansehen, wann ich will.«

Sie zogen zusammen den Vorhang des Puppentheaters zurück; kreuz und quer lagen König und Königin, Teufel, Soldat und Gendarm; der Kaspar, das Krokodil, die Prinzessin und der mutige Königsohn. Ohne Text und Vorlage fingen die Kinder sofort zu spielen an. Sie ließen den Kaspar sich über die Brüstung der kleinen Bühne beugen und rufen: ›Kinder seid ihr auch da?‹ Sie dachten sich eine Verfolgung der schönen Prinzessin aus, ließen das Untier mit seinen Zähnen nach ihrer Schleppe schnappen und schickten zu ihrer Rettung Kaspar und Königsohn.

Als sie alle Figuren durchprobiert hatten, begannen sie mit verteilten Rollen ein Drama, das von dem Soldaten, dem Teufel, dem alten Königspaar und der schönen Prinzessin handelte. Sie einigten sich, daß der Teufel den Soldaten verführen sollte, das Königspaar umbringen und die Prinzessin mit einem Gewehr, das ein Stöckchen versinnbildlichen mußte, in seine Herrschaft bringen; das Untier sollte ihm dabei helfen, der Prinzessin den Weg abzuschneiden, der Kaspar vergeblich warnen und schreien, und erst in allergrößter Bedrängnis der Königssohn erscheinen.

Mit heißen Köpfen spielten die Kinder ihren vorgeschriebenen Part. Jedes von ihnen hatte zwei Puppen auf einmal zu bewegen: Hellmuth den Teufel und den Soldaten, Helga das alte Königspaar; das Krokodil und die schöne Prinzessin der kleine Reginald. Nur für den Kaspar und für den Prinzen blieb keine Hand mehr frei. Es wurde daher beschlossen, den Vorhang nach der Ermordung des Elternpaares zunächst zusammenzuschlagen und erst, wenn das Drama weiterging, ihn von neuem zurückzuziehen. Weil aber Helga am Schluß dieser Szene nun ganz ohne Puppenpaar 363 war, übernahm sie nach einigem Hin und Her Kaspar und Königssohn. Als das Spiel auf seinen Höhepunkt kam, und der verführte Soldat sein Gewehr auf die Königstochter gerichtet hatte, schleuderte Reginald plötzlich das Krokodil auf die Erde, riß Helga den Königsohn aus der Hand und warf ihn aus allen Kräften auf den fürchterlichen Soldaten. »Lauf, Lotte, lauf!« schrie er hoch und hell, der überrumpelte Bösewicht stürzte, alle Puppen kamen ins Handgemenge, der Teufel versuchte einzugreifen, während Kaspar den Knüppel auf seinen Kopf heruntersausen ließ.

Nach einem fürchterlichen Gemetzel, an dessen Ende alle Figuren außer der Königstochter zu Grunde gegangen waren, trat endlich Ruhe ein. Wie am Anfang lagen sämtliche Puppen kreuz und quer übereinander, das Untier sah scheel von der Erde empor: ein trauriger, graugrüner Lappen mit hilflos fletschenden Zähnen; der kleine Reginald hielt die Prinzessin unter Schluchzen an seine Brust gepreßt und schluchzte immer noch heftig weiter, als das Spiel schon zu Ende war.

»Warum weinst du denn?« fragte Hellmuth verwundert. »Es ist doch gut gegangen.«

Der Kleine trocknete seine Tränen mit dem Pyjama-Ärmel und lächelte Hellmuth an. »Ich danke euch, daß ihr mitgespielt habt«, sagte er liebenswürdig, während ein letztes Schluchzen seine kindlichen Worte zerstieß. »Ich wollte so gern einmal spielen, was ich heimlich mitgehört habe.«

»Was hast du denn heimlich mitgehört?« fragte Hellmuth und Helga gespannt.

»Daß meine Mutter von einem Soldaten umgebracht werden sollte«, sagte das Kind naiv. »Und daß dann ein fremder Mann ihn besiegt und totgestochen hat.«

»Bei meiner Mutter ist niemand gekommen«, sagte die kleine Helga ernsthaft. »Deshalb sind wir allein.« 364

Reginald sah sie mitleidig an. »Meine Mutter sagt: ›kein Kind ist allein‹, wenn ich Angst vor der Dunkelheit habe.«

Der Große blickte spöttisch und streng auf den kleinen Knaben herab. »Wer ist denn bei ihm?«

»Der liebe Gott«, sagte das Kind überzeugt. »Und sie sagt auch, wenn der liebe Gott mir ein Brüderchen schicken sollte, so soll es Albrecht heißen. Albrecht war nämlich der fremde Mann, der sie gerettet hat.«

»Dann hat ihr Gott also diesen Albrecht wie auf dem Puppentheater geschickt?« fragte sein Kamerad.

Stille verbreitete sich in dem Zimmer. Gott hatte mitgespielt. Er hatte die Puppen in Händen gehalten, er hatte sie nach seinem Willen gelenkt, er lenkte sie immer noch.

Als die Kinder sich wieder verabschieden wollten, fragte Reginald sie zum ersten Mal: »Wo wohnt ihr denn eigentlich, Hellmuth?« [Daß der Knabe Hellmuth hieß und daß Hellmuth die Schwester ›Helga‹ nannte, hatte das Kind ohne Absicht beim Puppenspiel gehört.]

Der Knabe machte eine Bewegung mit Hand und Schultern zugleich. Sie sollte ausdrücken: »Irgendwo.« Reginald fühlte es. »Darf ich euch einmal besuchen kommen?« fragte er schüchtern weiter. »Ich möchte euch so gerne besuchen und mit euch beiden spielen.«

»Das geht nicht«, sagte der Knabe entschieden. »Das geht auf gar keinen Fall. Wir werden noch einmal zu dir kommen. Das ist dann das letzte Mal.«

Der Kleine sah ihn aufmerksam an. »Seid ihr verzaubert?« fragte er plötzlich, als wäre, was er da wissen wollte, die natürlichste Sache von der Welt. »Ich meine: weil ihr gesagt habt, ihr kommt morgen zum letzten Mal.«

»Bist du verrückt?« fragte Hellmuth erstaunt. »Warum sollten wir denn verzaubert sein, wenn wir morgen zum letzten Mal kommen?«

»Ich verstehe ihn!« rief Helga erleuchtet. »Er denkt wohl 365 an das Märchen ›Brüderchen, Schwesterchen‹ – und daß die tote Königin sagte: ›Jetzt komme ich noch zweimal – noch einmal – jetzt komme ich nimmermehr.‹«

»Ja, so.« Ihr Bruder lachte unwirsch und kurz und sagte zu dem Knaben: »Das müßten wir doch wohl selber wissen, wenn wir verzaubert wären.« Dann fragte er, als sie sich fertig machten, genau wie gestern: »Willst du schwören, daß du uns nicht verraten und nichts weiter erzählen wirst?«

Und wie gestern antwortete das Kind: »Ich schwöre es euch, aber schwört mir auch, daß ihr morgen noch einmal kommt.«

»Gut«, sagten Hellmuth und Helga. »Wir schwören es, Reginald.«

 

»Kann man verzaubert sein«, fragte das Kind am nächsten Tag seine Mutter, »ohne daß man es weiß?«

Lotte sah ihren kleinen Knaben aus aufgerissenen Augen an; von einer neuen Schwangerschaft leise, doch unverkennbar gezeichnet, war sie noch schöner geworden: ihre Haut noch durchsichtiger, die Konturen ihres Gesichts genauer, die Schläfen schattiger und die Stirn gespannter und leuchtender. »Was sagst du da?« flüsterte sie entgeistert. »Ob man verzaubert sein kann, ohne daß man es weiß?«

Reginald nickte.

Sie sagte behutsam: »Ich glaube, die Meisten wissen es nicht, wenn sie verzaubert sind. Sie wissen erst, daß sie es waren, wenn Gott sie von dem Zauber erlöst hat und ihnen ihren menschlichen Leib wieder zurückgegeben, Aber das kannst du noch nicht verstehen, mein kleiner Reginald.«

»Woran merkt man, daß jemand verzaubert ist?« fragte Reginald hartnäckig weiter und hob die Stirn zu ihr auf. »Hat er dann weiße Haare, aber ein schwarzes Gesicht?«

Die Mutter sah ihn beunruhigt an. »Was hast du dir denn da 366 ausgedacht, Regi? Ich fürchte, du hast in letzter Zeit zu viele Märchen gehört.«

Er bewegte langsam den Kopf hin und her und sagte: »Ich möchte gern Onkel Ewald – oder Onkel Kurella fragen, woran man es merkt, wenn ein Junge verzaubert worden ist.«

»Warum willst du nicht lieber den Vater fragen? Ein kleiner Junge muß doch zuerst Vater und Mutter fragen«, sagte Lotte Corneli mit ruhiger Stimme, obwohl eine jähe Angst in ihr hochstieg, und ihr Herz zu beklemmen drohte.

Der Kleine, dunkelrot und mit Tränen in seinen schönen Augen, sagte mit schwankendem Stimmchen: »Ich frage lieber Onkel Kurella, wenn du es mir erlaubst.«

»Nun gut. Dann frage Onkel Kurella, wenn er zum Tee zu uns kommt. Sein Oheim, der Pater Mamertus, weißt du, hat mir Gemüse und Winteräpfel aus Anastasiendorf für dich geschickt und möchte Leinwand und Garn und Nadeln für seine Nonnen haben.«

»Kommt er heute?«

»Nein. Heute hat Onkel Kurella die Erstkommunikanten. Aber morgen kannst du ihn alles fragen, was du ihn fragen willst.«

 

Fast zur gleichen Stunde, als Reginald dieses merkwürdig transparente Gespräch mit seiner Mutter führte, stand der junge Kaplan Kurella in dem Arbeitszimmer des alten Pfarrers, dem er zur Unterstützung und Freude, aber gleichzeitig auch zum Ärgernis, zu einer ewigen Last und Sorge und zum Stachel, einem sehr feinen Stachel in Hochwürdens ebenso feinem Gewissen, seit kurzem zugesellt war. Kurella – noch in der langen Soutane – hatte soeben die ›Betschwesternmesse‹ um 9 Uhr vormittags für die Frauen des Müttervereins gelesen, die pensionierten Schullehrerinnen, die Damen, welche vom Einkaufen kamen, die 367 Rentnerinnen, die Präsidentinnen verschiedener Kongregationen. Er stand, die Hände tief in dem breiten Soutanengürtel vergraben, mit dem Ausdruck eines gescholtenen Buben vor seinem Vorgesetzten und schob auf komisch-ergebene Weise die Unterlippe vor.

»Der Leiter des Kirchenchors hat sich beschwert, daß die Jugendgruppe so schlampig ist«, sagte der Pfarrer gereizt. »Anstatt daß die Burschen zur Übungsstunde am Mittwochabend kommen, bilden Sie diese ganze Gesellschaft zu Detektiven aus.« Kurella wollte etwas erwidern, der Alte trommelte kurz und entschieden mit den Fingerkuppen zwei-, dreimal auf die speckige Schreibtischplatte. »Zu Sozialhelfern, Wohlfahrtspflegern und Diskussionsrednern, die das Blaue vom Himmel herunterschwatzen; nicht zuletzt auch zu einer brüllenden Meute von wilden Fußballspielern. Ich weiß natürlich, mein Herr Konfrater, was Sie jetzt sagen wollen«, unterbrach er den supponierten Einwurf des Kaplans, der zunächst überhaupt nichts sagen oder erklären konnte, sondern mit eingezogenem Nacken die Vorwürfe seines Pfarrers an sich herablaufen ließ. »Oder wie soll man es sonst bezeichnen, wenn Ihnen die Herde Informationen aus den dreckigsten Vierteln zuträgt? Ihr Bekehrungseifer ist fürchterlich, Ihr Idealismus ebenso –«

»Ich bin nicht idealistisch«, sagte der Andere laut und bestimmt und hob jetzt seinen Kopf. »Ich weiß genau, daß wir meistens vergeblich die ganze Nacht über fischen – und wenn wir glauben, daß wir nun endlich einen Fang in den Netzen haben, ist es, bei Licht besehen, ein alter Schuh gewesen oder eine verrostete, leere Konservendose.«

»Wenn Sie selber diese Empfindung haben«, sagte der Pfarrer zu seinem Kaplan, »kann ich den Aufwand an Mißgeschick, das Ihnen, Kurella, fortwährend zustößt, in kein Verhältnis zu Ihrem Eifer, sich unbeliebt zu machen, und zu Ihrem Eigensinn bringen, mit dem Sie darauf bestehen, 368 der offiziellen Flußfischerei und ihren erprobten Methoden in das Handwerk pfuschen zu wollen.«

»Ich glaube nicht, daß diese Methoden heute noch ausreichend sind.«

»Nein?« fragte der Andere spöttisch und knapp. »Und was, nach Ihrer geschätzten Meinung, müßte statt dessen geschehen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Kurella seufzend. »Nur der Heilige Geist –«

»Der Heilige Geist! Der Heilige Geist!« rief der Pfarrer und warf seine Hände rechts und links an die Ohren. »Ihr jungen Leute solltet die Nase lieber in euer Dogmatikbuch stecken, anstatt den Heiligen Geist zu zitieren, wo er gar nichts verloren hat.« Plötzlich mußte er selber lachen. »Habe ich das nicht gut gesagt, wie?« polterte er heraus. »Aber im Ernst, Herr Kaplan: Sie verplempern ergebnislos Ihre Kräfte, ohne wirklich voranzukommen. Sie sind arglos und gutgläubig wie ein Kind; Sie gehen auf jeden Leim.« Er hatte sich wieder in Wut geredet und zog nun von neuem los. »Oder glauben Sie, wenn Ihre Ministranten einen Langhaarigen von der Straße holen« – den Ausdruck ›Langhaariger‹ pflegte Hochwürden stets mit den Zeichen des Abscheus zu gebrauchen; einen schlimmeren gab es für ihn nicht –, »einen von diesen glatten, öligen Vagabunden, diesen Schulschwänzern, diesen Kippensammlern, und pressen ihn zu der Fußballmannschaft: es wäre etwas für seine Bekehrung, lieber Kurella, getan? Schweigen Sie bitte, ich bin noch nicht fertig«, tobte er zornig weiter. »Ich komme jetzt zu dem Debattierklub mit seinen verrückten Methoden, mit diesem amerikanischen Blödsinn, der jedem Ochsen Gelegenheit gibt, sein dummes Maul aufzureißen – Wiederkäuer, die Sie ermuntern, das halb verdaute Zeug aus dem Pansen nach oben zu befördern und zwischen den Zähnen herumzudrehen, bis nichts mehr übrig bleibt.« 369

Der alte Diktator bog sich in seinem Schreibtischsessel zurück und verschränkte, ungestüm atmend, die Arme über der Brust. »Sie sind sich wohl nicht ganz klar darüber«, fuhr er, sich mäßigend, fort, »daß dieses kommunistische Viertel, in dem Sie Ihre Seelsorge treiben, bereits auf den Debattierklub hingelenkt worden ist?«

»Das war meine Absicht«, sagte Kurella, ohne zurückzuzucken.

»Aha, Sie halten es also für richtig mit diesen –«, er zügelte sich gewaltsam, »in ein Gespräch zukommen, wie man heute zu sagen pflegt?«

»Nicht nur in ein Gespräch, Herr Pfarrer, sondern in ein Gebet.«

Der Andere starrte ihn mißtrauisch an; dann schob er mit einer großen Bewegung das ganze Thema fort. »Mein dritter Einwand ist mehr ein Rat« – Kurella lächelte unwillkürlich – »als ein direkter Befehl. Ich weiß, daß Sie seit einigen Wochen auf der Spur des jungen Brandstifters sind, der die Eisenbahnhütte angesteckt hat, und die Leiche der Großmutter roh und gefühllos in Flammen aufgehen ließ. Ich weiß auch, daß Sie mit Hilfe Ihrer Jugendgruppe, lieber Kurella, seine Spur eingekreist haben, und daß sie in ein verborgenes Nest von ausländischen Schiebern und Rauschmittelhändlern führt. Gut. Aber jetzt [ich bitte Sie dringend!] lassen Sie Ihre Finger von dieser furchtbaren Sache und sehen Sie sich vor. In welche Kreise geraten Sie? Und mit welcher Berechtigung?«

Der junge Seelenhirt gab keine Antwort, sondern hielt den klaren Blick seiner Augen auf die des Pfarrers gerichtet; der Blick des Alten suchte vergeblich sich von den Augen Kurellas zu lösen und irrte schließlich ab.

»Glauben Sie nicht, ich verstünde Sie nicht«, sagte der Pfarrer leise. »Auch ich war einmal jung. Aber ich habe im Lauf der Jahre meine Erfahrung gemacht.« Seine Stimme 370 klang, als ob Staub über Staub sich in dem Lauf dieser langen Jahre auf seiner Seele abgesetzt hätte, und sie mutlos zurückgelassen. Mit einem Mal stand der Pfarrer auf und legte seinem Konfrater die Hände auf die Schultern. »Ich beschwöre Sie«, sagte er väterlich, »nichts mehr zu unternehmen. Benachrichtigen Sie, wie es richtig wäre, den Inspektor des Jugendamts. Er ist ein braver, eifriger Mann aus unserem Kirchenvorstand – was wollen Sie eigentlich mehr? Sie sind kein Missionar, liebes Kind, für Homosexuelle oder gefallene Mädchen, und Ihr Bischof hat Sie zu diesem Zweck wahrhaftig nicht geweiht.«

»Warum, Herr Pfarrer«, fragte Kurella mit herzzerreißendem Ausdruck, »möchten Sie den Inspektor nicht lieber selbst informieren?«

Der alte Löwe nahm seine Tatzen von Kurellas Schultern herunter und sagte grollend: »Das wäre nicht fair. Das wäre ein glatter Vertrauensbruch gegen Sie, Herr Konfrater. Ich fasse es so auf.« Er blitzte ihn stolz und herrscherhaft an und sagte: »Meinen Segen haben Sie aber nicht. Bilden Sie sich das nicht ein.«

Als Kurella das Zimmer verlassen hatte, ging der Pfarrer zu seinem Betschemel hin und ließ sich auf die Kniee. Man sah jetzt erst, daß er leicht gelähmt war, und das linke Bein nur mit Mühe über den Boden zog.

 

Stevo hatte sich angesagt. Er hatte Gisela an die Adresse ihres Stundenhotels geschrieben, und sie beauftragt, den Knaben bei Zeiten wissen zu lassen, daß er in wenigen Tagen wieder zurücksein würde.

Sie saß mit dem Brief auf dem Bettrand in einem scheußlichen Zimmer mit violetter Tapete und stierte vor sich hin: »Ach, was. Er soll mich –«, sagte sie endlich, zerriß den Brief in winzige Stücke und warf ihn zum Fenster hinaus. Auf gar keinen Fall, dachte Gisela, wollte sie heute abend den 371 Warenkeller besuchen; sie hatte das unbestimmte Gefühl, als ob er seit einiger Zeit unter Beobachtung stünde, und daß es vorderhand besser wäre, sich dort nicht blicken zu lassen. Natürlich hätte sie ihren Argwohn durch nichts begründen können, es sei denn durch die Wahrnehmung, daß – es konnte Zufall sein, warum nicht? – jetzt öfter als sonst eine Schar junger Burschen mit ihrem geflickten Fußball in seine Nähe gerieten, oder daß ein Monteur in der Kluft [immer derselbe, wie es ihr vorkam], den Werkzeugkasten unter dem Arm, mit dem Fahrrad vorüberkam.

Sie überlegte. Es war wahrscheinlich, daß hin und wieder bei dem Entladen des Autos trotz aller Vorsicht eine der Dosen von dem Wagen heruntergekollert und in das Gebüsch gerollt war . . . und daß natürlich der glückliche Finder die Beute herumgesprochen, und die Anderen, wie wenn ein Huhn ein Korn an einer bestimmten Stelle aufpickt, sofort hinzugeeilt waren, um Ähnliches zu erleben. Doch der Monteur war ihr auffällig oft in der Nähe des Kellers begegnet: immer der gleiche, saubere Kerl mit dem festgeschlossenen Mund. Ihr Geschäftsinteresse war plötzlich erwacht. Diese Handwerker waren besser bei Kasse als mancher Oberlehrer und gaben das Geld leichter aus. Jede Kleinigkeit ließen sie sich bezahlen, jede Steckdose kostete ein Vermögen, an einem Stück Draht verdienten sie mehr als ein gebildeter Herr, dachte sie, im Lauf eines ganzen Monats einnimmt, und vollbrachten noch Tauschgeschäfte. Dieser da war wohl in einem der Häuser, wo man jetzt Ausbesserungen machte, mit der Neuanlage von Leitungen oder Reparaturen beschäftigt; reiche Leute konnten es sich noch immer und heute erst recht wieder leisten, ihre Wohnung instand zu setzen.

Trotzdem – man mußte vorsichtig sein, dachte Gisela. Kriminalpolizei war hinter den Mädchen her, wenn sie Schiebergeschäfte vermutete, und es kam vor, daß ein 372 Mann sie ansprach, der auf der Hoteltreppe plötzlich die Blechmarke sehen ließ. Nein. Heute nicht. Um gar keinen Preis ging sie heute noch nach dem Lagerkeller, und wenn man sie schlagen würde. Das konnte Stevo nicht von ihr verlangen, außerdem war eine schwarze Katze ihr über den Weg gelaufen.

Wieder tauchte das klare Gesicht des jungen Monteurs vor ihr auf. Ach, was. Das war kein Geheimpolizist, sie kannte sich doch aus. Sie würde gehen. Warum denn nicht? Was riskierte sie schon dabei?

Wenn nur die schwarze Katze, das Mistvieh, nicht heute gewesen wäre, und daß sie zuerst mit dem linken Fuß vom Bett aufgestanden war. Kein guter Anfang für die Bekanntschaft mit diesem neuen Kunden, der ihr so sehr gefiel: ordentlich, sauber und keiner von denen, die hinterher schuldig bleiben. Es mußte ihr glücken – toi, toi, toi – und morgen besuchte sie Hellmuth, wenn die Luft wieder sauber war.

 

»Ich habe Angst«, sagte Helga an diesem Nachmittag zu dem Bruder, »durch den Kamin zu fahren. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, steht im Lesebuch.«

»Wenn du Angst hast, mußt du zuhause bleiben«, erwiderte er gelassen und machte sich an einer Kiste mit Lebensmitteln zu schaffen. »Was man verspricht, muß man halten, habe ich immer gehört.«

»Willst du dem Kind etwas mitbringen, Hellmuth?«

»Wie du siehst«, entgegnete er. Er nahm eine amerikanische Dose mit flüssiger Schokolade heraus, steckte sie sich in die Tasche und fragte: »Du kommst also heute nicht mit?«

»Doch, Hellmuth«, sagte Helga gehorsam. »Wenn du mich haben willst.«

Sie setzten sich auf eine der Kisten – ›Milk Powder‹, stand auf der einen, ›Pure Lard‹ und ›Cornedbeef‹, ›Coffee‹ und ›Meat‹ auf einer anderen. 373

»Gute Sachen«, sagte das kleine Mädchen mit träumerischer Stimme. »Wo kommen die bloß her?«

»Ich weiß nicht. Warum fragst du danach?«

»Ach, Hellmuth – nur eben so.« Sie schwiegen, dann fragte Helga wieder: »Kommen sie über das Meer?«

»Vielleicht.«

»Aus Amerika?« wollte sie wissen.

»Wahrscheinlich.«

»Mit Flugzeug oder mit Schiffen?«

»Mit beiden, denke ich mir.«

Die kleine Helga atmete tief. »Amerika ist weit.«

[Sie schwiegen von neuem. Auf Geistersohlen trat die Heilige Mutter Cabrini hinzu und blickte sie mitleidig an.]

Dann sagte Helga: »Haben die Männer die Kisten abgekauft?«

»Welche Männer?«

»Carlo und Kasimir und Stevo – du weißt es ja.«

»Ein Räuber kauft nichts. Er nimmt sich einfach, was er gern haben will.«

Mit dünner Stimme sagte das Mädchen: »Das ist aber Sünde, Hellmuth, und ehrlich währt am längsten, hat unsere Mutter gesagt.«

»Wenn du in Sprichwörtern reden willst, gehe lieber ins Waisenhaus.«

»Ich darf doch nicht, Hellmuth.«

»Nein, du darfst nicht. Aber du möchtest wohl?«

»Ja, Hellmuth.«

Er sah sie verwundert an. »Du bekommst dort alle Tage nur Graupen, wie die Großmutter sie gekocht hat, und das Brot wird dir vorgezählt.«

»Ich esse Graupensuppe sehr gern«, sagte Helga und brach in Tränen aus. »Und trocken Brot macht die Wangen rot, hat unsere Mutter gesagt.«

Der Knabe flüsterte: »Sei doch still. Glaubst du, ich weiß 374 es nicht mehr?« Er legte seinen Arm um die Schwester, die Kinder saßen Wange an Wange in tiefer Verlorenheit da . . .

 

Das Stiefelmädchen war schon ein paarmal die dunkle Straße am Parkrand herauf- und heruntergegangen, als sie hinter sich das leise Geräusch eines schleifenden Fahrrads hörte, das an der Bordkante anhielt. Mit gemachter Gleichgültigkeit blieb sie stehen; der Monteur, seinen Kasten unter dem Arm und das eine Bein noch wie zögernd über der Fahrradstange, rief sie leise und deutlich an.

»Fräulein«, rief er. »Kann ich Sie sprechen? Es muß aber hier auf der Straße sein. Halloh! verstehen Sie?«

»In meinem Quartier ist es auch nicht teurer«, rief sie eben so leise zurück; sie war enttäuscht, daß der junge Mann sich jetzt schon als Geizhals entpuppte, und wandte sich ihm nur ungern und widerstrebend zu.

»Zuerst einmal von der Laterne weg!« sagte der Mann bestimmt. »Dann können wir weiter sehen. Es gibt doch hier Ruinen genug –.«

»Ja, aber der Preis ist der gleiche«, sagte sie ungerührt. Sie ging ihm ein paar Schritte voran und drehte sich plötzlich um. »Nein«, sagte sie. »Gott weiß, was du vorhast –.«

»Er weiß es. Verlaß dich drauf«, sagte er vor sich hin.

Noch immer mißtrauisch fragte sie: »Was bist du eigentlich für ein Kunde?«

»Kein Lustmörder, wenn Sie das denken, Fräulein.« Der Andere lachte so offen heraus, daß Gisela sich beruhigte. »Ich will nur eine Auskunft von Ihnen; natürlich nicht umsonst.«

 

»Wir haben dir auch etwas mitgebracht«, sagte Hellmuth zu Reginald. »Schokolade. Magst du das gern?«

»O, Schokolade!« sagte das Kind. »Danke.« Es nahm die 375 Dose bewundernd in die Hände. »Wie macht man sie denn auf?«

»Hier ist ein Schlüsselchen. Siehst du: so. Ich habe auch einen Löffel bei mir, damit du essen kannst. Wenn du fertig bist, wirfst du die Dose hinaus und wäschst dir deinen Mund.«

»Es ist kein Wasser da.«

»Doch. In der Vase. Ich habe an alles gedacht«, sagte der Knabe zufrieden und sah dem Kleinen wohlwollend zu, wie er zu schlecken begann.

»Ihr müßt aber mitessen«, sagte das Kind. »Es ist unser Abschiedsmahl.«

Sie ließen den Löffel reihum gehen, bis die Dose ausgekratzt war. Dann drehte Hellmuth die Lampe aus und öffnete das Fenster; es gab einen kleinen blechernen Aufschlag genau vor Kurellas Füßen; unter dem Licht einer Hauslaterne leuchtete grell die Inschrift des leeren Döschens auf. Er bückte sich und steckte es rasch in die Tasche seines Monteuranzugs, während Gisela weiterlief.

Gott hatte seine Bühne in drei Etagen gebaut.

 

An dem Eingang einer großen Ruine blieb Gisela endlich stehen. Es war nicht so finster, wie sich Kurella im Stillen erwartet hatte, weil die Mauern von dem Mond, der gerade im Aufgang begriffen zu sein schien, wie mit Kalk übergossen waren. Große Schlagschatten und die Zweige von Sträuchern, die den Frühling schon in den Gliedern hatten, enthüllten das Bild einer geisterhaften, von keinem Menschenfuß mehr gestörten, unterirdischen Landschaft, die sich, als wäre sie aus dem Stoff der weiterziehenden Wolken gemacht, ständig veränderte. Hätte Eurydike ihre Schleppe, deren Säume noch schwer von dem bitteren Wasser der eben durchschrittenen Lethe waren, über die Steine gezogen – man hätte sie nicht von dem silbernen Dunst und dem 376 zitternden Haselstrauch unterschieden, dessen Kätzchen sich bereits lockerten, und der Wärme entgegenstrebten.

»Was willst du?« fragte sie ungeduldig, Körper an Körper mit dem Monteur. »Ich habe nicht lange Zeit.«

Kurella, den kleinen Werkzeugkasten mit beiden Händen umklammernd, atmete tief und sagte: »Ich suche einen Jungen, der hier verschwunden sein muß.«

»Du suchst –« ihre Züge erstarrten plötzlich, sie waren nun wirklich wie die einer Toten, auf deren Antlitz das letzte Geheimnis unwiderruflich versiegelt und stehen geblieben ist. Dann verzerrte sich ihr Mund, und die Dirne, eine fürchterliche Grimasse schneidend, spuckte dem Priester, rasend vor Wut, mitten in das Gesicht. »So einer bist du also, du Schwein«, sagte sie außer sich. »Ich hätte es mir ja denken können. Du streichst schon lange herum.«

Er wischte sich mit dem Ärmel ruhig über die Stirn. »Sie haben mich mißverstanden, Fräulein«, sagte Kurella bestimmt. »Ich komme nicht von einer Behörde. Ich bin kein Angestellter der Kriminalpolizei.«

Sie blickte ihn immer noch voll Verachtung und kaltem Mißtrauen an. »Du elender Lügner – schmutziger Hund – denkst du, ich glaube dir den Monteur und deinen Werkzeugkasten?«

»Das verlange ich auch gar nicht von Ihnen«, sagte Kurella sanft. »Ich habe diesen Monteuranzug wie ein Hase die Schutzfarbe an . . . Ich bin Priester«, sagte er leise und gab sich Gisela preis.

Hätte Kurella gesagt: ich bin Mörder oder Scharfrichter oder dem Irrenhaus gerade frisch entsprungen, so hätte sein unerhörtes Geständnis keine größere Sensation machen können, als es das eben tat. »Allmächtiger Gott!« sagte Gisela mit weit geöffneten Augen und ließ ihre Fäuste langsam an den Hüften heruntersinken. »Ein Pfaffe bist du?« Sie lachte häßlich.»Ein katholischer Pfaffe mit langem Rock 377 und einem Fünfmarkstück unter dem Käppchen? Jetzt wird mir einiges klar. Warum hast du mir nicht gleich gesagt, was du eigentlich von mir willst?« Der Priester, totenbleich aber aufrecht, blickte ihr ohne auszuweichen, ohne Zucken und Zittern fest in die Augen und zwang ihren Blick von sich fort. »So rede doch!« fuhr ihn das Mädchen an und fragte zum zweiten Mal: »Was willst du denn von mir?« Er bewegte die Lippen, sie sagte: »Na na. Ich bin doch auch nur ein Mensch. Alle Menschen sind gleich. Und was der Mensch braucht, das muß er eben haben.« Er schwieg noch immer, sie sagte ratlos – und jetzt zum dritten Mal –: »Was willst du denn von mir?« Diese Frage kam ihr selber verrückt und vollkommen sinnlos vor; daß sie sie trotzdem stellte, geschah [genau wie sie eben die Augen von den seinen abwenden mußte] wie unter einem Zwang.

»Ich suche ein verlorenes Kind«, sagte Kurella endlich, »und Sie sollen mir helfen dabei.«

»Ich?« Langsam geriet sie wieder in Zorn. »Ihr Pfaffen habt doch Jungens genug. Ihr lockt sie bloß in die Sakristei, um euer Mütchen zu kühlen. Nein? Oder nicht? Du machst mich nicht dumm. Sieh mich nur nicht so an!«

»Der verlorene Junge muß Hellmuth heißen und Helga sein Schwesterchen«, fuhr Kurella mit spröder Stimme fort. »Sie sind beide in großer Gefahr.« Er hatte den letzten Satz ohne Absicht und nur auf eine Eingebung hin Gisela in das Gesicht gesagt; nun merkte er, daß es so war.

Das Mädchen stutzte. »Wenn ich dir helfe – was gibst du mir dafür?«

Er öffnete seinen Werkzeugkasten. Der Werkzeugkasten war vollkommen leer, ein größerer Geldschein lag auf dem Boden, darüber ein Rosenkranz. »Hier«, sagte er.

Sie verwahrte den Schein. »Das genügt«, erwiderte sie. »Du kannst dafür sogar auch einmal, wenn du es haben willst.«

Keine Antwort. 378

Sie wurde verlegen. »Ist es wahr, daß ihr – geweiht worden seid?«

»Ja«, sagte Kurella.

»Die Hände. Ich habe einmal gehört: die Hände.« Plötzlich genierte sie sich. »Blödsinn. Warum auch gerade die Hände?«

»Weil wir Gott in den Händen haben.«

»Das bildest du dir doch nur ein.«

Schweigen.

Sie sagte verächtlich: »Gott – Glaubst du tatsächlich daran?«

»Sie glauben ja auch an ihn. Streiten Sie es nicht ab.«

»Ich? Nein. Ich habe zu viel gesehen an Dreck und Gemeinheit, sage ich dir. Bei mir ist es hoffnungslos.«

»Haben Sie Ihn in dem Vorhof gesehen, als Er gegeißelt wurde? Als die Soldaten die Dornenkrone für ihn geflochten haben? Haben Sie es mit angesehen, wie Er das Kreuz trug, und an dem Kreuz zu seinem Vater rief?« Sie schlug die Hände vor das Gesicht, der junge Priester sagte: »Ich verlasse mich ganz auf Sie. Wenn Sie die Kinder gefunden haben, brauchen Sie nur meinen Rosenkranz einem der Fußballspieler zu geben, die täglich hier in die Nähe dieser Ruine kommen. Ich bin dann am gleichen Abend noch an der gleichen Stelle und in der gleichen Monteurkluft mit Fahrrad und Werkzeugkasten. Nichts Schriftliches. Wir wissen Bescheid.« Er steckte der Widerstrebenden den Rosenkranz in die Tasche, sie griff mit einer jähen Bewegung nach seiner Hand und wollte sie küssen und griff dabei ins Leere; die Sträucher zitterten, und ein Schatten, ein Geräusch und eine Empfindung wie ein weißer, körperlos wandernder Wind war schon an ihr vorbei . . .

 

»Gestern sind also, Onkel Kurella, die verzauberten Kinder zum letzten Mal durch den Kamin gekommen«, erzählte 379 der kleine Reginald seinem aufmerksam lauschenden Freund.

Reginald hatte darauf bestanden, mit ihm allein zu sein, und erst geredet, als ihm Kurella das Versprechen gegeben hatte, den Eltern nichts zu erzählen. Nun saß er mit gesammeltem Ausdruck in dem großen Sessel vor dem Kamin und stützte das Kinn auf die kleinen Fäustchen, die er fest umeinander geschlossen hatte, als ob sie ihm dabei helfen sollten, nicht mehr von der Sache auszuplaudern, als er verantworten konnte.

»Wir haben zusammen das Abschiedsmahl aus einem Döschen gegessen. Flüssige Schokolade. Es hat sehr gut geschmeckt.«

»Hast du das leere Döschen noch, Regi?« fragte ihn der Kaplan.

»Das leere Döschen hat Hellmuth zum Fenster hinausgeworfen.«

»Natürlich. Ich dachte es mir. Und du: hast du ihm gar nichts geschenkt?«

»Ich wollte ihm meine Blockflöte geben. Aber er sagte, das darf nicht sein«, erwiderte Reginald. »Ich habe ihm deshalb nur die drei Töne aus ›Lebewohl‹ geschenkt.«

»Woraus?« fragte Kurella verdutzt.

Der kleine Musikersohn sah ihn tadelnd und ein wenig herablassend an. »Aus der Sonate Es-dur von Beethoven«, sagte das Kind. »Meine Mutter nennt sie auch ›Les Adieux‹. Auf deutsch heißt das ›Lebewohl‹.«

Kurella bemühte sich, ernst zu bleiben. »Und wie hast du das gemacht, lieber Regi, ihm diese drei Töne zu schenken?« fragte er vorsichtig weiter.

»Nun – ich habe sie ihm auf der Flöte so lange vorgespielt, bis er sie nachspielen konnte«, sagte der Kleine mit einem Ausdruck, als ob diese Art, etwas herzuschenken, allgemein üblich sei. 380

»Ja, so.« Kurella, nun gleichfalls den Kopf auf beide Hände gestützt, dachte still und angestrengt nach. Endlich sagte er: »Also du möchtest die beiden Kinder entzaubern, und ihnen ihren menschlichen Leib wieder zurückgeben, wie?«

Reginald nickte.

In einer merkwürdig traumhaften Art von Selbstgespräch fuhr Kurella fort: »Wenn sich erst der Junge erinnern würde –. Wenn man ihm diese Erinnerung erst einmal aufschließen könnte –.«

Reginald sagte einfach und nüchtern: »Er wird sich gewiß erinnern, wenn er die Töne hört.«

»Das glaube ich auch.« Kurella erhob sich; ein tollkühner Einfall war ihm gekommen, den er, wenn Gott ihm beistehen würde, auszuführen gedachte. »Willst du mir deine Blockflöte borgen«, fragte er Reginald. »Und erlaubst du mir, ihn mit diesen drei Tönen herbeizulocken, Regi? Wir müssen Verschwörer sein.«

Als Kurella nachher das Haus verließ, hielt er die Flöte an seiner Brust unter dem Mantel verborgen. Das kleine Motiv sprang ununterbrochen wie der silberne Strahl einer warmen Quelle aus seinem Herzen empor.

»Herr Kaplan«, sagte, ganz außer Atem, ein Junge der Fußballmannschaft, der schon eine gute Weile hinter ihm her getrabt war. »Da! Eine Dame hat mir soeben den Rosenkranz für Sie abgegeben. Sie wüßten schon, hat sie zu mir gesagt.«

»Sagte sie sonst noch etwas?«

»Nein. Sonst hat sie nichts gesagt.« Der Mittelstürmer war längst wieder fort- und an seinen Platz in dem Spielfeld gesprungen, als ihm einfiel, daß die betreffende Dame noch gesagt hatte: Hohe Zeit. ›Es wird nicht so wichtig sein‹, dachte Karl Josef. ›Hauptsache, daß der Kaplan seinen Rosenkranz wieder hat. So was verliert man nicht gern.‹

Diesen Rosenkranz, der noch feucht von der Wärme der 381 festen Bubenfaust war, hielt Kurella in seiner Hand. Eine Botschaft, die keine Verzögerung und erst recht keine Absage gelten ließ, ging von der Kette aus. Sie schien ihn zu ziehen –. Nein. Heute nicht. Er hätte sonst heute den Herrn Rendanten versetzen müssen, der wieder einmal mit seiner Rechnungsvorlage kam, und ihn dringend zu sprechen wünschte.

Aber die Kette. Sie zog und zog. Sie schnitt ihm in das Fleisch.

Da war ja dieser Karl Josef schon wieder. »Ich habe etwas vergessen«, schnaufte er schuldbewußt. »Sie hat noch gesagt: Hohe Zeit.« Weg war er. »Ich ahnte es doch«, sagte Kurella laut.

Gisela traf den Knaben Hellmuth bei dem Abschluß seiner Statistik an; er zog gerade mit Tintenstift eine saubere, waagrechte Linie unter die Warenbestände. »Fertig«, sagte er dann befriedigt. »Nun könnte Stevo kommen.«

Sie lehnte sich über den Tisch und meinte: »Ich glaube, das wird er auch. Es ist besser, ihr türmt beizeiten und laßt euch nicht schnappen, wenn die Polente im Keller Razzia macht. Ich habe so ein Gefühl.«

Der Knabe packte sie am Arm. »Was für ein Gefühl?«

»Nun – daß die Polente etwas gehört, und uns Einer verpfiffen hat«, sagte das Mädchen ruhig. »So etwas kommt immer vor.«

»Weiß Stevo davon?« fragte Hellmuth und ließ Gisela plötzlich los.

»Woher soll Stevo das wissen? Stevo ist doch verreist.«

»Aber wenn er gerade zurückkommen würde?«

»Dann fliegt er eben herein.« Sie wartete eine Weile die Wirkung ihrer wohl überlegten Worte auf den zitternden Knaben ab. »Solche Sachen machen die Alliierten mit der Schutzpolizei zusammen. Sie umstellen den ganzen Wohnblock und durchsuchen dann Haus für Haus.« 382

»Vernehmen sie auch die Leute, die in den Häusern wohnen?«

»Möglich«, sagte sie uninteressiert. Seine Frage schien ihr im Augenblick nicht ganz dazuzugehören.

»Auch die Kinder?«

»Du bist verrückt. Was soll denn ein Kind von dem Keller wissen?« fragte sie ärgerlich.

Hellmuth blieb mit gesenktem Kopf in tiefem Nachdenken stehen und biß auf die Unterlippe. »Man müßte ihn warnen«, sagte er endlich, »sobald er sich sehen läßt.«

»Das ist klar. Ich gehe noch einmal fort und höre bei meinen Kolleginnen am Görlitzer Bahnhof herum.« [Was sie sagte, war Lüge und blanker Unsinn, aber Hellmuth merkte es nicht.] »Warte hier, bis ich wieder zurück bin. Ich gebe dir Bescheid.«

Sie hatte wohl kaum eine halbe Stunde den Warenkeller verlassen, um an der großen Ruine mit Kurella zusammenzutreffen, als Stevo, ebenso unerwartet, wie gut gelaunt, erschien. »Heda!« sagte er laut und lustig und knöpfte den Pelzmantel auf. »Hat dir Gisela nichts gesagt?« Er war zufrieden, seine Geschäfte vorteilhafter und schneller, als er gehofft hatte, abgewickelt und die Reise beendigt zu haben; er strahlte von Großmut, Prahlsucht und Generosität. »Warum seht ihr mich denn so verdattert an?« fragte er, immer noch eingenommen von seiner Herrlichkeit. »Ist euch der Weizen verhagelt? Ist ein Akkumulator kaputt gegangen, weil es so dunkel hier ist?« Er knipste sämtliche Lampen an und pfiff dabei vor sich hin. »Morgen wollen wir feiern, Kinder, heute abend bin ich sogar zu müde, den Koffer auszupacken, und haue mich in mein Bett.« Wie ein mächtiges, aufrecht gehendes Raubtier torkelte er nach hinten; den Pelzkragen hochgestellt.

Mit zwei Sätzen war Hellmuth neben ihm. »Herr Stevo – der Keller wird überwacht. Fräulein Gisela hat es gesagt.« 383

Der Schieber sah ihn mißtrauisch an und blinzelte gegen das Licht. »Sie sagt, sie hat es so im Gefühl«, fügte der Knabe hinzu.

Herr Stevo lachte erleichtert auf. »Richtig. Der Keller wird überwacht. Aber von uns, mein Sohn. Geh schlafen. Davon verstehst du noch nichts.« Er klopfte sich grinsend gegen die Schläfe. »Du bist noch zu dumm dazu.«

Als hätte ihn sein Abgott geohrfeigt, preßte Hellmuth den Mund zusammen und wurde scharlachrot. »Dann ist es ja gut, Herr Stevo«, sagte der Knabe trotzig, drehte sich auf dem Absatz herum und lief seinem Herrn davon.

Der Andere sah ihm wohlgefällig und immer noch lachend nach. »Er gefällt mir«, sagte er wie am Anfang, als er ihn kennenlernte. Schlaftrunken, murmelte er: »Wahrhaftig, er gefällt mir wirklich sehr gut.« Wie ein Baum, den der Blitz gefällt hat, fiel Stevo auf einen Haufen Säcke und schlief auf der Stelle ein. Er war fast ununterbrochen mit der Bahn unterwegs gewesen und schlief nun seit dreißig Stunden wieder zum ersten Mal.

Er schlief zuerst traumlos. Dann träumte er. Er träumte, daß er mit Hellmuth an einem offenen Feuer auf der Gebirgsalm unter den Hörnern des Großen Triglav säße, und daß Hirten mit Schafpelzen und Kapuzen und wimmernden Dudelsackpfeifen eine Musik vollführten, deren eigentümliche Eindringlichkeit im Widerspruch zu der Armut ihrer kurzen Tonfolge stand. Das Gesicht des Knaben war ernst und gesammelt. Obwohl das Feuer mit seinem Flackern es ständig überspielte, blieb es unberührt von dem Wechsel des Lichts, leblos und kalt wie ein weißer Kiesel, der auf dem Grund eines Bachbettes liegt, dessen Wasser in kleinen, hüpfenden Wirbeln über die Steine ziehen. Manchmal stand einer der Hirten auf und rückte näher an Stevo heran mit seinem Instrument. Dann wurde die Musik wieder lauter, die schon leiser gewesen war. Das Feuer, 384 von dürren Kiefernzweigen und Nadeln angefacht, sprang in die Höhe, fauchte und heulte und vermischte sein Geräusch mit dem Wimmern der großen Dudelsäcke. Schließlich wurde der Schlaf des Träumers von neuem so tief, daß die Bilder und Töne durch ihr Eigengewicht versanken . . .

Auch Hellmuth, aber mit offenen Augen, hörte die Melodie. Gisela war nicht zurückgekehrt, er saß nun schon eine ganze Weile auf einer der Kisten, ratlos und fiebernd, und lauschte mit zerrissenem Herzen der Warnung, die nach ihm rief. Sie rief nach ihm. Es war eine Warnung, die da unablässig durch den erst kürzlich verstärkten Schallkontakt kam, und er wußte auch, daß sie ihn rief. Er hätte darüber erstaunt sein müssen, er hätte sich über die Herkunft der Töne – wer sie hervorbrachte, was sie bezweckten – Rechenschaft geben müssen; aber er konnte es nicht. Was Wirklichkeit war und was Phantasie, wußte er jetzt nicht mehr. Genauer gesagt: es war ihm unmöglich, es jetzt noch zu unterscheiden, ebenso wenig, wie er noch Unrecht und Recht unterscheiden konnte, Gut und Böse, Leben und Tod. Seit er die brennende Eisenbahnhütte mit seiner Schwester verlassen hatte, war er sich selber gleichsam entwendet und sah sich wie einem Fremden zu, dessen Schicksal man aus der Ferne neugierig miterlebt. Er sah noch einmal den Zug der Bilder, der ihn bis hierhin begleitet hatte; er sah ihn, als ob eine Hand erst langsam, dann immer rascher und rascher ein Kaleidoskop bewegte, in dessen Trommel sich einzelne Teilchen, scharf unterschieden, befanden. Eben noch konnte man sagen: Blau; dann: Gelb; dann hatten sich beide vermischt und waren zu Grün geworden; auch ihre Formen: Rechteck und Stäbchen oder Ellipsen, Hyperbeln und Parallelogramme erhoben sich wie kreisende Wirbel farbiger Feuerfunken und waren nur noch pure Bewegung – flimmernder, fliehender Staub.

Noch einmal sah Hellmuth, wie er und die Schwester von 385 dem Kanalrohr heruntersprangen, und wie der Warenkeller sich auftat als ein Märchen aus ›Tausend und Einer Nacht‹, eine Zauberhöhle, ein Schatzgewölbe mit Kisten und Edelsteinen; dann war es nicht mehr der Warenkeller, sondern sie fuhren durch den Kamin und kamen in Reginalds Reich; sie spielten mit seinem Puppentheater, der venezianische Lüster strahlte, auf den glasierten, grünblauen Kacheln sprangen Hirsche, Jäger und Hund. Die schöne Prinzessin floh vor dem Soldaten; sie blickte ihn auf der Fotografie lockend und liebevoll an; das Schattenkreuz des geheimnisvoll rettenden Holzgerüstes zeichnete sich vor dem Fenster auf dem seidenen Vorhang ab. In dem Keller saßen er und die Schwester auf Kisten mit unverständlicher Inschrift und legten einsam und ganz verloren die Wangen gegeneinander; ein Blechdöschen schlug mit deutlichem Klirren an der nächtlichen Straße auf, und Helga sagte, der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht. Reginald zeigte ihm seine Flöte und lehrte ihn die zwei steigenden Töne und den dritten, welcher auf gleicher Höhe verharrte, ihm nachzuspielen; die Töne: Lebewohl. Sein kleiner Bruder. Er hatte sich immer einen kleinen Bruder gewünscht. Er hätte ihn doch nicht veranlassen sollen, dachte Hellmuth, ihn bei seinem Leben – ja, sagte er wirklich: bei seinem Leben? – versichern und schwören zu lassen, nichts weiter zu erzählen, selbst seiner Mutter nicht. Wenn nun wirklich, wie Gisela meinte, der Wohnblock abgeriegelt und Reginald ausgefragt würde? Wenn er sich ängstigte, wenn er weinte, wenn er glaubte, schweigen zu müssen!

Immer wieder rief ihm die Flöte zu – dem Knaben in dem Berg. Hellmuth erhob sich und ging in den Flur; die Pfeile schienen sich alle mit einem Mal umzudrehen und zeigten den Ausgang an. Vor der Öffnung des Kanalrohres – dort, wo die Leiter zur Erde führte – lag die riesige Dogge Senta 386 und fixierte ihn aufmerksam. »Fort, Senta!« sagte der Knabe leise; sie erhob sich und gähnte, er faßte das Tier vorsichtig an dem Halsband, schob es mit klopfendem Herzen zur Seite und stieg die Leiter empor.

Draußen war es finstere Nacht, und das Flötenspiel war verstummt. Ruinen, hochgeschossenes Unkraut, dem die Kälte nichts hatte anhaben können, weil seine Stengel nur dürre Ruten und vollkommen blattlos waren, entlaubte Sträucher, zerbrochene Firste, Schuttberge, Bombenlöcher und Ziegel und die Kanalrohre, deren eines ein phosphoreszierendes Licht entließ, das halb verdeckt war von Ginsterruten und nicht heller als der Pupillenring einer uralten mächtigen Kröte, breiteten sich hier aus . . .

Der Knabe blieb stehen. Er mußte geträumt und sich das Flötenspiel eingebildet oder es aus der Erinnerung heraufbeschworen haben. Nein! Plötzlich fühlte er, daß noch ein Zweiter in seiner Nähe war; daß Jemand atmete und zugleich den Atem zügelte; daß der Luft ein anderes Element, eine menschliche Wärme, beigemischt war; daß Jemand bemüht war, ihn nicht zu erschrecken, und ihn gleichzeitig anzurufen.

»Hellmuth!« rief eine männliche, ihm unbekannte Stimme mit leicht belegtem Klang. Ein junger Mann war hinzugetreten und faßte Hellmuth an. »Erschrick nicht! Ich komme von Reginald und muß dich etwas fragen. Erinnerst du dich an ihn?«

Der Knabe, halb gelähmt vor Entsetzen, blieb angewurzelt stehen. Er bemerkte jetzt, da seine Augen sich an die umgebende Dunkelheit gewöhnt hatten, daß ein Mensch vor ihm stand, der ihm nicht unbekannt war; den er einmal vor ewigen Zeiten getroffen haben mußte (er wußte aber nicht, wo und in welchem Zusammenhang) und der ihn nun gleichfalls wiedererkannte – ebenso sprachlos wie er.

»Du bist doch der oberschlesische Junge, der mir einmal 387 bei der Messe gedient und mir dabei das Lavabo-Kännchen über den Ärmel gegossen hat?« sagte er starr vor Staunen. »Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin der Flüchtlingskaplan Kurella –«, fügte er noch hinzu. »Komm mit mir! Eile dich, hole auch Helga!«

»Ich darf nicht«, sagte das Kind.

»Wer hindert dich?«

»Niemand. Stevo. Ich habe ihm Treue gelobt«, sagte Hellmuth, als ob seine Zunge ihm immer noch nicht gehorchte – schwerfällig wie in Trance.

»Wem«, fragte Kurella behutsam, »hast du Treue gelobt?«

»Herrn Stevo«, sagte der Knabe wieder, als spräche er im Traum. »Du bist mein Junge, hat er gesagt. Ich soll sein Junge sein.«

»Was heißt das, du sollst sein Junge sein?« fragte Kurella vorsichtig weiter; er wollte Zeit gewinnen und fühlte: wenn er diesen Stevo vor dem Knaben herabsetzen würde, wäre das Spiel vorbei; ach, dieses gefährliche, lautlose Spiel um ein verlaufenes Lamm.

»Er nimmt mich nach Jugoslawien mit. Dort soll ich sein Junge sein«, wiederholte das arme Kind.

»Auch deine Schwester?«

»Nein, Helga nicht. Sie geht in das Waisenhaus. Sie geht sehr gerne –«, sagte er plötzlich mit tränenerstickter Stimme und senkte den Kopf auf die Brust.

Kurella hob die gefalteten Hände und preßte sie gegen das Herz des Knaben, das immer noch hämmerte. »Reginald läßt dir sagen, du möchtest mit mir kommen. Reginald hat dich lieb.«

Schweigen . . .

»Ja«, sagte Kurella, »ich kann dich natürlich nicht zwingen, wenn du durchaus nicht willst. Niemand kann einen Menschen zwingen zu etwas, was er nicht will. Ich bin kein Polizist und kein Richter, kein Beamter, kein Colonel. Ich 388 will dich nicht zwingen und nicht verraten –« [Was sage ich? Was verspreche ich da? dachte Kurella entsetzt. Ich muß ihn verhindern, zurückzukehren. Jetzt! Auf der Stelle! Ich muß mit Gewalt –. Trotz der Kälte war ihm am ganzen Körper plötzlich der Schweiß ausgebrochen; er zitterte; er versuchte, an seinen Heiland zu denken, an den Bischof, dem er Gehorsam versprochen, an den Pfarrer, dessen Erfahrung gegen ihn Recht behalten, und ihn verurteilt hatte.] »Willst du wenigstens nicht vor der Abfahrt noch einmal zu mir kommen?« fragte Kurella sanft.

»Nein«, sagte Hellmuth. Schon abgekehrt, sagte er fast unhörbar: »Ich danke Ihnen auch.«

[Ich müßte ihn festhalten,. Gott, mein Gott! Ich müßte ihm mit der Blockflöte plötzlich gegen die Kinnspitze schlagen!]

»Lebe wohl, mein Junge«, sagte er laut. »Behüte dich Gott – – und vergiß nicht die liebe Muttergottes von dem schlesischen Annaberg. Du erinnerst dich doch an sie?«

»Ja«, sagte Hellmuth. »Wir haben zuhause ein Bild von ihr gehabt. Jeden Samstag hat meine Mutter das Ewige Lämpchen gefüllt.« In dem nächsten Augenblick war er verschwunden, als ob die Erde ihn eingeschluckt hätte: gnadelos, ohne Laut . . .

 

Die beiden Arbeiter in der Destille an der Ecke der Siedelung wurden mit Fragen bestürmt. Es war Mittagspause, die Stehbierhalle war heftig überfüllt. Weil die Beiden, ein ruhiger, älterer Mann und ein jüngerer, welchem der Fanatismus seiner Partei in den Mundwinkeln saß, es müde waren, immer das Gleiche von neuem zu wiederholen, überließen sie schließlich dem Publikum, das eigentlich keine Tatsachen hören, sondern sich nur an dem Schrecken berauschen und von Vermutungen nähren wollte, die seinem Gehirn bekömmlicher waren als zuverlässige Speise – 389 überließen sie also den Schwätzern das Feld und zogen sich zurück.

Hinter dem Ausschank gab es ein sauberes, kleines Zimmer, das für solche, die etwas Warmes essen oder abends ihren Skat spielen wollten, von den Wirtsleuten reserviert war; Ein schwerer Plüschvorhang schloß es gegen den Ausschank ab und ließ das aufgeregte Gesumse der Stehbierkunden nur noch von ferne an das Ohr der zwei Männer dringen. Der Ältere blies den Schaum von der Molle oder von dem, was man heute noch aus alter Gewohnheit so nannte, und nahm einen tiefen Schluck; der Jüngere knipste unruhig mit den Fingernägeln gegen sein Glas, baute aus Bieruntersätzen ein Zelt und ratschte endlich, obwohl er nicht rauchte, das letzte, kostbare Streichholz an, das der Behälter enthielt. »Tja«, sagte der ältere Mann bedächtig, »da steht man nun als Polier auf dem Bau und sieht jeden Tag von oben herunter, ohne etwas zu ahnen.«

»Bis in den Keller kannst du nicht sehen«, sagte der Jüngere. Er pustete, ein wenig zu spät, das brennende Streichholz aus und hatte sich aus Unachtsamkeit bereits die Finger verbrannt.

»Ich merkte eigentlich erst recht, was los war«, fuhr der Alte in seiner Betrachtung fort, »als der heulende Militärwagen ankam, und die Briten, mit schweren Pistolen bewaffnet, von dem Trittbrett heruntersprangen.«

»Ja – die Verbrecher haben aus dem Keller zurückgeschossen. Es war fast ganz wie in früheren Zeiten bei der Eroberung«, sagte sein Kamerad. »Weißt du eigentlich mit Bestimmtheit, ob es außer dem kleinen Mädchen noch Tote gegeben hat? Die Leute quatschen so viel.«

Der Andere nahm einen Schluck und wischte sich den Mund. »Außer dem kleinen Mädchen ist mir nichts vor Augen gekommen. Aber weißt du: da hätte ich besser erst garnicht hingesehen.« 390

»Sie sollen doch gleich eine Plane darübergeworfen haben?«

»Ja, als sie oben waren.«

»Die Polizei kommt halt immer zu spät«, sagte der Jüngere. »Sie kommt nur zurecht, um die Arbeiter mit dem Gummiknüppel zu jagen.«

»Ja, ja.«

»Ob das der Bobby ist oder der Flic oder der Tommy –«

»Ja, ja.«

»Hast du auch die Verbrecher gesehen, und wie man sie abgeführt hat? Der Schwarze schien verwundet zu sein. Auch die zwei Anderen hatten genug und hielten die Hände hoch. Klick, klack, die Handschellen an und ins Auto. Das ging ja wie geschmiert.«

»Ich möchte nur wissen, warum sie das Mädchen zuletzt noch umgebracht haben«, fragte der alte Polier.

»Es soll doch auch noch ein Junge getötet worden sein?«

»Das stimmt nicht. Der Junge, der ist gerettet. Er war nur ohnmächtig. Kunststück, wenn man sowas gesehen hat.«

»Was denn gesehen?«

»Na, wie der Schwarze seine Schwester umgebracht hat«, erwiderte der Polier. »Die beiden müssen im Keller gefangen gewesen sein. Eine Nutte soll heute in aller Früh die Schupo benachrichtigt haben.«

»So, so. Davon weiß ich nichts.«

»Ich weiß ja auch nichts als das, was die Leute sich so zusammenreden«, sagte der ältere Mann. »Aber das Mädchen –«

»Laß jetzt das Mädchen! Du hilfst ihm doch nicht mehr.«

»Na, denn Prost.«

»Prost«, sagte der Jüngere und trank seine Molle aus. »Ist der Wohnblock noch immer abgesperrt?« fragte er den Polier.

»Nein. Aber es gehen beständig Patrouillen auf und ab. 391 Es müssen unvorstellbare Mengen von Lebensmitteln in diesem Keller sichergestellt worden sein.«

»Hauptsache, sie sind sichergestellt«, sagte der jüngere Mann. »Wir werden nichts davon sehen.«

»Ja, ja.«

»Das verteilen die untereinander – die Beamten vom Wirtschaftsamt.«

»Ja, ja.«

»Hinterher heißt es natürlich: Die Wohlfahrt. Alles nur Schwindel.«

»Ja, ja.«

Die Mittagspause war bald zu Ende, der Ältere hatte inzwischen noch eine Zigarette aus der Hosentasche gekramt.

»Rauchen wir Kippe?«

»Danke.«

Der Polier brach die Zigarette entzwei und zündete sie an.

»Was war denn da eigentlich unter den Jonnies für ein komischer Zivilist?« fragte sein Kamerad.

»Das weiß ich auch nicht«, brummte der Alte. »Er sah wie ein Pastor aus.«

»Warte mal«, sagte der Andere plötzlich. »Ich glaube, jetzt weiß ich es. Das muß doch dieser verrückte Kerl, dieser Kurella gewesen sein, der in dem roten Charlottenburg alle Viertel unsicher macht.«

»Unsicher?«

»Ja, mit dem Debattierklub, den er erfunden hat.«

»Das ist wohl etwas Politisches, wie?« fragte der alte Mann.

»Ich glaube eher, das geht von den Amis oder der Heilsarmee aus.«

»Ist mir egal. Ist mir alles egal«, sagte der alte Mann. Er seufzte und schüttelte wieder den Kopf. »Da steht man nun als Polier auf dem Bau und sieht von oben herunter, als wär' man der liebe Gott.« 392

»Der hat auch nicht bis in den Keller gesehen«, meinte der Andere.

»Das ist noch nicht ausgemacht«, sagte der alte Mann.

 

Der Pfarrer saß auf der eisernen Kante des Kaplansbetts und hielt das gelähmte Bein der Länge nach fortgestreckt. Der Knabe Hellmuth schlief tief und fest zum ersten Mal seit Tagen. Er schlief auf diesem Eisenbett hier den Schlaf des tödlich Erschöpften, aber zugleich den Schlaf der Genesung, wie der Arzt dem Kaplan versichert hatte; er schlief mit blasenden Atemzügen, während Jener sich kaum noch aufrecht hielt, sondern bei jedem Schritt, den er machte, schwankte und stolperte. Trotzdem bestand Kurella darauf, in dem Zimmer auf und nieder zu gehen – ebenso eigensinnig, wie er vor Tagen darauf bestanden hatte, daß der gerettete Knabe in seinem Kaplansbett schlief, und er selber auf seinem Sofa; einem ächzenden, steifen, uralten Ding, das viel zu kurz und zu schmal war, und das abends durch zwei ebenso alte, ebenso harte Fauteuils verbreitert werden mußte.

»Ihr Hin- und Herlaufen macht mich verrückt«, sagte der Pfarrer leise. »Können Sie sich nicht endlich setzen und Ihre Schuhsohlen schonen?«

Kurella gehorchte und ließ sich seufzend in einen der Sessel fallen; das alte Möbel schien übelzunehmen, daß man es noch gebrauchte, und ächzte jammervoll. Kurella, die gefalteten Hände zwischen die Kniee pressend, versuchte ruhig zu werden; er schloß die Augen, atmete tief und legte den Kopf nach hinten. Immer noch zuckte bald seine linke, bald seine rechte Backe, und auf dem abgetretenen Teppich schoben sich abwechselnd seine Füße bald vor und bald wieder zurück.

Der Pfarrer sah eine Weile diesen Fluchtbewegungen zu. Dann sagte er: »Stehen Sie schon in Gottesnamen auf.« 393

Wieder gehorchte Kurella ohne ein Wort der Entgegnung und fing von neuem zu wandern an, fünf Schritte hin und her. Er trug Pantoffeln; ihr Schlurfen und Schlappen brachte den Alten fast zur Verzweiflung, ohne daß beide es ahnten – Kurella am wenigsten. Endlich sagte der junge Kaplan: »Sie haben recht behalten. Hätte ich so gehandelt, wie Sie mir geraten haben, dann wäre auch das Mädchen gerettet. –«

Der Pfarrer richtete sich empor und stieß einen Laut aus, der beides: Bestätigung oder Abwehr oder gar nichts bedeuten konnte.

Gepeinigt fuhr sein Konfrater fort: »Es wäre alles ganz anders gekommen.«

»So?« fragte der Andere rasch. »Woher, mein lieber Kurella, nehmen Sie eigentlich die Gewißheit, daß es anders gekommen wäre?«

Ohne hinzuhören, fuhr der Kaplan in seiner Anklage fort: »Ich habe es unterlassen, zu handeln. Ich habe sehenden Auges dem Satan diese Kleine in den Rachen geworfen, weil ich die Freiheit des Knaben nicht vergewaltigen wollte.«

»Sie meinen also im Ernst, Herr Konfrater, daß Ihre Unterlassung zu handeln dem Teufel die Freiheit gegeben habe, die Sie, weil Gott uns zur Freiheit bestimmt hat, dem Knaben nicht nehmen wollten? Verstehe ich Sie recht?«

Kurella blickte ihn hilflos an, der Andere sagte: »Nur weiter in Ihrem Plaidoyer!«

»Ich verteidige mich doch garnicht«, sagte Kurella entsetzt.

»Ganz richtig. Sie verteidigen – Gott, dem durch die Freiheit seiner Geschöpfe die Hände gebunden sind. Ihn, dem die Geschöpfe gleichsam zu Hilfe kommen müssen, damit sein Wille geschieht. Ihn, der kein Deus ex machina, ebenso wenig wie Luzifer ein Marionettenteufel oder ein oberbayrischer Krampus aus Zwetschgen und Krachmandeln ist.« 394

Er schwieg und legte sein kluges Gesicht nachdenklich in die Hand. »Wir haben ja nun wahrhaftig genug hinter den Vorhang gesehen – Sie, Herr Kaplan, und ich. Wir konnten uns das Meiste erklären, den Rest zusammenreimen. Und trotzdem bleibt Gott am Ende ein unerklärlicher Gott. Am unerklärlichsten da, wo er liebt; nicht, wo er Gerechtigkeit übt.«

»Muß deshalb«, fragte Kurella erstickt, »gerade die Unschuld leiden?«

»Ja, denn, wo Gottes Liebesblick hinfällt, zeichnet er auch ein Kreuz. Zwei Balken, Liebe und Freiheit, der Schnittpunkt bleibt Gottes Geheimnis bis an das Ende der Welt.«

»Und bis dahin –?« fragte Kurella und sah den Pfarrer flehentlich an.

»Bis dahin ist Gott zum Scheitern verurteilt, wenn man so sagen darf, und wer ihn liebt, ist es auch. Zu scheitern ist eigentlich, lieber Kurella, das Zeichen der Auserwählung. Wußten Sie das nicht?«

»Dann legten wir besser«, sagte Kurella, »die Hände in den Schoß.«

»Im Gegenteil. Dieses verzweifelte Wissen und trotzdem Handeln, als hinge davon die ewige Seligkeit ab, überwindet den Nihilismus des Teufels und drängt ihn aus dem Feld. Vielleicht, wenn Sie älter werden, Kurella, begreifen Sie, daß für den Christen die Frage nach Handeln oder Nichthandeln ein und dasselbe ist. Der Christ steht auf der Nabe der Welt – wenn er gehandelt hat, hat er geschwiegen, und wenn er schweigt, hebt er, ohne zu ahnen, die Angeln der Schöpfung aus.«

Kurella flüsterte: »Aber wer sind wir, die immer das Gegenteil dessen vollbringen, was sie geglaubt haben, zu bewirken – und was sie erst in einem scheiternden Auftrag wirklich vollendet haben?«

»Mitspieler Gottes. Genügt das nicht?« 395

»Mitspieler oder Puppen?« fragte Kurella rasch.

»Beides. Je williger wir uns den Händen des Puppenspielers fügen, desto rascher gewinnen wir auch die Freiheit der Kinder Gottes zurück. Freiheit, Kurella! Der freie Gott, wie ihn die deutschen Mystiker nannten, sehnt sich darnach, diese Freiheit mit seinen Ebenbildern zu teilen, und stößt immer wieder die Türen des Lebens in das Ungewisse, das Offene auf; in den schrecklichen Zwiespalt der Möglichkeiten; nach dem Ungesicherten hin, nach dem Abgrund, dem saugenden Schwindel, der lockenden Leere, der Hybris und dem Nichts. Sagt nicht die Schrift, daß es schrecklich sei, in seine Hände zu fallen? Und wiederum: stirbt nicht sein einziger Sohn in diese Hände hinüber?« sagte der Pfarrer leise.

Nach einer langen Weile des Schweigens hob er ruckhaft das diktatorische Kinn und fragte mit einer Kopfbewegung gegen das Eisenbett: »Was soll aus dem Jungen werden, Kurella, wenn er wieder in Ordnung ist?«

»Ich will ihn zunächst zu dem Oheim nach Anastasiendorf bringen, damit er sich erholt. Wie ich hörte, richtet der rote Pachulke dort eine Schmiede ein. Hat er Lust, kann er Schmiedegeselle werden, der Alte schafft es nicht mehr.«

»Ist nicht ein Sohn des alten Pachulke aus Rußland zurückgekommen?«

»Ja. Der dessen Ehe kinderlos ist«, sagte Kurella schnell. »Seit einer schweren Operation hat die Frau keine Aussicht mehr, Mutter zu werden«, fügte er noch hinzu.

Der Pfarrer blickte ihn zärtlich an und schüttelte den Kopf. »Ich sehe, es läßt Ihnen keine Ruhe, wieder mitzuspielen«, sagte er seufzend, »Sie großes, törichtes Kind.« Kurella wollte etwas erwidern, der Pfarrer hob die Hand. »Ja«, sagte er. »Es ist schwer zu begreifen: der Weg der Heiligkeit, Herr Konfrater, ist eine Sackgasse, die sich erst auftut, 396 wenn man glaubt, am Ende zu sein. Manche drehen schon vorher um und schlagen einen anderen Weg ein, der ihnen vernünftiger vorkommt und ohne Risiko ist. Ich glaube, zu dieser zweiten Sorte gehören Sie schon aus Eigensinn nicht, mein lieber Herr Kaplan.«

Lachend, humpelte er hinaus und zog mit unerwarteter Rücksicht die Zimmertür hinter sich zu.

 


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