Elisabeth Langgässer
Märkische Argonautenfahrt
Elisabeth Langgässer

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Der Balkon lief an beiden Zimmern vorüber, in denen Ewald und Lotte schliefen. Die Zugangstüren zu dem Balkon standen wie immer weit offen, der schwere Vorhang an Lottes Tür war in den Ringen zusammengeschoben und hing unbewegt von den Atemzügen eines fernher dringenden Windes unendlich verlassen herab – in Falten, welche mit Schatten gefüllt und wie von den Hüften Eurydikes heruntergeflossen waren. Das Dach des Landhauses, eingeschlagen von zahlreichen Geschossen, hatte früher schon unter dem eisernen Regen zerplatzender Flakgranaten gelegen und bot nun an verschiedenen Stellen den nackten Schattenriß des Gebälks dem offenen Himmel dar; hätte die riesige Unterweltsgöttin, an deren Hüften der Vorhang hinabfloß, sich mit Brust, Hals, Schultern und Nacken durch die Zerstörung ins Freie geschoben und das Haupt nach der Seeseite hingewendet, nach dem schmalen, stählernen Wasserstreifen, der zwischen den Kiefern blitzte, so würde der Mann in dem Motorboot, welches jetzt knatternd und puffend wie wild darüber jagte, den Eindruck gehabt haben, daß dieses Hauses lastentragende Karyatide um Mitternacht freigeworden, das versunkene Antlitz emporgerichtet und den Rücken entbürdet habe. Aber daran dachte wohl der Soldat aus Indianopolis nicht. Die Wasserstreife war kaum vorüber, und das Geräusch des Bootes so leise und undeutlich geworden, daß es mehr einem dumpfen lemurischen Murmeln als einem Motor gleichkam, der sich mit kurzem, wütenden Kläffen immer weiter und weiter entfernte – als der Mond, von barocken Wolken umrahmt, an dem westlichen Himmel kulminierte und seinen tragisch verzaubernden Schein über das ganz verwahrloste Landhaus und die Gemüsebeete des Gartens, die 14 Bohnenstangen, die Erbsenreiser und die aufgebundenen jungen Tomaten, die Kiefernwipfel weiter zurück und die große, weiblich sanfte Gestalt einer einzelnen Birke warf . . . Dieser volle, unverminderte Glanz, der plötzlich hervortrat, fiel ebenso auf die Gestalt von Ewald Hauteville, der auf dem Balkon an dem Pfosten der offenen Zimmertür lehnte und den Kopf, als ob er den nächtlichen Himmel nach einem Sternbild absuchen wollte, zurückgebogen hatte. Er war im Schlafanzug, über den er seine Trainingshose gezogen hatte, ein altes verwaschenes Kleidungsstück, das reichlich mit Flicken besetzt und mit Ölspuren, Harzflecken, kleinen Kletten und Spritzern übersät war und einen seltsamen Gegensatz zu der Jacke aus Rohseide bildete, die über der Brust weit offen stand, der Brust eines prächtig gedrungenen Pans mit dunkelbehaarter Haut. Sein Gesicht lag im Schatten; so vollkommen Gott den Körper gebildet hatte, so war er mit dem Haupt dieses Körpers noch lange nicht fertig geworden und hatte es schließlich ungeduldig wie einen mißratenen Klumpen Lehm auf den Torso zurückgeworfen. Das bedeutete, daß Hautevilles Gesicht auf dem Weg der Menschwerdung stehengeblieben, aber schon jetzt so deutlich gezeichnet von der Berührung der Fingerspitzen seiner bildenden Gottheit war, daß man die Werdelust der Materie und ihre Sehnsucht, dem Wunsch ihres Schöpfers wenigstens annähernd nahezukommen, mit der Vollendung verwechseln konnte, die es später erst haben sollte. Es stand genau in der Mitte zwischen Verzweiflung und Hoffnung, und als jetzt Ewald Hauteville aus dem Schatten heraustrat und an das Licht kam – er suchte nämlich nach seiner Pfeife, die er am Abend vorher auf der Balkonbrüstung zwischen den Kästen der bitterriechenden kleinen Kalliopsis und den ausdruckslosen Begonien liegengelassen hatte –, erinnerte er den Mann im Mond an einen 15 Jüngling mit roter Weste, der auf geheimnisvoll zarte Weise dem armen Alten noch heute ganz gegenwärtig war, obwohl seit dem Augenblick seiner Entstehung über ein halbes Jahrhundert und mehr verflossen war.

Die kurze, braune Pfeife lag wirklich noch auf der Brüstung, auch der Tabaksbeutel, das Feuerzeug und ein geglättetes Stückchen Holz, mit welchem Hauteville zu stopfen pflegte – doch wie alle Dinge, die man vergessen und sich selbst überlassen hatte, machte der Krimskrams den Eindruck, als sei er soeben von einem Ausflug ins Eigenleben wiedergekommen; in eine Art von Gespensterfreiheit, sich selber zu stopfen und anzuzünden und nutzlos zu verglühen. Der Mann mit dem Panskörper und dem Kopf des Jünglings von Cézanne ließ sich auf einen Eisenstuhl nieder und begann, seine Pfeife in Brand zu setzen, rauchte gedankenlos, sah nach dem Himmel und versuchte, sich an den Traum zu erinnern, dem er eben entronnen war. Er fand ihn nicht wieder; ebensowenig, wie man die Fähigkeit, Seil zu tanzen, die man spielend im Traum beherrscht hat, beim Aufwachen wiederfindet. Gespensterfreiheit, dachte Hauteville und wußte plötzlich, daß dieses Wort [von seiner schläfrig wachen Empfindung den Dingen gegenüber soeben angewendet] der Inhalt, vielmehr die Form und der Inhalt seines Traumes gewesen war. Mit einem kurzen, geflüsterten Fluch warf er im hohen Bogen die Pfeife über die Brüstung und beugte sich, außer sich vor Verlangen, dem Gegenstand nachzuspringen, in die schlummernde Gartentiefe. »Barbara Rux«, rief er gleich danach mit grenzenloser Erleichterung aus, als ob sein Innerstes ihm in dem Aufschlag Antwort gegeben hätte, in diesem dumpfen winzigen Aufschlag, ähnlich dem Absprung der wildernden Katze oder des scheuen Marders von der Sprosse der Hühnerleiter. Er hatte von Barbara Rux geträumt, der Halbschwester seiner 16 verstorbenen Mutter, einem zwergisch verwachsenen Flatterwesen mit schwarzen Funkelaugen, das in Südwestdeutschland lebte. In der Familie hieß man sie ›Butt‹. Die Butt. Oder auch ›die Ui-Ui‹. Dieser Käuzchenname, welchen die Butt seit undenklichen Zeiten trug, rührte von ihrem Großvater her, welcher jedesmal, wenn die Rede auf seine Enkelin kam, mit dem Stock auf die Erde zu stoßen und seinen Satz mit Ui-Ui zu beginnen, wie auch zu endigen pflegte. »Ui-Ui, die Butt, diese schlechte Person«, sagte er beispielsweise und schloß seine Ausführung dahin ab, daß sie vor seinen Ohren nicht mehr genannt werden solle. Sie nicht und Vera nicht, ihre Tochter, dieses Stückchen Malheur, Ui-Ui.

Er hatte also von Barbara Rux und in einem damit von Vera geträumt; ja, eigentlich hatte er nur von Vera und überhaupt nicht von ihrer Mutter oder nur so von der Mutter geträumt, wie man, indem man ein Boot besteigt, mit dem Fuß an die Laufplanke rührt. Gleich darauf war sein befreites Gefühl auch schon ins Schwanken geraten; in die Empfindung zu schweben, zu taumeln und fortgerissen zu werden.

Dieser Traum war so: Er hatte den Arm um die Schultern seiner Kusine gelegt, das junge Mädchen ging rascher und rascher, als wolle es sich entfernen; es ging zuletzt nicht mehr, sondern es schwebte, und rechts und links schwebten die Bäume mit, die Feldwege und Telegrafenstangen, die Ferne näherte sich mit Häusern, mit Fuhrwerken, Flüssen und Meilensteinen und wurde wie ein bewegliches Band an ihnen vorübergezogen – immer schneller, als wenn zwei Eisenbahnzüge unterwegs einander begegneten – – und schließlich war es Hauteville zu Mute, als ob er und Vera mit mächtigen Schritten einer Bewegung angeglichen und in sie einbezogen, ja wesensverwandt mit ihr wären, im Verhältnis zu der jede andere Art von Bewegung erst abkünftig war. Seinen Mund an dem Ohr der 17 jungen Kusine und den Arm noch immer auf ihren Schultern, hatte Hauteville sie angefleht: »Sprich doch! Erzähle mir, wie es dort war.«

»Wo: dort ?«

»Du weißt doch – !«

»Wie soll ich das wissen ?« hatte Vera zurückgefragt. »Ich war ja überhaupt noch nicht da. Ich werde erst hinkommen . . . du verstehst. Ganz sicher komme ich hin. Später. Dann werde ich dir erzählen, wie alles gewesen ist. Ganz genau und im einzelnen wirst du dann wissen, wie es dort drüben war.«

»Aber du bist doch zurückgekommen ?« hatte Ewald Hauteville in tiefem Erstaunen das junge Mädchen gefragt. »Sonst wärest du jetzt nicht hier.«

Sie gab keine Antwort mehr, und Hauteville hatte plötzlich, wie in steinalten Märchen, die magische Empfindung, eine verbotene Frage gestellt – oder verfehlt zu haben. Dann, eine Ewigkeit war verstrichen, sagte das junge Mädchen: »Was heißt: jetzt? Was heißt: hier? Dieses Jetzt war gestern und kommt wieder morgen als Gestern und Heute auf uns zu.«

»Und – hier?« hatte Ewald weiter gebettelt. »Sage mir noch, was ›hier‹ heißt, Vera. Sage es mir genau!«

»Ach, hier ist nirgends und überall.« Sie lachte leichtsinnig, Ewald erbebte und sah, daß ihr Mund sich im Lachen zu einer Grimasse verzogen hatte und stehengeblieben war. Plötzlich wußte er: sie war tot. Sie war wahrscheinlich schon lange tot und glich der Tänzerin auf einer Kugel, deren Füße die Rundung weiterbewegten, immer schneller, in immer rascherer Drehung, während sie selbst auf dem Punkt verharrte, von dem aus ihr mechanisches Drehen die Kugel weiterflößte.

»Du bist also tot.«

»Ich bin also tot.« 18

»Du bist tot.«

»Ich bin tot.« Keine Antwort. »Sage mir, ob ich schuld bin.« Nichts. Wieder nichts. Nur dieses vage Lächeln, dieses verzogene, schiefe Gesicht aus Traum und Unterwelt. »Es ist wahr: ich hätte dich retten können. Es wäre nichts weiter nötig gewesen, als dich versteckt zu halten. Ein Jahr nur. Aber ich war zu feige. Zu schläfrig. Ein Mann aus Schlaf und Erde. Ein Koloß aus märkischem Sand und Schlick, mit Algen und Wasserrosen bekränzt; Zirkel- und Winkelmaß, Lineal und Zeichenstift in der Hand.« Nun fing er rasch zu skizzieren an: Große Bäume und spindelförmige Treppen, die Landschaft schob sich mitten hindurch, die Spindeln kreisten, mächtige Wände hingen mit glatten, verglasten Fenstern über Abgründen, steilen Felsenwänden, von denen sich Katarakte aus Wasser herunterstürzten. Zuerst noch waren es Häuser aus Schall, die das Dröhnen des Megaphons erbaute; Häuser aus Garnichts, aus Prahlerei und hundertfachem Echo über beiden Niagarafällen; dann einsame, hochgetürmte und in Bergen eingenistete Klöster von unaufhörlichem Sumsen erfüllt und kleine Pagoden, voll von Gebeinen, die leise raschelten. Sie standen am Zugangsweg einer Stadt an dem oberen Indus; andere Gräber, die mit Bambusstangen bezeichnet waren, glitten aus Borneo her; das Grab des Theoderich in Ravenna trat sie mit steinerner Sohle nieder und stand in erhabener, schrecklicher Ruhe vor einem Himmel, der rings von den Feuern der angezündeten Holzstapel glühte, in denen große bunte Dämonen in Tiergestalt verbrannten. So erbaute sich in vielerlei Formen ein mächtiger Totenbezirk.

»Sieh her«, sagte Ewald Hauteville. »Sieh nur her«, und deutete jetzt von dem Funkturm der ehemaligen Reichshauptstadt auf ein Ruinenfeld, über das sich mit langhinlaufendem Heulen die letzte Sirene niedergesenkt und 19 das sie wie Gog und Magog mit ihrem Drachenleib zugedeckt und an der äußersten Peripherie, wo ihre Füße aufgesetzt waren, für immer bezeichnet hatte.

»Wie gefällt dir der Grundriß?« Sie lachte geschmeichelt, zu Rat gezogen zu werden, und drängte sich näher an seine Schulter, an seine Hüfte, an seine Wange, die sie leicht mit der ihren berührte, ohne ihm eigentlich nahe oder verbunden zu sein.

»Sehr hübsch«, sagte Vera. »Und wo wohne ich? Oder ist noch nichts ausgemacht?«

In diesem Augenblick hatte Ewald sich unwiderstehlich gedrängt gefühlt, seine Begleiterin anzusehen. »Den Schleier fort!« rief er; doch wie es in Träumen, die sich zu Angstträumen steigern, geht, gehorchte ihm seine Zunge nicht, und er brachte nichts als ein heiseres Röcheln, ein weit entferntes, verdecktes Brüllen und Stöhnen aus der Kehle. An diesem Stöhnen war er erwacht; er hatte sich augenblicklich gefaßt, seine Trainingshose übergezogen und das Zimmer verlassen, das voll von dem Duft der blühenden Akazien neben der Hauswand war. Noch immer beschäftigte ihn das Bild der großen Totenstadt: ihr Grundriß, die Vielfalt der Häuserformen und der Bestattungsarten. Einem Tod, so erfinderisch wie das Leben, war das Leben der letzten Jahre, wie die geraubte Proserpina ihrem Herrn, unterworfen gewesen; ja, das Leben selbst hatte diesem seine Ketten und Ringe geborgt; seine Armbänder, Fußspangen, Diademe, damit er spielen konnte; es erblaßte, damit er blühen sollte; es wurde weniger, daß er mehr, und kälter, damit er brünstiger werden und üppiger zeugen konnte. Das Leben war monoton geworden – Gußformen, Schablonen und Fertigteile, die man einfach zusammensetzte, würden in Zukunft genügen, die Lebenden zu behausen; aber während in diesem ein Hohlraum entstand, den der Sog der 20 Notdurft von allem entleerte, wozu Phantasie und Überfluß und das Spiel der Sinne gehörte, wurden Überfluß, Wollust und Phantasie in jenen Bereich hinübergepreßt, der Pluton angehörte. Der Tod, dachte Ewald Hauteville jetzt gelassen, indem er, über die Brüstung gebeugt, mit einem einzigen Blick die Bäume, den Wasserstreifen, den Mond und die Wolken in ihrer Verwandlung umfaßte, und das Leben waren verwechselbar wie Gestern und Heute geworden; alles war gleichzeitig, gleichgewichtig und trug eine Maske vor dem Gesicht, die [abgesehen von kleinen Nuancen] unter dem angelackten, flüchtig bemalten Stück Leinen das gleiche vermuten ließ.

Wie zur Bestätigung fielen von ferne einige Schüsse: wer konnte sagen, ob sie aus Übermut abgegeben oder im Ernst aus feindlichen Flinten entlassen worden waren? Nicht lange danach verschärften sich die kleinen Detonationen; dann wurden sie lauter; abgelöst von dem Geräusch der Sprengungen, das man zu allen Stunden hörte. Der ganze Wald und das ausgelebte, entleerte Barackenlager bargen immer noch Munition; der Boden, von rostigen Kiefernnadeln über und über bedeckt, blühte von leeren Patronenhülsen und blitzte von den glänzenden Bändern, die die Flugzeuge während des Angriffs heruntergeworfen hatten; leere Kartuschen, zertrümmerte Panzer staken, gräßlich gebäumt wie erlegte Drachen, in der Erde und schienen am Vorderteil noch gespenstisch weiterzuleben und ihr scheußliches Handwerk fortzusetzen, während der Hinterleib dieser Chimären längst abgestorben war. Vielleicht auch, ging es Hauteville durch den Sinn, war jetzt erst [wie von zerstäubten Sternen das Licht auf der Erde angelangt sein mag] ihre Form an das Ende gekommen; vielmehr mit dem ersten Schuß und Schlag war angekommen, wofür in dem Garten von Gethsemani schon gebüßt worden war; es hatte sich vor der Sintflut ereignet und war in 21 einem erhabenen Geist, wie die Atombombe in der Hülse, in seiner Wirkung zusammengezogen und schon ebenso lange vorbei. Wer wußte, ob Gomorrha und Sodom sich nicht mit Hiroshima zusammen ereignet haben mochten, oder ob Hiroshima in Millionen von Lichtjahren aufblitzen würde – lautlos und süß und ganz ohne Schrei, ohne Scherben und Detonation? Die Sprengschüsse schienen jetzt immer voller und körperlicher zu werden; man sah den Finger des Scheinwerfers ruhig, aber unablässig über den Himmel und die höchsten Spitzen der Kiefern gehen; ein anderer fand sich dazu, dann ein dritter und baute mit dem ersten und zweiten das an die Sterne entrückte Zelt des Ajax und Agamemnon auf; ein Heerlager wie aus Versen errichtet, aus Licht und Gedanke, eben noch hier und gleich darauf schon wieder abgetragen und einen Flügelschlag weiter von neuem aufgebaut. Das ganze Gewölbe aus Atmosphäre und gelenktem Licht war jetzt in Bewegung; lauter Unruhe, Kommen, Verschwinden und zuckendes Wiederkehren.

Das Schießen hielt an, die Unruhe gleichfalls, die sich allmählich nicht nur dem Himmel, sondern auch der Erde mitgeteilt hatte: Hundegebell aus dem Laubengelände, ein verschlafenes Krähen, das wieder abbrach, und das hohe höhnische Keckern des Äffchens aus dem großen, hellerleuchteten Holzhaus des amerikanischen Camps auf der anderen Seite des Wasserspiegels wurden unversehens von dem Gelärme einer Grammophonplatte abgelöst, von heftigen, merkwürdig flackernden Rhythmen, die sich wie Lagerhuren den Schüssen und Detonationen anzugleichen und sie zu befeuern schienen. Vielleicht, daß der Vorabend einer Schlacht solche Laute hervorbringen konnte: den improvisierenden Anschlag der Leidenschaft und das probende Spielen mit Waffen, die noch nicht scharf geladen worden waren; die Erregung der abgetasteten Hüften 22 eines Geländes, das schon umwittert von der martialischen Gier des Gottes und seines eisernen Samenergusses voll Spannung gewärtig war; das aufgeschreckte Verlorensein der Kreatur an die Vorahnung dessen, was sich bis jetzt noch verborgen hielt, und die Prophetenrufe der Käuzchen, die aus verödeten Holzbaracken und Ruinen am Bahndamm kamen. Sie alle schnitt das Geräusch eines Flugzeugs, das mit großer Schnelligkeit näher kam, unvermittelt entzwei; es überquerte das rötliche Bild der Mondscheibe, zog durch das Wolkengebirge und donnerte über das Dach. In dem gleichen Augenblick fuhr ein Jeep die Straßenseite entlang; er bremste, hupte einige Male und hielt bei laufendem Motor an; man hörte amerikanische Stimmen von angenehmem Timbre, ein Lachen und Türenschlagen; dann zog der Wagen wie ein Komet mit aufgeblendetem Scheinwerfer weiter; ein kalkweißes Mauerstück, angeblendet, warf den Lichtschein für einen Augenblick auf die garteneinwärts stehende Pappel, die bis zur Höhe von Ewalds Balkon ging und wie eine große Magnesiumfackel aufzuckte und erlosch . . .

Einen Augenblick lang blieb alles still, denn auch das Flugzeug war schon so weit, daß es nicht mehr zu hören war; dann fing das entsetzliche, leise Wimmern, jenes grillenähnliche Weinen an, das Ewald erwartet hatte. Er erwartete es eigentlich immer, besonders aber in stillen Nächten, die jeden Laut schon von ferne heranzutragen pflegen: Soldatenschritte, die sich verstärken und wieder schwächer werden; das Rufen über die Gärten hinweg und das Schleifen, Kanten und Klirren eines Fahrrads am Bürgersteig. Nur, wenn der Regen herunterrauschte und auf dem Speicher die Bütten sich füllten, die man dort aufgestellt hatte, schwieg die Grille in Lottes Brust; schwieg das ratlose und erschütternde Weinen einer alleingelassenen Frau, deren Mann bis jetzt noch 23 verschollen und nicht zurückgekehrt war. Nichts konnte es stillen als nur der Regen, der ihre Tränen noch übertraf und gleichsam stellvertretend für Lotte mitweinen mochte. Dann schlief sie – den kleinen Reginald wie immer unbeweglich im Arm – und lachte ab und zu leise im Traum, während das Unwetter stöhnte und heulte und die Minentrichter und tiefen Geleise der Panzerwagen mit Wasser füllte, in das Kellergeschoß der Ruinen eindrang und die Fundamente zerschossener Häuser unablässig bespülte.

»Lotte!« rief Ewald laut und beruhigend. Sofort hörte Lottes Weinen auf, doch als der Bruder den Vorhang zurückschob und das Zimmer der Schwester betrat, fand er sie immer noch in der Stellung, die die Verzweifelte innehatte, als das Wimmern sie schüttelte. Sie saß in dem Bett, mit der rechten Hand den linken Ellenbogen und mit der Linken den rechten umfassend, und wiegte sich hin und her.

»Setz' dich zu mir, Ewald«, flüsterte sie, »du kannst bei dem Mondlicht wohl auch nicht schlafen, oder hattest du Schmerzen? Wie?« Indem sie sich an den Andern verlor, schwächte der Schmerz in ihrem Innern sich fast unmerklich ab. Sie wußte natürlich ganz genau, daß diese versteckte Art zu fragen nichts weiter als Übereinkunft war; eine Form, unter der es beide ertrugen, einander behilflich zu sein – aber wenn es auch diese Form zu fragen noch nicht gegeben hätte, so hätten sie sie erfunden, denn sie fühlten, daß sich ihre Entblößung schon fast wie Lepra und Aussatz bis zum Knochen gefressen hatte. [Welcher Ekel, zu leben! In einer Ecke des verwucherten Gartenbunkers hatten bei der Eroberung, von anderen Menschen umgeben, die Geschwister ihre Notdurft verrichtet und mit den Fingern den rohen Spargel aus Konservendosen geangelt, die das Lager ausgespuckt hatte. Eine alte Frau mit durchweichten Röcken mußte rechts und links unter 24 den Armen gehalten und hinterher auf die Beine gestellt und wieder zurückgebracht werden, wenn sie fertig war mit ihrem Geschäft – noch jetzt glaubte Ewald das mürbe Fleisch ihrer zitternden Wange zu fühlen, das er einmal gestreift hatte –jenes Fleisch, das erkaltet und fast schon verwest war mit bräunlich gefleckter Haut. Oder täuschte er sich, und es war die Wange seiner Kusine Vera, die er soeben im Traum gefühlt und ahnungsvoll angerührt hatte? Es war diese Wange; es war die Haut der fürchterlichen Alten; es war das Weinen und Wimmern, das ihn wund und weh machte, das ihn empörte, er wußte selbst nicht, warum.]

»Ich ziehe mich an, wenn du Schmerzen hast«, sagte Lotte leise und rasch. »Ich mache dir einen Kamillenumschlag, gleich wird dir besser sein.«

»Du täuschst dich, ich bin nicht aufgestanden, weil die Nierenkolik mich quält«, sagte Ewald verdrossen.

»Nein?«

Er zog einen Hocker an Lottes Lager und betrachtete mit gerunzelter Stirn das unruhig schlafende Kind. Der kleine Reginald, naß von Schweiß, der seine hübschen Locken verklebte, lag mit schmerzlichem Ausdruck neben der Mutter; der Schlummer schien einen Willensakt, eine Mühe für ihn zu bedeuten, der er sich fast mit Empörung hingab, mit einer Art von Trotz und Verachtung, die seine Kinderstirn kerbte und ihn die reizenden kleinen Hände zu Fäusten ballen ließ. Er sah auf erschütternde Art und Weise seinem Vater, dem Komponisten Corneli, besonders im Bau der Schläfen ähnlich, und Ewald, der ihn vorsichtig aufnahm, um ihn mit einem beruhigenden Brummen in sein Kinderbettchen zurückzutragen, begriff die Leidenschaft Lottes plötzlich, die sie bewog, diesen kleinen Kerl in der Nacht an der Schulter liegen zu haben und seinen Atem zu fühlen. Er legte ihn langsam und vorsichtig 25 nieder und löste sich erst von dem Knaben ab, als dieser von selbst seinen Körper herumwarf, und sich energisch zur Wand hinkehrte, um gleich darauf weiterzuschlafen.

Als Ewald sich wieder zu Lotte wandte, bemerkte er, daß sie aufs neue in den Zustand der Starre hinübergeglitten und magisch geworden war: die Arme unter der Brust gekreuzt, schien sie vor keiner Art von Beschwörung zurückzubeben, vor keinem Zauber, der imstande war, Jenen zurückzurufen oder auch nur in dem kleinen Glas ihres Wandspiegels flüchtig erscheinen zu lassen, den der Krieg ihr so grausam entrissen hatte; den der Friede ihr vorenthielt. Sie lächelte jetzt. Ein gespenstisches Blitzen und geisterhaftes Blinzeln zog über ihr Gesicht; das gräßliche Grimassieren des Wahnsinns, der sich mit Hekates dunklen Kräften in Einverständnis weiß.

»Lotte!« rief Ewald erschrocken aus.

»Pst! Hast du eben die Schritte gehört? Es ruft jemand«, sagte sie leise und horchte in die Nacht.

»Lotte, ich habe Schmerzen«, flüsterte Ewald verzweifelt. »Du mußt mir ein wenig den Rücken massieren. Ja? Willst du? Ich werde verrückt vor Schmerzen, wenn du mir jetzt nicht hilfst.«

Einen Atemzug später kam Lotte zu sich; ihre Arme sanken langsam herunter, ihr Gesicht, das noch eben vom Mondlicht begossen und wie das Gesicht einer Schwimmerin unter Wasser gewesen war, gewann seine festen Konturen zurück und wurde Fleisch und Blut. »Was sagtest du?« murmelte sie erschöpft und legte sich zurück.

»Nichts. Wirst du jetzt schlafen?« fragte er sanft. »Oder quält dich der helle Mond? Soll ich den Vorhang –«

»Nein, Ewald, nicht. Der Mond geht bald unter. Laß auch die Tür auf. Laß alle Türen im Haus weit offen und das Fenster, das nach dem Garten geht, damit wir noch einmal die Fledermaus hören, wenn sie den Weg verfehlt.« 26

»Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als die Türen offen zu lassen«, sagte er leicht, »da der Vorschlag der Schlösser nicht fertig geworden ist. Ich sehe schon, daß ich so mit der Arbeit nicht weiterkomme, und werde wohl an das Zeichenbüro eine Werkstatt anschließen müssen, die die kleineren Sachen ausführt: die Tischlermodelle, die Laubsägearbeit, und eine Schlosserei. Man kann nicht jedes einzelne Stück in verschiedenen Stadtteilen machen lassen und dort wieder von verschiedenen Meistern, die keine Vorstellung von dem Ganzen und dem Verhältnis der Teile haben«, fuhr er eindringlich fort und verlor sich, wie immer, wenn er von seinen Plänen sprach, von der Wirklichkeit an die Verzauberung, welche von ihnen ausging, und seinem inneren Blick das Wunschbild eines neuen Gefüges anbot; eines Gebildes, das nicht nur die Not, sondern, im Übersprung dieser Not, ein neues Gemeinschaftsgefühl geboren, eine Art von traumhafter Kristallisierung des gegenwärtigen Zustands hatte entstehen lassen. Er nannte es, wenn er zu Lotte sprach, ›die hängenden Gärten‹ oder die ›Brücken der Semiramis‹, halb im Scherz natürlich, um keine Aussage machen zu müssen, die mehr von der technischen Realität einer Vorstellung preisgab, als Ewald bis jetzt noch verantworten konnte; halb, weil die Bezeichnung ›hängende Gärten‹ tatsächlich mit der Schärfe, dem Glanz und der Fülle des übertragenen Ausdrucks etwas zu fassen vermochte, was das Wesen dieser baulichen Lösung ausmachte: ihren Geist, ihre Form und ihre Musik; ja vor allem eine geheime Musik, in die sich die Welt für Ewalds Gefühl zurückverwandelte. Seine Art, zu bauen, war musikalisch; das heißt, sie ging auf Gesetze des Rhythmus und der menschlichen Proportionen aus, auf die Gemeinschaft des Kultes und die Herkunft von Maß und Verhältniszahl aus der Wurzel der Mythologie. Im Grunde wäre es seine Sehnsucht, eine Welt zu 27 erbauen, gewesen, oder wenigstens doch ihre Fundamente von neuem aufzurichten; aber weil dieser unglückselige Atlas nichts vorfand außer zerschmetterten Platten und niedergebrochenen Säulen, zerstörten Gewölben und einem Estrich, der über der Tiefe weit aufgerissen und dem Abgrund geöffnet war, blieb die Restauration sein trauriges Erbe . . . sei es die Restauration einer Bar, eines Schönheitssalons, eines Kabaretts oder eines Parteigebäudes. Nur zu der Schwester, und auch nur dann, wenn er völlig erschöpft und verzweifelt aus der Stadt und dem Baubüro heimkam, sprach Ewald von dem, was er ›Gärten der schönen Semiramis‹ nannte – nicht schwärmerisch, sondern roh und verbissen, sich selber als einen Eunuchen beschimpfend, einen Nichtskönner, dem nichts weiter gelinge als einige ungeordnete Pläne und sich selbst verzehrende Linien und Zeichen, als sei ein pythisch erregtes Huhn mit dem an die Kralle gebundenen Stift über die Blätter gefahren. Während er wütete, pflegte er Hut und Rock auf die Erde zu werfen und den Kragen vom Hals zu reißen. Sein gedrungener Körperbau kam dann zum Vorschein: der eigensinnige, stierhafte Nacken, die steile Schädelform und ein Paar Schultern, die wie aus Eisen, einem bläulich schimmernden, dunklen Metall, geformt und gehämmert waren. Dann hörte die Schwester ihm schweigend zu; gleichmütig scheinbar mit listigem Lächeln, eine umgekehrte Scheherezade, die seine Erzählungen nicht nur ertrug, sondern ihm immer neue entlockte, immer neue entspringen ließ.

»Ja, so – die Fledermaus« – sagte er plötzlich. »Du meinst, wir sollten der Fledermaus das Fenster offen lassen? Magst du denn dieses hölzerne Surren, diese Karfreitagsratsche so gern oder so ungern hören, daß du unbedingt noch einmal dieses Geräusch im Ohre haben mußt? Dieses Stückchen Nacht, das von draußen hereinkommt –« 28 Er hielt inne, ein unbehaglicher Schauder flog dem Bruder trotz der Hochsommerhitze flüchtig über die Haut.

»Natürlich will ich das«, sagte Lotte mit leidenschaftlicher Stimme. »Entsinnst du dich nicht der kleinen Sonate, die Wilhelm im letzten Sommer vor Kriegsbeginn komponierte, und die er ›Oberon‹ nannte? Nun ja – dort fehlte an einer bestimmten Stelle dieses Geräusch, du sagtest ganz richtig: diese Karfreitagsratsche . . . und daß es jetzt näherkommt, deutlich wird, –«

»Eine Botschaft, meinst du?«

»Nun ja. Eine Botschaft. Vielleicht ein Zauber, mein lieber Ewald, an dem ich nicht unschuldig bin.« Das Mondlicht übergoß jetzt die Züge, die sich Ewald zugekehrt hatten, und gab ihnen etwas von der Hoheit einer grausamen, wilden Diana, die, bebend vor Jagdlust, umkläfft von Hunden und rasend vor Begierde, aus dem Dunkel der Wälder tritt.

»Wieso bist du schuld daran?« fragte Ewald. »Viel eher glaube ich, daß du toll, als daß du schuld bist am Wegverfehlen einer harmlosen Fledermaus.«

»Sie hat ja gar nicht den Weg verfehlt. Sie hat ihn genommen, weil sie es mußte. Sie wird auch wiederkommen. Irgendwann wird sie auch wiederkommen, ich fühle es genau.«

»Tatütata.« Ewald gähnte betont und sagte trocken: »Laß uns jetzt schlafen. Heute nacht kommt sie sicher nicht mehr.«

»Nein«, sagte Lotte. »Da sie schon da war, wird sie sicher nicht mehr zum zweitenmal kommen. Ich meine: heute nacht.«

Einen kurzen Augenblick weidete sich die Schwester an seiner Verblüffung und fragte dann: »Bist du denn wirklich nicht an dem Flügelgeräusch erwacht? Sie ist, ich habe es deutlich gehört, diesmal in deinem Zimmer 29 gewesen anstatt im Erdgeschoß; vielleicht, wer weiß, hat sie dich gestreift wie einen Endymion? Entsinnst du dich an das Flötenmotiv, wenn ihn die Mondgöttin küßt?«

Mit einem dumpfen, gequälten Laut ließ Ewald den Kopf auf den Bettrand fallen und umschloß seine Schläfen mit beiden Händen, als spränge etwas in ihm entzwei. »Vera – Barbara Rux und Vera – –«, sagte er halberstickt. »Du hast recht: Die Fledermaus hat mich gestreift und mir das Herz aus der Brust genommen. Nun muß ich der Fledermaus nach. Hör zu!« Er faßte die Schwester an beiden Handgelenken und zog sie zu sich heran. »Vielleicht ist es Wahnsinn, was ich jetzt sage. Dann spricht der Wahnsinn zum Wahnsinn, und der Wahnsinn wird den Wahnsinn verstehen, wie ihn sonst keiner versteht. Du suchst deinen Mann und ich suche Vera. Das heißt, verstehe mich recht: daß ich Vera und ihre Mutter suche, weiß ich erst heute; erst, seit der Schall meiner Pfeife wieder von unten heraufkam und ›Rux‹ sagte; ›Rux‹ oder ›Butt‹, wußte ich, daß ich von Vera geträumt und an Vera gesündigt habe. Wenn Vera tot ist, bin ich der Mörder, denn ich hätte sie retten können. Du sagtest, die Fledermaus sei ein Motiv; das Motiv einer Ratsche fügte ich bei und meine das gleiche damit. Ich will büßen. Ich will den Muschelhut nehmen, den Wanderstab und den Muschelhut und nach Anastasiendorf gehen. Vor einigen Tagen hörte ich nämlich, daß das Kloster unberührt sei – der junge Kaplan, dessen Oheim als Beichtvater, und um die Messe zu lesen, bei den Nonnen in Anastasiendorf lebt, erhielt von ihm Botschaft durch einen Bauern aus dem nächstgelegenen Dorf. Man nimmt sogar wieder Gäste auf und singt die Tagzeiten: Laudes und Prim, Vesper und Matutin.«

»Du willst also«, sagte Lotte rasch, »von der Erinnye gepeitscht und gepeinigt, eine Wallfahrt nach Anastasiendorf machen? Ich fürchte, sie hat dort noch einige 30 Schwestern, lauter schwarze gespenstische Fledermäuse, einen ganzen Chor dieser Flügelerinnyen, und jede erinnert uns an eine andere geheimnisvolle Schuld.« Sie zog die Kniee an, stützte die Arme auf beide Oberschenkel und legte das schöne, erschöpfte Gesicht in die Schale der offenen Hand. »Ist dort ein Heiligtum?« fragte sie. »Ein wundertätiges Bild? Dann will ich mit dir gehen. Ein neuer Schutzpatron kann uns nichts schaden. Ein Stoßseufzer, der mir noch unbekannt ist, eine schwarze oder weiße Madonna, ein blutendes Christusbild. Ja? Ist es etwa so?«

»Du weißt genau, daß es nicht so ist, Lotte«, sagte Ewald finster. »Du findest dort nichts für deine Hexenküche.«

Einen kurzen blendenden Augenblick lang fuhr eine wilde, entsetzliche Freude über Lottes zerstörtes Gesicht. »Du glaubst also auch, daß es möglich ist, einen Zauber auf andere auszuüben; auf das Geschick, auf den Zufall, oder wie du es nennen willst? Im Bund zu sein mit dem Mond und der Wega, den Regentropfen, den krummen Wurzeln der Zaunrübe, die fast ebensogut wie Mandragoren sind?« Sie lächelte plötzlich, ein harmloses Lächeln von gewinnender Süßigkeit. »Wie solltest du das nicht gleichfalls wissen?« fuhr sie leicht und spielerisch fort. »Wer den Rhein kennt wie wir, die Rheinhöhenwege zwischen den schwarzen Tannen, den Weg von der Hallgarter Zange hinunter und die Seitentäler des Rheins – ach, Ewald, . . . wer wüßte dann nicht, daß es gestern und heute gewesen ist, daß jeder Stein eine Herme war und jedes Kellergewölbe ein Tempel des zerfleischten Dionysos? Entsinnst du dich –?«

»Ich entsinne mich«, sagte Ewald verzweifelt, »daß der Dämon, wenn er zu sprechen beginnt, seinen Namen verraten muß. Du bist besessen. Nein doch, nicht anders, wie wir alle noch immer besessen sind oder gerade vom Satan verlassen wie ein zerbrochenes Haus. Wir sollten exorzisiert werden, Lotte, und Wachen aufstellen, daß er nicht 31 mit sieben anderen wiederkehrt und es ärger treibt als zuvor.«

»Wer«, sagte sie zerstreut und gelangweilt, »sollte wiederkommen, mein Lieber?« Sie legte sich in die Kissen zurück, der Umriß ihrer Gestalt zerfiel, ihr Gesicht, das in den Mondschatten eintrat, wurde blutlos und schemenhaft.

»Lotte«, erwiderte Ewald beschwörend. Er legte die Hand auf ihr dunkles Gesicht und fühlte, wie unter dieser Geste sich das bebende Zittern und Schlagen ihrer Augenlider langsam beruhigte und auszuruhen begann.

»Ja«, sagte sie plötzlich. »Ja, laß uns gehen und unsere Unschuld wiederfinden, dieses kleine, würzig riechende Kraut, das am Fuß der Tollkirsche wächst. Der Weg wird nicht leicht sein, ich sehe ihn vor mir: hier sperrt ihn ein niedergebrochener Panzer und dort eine kürzlich zerstörte Brücke, die noch im Wasser liegt. Vielleicht nimmt ein Fuhrwerk uns ab und zu mit, eine Bauernkarre, ein Lastauto, aber den größten Teil dieses Weges muß der Büßer zu Fuße gehen. Wir werden nicht die einzigen sein, ich sehe eine Gesellschaft von Menschen, die sich uns anschließen wird. Alte und Junge, ein Ehepaar, dessen Partner auf kindisch-komische Weise einander ähnlich sehen, und ein verlauster Soldat. Auch ein Engel geht mit uns – –« Ihr Sprechen verlor sich und endete in einem Murmeln, einigen Seufzern und einem Namen, den ihr Mund noch deutlich zu bilden vermeinte, als ihr Geist schon entschlafen war . . .

 

Jener Soldat, der vor einigen Tagen aus einem Gefangenenlager im Osten entlassen worden war, hockte in dieser Nacht in dem Keller einer ausgebrannten Ruine und lehnte den Oberkörper im Sitzen an eine zerfetzte Matratze, deren Seegrasfüllung jedesmal ächzte und stinkenden, alten Staub entließ, wenn er hin und her rückte – traumhaft bemüht, seine Stellung nicht zu verändern und 32 [während er eine Kugel aus Bergkristall zwischen den Handflächen hielt, die er immerzu auf und ab rollen ließ, auf- und abwärts zwischen den schmutzigen Händen] sich den mächtigen Buddha vorzustellen, den seine Seele suchte. Allmählich, während sein Leib erstarrte und sein Atem flacher und leiser ging, wurde Jener deutlicher: eine Statue im Augenblick der Erleuchtung unter dem Feigenbaum. Mit den Knien am Boden, die schlaflosen Augen auf den Nabel der Erde gerichtet, blickte Buddha still vor sich hin. Die großen Abstützbalken des Kellers, die im Augenblick, als die Bombe in das Nachbargebäude geschlagen war, den Keller gehalten hatten, warfen indigoblaue Schatten und glichen den plumpen, hölzernen Säulen eines indischen Heiligtums. Eine Ratte huschte, von Hunger und Begattungstrieb gepeinigt, vorbei; die Kristallkugel fing, indem sie sich drehte, einen Funken Licht auf, der durch die Risse und eingeschlagenen Türen der Ruine gedrungen war, und blendete das Tier. Es hob sich erstarrt auf die Hinterbeine und stieß einen grellen Pfiff aus, bevor es weiterlief. Wieder einmal in dem langen Abstand von einigen Minuten löste sich ein verrosteter Tropfen von der Rinne ab, die aus dem oberen Stockwerk und einer mit Wasser gefüllten, eisernen Badewanne ihren Weg in den Keller gegraben hatte, und schlug dort unten auf; es klang, als ob eine Ewigkeit an der Wiederkehr dieses Tones gemessen, und die Tiefe des Nichtseins ausgelotet an der Stärke des Aufschlags würde . . .

Die Ruine stand einsam am Südrand der Stadt, obwohl sie in einer Reihe gleichartiger Ruinen und diese Reihe in einer Verbindung mit vor- und rückwärts gelegenen Höfen und kleinen Spielplätzen war. Doch die Einsamkeit dieser gestaffelten Häuser, die sämtlich ausgebrannt, niedergebombt und ganz und gar menschenleer waren, war im Vergleich mit dem Zustand der eben erwähnten Ruine, in 33 der der Soldat übernachtete, immerhin noch erträglich, weil sie einfach nur Leere war. Denn erst in der Seele des Menschen hätte sie werden können, was jene von dem Augenblick an, wo ihr Gast sie betreten hatte, bereits geworden war: nämlich Verlassenheit; in der Seele des Menschen, die Stein und Holz, die bröckelnde Stufe, die blinden Kacheln, die den Mörtelverband zu lockern begannen und sich schief zueinander legten, noch einmal aufhielt wie eine letzte gebieterische Schranke zwischen Sein und Nichtsein, Gestern und Morgen, Zerfall und Erinnerung. Sobald er sie aber betreten hatte, war sie nicht leer, sondern war entleert, was weit schrecklicher war als jede wie auch immer geartete Leere; und obwohl er sich anstrengte, nichts zu denken, und das dunkle Gesetz seiner trüben Umgebung: von außer ihr wirkenden Kräften allmählich verbraucht zu werden, sich zu erfüllen bemühte; obwohl er stille hielt, wunschlos wurde und ausgespannt wie eine Windharfe war, auf welcher das vernunftlose Schicksal ohne Hände fast wie mit Armstümpfen spielte, konnte er doch nicht verhindern, er selber, Friedrich Am Ende zu sein, zwischen dessen Handflächen unaufhörlich die Kugel aus Bergkristall rollte. Sie war durchbohrt, eine blaue Schnur lief über Friedrichs Nacken aus ihrem Mittelpunkt und wieder zu ihr zurück. Für gewöhnlich trug er sie unter dem Rock, zwischen Rock und Hemd, wo sie unbedeutend die Stelle, an welcher sie auflag, markierte. Sie hatte etwa die Größe eines unreifen Äpfelchens, das der Sturm vom Baum geschlagen hatte, und entstammte [keiner wußte es mehr, Gott wußte es allein!] der Gebetsschnur eines russischen Mönchs, die längst zerrissen war. In einer zerstörten Wallfahrtskapelle hatte Friedrich sie am Boden gefunden und gedankenlos eingesteckt. Die Kapelle, wie eine Schatzschatulle, die das Schwert eines Riesen entzweigehauen und der Plünderung preisgegeben 34 hatte, war mitten auseinandergebrochen und flammte unter einem verwölkten, schneebeladenen Himmel von Jaspis, Mondstein, Beryll und Rubinen, mit welchen die Reliquienschreine rundherum ausgelegt waren, von dem Gold der Ikonen, aus dem, schwarz und rot, die Figuren der Heilsgeschichte traten, und von dem dünneren Gold der Kelche, das [wie der Demantberg vom Vogelschnabel] von vielem Gebrauch bereits abgewetzt und von mystischer Schönheit war. Hier, während sich Offiziere und Mannschaft mit wütender Hast bereicherten, hatte Friedrich die Kugel gefunden und in die Tasche gesteckt. Nicht, um sie zu besitzen, – vielmehr: um sich von jeglicher Gier zu befreien, die seine Pulse mit Feuer füllte und die Kuppen seiner geschmeidigen Hände in der Erwartung von fremder Materie mit Kitzel überzog. Sie gab ihm das Geheimnis der Ruhe, sobald er sie berührte. Sie machte ihn regungslos, wunschlos und nahm ihm die schwerste von allen Lasten: sich selbst, so vollkommen ab, daß er außerhalb der Bezirke von Lust und Leiden stand . . . In diesem Zustand reiner Ekstase war es ihm einige Male gelungen, aus dem Kreis von Geburt und Tod zu treten, ohne vernichtet zu werden. Vielleicht erhoffte er diese Vernichtung sogar mit geheimer Wollust als die Bestätigung eines Vorgangs, der ihn immer wieder mit scharfen Säuren aufzulösen versuchte; als den letzten Atemzug vor der Ruhe, die endgültig sein würde: volles Nichts und Vorgefühl des Nirvana ohne Rücklauf und Wiederkehr –.

Auch jetzt, indem er die Kugel bewegte, erwartete er, von dem gleichen Erlebnis wie schon früher durchdrungen zu werden; doch wußte er, daß die zerreißende Hoffnung: sich von der Hoffnung in jedem Sinn und also sowohl von dem Ursprung der Hoffnung wie von ihren Wirkungen abzuscheiden, zuletzt noch selber ein Fallstrick für den Fuß 35 des Enteilenden war. Seine Lippen bewegten sich nahezu lautlos und formten Worte, die nichts als Formeln, Petrefakte von Worten und Lautgebilde asketischer Herkunft waren; Übungen gleichsam, die ihren Sinn in ständiger Wiederholung hatten und, wenn man sie verdeutlichen wollte, sich in dem Ausdruck zusammenfassen: sie waren gepeitschter Staub. Trotzdem wurde mit ihnen allmählich das Gegenteil einer Schöpfung bewirkt: ihre Auflösung nämlich und ihr Zerfall; die Atomisierung all ihrer Teile und die Eile, mit welcher sich ihre Spiralnebel, Milchstraßen, Planeten- und Sonnensysteme immer weiter voneinander entfernten, um den Ort zu verlassen, an welchem das Wort einst Fleisch geworden war. Schon wurde der Staubwirbel leichter und dünner und fing an, in einen anderen, leichtern Aggregatzustand überzugehen, aus der bewegten, gepeitschten Materie wurde reine Bewegung, die sich in nichts von Ruhe unterschied: Bewegung und Ruhe durchdrangen einander wie Zeugungskerne einander durchdringen, miteinander verschmelzen und in der Zeugung eines geheimnisvoll Neuen endlich zur Ruhe kommen. Einen Atemzug noch, einen Flügelschlag, ein letztes Verzucken im Abgrund der bodenlosen Tiefe, und Friedrich würde den Übertritt in das Nichtsein vollzogen haben . . .

Als wieder ein Wassertropfen sich löste und auf die Steinplatte sprang. Dieser Laut, im Verhältnis zu Friedrichs Zustand der absoluten Stille, war ungeheuerlich. Er glich an Stärke dem Aufprall eines menschlichen Körpers, der vollkommen flach aus großer Höhe dem Wasserspiegel, selber zersplitternd, aufschlägt. Er zerriß die Stille, wie kein Geschützrohr sie hätte zerreißen können, und bewirkte, daß das Nichtsein gerann, daß es kristallisierte und, wie ein Dämon zur Zeugenschaft aufgerufen, von seiner wahren Natur ungewollt Zeugnis gab. 36

Einige Zeit danach sah der Mann, daß aus der Schwärze des Kellerbodens ein helleres Viereck ausgespart war, nicht eigentlich Licht, auch nicht lichtes Wasser, viel eher Helligkeit, die im Begriff stand, sich zu verflüssigen; schleimend und zäh und schmierig wie Wasserblüte zu werden, die den Teich mit Verwesung bezieht. Es war kein Licht, das von außen einfiel, denn die Kellerfenster waren ringsum mit Brettern zugenagelt und ihre Risse mit Lumpen und Holzwolle fest verstopft; so saßen sie in der verläßlichen Mauer, die ausgedauert hatte, als hielten sie sich, während Bombe auf Bombe unaufhörlich durch ihre Erinnerung dröhnte, noch immer die Ohren zu. Woher stammte sie also, diese Helle, diese hexenhafte, chimärische Helle, die so deutlich ihre gräßliche Herkunft aus Traum und Täuschung verriet, daß, wie Friedrich glaubte, ein Lidschlag, ein einziger nur, genügen würde, um sie fortzuwischen, sie wesenlos und nicht vorhanden zu machen? Noch immer blickte er auf die Erscheinung des ekstatisch gewordenen Buddha unter dem Feigenbaum und bewegte die Kugel in seinen Händen, als sei kein Unterschied zwischen dem Einschlag der letzten hier niedergegangenen Bombe, und dem eben gefallenen Wassertropfen, dessen Aufprall das atomisierte Dasein hatte gerinnen lassen, doch es gelang ihm nicht, beide Ereignisse miteinander zur Deckung zu bringen. Die Helligkeit nahm doch immer mehr zu und glich jetzt der sich verstärkenden Beleuchtung auf einer Bühne, die von unten her angestrahlt wird; aus der Höhe des Souffleurkastens etwa, von wo aus das verborgene Schicksal Stichwort und Winke gibt.

Dann, ohne Übergang, fast abrupt, erblickte Friedrich den tanzenden Dreifuß, der der gegeißelten und verwünschten Materie entsprungen war. Vielmehr: er sah ein gespenstisches Wesen, das auf dem belichteten Kellerboden vor ihm sein Unwesen trieb. Dies also war die Form 37 jenes Nichtseins, das Friedrich herbeigezwungen und bis zur Versinnlichung gepreßt hatte; bis zur Verzweiflung zu Ende beschworen und in der Beschwörung bis an den Rand jeder Vorstellung fortgedrängt hatte; das der Grundlosigkeit seiner Betrachtung zugrunde und als Gegenpol aller Schöpfung im Mitternachtspunkte lag. Nein, es war nicht nur gespenstisch, o nein, obwohl ihm gestattet war, sich in die Lumpen, in die zerfetzten, antikischen Lumpen des Dreifußes zu kleiden: es war teuflisch, es war das äffende Abbild der göttlichen Trinität. Mit einem schluchzenden, stöhnenden Laut brach Friedrich in sich zusammen und verbarg das Gesicht in den Händen – ein Antlitz, das wie das Mumienporträt über der ausgeweideten Hülse seiner trostlosen Daseinsform lag. Die Kristallkugel pendelte an der Schnur, nachdem er sie fallengelassen hatte, noch einige Male hin und her; dann wurde ihr Ausschlag geringer und hörte fast vollständig auf . . .

Vor dem Keller ächzte ein Leiterwagen mit schlecht geschmierten Rädern vorüber, die leise klapperten. Er schien, mit blankem Gebein beladen, in die Ewigkeit einzufahren und vor der letzten vernagelten Luke noch einen Augenblick anzuhalten, um den Dreifuß noch mitzunehmen, der jetzt gleichfalls zur Ruhe gekommen war und, wie er da stand: gespreizt und bieder, einem einfachen Melkschemel glich. Dann war er plötzlich nicht mehr vorhanden; sparrige Hölzer, Gerümpel und Balken, hatten ihn in die Natur der Dinge eines Luftschutzkellers hinweggenommen. Auch das Licht war fort, vielmehr dessen Abart; dieser Niederschlag wie von verdammten Seelen, der die Mauer mit schiefem Lächeln und traurigen Träumen kalkte. Nun zeigte sich, daß die Ritzen und Fugen der zugeschlagenen Kellerfenster trotzdem noch anderes Licht einließen: die Dämmerung quoll durch die feinen Sprünge und drängte sich durch die klaffenden Rahmen, die von dem Einschlag 38 der Bomben auseinandergerissen waren. Es mochte jetzt ungefähr 5 Uhr morgens, vielleicht sogar früher sein, denn die Zeit der kürzesten Nächte eilte dem Höhepunkt zu. Man hörte auch hier und dort Vogelstimmen, die sich allmählich zu einem Netz aus reinem Jubel verknüpften; in den Laubengärten am Rande des Bahndamms schickten unaufhörlich die jungen Hähne einander ihren Kampfruf entgegen, und die geschlossenen Dotterblumen in den Tümpeln der Minenlöcher erwarteten zitternd die zarte Berührung der ersten Sonnenstrahlen, die ihnen erlauben würde, den Krater ihrer Blütenkronen zu öffnen. Junge Frauen, geschwächt von dem Fieber der panischen Hochsommernacht, fühlten auf ihrem kräftigen Körper den Schauer der ersten Morgenkühle und zogen über den prallen Bug ihrer perlmutterfarbenen Brüste den Träger des dünnen, verwaschenen Hemdchens, dessen Spitzeneinsatz nachgestopft war; sie warfen sich noch einmal zur Seite und bedeckten sich mit dem weißen Laken, das jede von ihnen nausikaahaft machte: frisch und jungfräulich, mit flachem Schoß und kindlich gerundeten Gliedern . . .

Noch eine Stunde, dann würde sich jede, wie von jähem Schrecken gepackt, erheben und den Hammer der Weckuhr niederdrücken; sie würde in einem elenden Töpfchen, dessen Emaille abgesprungen, dessen Farben verwittert waren, den Kaffee überbrühen; das Messer an die grauschwarze Rinde des lieblos gebackenen Brotes setzen und die trockenen Schnitten in Zeitungspapier vom vorigen Jahre wickeln.

 

»Du willst mich also wirklich verlassen und nach Anastasiendorf fahren?« fragte die ältliche Freifrau von Dörfer und zog den bordeauxroten Morgenrock aus brüchig-schillerndem Spiegelsamt an dem Spitzenjabot zusammen. »Sage bitte nicht, daß du hingehst, um meine 39 Schwester, die Oberin [Gott im Himmel, die Glückliche!] zu besuchen . . . du, die du nicht einmal ahnst, was es heißt, ein Leben im Geist zu führen.« Sie seufzte beklommen, die tiefschwarzen Augen senkten die schon verwelkten Lider wie vom Regen gebräunte Magnolienblätter auf die dunklen Ringe über den hohen hektischen Backenknochen. »Dieses Kloster: welche Eremitage weltentrückter Betrachtung! Dieses Dasein, aller Notdurft entzogen, um nichts als himmlisch zu sein! Eine Lilie in dem Küchenkrautgarten dieses furchtbaren Lebens aus purem Zweck, aus Schaufel und Harke, Kohl, Pimpinelle und albernen Zwiebelpflanzen . . .« »Auch die Lilie ist eine Zwiebelpflanze«, unterbrach ihre Zuhörerin sie leise und bestimmt.

Frau von Dörfer blickte das junge Mädchen mit unverhohlenem Ärger an und sagte dann gereizt: »Erspare dir, den Beweis zu führen, daß du mich nicht verstehst. Oder verstehen willst.« Ihre wunderbar schönen, noch frischen Hände mit den mandelförmigen Fingernägeln, die sorgfältig geschnitten und rosig durchblutet waren, griffen mit leidenschaftlichem Ausdruck nach einigen Büchern, die auf dem Tischchen neben dem Ruhebett lagen, und begannen, in ihnen herumzublättern, während sie weitersprach. Diese Bewegung und diese Hände der durch ein schweres Basedowleiden früh gealterten Freifrau führten ein merkwürdig intensives und ausgesprochenes Eigenleben, das in deutlichem Gegensatz zu ihren Worten, dem larmoyanten Ton ihrer Stimme und ihrem anspruchsvoll leidenden und beleidigten Wesen stand: sie machten glaubwürdig, was sie jetzt sagte, und erklärten die zarte und heitere Sanftmut, mit welcher nun die Tochter der Freifrau die Phrasen der Mutter erduldete und ernst zu nehmen schien. »Deine Tante Demetria würde sagen, daß mein jetziges Leben die Buße für die falsche Entscheidung ist, die ich früher einmal getroffen habe.« 40

»Das würde sie ganz bestimmt niemals sagen«, erwiderte ihre Tochter, nun ihrerseits entflammt. Gleich darauf senkte sie wieder den Kopf und flüsterte: »Warum quälst du dich so? Du hast dein Dasein gelebt, wie du mußtest; du hast den guten Papa geliebt . . . und uns, deine Kinder – –«, fügte sie mit sichtlichem Widerstreben bei und blickte mit angespanntem Ausdruck nach dem Bett ihrer jüngeren Schwester hin, einem halben Kind noch, das tief und satt, die Hände hinter dem Nacken gekreuzt, mit blasenden Atemzügen schlief und selbst durch die Tuba des jüngsten Gerichts nicht vor dem vollen Aufgang der Sonne zu erwecken gewesen wäre.

»Ja, du hast recht, du hast vollkommen recht«, erwiderte ihre Mutter mit dem Ausdruck bitterer Schauspielerei und verzog ihren blassen Mund. »Ich habe euren guten Papa, ich habe Dagobert sehr geliebt, obwohl ich wußte, daß ich im Grunde von Gott berufen war.«

»In jedem Beruf kann man heilig werden«, sagte die Tochter spröd.

»Und ebenso Gott verfehlen, wirst du wahrscheinlich hinzufügen wollen«, gab die Freifrau leidenschaftlich erregt mit flatternden Augen zurück und faßte plötzlich mit hartem Griff nach dem Handgelenk ihrer Tochter, um sie näher heranzuziehen; auf dem Tischchen klirrte im Wasserglas der Teelöffel, und verschiedene Fläschchen mit homöopathischen Medizinen fingen zu zittern an. »Wäre ich damals weniger sinnlich«, sagte sie mit gespenstischem Ausdruck, »und wäre Dagobert nicht so schön, so unwiderstehlich und namenlos schön und ein so vollendeter Tänzer gewesen – –« Sie brach ab und streifte, unsicher werdend, das Antlitz des jungen Mädchens, um dann rasch und verlegen fortzufahren: ». . . so wäre ich heute ebenfalls eine Benediktinerin.«

»Was soll ich also Tante Agathe . . .« 41

»Tante Demetria willst du sagen«, unterbrach sie die Mutter gereizt. »Was du Tante Demetria ausrichten sollst? Nun, meinetwegen fährst du nicht hin; du hast also auch nichts auszurichten, was ich nicht selber in diesem Brief hier meiner glücklichen Schwester schreibe«, sagte sie schrill und geschraubt.

»Glaubst du wirklich«, fragte Irene, so hieß das junge Mädchen, mit schwankender Stimme, »daß deine Schwester, meine angebetete Tante, nichts weiter als glücklich ist? Schließlich lebt sie ein Leben der Buße, vergiß das doch nicht, Mama!«

»Ein Leben der Anbetung und der Freude, der Danksagung und des Dienstes im Geiste«, sagte die Mutter verschwärmt; ohne daß sie es merkte, gruben dabei ihre Fingernägel sich in den Daumenballen und hinterließen, als jetzt die Freifrau ihre Hände mit dem bewußten Ausdruck von Opferschalen entfaltete, ein dunkelrotes Mal. »Warum sollte sie also nicht glücklich sein?« fuhr sie mit lauernder Miene fort. »Sie hatte schon als ganz junges Mädchen mehr Talent zum Glücklichsein als wir alle – oder hattest du nicht selbst diesen Eindruck bei deinem letzten Besuch?«

»Doch«, sagte Irene rasch und fest. »Alle lieben sie, alle verehren sie und sind dankbar, sie zur Äbtissin zu haben und von ihr geleitet zu werden.«

»Ja?« fragte die Freifrau spöttisch. »Und gesund ist sie auch noch? Frisch und gesund und vollkommen unverblüht? Während ich – –« Ein hysterisches Schluchzen erschütterte ihren gebrechlichen Körper; an dem unteren Lidrand blieb eine Träne, gewaltsam herausgepreßt, hängen und wartete augenscheinlich darauf, längs der großen Nase herunter und bis zum Kinn zu laufen.

Das junge Mädchen verschränkte die Arme unter der reizenden kleinen Brust und erwiderte merkwürdig unberührt: 42

»Ja, sie ist blühend und jung und gesund. Sie ist vollkommen alterslos.«

»Wer nichts erlebt hat, altert auch nicht«, sagte die Freifrau außer sich. »Wer sich an andere nicht gebunden und andere nicht verloren hat –«

»Mama!« Das junge Fräulein von Dörfer umfaßte die Mutter liebevoll und half ihr, ehrlich erschrocken, in die Diwankissen zurück. »Auch Tante Demetria wird berührt sein, wenn sie hört, daß Papa nicht mehr ist. Sie hat ihn sehr lieb gehabt, ganz gewiß –«.

Ein kurzes, triumphierendes Blitzen ging über Frau von Dörfers Gesicht, dann sagte sie in dem gewohnten, leicht weinerlichen Tonfall: »Sehr lieb. Natürlich. Und daß Papa ein so schreckliches Ende hatte, wird furchtbar für sie sein«. Plötzlich schnippte sie mit den Fingern und sagte fast leichtsinnig: »Viel Vergnügen für deinen geplanten Ausflug nach Anastasiendorf. Bei dem Gedanken, daß du allein die Schuld an dem Tode des armen Papas hast, wird sich Demetria freuen, dich in die Arme zu schließen, Widersprich nicht!« fuhr sie die Tochter an. »Ich weiß, was du antworten willst. Du willst sagen, daß du zur selben Zeit deiner Hinrichtung in dem Frauengefängnis entgegengesehen hast. Daß nur der plötzliche Durchbruch der Russen dein Leben gerettet hätte. Du und dein Leben! Du und die Arbeit der illegalen Gruppe! Du und dein Auftrag! Du und die Freunde! Immer nur du und du! Wer hat dir diesen Auftrag gegeben? Wer hat dich gezwungen, allein zu wohnen und Flugblätter auszutragen? Du hattest Familie, du wußtest sehr gut, wie krank und elend ich bin. Wärest du diesen Unglückstag, als auf dem Hängeboden der Wohnung Papas Gewehre gefunden wurden, zuhause gewesen – du konntest russisch . . . du hättest die Herren Offiziere darüber aufklären können –«.

»Worüber?« fragte Irene rauh. »Daß Papa den Burschen 43 vom Werwolf Gelegenheit gab, ihre Waffen in der Wohnung unterzubringen? Darüber hätte ich unsre Befreier wohl schwerlich aufklären können. Übrigens lag ja der Tatbestand ganz offen auf der Hand. Ich verurteile nicht den armen Papa . . .«, brach sie entschuldigend ab. »Er war eben so dumm, wie schön.«

Ein entsetztes Schweigen folgte den Worten der jungen Irene von Dörfer, dann sagte ihre Mutter mit erstaunlicher Sachlichkeit: »Ein lieber Dummer. Du hast ganz recht. Ein großer, lieber Dummer, ein vollendeter Kavalier. So kann man nur eine Frau verwöhnen, wenn man weiter nichts als ein Landedelmann auf einem verschuldeten Gut ist. Mein Leben mit ihm war ein Kotillon von Anfang bis zu Ende; ein Hörselberg oder das Innere einer perlmutternen Muschel von unerhörtem Glanz. Jeder Tag hat ein Souvenir hinterlassen, eine süße, entzückende Kleinigkeit, die ich nicht hergeben möchte, wenn sie auch wertlos und abgeschmackt sein mag, und reif für den Trödelmarkt.«

Es war so: ein Haufen von Andenkenplunder umgab die Freifrau von Dörfer mit dem verblichenen, kostbaren Schimmer eines winkligen Antiquitätenlädchens, dessen Reiz gerade in seiner Mischung aus Wert und Unwert besteht. Man erblickte italienische Gläser und Ketten aller Art; Korallen aus Capri, seidene Tücher und handgeschmiedete Silberleuchter aus griechischen Bazaren; Mosaikbroschen, Katakombenlämpchen und braunglasiertes Geschirr aus Rom, das keinen Pfifferling taugte; Skarabäen, die aus Jade geschnitten, und Spinnenbroschen aus Goldfiligran, deren Augen aus kleinen Rubinensplittern sehr kunstvoll gearbeitet waren; Salzfässer, die man aus einem einzigen Stückchen Bernstein geschnitten hatte, und ein Schmuckkästchen, dessen Ränder ringsum mit Müschelchen ausgelegt waren. Daß diese Dinge über den Fluchtweg von einem großen masurischen Landgut in die 44 kleine Berliner Wohnung gerettet worden waren, grenzte ans Wunderbare und war zum größten Teil Frau von Dörfers Initiative zu danken; einer Energie, die sich nur gesammelt auf ein bestimmtes Wunschbild zu richten und es ins Auge zu fassen brauchte, um an das Ziel zu gelangen. An seiner Verwirklichung war sie natürlich infolge ihres Leidens nur indirekt beteiligt, doch machte dieses Leiden gerade den wichtigsten Faktor aus: es rief zur Hilfe auf oder gar zu einer letzten Art Glückserfüllung, die man der Kranken auf gar keinen Fall hätte versagen mögen, und dessen Tyrannei man sich beugte, um Schlimmeres zu verhüten.

So hatte es Frau von Dörfer verstanden, ihre Umgebung, wo sie auch war, wie ein Schneckenhaus mitzunehmen; vielmehr sie wie ein Zelt in der Wüste überall aufzuschlagen und den Eindruck behaglichen Lebensstils auf gespenstische Art und Weise von neuem zu erwecken – gespenstisch und traumhaft, weil dieser Teppich über verkohlten Dielenbrettern und dieser kostbare indische Schal über der häßlich zersprungenen Platte eines viktorianischen Spieltischchens lag; dieser Fächer aus Straß und Straußenfedern kokett vor dem erblindeten Glas eines venezianischen Spiegelchens lehnte, und jene Elfenbeinminiatur mit dem blonden, schmachtenden Frauenkopf die Einschußstelle eines Granatstücks frivol, doch geschmackvoll kaschierte. Auf diesen Geistersalon ihrer Mutter blickte das Fräulein von Dörfer nun mit angespannter Miene; mit dem verzweifelten, unruhigen Ausdruck eines Menschen, der sich vergeblich an etwas Bestimmtes, eine Parole, ein Zauberwort, oder ganz einfach an einen Namen, der ihm entfallen ist, zu erinnern und ihn zu beschwören sucht . . .

Inzwischen mußte die Mutter weitergeredet haben. »Warum hörst du nicht zu? So antworte doch! Was soll diese 45 Abwesenheit?« fragte sie scharf und gereizt. »Irene –!« Frau von Dörfer erschrak und faßte das junge Mädchen ins Auge, das in seltsam erstarrter Haltung an ihrem Ruhebett saß. Das blasse Gesicht mit der kurzen, fein geschnittenen Nase, der hohen Stirn, einem strengen, bestimmt gezeichneten Mund und Ohren, die fest an den Schläfen lagen, glich unter dem schwarzen Helm seiner Haare einem zarten, pompejanischen Wandbild, das an der niedergebrochenen Mauer stehengeblieben war – überrascht von dem Augenblick der Vernichtung und inmitten der Katastrophe für den Zustand des Totseins aufbewahrt; für eine Dauer, die durch den Staub und seine gorgonenhaft bannende Wirkung zustande gekommen war. Auch ihr Körper nahm teil an dieser Erstarrung. Den Rücken leicht vorgebeugt wie ein Mensch, der eben noch einem andern im Plaudern zugehört hatte, schien das junge Mädchen jetzt einem Anruf aus unermeßlicher Tiefe zu lauschen und glich sich immer genauer dem Bild einer Persephone an: hieratisch im Aufbau, fast nur noch im Profil und ohne die leiseste Möglichkeit, im Hin- und Herspiel des Atems, der Tränen, der Zu- und Abwendung, Qual oder Lust dem Wechsel unterworfen und von außen verändert zu werden. Die beiden Ellenbogen aufgestützt auf die zitternden Oberschenkel, die Finger leicht auseinanderfallend, schienen die Hände Persephones einen Gegenstand hochzuhalten, der den Augen unsichtbar blieb – vielleicht einen Krug, eine Lotosblüte oder auch einen Kupferspiegel, in den die Göttin sah.

In ihrer Verwirrung ergriff Frau von Dörfer den nächstgelegenen Lippenstift, die Wimperntusche, die Puderdose und schob sie Irene hin. »Richte dich her! Wie siehst du nur aus? Lege Rouge und Gesichtspuder auf«, sagte sie in Gesellschaftston und lächelte ihrer Tochter mit leerer Freundlichkeit zu. 46

»Danke«, erwiderte diese höflich und tat, noch immer wie unter Zwang, wie ihr befohlen war.

»Eine hübsche Farbe. Wie heißt sie doch gleich?« fragte Frau von Dörfer konventionell.

»Cyklame.«

»Ja, richtig, Cyklame heißt sie. Ich mag diesen Ton an dir. Für die Wangen brauchst du ein helleres Rot und nicht diesen bräunlichen Puder. Nimm lieber Naturell!«

Zwei Abgeschiedene sahen einander geschwisterlich in die Augen und schienen sich über die Art des Zustands, in dem sie sich befanden, voreinander im klaren zu sein. »Die Amseln singen schon«, sagte plötzlich die ältere Frau in klagendem Tonfall.

»Schon lange«, gab das Mädchen zurück und schob seine nackten, sehr schönen Füße in die weiterrückenden Sonnenflecke, die auf dem Boden lagen.

Nun erhob sich die Tochter, löschte das Licht aus und zog die Vorhänge fort. Eine Flut von Glanz, ein Strom von Entzücken drang in das gemeinsame Schlafzimmer ein und machte es einer Barke ähnlich, welcher soeben, leuchtend von Frische und gebadet von morgenrötlichem Schaum, Aphrodite entstiegen war. Auch die kleine Schwester Irenes gähnte und reckte sich jetzt; ihre wilden, kastanienbraunen Locken schienen Funken zu sprühen und an der Biegung der beiden Schläfenwirbel, wo helleres Haar, schon fast messinggelb, sich wie zwei züngelnde Flämmchen aufhob, Feuer gefangen zu haben. Dann, während sie ihre milchweißen Arme mit kindlicher Bewegung dem Tag entgegenstreckte, setzte sich Ingeborg plötzlich hoch und blinzelte in das Licht.

»Ich habe von Schinken und Eiern geträumt«, sagte sie unvermittelt.

Irene lachte lautlos und krampfhaft, und Frau von Dörfer meinte mit komisch gespieltem Entsetzen:»Von Eiern? 47 Mein Gott, das bedeutet Ärger . . .« Sie vergaß dabei, daß ihr der Ärger bereits serviert worden war.

»Oder von Schinken und Bratkartoffeln«, lenkte die Kleine versöhnlich ein. »Ich weiß es nicht mehr genau. Vom Essen jedenfalls.« Sie griff nach einem halben, ausgetrockneten Brötchen, das neben ihr auf der Platte des polierten Nachttischchens lag, und schob es in den Mund. »Wo bleibt Amalie?« fragte sie schnippisch. »Sicherlich hat sie sich gestern wieder zu lange herumgetrieben.«

»Wie du nur scherzen kannst«, sagte die Freifrau mit vorwurfsvoller Stimme. »Nach all dem, was wir durchgemacht haben«, fügte sie noch hinzu. »Übrigens höre ich draußen den guten Roderich schon.«

In der Tat war ein Klirren und Klingeln von Tassen zu vernehmen, ein Schlurren, Schleifen und Hüsteln, das über den langen Flur aus dem leeren geschwärzten Berliner Zimmer kam und sich vorsichtig näherte. Dieser ›Blinddarm‹, wie die Jüngste den Flur zu dem Zimmer der Freifrau nannte, glich seit den Kampfhandlungen, die kleine, bröckelnde Löcher, Schießscharten ähnlich, in ihn geschlagen hatten, dem ringsum laufenden Wehrgang einer schäbigen Ritterburg; er ließ jetzt die Sonne, den Mond und die Sterne in sein unromantisches Inneres leuchten und machte den Hängeboden erkenntlich, den Besenschrank und die Sicherungen, die lieblos dort untergebracht, aber durch ihren neuen Aspekt nicht schöner geworden waren. Diesen Flur entlang kam jetzt Roderich, der Bruder des erschossenen Dörfer, früherer Generalintendant eines kleinen Landestheaters im Duodez-Format. Es war seine Leidenschaft und sein Vorrecht, das Frühstück zu zelebrieren, und niemand hätte es wagen dürfen, ihn bei der Zubereitung, dem Aufbau, ja selbst dem Servieren zu stören; und auch nur, bei seiner Annäherung die Tür nach dem Zimmer der Damen zu öffnen, wäre 48 bereits eine Störung der heiligen Handlung gewesen. Wie immer sah Frau von Dörfer dem Eintritt ihres Schwagers mit liebenswürdiger Spannung und jenem Ausdruck entgegen, der ihr früher zu eigen gewesen war, wenn sie das Schildpattlorgnon an die Augen gehoben hatte, um das Programm des Kammerkonzerts genußvoll zu studieren; Herr von Dörfer, das Frühstückstablett wie im Triumph vor sich hertragend, wandelte langsam herein, während Irene hinter ihm die Tür in das Schloß zurückzog, die er, den spitzen Ellenbogen zu Hilfe nehmend, geöffnet hatte, und die kleine Ingeborg wie gewöhnlich in die Worte ausbrach: »Endlich, Amalie! Ich sterbe schon vor Hunger. Wo bleibt meine Schokolade?«

Auch dieser Scherz wurde – sozusagen verabredungsgemäß – nach einem bestimmten Ritus entgegengenommen, belacht und von Dörfer beantwortet: »Schokolade? Ich dachte, das gnädige Fräulein trinkt heute Pfefferminztee. Die Rebhuhnpastete von gestern abend war wirklich etwas zu schwer.« Der frühere Generalintendant mit dem kurzen, graublonden Backenbart, den er sich während der bösen Tage und nachfolgenden Wochen der Eroberung hatte wachsen lassen, und dem schwarzgeränderten Einglas im Auge glich einem baltischen Edelmann eher als einem Schauspieldirektor; vielmehr, er vereinigte beides auf lächerliche Art. Den ersten Akt der Komödie eröffnend, setzte er vorsichtig das Tablett mit dem kunstvollen Aufbau der Teller und Tassen, Schalen und Schüsselchen nieder und begann, seine Reichtümer auszubreiten: geröstete Brotschnitten, überhaucht von einigen Gramm Margarine, kleingeraffelte, junge Karotten, von Brunnenkresse, Löwenzahnblättern und anderem Wildgemüse umgeben; Brotaufstrich, undefinierbar, doch dafür um so verführerischer aus den Resten von Frau von Dörfers vegetarischer Speisekammer; Paprikamus, Tomatenpüree 49 und Hefeflocken, zusammengesetzt; ein geriebener Apfel, ein Fingerhut Honig und ein daumengroßes Hammelkotelett, das Herr von Dörfer sich für seinen Liebling, die ungezogene Ingeborg, heimlich vom Mund abgespart hatte.

»Du bist ein Zauberer, Roderich«, mußte jetzt Frau von Dörfer sagen, und wie nach Übereinkunft hatte der Generalintendant: »Ich bitte dich, teuerste Margarete, Nachdenken ist keine Hexerei« seiner Schwägerin zu entgegnen. Sofort war der ganze Frühstückstisch von Fliegen überschwärmt. Sie mußten aus allen Ecken und Ritzen hervorgekrochen sein, aus dem Schutthaufen mit den zerbeulten, entleerten Konservendosen, den Minentümpeln, den Rattenlöchern und aus dem leichten Bewurf der Hügel, mit dem man gefallene Menschen und Pferde nur oberflächlich zugedeckt hatte, um sie dann bei Gelegenheit später in sachgemäß ausgehobene Erde, gekalkte Gruben, Friedhöfe, Gräber oder auch an der gleichen Stelle von neuem zu versenken. Dieses Fliegengeschmeiß, dem außer der Klatsche weder Leimbänder noch Arsenikteller, um es einzudämmen, entgegenstanden, war tolldreist wie noch nie. Es kroch in Ohrmuscheln, Nasenlöcher und begattete sich ohne Scham und Scheu auf dem Handrücken seiner Verfolger. Man konnte glauben, daß Beelzebub, der Fliegenkönig, sie alle mit einer Botschaft begabt oder sich in dem beständigen Summen ihrer scheußlichen, schwarzgrauen Leiber vergegenwärtigt habe. In ihrer unbegreiflichen Masse, ihrer Gefährlichkeit, ihrer Frechheit und ihrem unermüdlichen Drang, sich endlos zu vermehren, sprach sich, entgegen aller Vernunft, ein höllisches Mysterium, das die Oberfläche des Lebens durchbrach, um sich widerwillig zu offenbaren, mit aller Deutlichkeit aus: Was jahrelang in der Tiefe sein teuflisches Wesen getrieben und die Abfallhaufen des Daseins, den Schindanger der Gewissen und die Senkgrube mit dem Gestank der Lüge 50 und ihrem sich ständig erneuernden Inhalt aus abgestoßenen Phrasen bevölkert und wohlig bebrütet hatte, stieg jetzt wie eine der sieben ägyptischen Plagen empor: majestätisch in seiner vollendeten Bosheit, seiner unerschöpflichen Kraft. Es triumphierte, es war ein Körper mit brausendem Haupt, ätherischen Flügeln und gräulichem Hinterleib.

»Stört dich das Ungeziefer, Mama?« fragte Ingeborg mit der Gleichmut der Jugend und fügte hinzu: »Mich stört das gar nicht. In unseren Ställen war es nicht anders, und überhaupt gewöhnt sich der Mensch an jede Neuerung.«

»In unseren Ställen«, sagte die Freifrau mit verzweifelter Bitterkeit. »Doch nicht in meinem Boudoir.«

Roderich nickte ihr beifällig zu und legte in dem Bestreben, vermittelnd einzugreifen, die Hand auf ihren Arm. »Gewiß. Aber hier ist es doch jetzt sehr nett. Wahrhaftig, wer hätte dieses Behagen, diese Wohnlichkeit so aus dem Nichts erschaffen, und so wiederherstellen können wie du, liebe Schwägerin? Ein Ästhet wie ich kann das doppelt genießen – habe ich recht oder nicht?«

Wieder schoben sie Frage und Antwort, Brotkorb und Marmeladenbehälter mit brüchiger Grazie einander entgegen; Ingeborg leckte den Honig von ihren Fingerspitzen und sagte plötzlich: »Merkwürdig, wie? Findest du nicht, Irene, daß das alles sehr merkwürdig ist? Sind wir Revenants oder leben wir noch? Und wenn wir leben: aus welchem Stoff sind wir dann alle gemacht?«

Ohne zu antworten, aß und trank die ganze Familie weiter; nur Roderich, völlig hingerissen, blickte entzückt auf das junge Mädchen und fand seine eigene Meinung wieder einmal bestätigt, daß aus Ingeborg, ohne daß sie es merkte, die verblüffenden Einsichten, Fähigkeiten und das erstaunliche Körperbewußtsein einer Rasse gut gezüchteter Tiere unerklärlich zutage traten – ganz ohne Zusammenhang 51 mit ihrer Reife und ihrer Verantwortung. Deshalb legte auch niemand außer dem Onkel auf ihre Aperçus großen Wert; man ließ sie wie Brotkrumen unter den Tisch für Besen und Schaufel fallen, für den vorüberhuschenden Hunger gefräßiger Penaten und das alte dumme Orakelspiel, bei welchem man mit der Nadel nach dem Blitz der Erkenntnis sticht . . . Sie frühstückten etwas hastig zu Ende, immer wieder durch die gereizte Abwehr des Fliegenschwarms unterbrochen; dann legte Irene unvermittelt ihre Serviette zusammen und sagte: »Ich gehe jetzt, um meinen Rucksack zu packen; du entschuldigst mich wohl, Mama?«

»Nein. Warte noch –!« sagte die Freifrau nervös. »Es ist noch einiges zu besprechen. Und wenn du erst fort bist . . .«

»Aber Mama, ich bleibe doch nur ein paar Tage«, beschwichtigte sie die Tochter mit fühlbarer Ungeduld. »Onkel Roderich weiß mit allem Bescheid. Ingeborg übrigens auch.«

»Ich werde mich hüten, Bescheid zu wissen. Wie, Onkel Roderich? Übrigens mußt du schon lernen, Mama, dich endlich auf dieser Erde ein wenig zurechtzufinden, wenn du uns überlebst. Und daß du uns alle einmal überlebst, ist doch vollkommen einwandfrei. Im Grunde finde ich, daß es bereits der Fall ist –!« Ingeborg lachte herzlos wie über einen Witz. »Habe ich das nicht treffend bemerkt, Herr Generalintendant?«

»Wie? Was?« Herr Roderich von Dörfer fing zu schwitzen und stottern an.

»Du solltest dich schämen«, sagte die Mutter, »derartige Reden zu führen«.

»Ja? Sollte ich?« gab ihr das junge Mädchen in drohendem Ton zurück. Ihre zarte Kinderhaut fing zu glühen, die Sommersprossen auf ihrem Näschen, das plötzlich erblaßt war, wie immer, wenn Jähzorn sie übermannte, 52 fingen zu dunkeln an; in der hellblauen Iris der großen Augen zog sich sogar die Pupille zusammen, und ihre ungebärdigen Haare flatterten wie gereizte Schlangen um das kleine Medusenhaupt. Fast gleichzeitig schlug ihr die Mutter, außer sich vor Verzweiflung, mitten in das Gesicht. »Das wirst du Tante Demetria sagen!« schrie Ingeborg, zitternd an allen Gliedern, ihrer Schwester Irene zu. Der Ausdruck der Kleinen – von Jähzorn in Bosheit hinüberspielend – spiegelte den Triumph eines Menschen, der weiß, daß der abgeschossene Pfeil in das Schwarze getroffen hat.

Frau von Dörfer, schluchzend und lachend in einem, stand vollkommen hilflos da; Irene faßte beruhigend ihre schrecklich zuckenden Hände und sagte zu Ingeborg: »Nun, wahrhaftig, ich glaube, Tante Demetria würde wenig Verständnis für diese Szene haben. Wirfst du Mama etwa vor, ihren Mann überlebt zu haben? Oder was sollen sonst diese Witze, die mir wenig geschmackvoll scheinen?«

Ingeborg, von der zornigen Strenge ihrer älteren Schwester betroffen, sagte: »Ich werfe es ihr nicht vor – so wenig unsere Mutter das Recht hat, dir einen Vorwurf zu machen. Am Ende ist gar noch der gute Onkel an dieser Tragödie schuld. Wie, Onkel Roderich?«

Alle blickten einander an und bemerkten plötzlich, daß jeder von ihnen seine eigene Maske trug. Sie rückten an ihnen, wie man an Brillen, deren Steg sich verschoben hat, hin und her rückt; sie schoben die Augenschlitze zurecht und gaben es endlich seufzend auf, mit ihnen fertig zu werden. »Lächerlich«, sagte Roderich jetzt, »daß einer dem anderen zuschiebt – – vielmehr: verrückt. Tatsächlich: verrückt. Oder kann man das anders nennen?«

Sie verneinten; die kreideweiße, fast eirund geschnittene Maske der armen Frau von Dörfer wandte sich hilfesuchend dem Gesicht ihres Schwagers zu, einer rosigen 53 Atlasattrappe, in welcher sehr hoch gezeichnete, wie mit der Nadel gestichelte Brauen über dem Augenschlitz saßen, und ihr etwas merkwürdig Kindisches und einen Zug des Erstaunens verliehen, der durch die Linienführung der Bögen wie festgefroren war. Auch die beiden Schwestern prüften einander mit aufmerksamen Blicken. Die laubgrüne Maske der Jüngeren, aus feinem Gittertüll angefertigt, schien dem Stoff eines Schmetterlingsnetzes entnommen worden zu sein, das ein Knabe, der auf Asphodeloswiesen nach Schwalbenschwänzen gejagt hat, liegengelassen hatte. Es kehrte sich jetzt nach Irenes dunkler, fast dämonischer Maske hin, einem Gesicht, das ohne Konturen und nur noch Geheimnis war. Es verriet nichts von seiner Trägerin, es hatte sie, wie der Abend die Erde, vollkommen aufgesogen und sich an ihre Stelle gesetzt: ein Schatten aus Veilchenduft und Verwesung anstelle dieser sichtbaren Welt; eine Unterweltsgöttin anstelle einer lebendigen Jungfrau und Tochter Demeters . . .

»Entsinnst du dich«, schien die laubgrüne Maske die andere zu beschwören, »entsinnst du dich noch an die kleinen Wege und ihre taufrischen Gräser am Morgen, aus denen die ersten Lerchenstimmen in zersprengendem Jubel steigen? An das Bienensummen der Mittagsstunde und das Zirpen der Grillen am Abend, wenn die Mäher zur Ruhe gehen? Entsinnst du dich noch –«

»Ich entsinne mich nicht, und ich weiß nicht mehr, was ein Wasserkrug ist, seit ich gewöhnt bin, die Hände, wenn mich dürstet, als Schale und Becher zu höhlen; und nicht mehr, wozu ein Lippenpaar gut ist, es sei denn, um meinen Durst zu löschen, wenn ich fast schon verschmachtet bin.«

»Und ein Kuß?«

»Man küßt nicht unter der Maske.«

»Dann will ich, um küssen zu können, die Maske abnehmen, 54 dieses Ding da, das uns erinnerungslos für die Erde und ohne Hoffnung macht.«

Ingeborg wandte sich brüsk zu dem Fenster und sagte laut: »Vergiß nicht, den Bauer an die Kartoffeln zu mahnen, die er uns für den Smyrnateppich noch immer schuldig ist. Diese Bestie würde sich niemals rühren, wenn wir nicht nachfragen wollten.«

»Richtig«, sagte der Onkel lebhaft. »Diese Bestie – wie hieß sie doch gleich?«

»Pachulke«, sagte die Freifrau von Dörfer. »Du mußt achtgeben – diesen Namen gibt es dort fünf- oder sechsmal. Der, welcher unseren Teppich gekauft hat, ist Herr Pachulke II. Tante Demetria kennt ihn genau, denn sie läßt die Ackerpferde des Klosters bei diesem Pachulke beschlagen, der an dem Eingang des Dorf es eine kleine Hufschmiede hat. Vor Jahren habe ich ihn gesehen: einen hinkenden Mann mit roten Haaren und verwachsenen Augenbrauen, heiter und stark wie Vulkan.«

»Dieser, der unseren Teppich kaufte, war düster und dunkel, soviel ich weiß«, sagte Irene rasch.

»Sicher. Ein Sohn des alten Vulkan, der mittlerweile wohl grau und fahl wie ein mottenzerfressener Iltispelz ist.« Sie legte sich wieder befriedigt zurück und schloß die Augen. Ein Traumbild in mythologisch glühenden Farben zog langsam und feierlich an ihr vorüber und ging wie eine Erinnerung durch ihren zerstörten Sinn. Sie sah einen Dorfeingang und eine Schmiede vor dem Hintergrund eines Gewitterhimmels und ein Getümmel mutiger Pferde, die von Knechten gehalten wurden. Linker Hand war eine offene Esse, ein Amboß, auf welchem geschmiedet wurde, und rötlicher Feuerschein; rechter Hand stand ein Apfelschimmel mit ängstlich wilden Augen, der gerade beschlagen wurde, während ein zweiter herangeführt ward, sich bäumte und von einem alten Mann, der nackt war 55 bis auf ein Lendentuch, gezügelt zu werden schien. Plötzlich, während sie angestrengt hinsah und den Tanz der Feuerfunken verfolgte, die aus der Esse sprangen, bemerkte die Träumende kleine Wesen: geflügelte Putten, flinke Eroten, die durch die Beine der Knechte schlüpften, sich rasch auf den Rücken der Rosse schwangen und an der Mähne hielten. »Nimm dich in acht«, hörte Frau von Dörfer sich zu der Tochter sagen, »an der Schmiede vorüberzugehen, wenn du das Kloster besuchst. Wie man weiß, ist Vulkan auch ein Gott der Liebe und vermag Schicksal an Schicksal und Ring an Ring zu schmieden«.

Sie erwachte, fuhr auf und sah ihren Schwager, wie er sich mit Irene über die Landkarte beugte, über ein schon verbrauchtes und in den Falten mürbe gewordenes Kartenblatt, auf welchem jedes Einzelgehöft, jede Mühle und jeder Ententeich, Feldwege, Holzbrücken, Bahnwärterhäuschen und Übergänge verzeichnet waren. Es war Dagoberts Generalstabskarte, die man nach seinem plötzlichen Ende in einer Manteltasche gefunden, und welche Irene, als sie später das Kleidungsstück reinigte, an sich genommen hatte. In dem Zustand reizbarer Übermüdung, der die Kranke jetzt öfter kurz nach dem Frühstück als ein zweiter fast visionärer Halbschlaf unwiderstehlich befiel, erkannte Frau von Dörfer den Weg, den Irene nun gehen würde – gehen, an Hand jener schuldlos mißbrauchten, fein gezeichneten Hieroglyphen, die Feldwege, Mühlen, Bahnwärterhäuschen, einen Entenpfuhl, einen Steinbruch und eine Brücke bezeichneten, die über das Wasser führte . . .

Diese hölzerne Brücke war heute zerstört und nicht mehr zu benutzen; wie eine chinesische Tuschmalerei stand ihr zerbrochener Bogen über dem grauen Strom und schien die erhabene Gleichgültigkeit einer Jahrtausende alten Geschichte in ihrer immerwährenden Form der Zerstörung 56 zu symbolisieren. Kein Gedanke daran, daß sie aufgebaut würde: mehrere Kiefern am anderen Ufer, deren Kronen ein warmer Südwestwind bewegte, und hohe, eilig ziehende Wolken machten das Bild einer fremden Schönheit von asiatischer Eigenart voll, die sich weigerte, ihre Prägung von diesem Stück Erde hinwegzunehmen, das jetzt erst vollkommen war. Auch einige Lammfellmützen über verwegenen dunklen Gesichtern und fremde Uniformen, Gewehre und Wolfshunde fehlten nicht. Ihr heiteres Spiel, das mit dem Wind um die Wette, und ferne Stimmen, bald hoch, bald tief, die über die Ebene liefen, dehnten den Raum auf magische Weise in das Unendliche aus. War er nun seinem Ursprung wieder zurückgegeben, oder begann mit dem Ursprung aufs neue, was heute zu Ende war? Von dem Einschlag der schweren Artillerie und der großen Bomben hatte die Erde wieder einmal gebebt wie der Amboß von dem Hammer des alten Vulkan; die Brücke war in das Wasser gesunken; Wasser und Feuer vermählten sich in dem Bild der gebäumten Rosse, die frisch beschlagen waren, und das Reiterbild von Andreas Schlüter flammte im Untergang.

»Das ist der Weg, den ich gehen werde«, sagte Irene ruhig. »Natürlich kann man von hier aus nicht wissen, welche Möglichkeiten der Fahrtverbindung hinter der Ausfallstraße sind; welche Kleinbahn schon in Betrieb genommen, und welche zerstört worden ist. Im übrigen muß man sich ebenso sehr auf einen Bauernkarren verlassen wie auf den Omnibus, mit welchem schon wieder Dieser und Jener mitgekommen sein soll.«

»Nur Soldaten«, sagte Roderich ängstlich. »Besatzungstruppen und Heimkehrer manchmal, die russisch radebrechen.«

Irene lächelte ihm ermunternd mit ausdrücklicher Ironie und sanfter Heiterkeit zu. »Ihr vergeßt alle, daß ich 57 Russisch verstehe wie meine Muttersprache«, sagte sie dann bestimmt.

»Und du liebst dieses Volk?« fragte Roderich; es war nur eine platonische Frage, ihr Tonfall bezeugte es.

»Ich liebe es«, gab ihm Irene mit leiser Stimme zurück. Dann, während ihr Gesicht sich entflammte, und wieder von Trauer beschattet wurde: »Ich liebe es – leidenschaftlich«, sagte sie. Keine Mänade konnte im Ausdruck wilder und zugleich lieblicher sein.

 

»Daß die alten Götter des Kontinents, daß die große Gigantomachie der Kräfte, die Häresien jeglicher Art und auch ihre Überwinder nur unter der Maske wiederkehren, um ihren Kampf auszutragen, habe ich dir, o Felix, schon oft auseinandergesetzt«, schrieb der Schauspieler Albrecht Beifuß an seinen Freund, einen Maler, den er abwechselnd ›Felix‹, wie eben hier, oder ›Festus‹ zu nennen pflegte. »Auch, daß wir verdorrt sind, weil wir die Maske leichtfertig abgelegt und nichts weiter als unsere eng begrenzte, kümmerliche kleine Person in den Weltraum gehalten haben; in die schwarzen, geheimnisvoll zehrenden Winde, die von dem Sirius fallen, von dem kalten Orion, der eisigen Schlange und der fernen Andromeda. Nun sind wir ausgedörrt wie ein Erdteil, den man Jahr für Jahr abgeholzt hatte, wir wurden unfruchtbar wie die Sahara, ohne daß wir die Größe der Wüste dagegen eingetauscht haben. Ohne den Schutz des Filtrierapparates sind wir hinab in die tiefen Schäfte unserer Psyche gefahren, und ohne Taucherglocke hinunter auf den Grund der eignen Natur. Wir erkannten uns selbst und kannten so gründlich die verschiedenen Schichten unseres Wesens, daß wir zuletzt wieder voller Schrecken in das Allgemeine zu flüchten versucht und unsere Eigenschaften und Triebe in gemeinsamen Sinnbildern wiederzufinden und zu entschuldigen 58 oder sogar zu lieben beschlossen haben. Erkenne dich selbst! hieß der Aufruf an dem Anfang unsrer Geschichte, welche uns, die wir voll Blasphemie an den Tischen der Götter gesessen haben, auf dem stinkenden Fischmarkt griechischer Städtchen zurückgelassen hatte – und ›erkenne dich selbst‹ ist das letzte Wort der falschen Heilande unserer Zeit und die faule Parole des alten Magiers von der blauen Donau gewesen, deren Dahinfluß zwar nicht mehr vom Heer der Nibelungen, aber von Schrammeln und Schlagern begleitet worden ist, von dem Jaulen der Jazzmusik und dem Krähen des albernen Zapfenstreichs. Bis zum Überdruß hat sich in uns das Gemeine und Niedrige erkannt. Es richtete seine Blendlaterne auf die verschwiegensten Körperteile und überhöhte ihre Bedeutung, ohne daß doch aus dem Angestrahlten ein heiliger Priap geworden wäre, eine geheimnistragende Herme oder das schauerlich tiefe Zeichen einer eleusischen Muttergöttin, die tötet und wiedergebiert. Vielleicht, daß ein Mann von dem Laster, auf den Fingernägeln zu kauen, und eine Frau von der Sucht, in großen Warenhäusern die Bijouterieabteilung zu plündern und falsche Perlenketten zu stehlen, geheilt worden ist, o Festus – aber wenn sich auch wirklich der Acheron nach dem Willen des Magiers bewegt hat, so möchte ich doch nicht Zeuge des olympischen hohen Gelächters und des Spottes der Götter gewesen sein, als man zwar ihren Huf und ihr Horn, den geschundenen Marsyas, die tollen Mänaden, die trunkenen Silene und das Völkchen der Inkuben bezwungen, aber sie selbst, den geistvollen Zeus und die mütterlich waltende Hera, den klaren Apollo, den tiefen Hermes und die schimmernde Aphrodite zu beschwören, vergessen hatte. Denn du weißt doch, Felix, daß diese Götter von den streitbaren alten Kirchenvätern als Teufel betrachtet wurden – von dem groben Hieronymus ebensowohl wie von dem klugen und 59 eleganten Herrn Tertullian; von der ›Zither des heiligen Geistes‹, wie man Ephräm, den Syrer, nannte, wie von Chrysostomus. Das bedeutet aber, daß jene Götter Wahrheit und Wirklichkeit haben; daß sie Weiterlebende an und für sich, und nicht nur in unserer Einbildung sind; Weiterwirkende, denen wir Stümper ohne die heilige Maske entgegengetreten waren, ohne das Siegelwort, das sie bindet, und ohne das Labarum Konstantins, vor dem sie niederfallen. So sind wir von ihnen, Felix, diesen abendländischen Teufeln, bezwungen worden; wir hatten geglaubt, sie an Schläue zu übertreffen, indem wir ihr Dasein als ein Naturgleichnis nahmen; einen Mythos, dem wir Phosphat und Kali in der Landbestellung entgegensetzten; die Einfuhrzölle, die Planwirtschaft und jegliche Rationierung. Wir haben ihnen, den Schrecklichen, ihren Platz in der Realität bestritten und sie dafür in die Konstellation von Karl Müller und Ella Lehmann verwiesen, welche nur ihren eigenen Mars, ihre eigene Venus und ihren Saturn samt Merkur für den Hausgebrauch haben. Daß die Olympischen dieses Verfahren mit offener Empörung beantwortet hätten, Felix, wäre nicht zu begreifen gewesen, und es war auch tatsächlich nicht so. Hätte sich doch die Mehrzahl von ihnen durch dieses tragische Pathos der Möglichkeit begeben, von neuem zurückzukehren! Sie gestatteten also ihre Verwendung auf Kosmetikartikeln und in Horoskopen und traten – nicht ohne Chiton und Schleier malerisch umgeworfen und ihre Flöte an junge Dichter bukolischer Prägung und leeren Kopfes abgegeben zu haben – in die eigentliche Verhüllung zurück: in das Nichtsein, in den symbolischen Schnörkel, der gleichzeitig auch das schematische Bild einer Atombombe, beispielsweise, und ihrer Geschoßbahn bedeuten konnte, die man in Ziffern dargestellt hat, in Gleichungen, isomorphen Figuren, die jeden Inhalt umschließen dürfen, ohne sich freilich 60 ausdrücklich auf ihn, sondern nur auf die rein hypothetischen Formeln dieses Inhalts geeinigt zu haben . . .

Doch welch ein Vorgang! In abstrakten Symbolen, in welchen die Kausalität durchbrochen und nur noch für den Gebrauch der Technik aufbewahrt worden ist, biegt sich – wie bei dem Anblick der ehernen Schlange – die dumpfe Materie in die Aufhebung ihrer selbst zurück, und es tritt [o mysterium tremens!] der Schöpfer in seine alten Rechte; es müssen die Teufel ihn jammernd bekennen, ihn anbeten und in der Hölle als dem ganz geschlossenen ehernen Raum der zu Ende gegangenen Möglichkeiten unter Furcht und Zittern verehren. Denn obwohl es der Hölle gestattet ist, mit der Verführung, an nichts zu glauben [und also auch nicht an den Satan], und mit der Leugnung des Satans hinwieder die Trinität anzutasten, die der Hölle erst Wirklichkeit gibt, wählt in der Entscheidung, zu sein oder nicht, der Teufel doch immer das Sein. Wer wäre nämlich so eitel wie Luzifer? Sogar um den Kaufpreis, durch scheinbaren Verzicht auf sich selbst seine geliebte Massa damnata mit der Geschwindigkeit eines Lichtstrahls dem Abgrund entgegenzutreiben, vermag er nicht auf den Triumph zu verzichten, sich als ein Wesen von furchtbarer Größe, als einen der höchsten Gedanken Gottes, ja, als den Gegengott selber den Seinen zu offenbaren. So erträgt er es stets nur kurze Zeit, sich wie die quiekende graue Feldmaus in das Ackerloch zu verkriechen. Sich selber Bussard zugleich und Maus, schlägt er die unbarmherzigen Fänge in das eigene Eingeweide – er, welcher wieder einmal versäumt hat, sich der Schutzfarbe zu bedienen und sich auszulöschen: Geist mit Materie; Materie mit Gegengeist. So wäre also wahrhaftig, mein Felix, die Abstraktion unsre heilige Maske, mit der wir Freien dem unfreien Satan heute entgegentreten? Und dein fröhlicher Pinsel, triefend von Farbe, wäre, du Meister 61 abstrakter Bilder, das Florett, mit welchem der Prokurator bedeutungsvoller Provinzen den gefangenen Paulus in sich von Felix zu Festus hinübertreibt. Den ›gefangenen Paulus‹, sagte ich eben, und höre schon, wie dir Festus zuruft: ›Du bist von Sinnen, Paulus!‹ Denn was du gepredigt hast, ist nichts andres als die Auferstehung der Toten und das, wovor die Materie erzittert, wenn sich die Toten erheben: die Verwandlung nämlich und mit der Verwandlung die letzte Phase von Engelsturz und Naturgesetz, die beide in diesem Augenblick zu Ende gegangen sind. In immer wechselnden Formen, mein Freund, hast du den Aufbau der neuen Materie darzustellen versucht – und verzweifelt über die alte Erkenntnis, daß wir die Maße der Schöpfung verloren haben, Festus, den Gleichklang mit dem Wandel der Sterne und die Verhältniszahlen, hast du den Pinsel fluchend und betend in eine Ecke geworfen und angefangen, zu diskutieren, Sanskrit zu erlernen, Plotin zu lesen und in das Geheimnis der sphärischen Ecke einzudringen, der Quantentheorie und der Frage um die Gleichheit von Raum und Zeit. Doch was half es dir? Und was hülfe es mir, dem trocken und kalt gewordenen Mimen, der von der Eitelkeit an die Rampe gepeitscht worden ist wie ein hüpfender Triesel, wenn ich mir wieder wie meinesgleichen vor über 2000 Jahren die Maske vorbinden wollte? Wo wäre der Gott, hindurchzutönen und sich der gaffenden Schar der Mysten aufs neue zu offenbaren? Wir suchen zwar alle die Fundamente, auf welchen die Vaterstadt des Äneas errichtet worden ist; aber wenn sich nun wirklich das geistige Troja vor unseren Augen plötzlich erhöbe – wer wäre nicht, ähnlich den Zeitgenossen von Heinrich Schliemann, geneigt, zu behaupten, nur einer unwissenschaftlichen Täuschung zum Opfer gefallen zu sein? Wir suchen Troja, wir suchen Äneas, und mit Äneas den Ursprung unseres Abendlandes; 62 wir suchen Patmos, den Sänger von Patmos und mit dem Sänger von Patmos das Neue Jerusalem. Wir suchen es, und wir werden es finden – aber werden wir auch erkennen, was wir gefunden haben?«

An dieser Stelle hatte Albrecht Beifuß den Brief unterbrochen, den Federhalter zurückgelegt und das erschöpfte, scharfe Gesicht auf die Arme über dem Stehpult geworfen, das leise zitterte. Das Atelier seines Freundes Felix, das beide bis kurz vor dem Ende des Krieges gemeinsam bewohnt hatten, war so still, daß das Ticken der kleinen Weckuhr neben dem Ruhebett das einzige Geräusch zu sein schien, das nach dem Untergang dieser Stadt übriggeblieben war. Das dünne Abwehrfeuer der Flak und der kurze, furchtbare Einschlag der Bomben, das langhin dröhnende Brüllen der schweren Artillerie und das Gurgeln der eisernen Stalinorgel . . . der Einzug der Panzer . . . peitschende Schüsse aus grauen Widerstandsnestern . . . dies alles schien in das kleine Gehäuse der Weckuhr eingegangen zu sein und immer wieder, bevor jene stillstand, von einer automatischen Hand aufgezogen zu werden. Der Raum, wie ein sinkendes Schiff mit Wasser, war vollgelaufen bis obenhin mit lauter Katastrophen, für welche kein Abfluß vorgesehen, keine Öffnung vorhanden war; es sei denn, das vielfach geflickte Fenster höbe sich mit der Gewalt der Verzweiflung in seinen Haken nach oben und schlüge sich wie der zerbrochene Flügel eines angeschossenen Vogels gegen den Himmel zu auf. Aber Beifuß dachte im Traum nicht daran, dieses Fenster zu öffnen und diesem Gehäuse den Charakter der angehaltenen Zeit und der Raumlosigkeit zu nehmen, der ihm zu eigen war – denn erst mit dem Einstrom der Atmosphäre und dem Anblick der ständig wechselnden Bilder des gestirnten Himmels wäre es mehr als nur eine Weltraumrakete gewesen, ein geheimnisvoll rasender Körper, in dessen Innerm eine 63 fiktive chimärische Zeit gemessen wurde, die nicht mehr Funktion einer wahren Bewegung, sondern reine Willkür war, unkontrolliert von jeder Realität.

Von solcher Raumlosigkeit wurde Beifuß, ohne daß er es wußte, zum ersten Mal seit den Wochen des Untergangs gequält. Die große Kerze, noch war kein Strom da, brannte allzu geschützt, um Schatten von wechselnder Bewegung auf den Dingen hervorzubringen, und die Dinge selbst waren unverrückbar und wie festgenagelt geworden, weil keiner sie gebrauchte. Nur eine kirschrote Baskenmütze hing an dem bröckelnden Nagel des Fensterrahmens wie eine Fanfare; sobald man sie wahrnahm, begann sie zu tönen und anzuschwellen, stärker und stärker, ohrenzerreißend, als ob sie bestimmt sei, in alle Gräber zu dringen und die Toten herauszuholen. Der Schauspieler nahm sie vom Nagel herunter und setzte sie gedankenlos auf wie ein Mann, der sich um Mitternacht anschickt, in der Kneipe um die Ecke herum, eine Schachtel Zigaretten zu holen. Dann hob er die Kerze aus ihrem Halter, einem hohen, schmiedeeisernen Leuchter, der auf dem Boden stand, und ging mit ihr die vier Wände seines Gefängnisses ab. Er ging an der alten Barockkommode mit den stumpfen Intarsien vorüber, diesem Ding wie aus längst verklungenem Donner und süßer Ausschweifung angefertigt; an der Truhe, mit eisernen Bändern beschlagen, die dem Holzwurm nicht wehren konnten, sein Werk so gründlich zu vollenden, daß sie bald nur noch ein Schwammgebilde aus lauter Löchern war und pure Vergänglichkeit; an den köstlichen Gläsern, Krügen und Bechern, welche ein Wandbord ihm hinhielt, während sie selber im Schein der Kerze wie Epileptische feixten und zuckten und ihm einzureden versuchten, das ganze Atelier samt den Bildern, die seltsam genug zu dem prachtvollen Ramsch des erblindeten Mobiliars und dem Schmelz 64 der böhmischen Gläser paßten, sei so abstrakt wie die Bilder selbst; es sei aus lichtempfindlicher Netzhaut unter geschlossenen Augen gemacht oder aus lauter Echostellen, die auf Schallwellen reagierten, die für das menschliche Ohr zu kurz und also nicht wahrnehmbar wären.

Albrecht Beifuß blies die Wachskerze aus und blieb mit hängenden Armen inmitten des Ateliers stehen; daß er die Mütze noch auf dem Kopf trug, kam ihm nicht zum Bewußtsein, ebensowenig, daß jetzt und hier über das Glasdach das gleiche Flugzeug mit der gleichen Bemannung dahinzog, dessen Donnern vor genau sechs Minuten die Mondscheibe, welche über den Kiefern und dem verwilderten Garten an dem westlichen Stadtrand hing, entzwei geschnitten hatte. Nur ein flüchtiges Beben fuhr über die Scheiben, nicht mehr als eine Berührung im Traum, deren Wirkung dem Schläfer zum Anlaß einer Verknüpfung innerer Bilder und tiefer Visionen wird. Dem Impuls dieser jähen Bewegung gehorsam, die das Vorüberhuschen des Schattens auf dem mondhellen Glasdach ausgelöst hatte, stellte Beifuß zum ersten Mal wieder die undurchsichtigen Scheiben hoch, und das Mondlicht, welches bis dahin – ebenso wie das Tageslicht – nur durch den Nebenraum einfallen konnte, strömte in breiter, blendender Bahn fast körperhaft in das Atelier und lag so hell auf dem Lesepult, daß Beifuß ohne künstliches Licht seine Zeilen beendigen konnte. Seine Hände, die das Briefblatt berührten, lagen wie unter Wasser; von dem Grund herauf stiegen jetzt Worte und Sätze, die quadratischen Blöcken, Säulen und Architraven glichen. Sie erbauten Vineta, erbauten Troja, erbauten Jerusalem. Sie waren die Stadt, die von jeher da war, und waren ihre Maße zugleich, nach der alle übrigen Städte insgeheim angelegt waren. Keine Zerstörung konnte sie treffen, diese vollkommen unzerstörbare Stadt, sie war nicht berührbar vom Fluch der 65 Zeit und der Vergänglichkeit; sie alterte nicht, sie war ohne Makel, sie war die Freundin des Weltenschöpfers, der sie anredete: meine Schöne, du meine Taube, du Zeder und Palme, laß mich dein Angesicht sehen! Sie spielte vor ihm als die Weisheit des Ursprungs, sie bewog ihn, Himmel und Erde zu schaffen und das Geschaffene auch zu lieben, weil es ihr ähnlich war. Sie allein hatte Zutritt zu jenem Zelt, in welchem sich das Geheimnis der Trinität vollzieht, kein Engel, nur sie allein. Sie war geschaffen, doch nicht in der Zeit, obwohl sie auch wiederum nicht von Ewigkeit her war – darum seufzte, was unter dem Zeitenfluch, wie die Frau unter Qual und Gesetz der Wehen und ihrem Ablauf lag, zu ihr, in der das Gesetz der Freiheit vollkommen mächtig war. Liebling des Himmels, Liebling der Erde, geheimnisvolle Rose in den Kathedralenfenstern Europas über dem Hochaltar. Turm Davids, elfenbeinerner Turm und goldenes Haus zugleich . . .

Nun war die Mitternacht überschritten; in der zweiten und dritten Stunde des Tages brannten die Nachtgedanken herunter und zerfielen zu Asche: erst grau, dann weiß und allmählich [der Mond war inzwischen gesunken und Merkur, wie der Zaunkönig in dem Gefieder des Adlers, mit der Sonne emporgestiegen] . . . allmählich also hellte der Himmel sich langsam und zögernd auf. Weil das Atelierfenster nach Norden lag, ging das Schauspiel der Dämmerung ohne Farben und ohne das immer erneute Drama von Licht und Finsternis vor sich: ohne das Flammen der Morgenröte und den Speerwurf der neugeborenen Sonne, welche, wie Herkules in der Wiege, die schlangenhaften Häupter der Nacht und ihre Zweifel erstickt; es war vielmehr eine Klärung und Reinigung der Gedanken, die hier versinnbildlicht wurde. Keine Formen außer den Wolkenbastionen, die sich auftürmten, weiterbewegten und dem ständigen Wechsel aus Lust an dem Spiel, immer wieder 66 verändert, umgestaltet und aufgelöst zu werden, ohne Schrei unterworfen waren; einer unendlich leisen Zerstörung und schmerzlosen Wiedergeburt. Nur von dem unteren Fensterrand aus schoben sich mit der sich steigernden Helle einige Mauerhöhlen und Schlote, geborstene Dächer, zerschlagene Firste und schiefe Kamine hoch. Doch sie deuteten eigentlich nur mehr an, was unter ihnen lag; sie waren wie Bildhieroglyphen, deren Bedeutung verborgen war; wie eine Abkürzung, deren Sinn nur dem Eingeweihten verständlich ist, der sie ergänzen kann.

Drei mächtige architektonische Kreise stiegen also konzentrisch übereinander an: in der Tiefe der schrecklich zerstörte Bogen der irdischen Städte; darüber das Gleichnis geheimnisvoller Türme und Tore, sei es Theben, Mykene, Troja, Orplid oder Jerusalem, und im höchsten Äther, dem Herz des Himmels und über dem Scheitelpunkt des Polarsterns die mystische Rose: kreisender Kreis und Fülle der Blütenzungen, in welche die Staubkörner, Blatt für Blatt, ohne Zeugung verwandelt waren . . .

In diesen Äther blickte jetzt Beifuß, ohne geblendet zu sein. Dann schloß er seinen Brief mit den Worten: »Wahrscheinlich werde ich morgen das Atelier verlassen, es abriegeln und für einige Tage nach Anastasiendorf gehen. Gib dem Boten, welcher Dir diesen Brief bringt – ich habe seine Adresse auf einem Anschlagbrett ausgemacht und hoffe, daß 10 Zigaretten genügen, ihn an das Versprechen zu binden, das er mit seinem Angebot: ›Nehme Post mit‹, auf sich geladen hat –, gib also diesem modernen Merkur einen Bericht deines Lebens da unten in Marquardtstein mit; antworte mir, so gut du vermagst, auf meine, wie du sie nennen wirst, vertraulichen Ketzereien und erkundige dich, ob in München der Thespiskarren bald angeschirrt, und von wem die abgetriebene Mähre weitergepeitscht werden wird. Vielleicht, daß ich selbst 67 noch herunterkomme, wenn irgend ein unvorstellbares Wunder mich von der Dürre des Herzens und aller fünf Sinne befreien sollte, die mich mürrisch und unfruchtbar macht – – wahrscheinlich aber nicht. Während ich dieses Schreiben beende, habe ich das Gefühl, bester Felix, als ob ich es wie Gedeons Fell auf der Tenne des Geistes ausgespannt habe, um weniger von dir als von Gott ein Zeichen zu erlangen. Aber welches? Wenn auch der Frühtau auf diese eisigen Worte fiele und sie zum Blühen brächte, das Land aber ringsum trocken bliebe – oder, umgekehrt, wenn die Erbarmung des Wassers das Land befruchtete, aber das Herz des einzelnen dürr und unbefriedigt ließe – wem wäre dann gedient? Wieviel Ernten haben wir schon verwürfelt, wieviel Wasser des Lebens ausgegossen, ohne darauf zu achten? Auch dieses Wunder würde vergeblich und nur ein weiterer Anlaß sein, uns strenger zu richten, härter zu strafen und endgültig zu verdammen. Ich glaube, aber ich hoffe nicht mehr, geschweige daß ich zu lieben vermag – weder mich noch einen der Andern, die mit mir verurteilt sind. Oder hoffe ich trotzdem, ohne zu wissen, was mich zu hoffen bewegt? Ist es Gnade, welche die andere Seite dieser schlechten Briefbogen hier durchdringt, ihre Rückseite, wo sich in Spiegelschrift das Schicksal noch einmal als Gleichnis und Fügung offenbart? Gnade –. Ach! Lebe wohl . . .«

 

Niemals mehr würde Frau Levi-Jeschower, und sollte sie wie ihre eigene Mutter 88 Jahre, ein halbes dazu und 17 Tage alt werden, die Stunde überschlafen, in welcher, als sie noch ›Sara‹ – Fürstin – geheißen hatte, und der Mann, der jetzt friedlich neben ihr schlief, ›Israel' – Gottesstreiter – das Lastauto vorgefahren und das durchdringende Schellen und Hämmern an den Vorplatztüren zu hören gewesen, das Rufen: »Aufwachen! Fertigmachen!«, das Poltern und 68 Brüllen im Treppenhaus, Schreie, Schluchzen und unterdrückte Kommandos, und schließlich das kurze Brummen und Heulen, Anziehen, Schleifen und Brausen, als der Wagen fortgerast war . . . Niemals. Es war die Stunde zwischen 2 und 3 Uhr morgens gewesen – die Stunde, in welcher die Ausgeburten einer ermatteten Phantasie wie Blutegel, welche sich vollgesaugt haben, von den Leibern fallen und auf der Erde einen Teppich aus Drachengewürm und Schleim, Glätte und Moorgrund bilden, in den Frau Jeschower die Füße setzte; vollkommen abgestorbene Füße, die sie bei dem entsetzlichen Lärm über die Bettkante hatte baumeln und in den Teppich aus schwarzem Fleisch, aus schwarzer Bewegung, aus schwarzem Smyrna hatte versinken lassen, während die Erde zuckte und bebte und Frau Jeschower nichts weiter dachte als: »Tokio – und Bambushütten . . .«, ja: »Tokio und Bambushütten . . .« und nachher: »Freies Feld . . .«.

»Hast du denn nicht gebetet, Flora?« hatte Herr Arthur Jeschower späterhin seine Frau gefragt, und: »Nein. Wie sollte ich«, gab Florentine verständnislos zurück. »Später«, schränkte sie zögernd ein. »Später natürlich –.«

»Wieso natürlich? Natürlich ist beides nicht . . .«

Er hatte recht. Es war nichts natürlich. Weder, wenn sie gebetet hätte, wäre das schlechthin natürlich, noch, daß sie es unterlassen hatte, obwohl sie ganz bestimmt vorher glaubte, daß sie es täte, wenn es zum Letzten, vielmehr zum Vorletzten kommen sollte, war nicht natürlich gewesen. Es war nicht natürlich, daß man beide damals vergessen hatte, und sicher war es auch jetzt nicht natürlich, daß sie jede Nacht wieder aufwachen mußte, immer genau um die gleiche Stunde, als sei der Wecker gestellt. Vielleicht – doch schob sie diesen Gedanken als unmaßgeblich fort – wäre es noch erklärlich gewesen, wenn sie kurz nach der Flucht und dem Untertauchen, 69 als sie beide in Anastasiendorf endlich geborgen waren, weiterhin aufgewacht wäre; aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil; nun erst [wieder versetzt in ihre alte Wohnung, die eigentümlicherweise noch fast vollkommen unberührt war, nicht ausgebombt und nicht ausgeräubert, denn der SA-Führer, dem sie gehörte, war bis zuletzt in der Stadt geblieben und erst bei deren Eroberung, als er zufällig auf dem Abtritt war, durch einen Granatsplitter fortgefegt worden], heute also war dieses Erschrecken, dieses Hochfahren um die gleiche Stunde und der Traum, der den Schrecken begleitete, so zwangsläufig geworden, daß, wenn sich der Zustand nicht bessern würde, das Ende, wie Frau Jeschower sagte, die Irrenanstalt war. Denn, daß sie aufwachte, war das Geringste. Warum sollte auch eine ältere Frau nicht regelmäßig aufwachen dürfen und immer genau um die gleiche Stunde ihre schwache Blase entleeren? Aber unnatürlich, schrecklich und seltsam war die Vision, welche Nacht für Nacht diesem Erwachen vorausging, und die ihr jedesmal furchtbarer vorkam, je öfter ihr Frau Florentine unter Schnauben und Zittern begegnete, ohne doch mit ihr vertraut zu werden und sich an sie gewöhnen zu können, wie man sich schließlich an alles gewöhnt: Tod, Schrecken und Gefahr.

Es fing damit an, daß ein kleiner Vogel, der in dem Zimmer gefangen war, sich einen Ausweg suchte; an den Wänden anstreifte, flatterte; anprallte, ratschend am Fensterrahmen und an den Leisten der großen, verglasten Tür auf und herunter fuhr, und ein eigentümlich gellendes Pfeifen, ein sausendes Heulen, äolisches Klagen und gespenstisches Wimmern ausstieß, das nicht Wind und nicht Weinen, doch beides zusammen und umso gräßlicher war. Schließlich gingen die Töne von ihrer Höhe herunter; sie wurden dunkler, brummender, schwerer und damit körperhafter, bis plötzlich der Vogel mit 70 scheußlichem Klatschen auf den Dielenbelag herunterfiel und sich verwandelte. Nun stand an dem Fußende ihres Bettes das Geräusch an und für sich: ein schwarzer, klumpiger, formloser Mann mit einem Werkzeugkasten. Es war klar: er suchte nach einem Dietrich, nach Hammer, Zange und Schraubenzieher, um irgendeinen Behälter, in welchem irgendetwas gefangen und fest verschlossen war, aufzubrechen; er wollte etwas, das eingesperrt war, ans Tageslicht befördern – sei es den Vogel, der jetzt in ihm selbst, sei es die Seele der Frau Jeschower, die in den Traum und den Schrecken des Traumes eingesperrt worden war, und sich weigerte, sträubte und schrie. Dann erwachte sie in den Armen ihres besorgten Gatten, ohne ihn zu erkennen; sie brüllte, suchte sich zu befreien und glaubte, der schwarze, formlose Mann und Herr Arthur Levi-Jeschower, ihr Gatte, seien ein und derselbe, ununterscheidbar und gleich an Gestalt und Gesicht.

Auch in dieser Nacht – und es war nicht unmöglich, daß es zur gleichen Stunde geschah, als die Fledermaus auf ihrem rätschenden Flug in das Zimmer von Ewald Hauteville geraten und seinem Schuldgefühl bis in den Traum und in die Vorstellung von einer jungen, schauerlich süßen Erinnye verbündet gewesen war – hatte sich Florentine Jeschower mit verzweifelter Angst dagegen gewehrt, das Bewußtsein zurückzugewinnen. Jetzt lag sie ruhig, aber völlig erschöpft, in dem großen französischen Ehebett, während Herr Levi-Jeschower, das Löwenhaupt mit der grauschwarzen Mähne auf die ungewöhnlich weibliche Hand und die Hand samt dem Unterarm auf das Kissen nachdenklich aufgestützt, sie aufmerksam ansah: fast mit der Miene eines morgenländischen Räubers, der nach genossener Lust den Aufwand, den seine Braut ihn gekostet hatte, mit ihrem Wert vergleicht. Trotzdem enthielt diese merkwürdig kühle und distanzierte 71 Betrachtungsweise nichts Ungehöriges; sie entsprang nicht einer Lieblosigkeit, sondern dem tiefen Verlorensein an eine Erinnerung, die Herrn Jeschower wohl kaum bewußter als der Gegenstand in der Schatulle war, den sein gespenstisches Ebenbild, der klumpige, schwarze, formlose Mann, seiner Frau hatte Nacht für Nacht aufschließen wollen, ohne doch über den Anfang hinausgekommen zu sein. Das Mondlicht lag überhell in dem Zimmer; die Gegenstände, banal genug, warfen gespenstische Schatten und schienen in die Geschichte des Ursprungs aller Dinge zurückzutreten; chaotischen Wesens, ihre Bedeutung einander angleichend und vertauschend, forderten sie den Menschen auf, aus ihnen seine Welt zu erbauen, sie bald für dieses und jenes oder für ein Drittes zu nehmen und spielend sich an sein Werk zu verlieren, es zunichte zu plaudern, es in die Ferne wie lockende Fata Morganen oder in das ummauerte Rund jener toten Zisterne einzusenken, welche Vergangenheit hieß. Noch hatte sich freilich das Ehepaar für keine der beiden Möglichkeiten: weder sich zu erinnern, noch vorauszuplanen, entschieden; ihre Gedanken waren noch lose und unverbunden wie trockener Staub, der die Luft in alten Zimmern erfüllt, ohne sich niederzuschlagen; denn damit er sich irgendwo niederlegte, mußte die Atmosphäre einen Hauch von Feuchtigkeit in sich tragen; eine einzige Träne nur, die sich dem Staub, seinen Zustand ändernd, verbinden würde, und die bewirkte, daß jener Finger, welcher einst Babylons Mauern bezeichnet und das Menetekel, deutlich zu lesen, an die Wände geschrieben hatte, auch hier den Namenszug einer Gottheit, klein oder groß, hinterließ . . .

Tiefe Stille. Endlich entschlossen sich beide, das Geistergespräch in der eigenen Brust mit dem anderen fortzuführen. »Meine Judenbraut«, flüsterte Levi-Jeschower und faßte nach ihrer Hand. 72

Sie sah ihm mit ihren klugen, hellbraunen Eulenaugen unverwandt ins Gesicht; dann ging sie für Levi-Jeschowers Gefühl in eine Wolke aus lichtem Gold ein, die sich verteilte und ihre Erscheinung flockig umrandete, während der Körper selbst dunkel blieb, und das Licht aus seinem innersten Kern nach außen zu drängen schien. Sich verstärkend, breiteten seine Ränder über die ganze Erscheinung der schweigenden Frau Jeschower ein seltsames Flimmern aus; es war nun, als ob eine Hand voll Goldstaub oder Metallstäubchen hingestreut und ein Sesam, funkelnd von Edelsteinen, in der Tiefe geöffnet wäre. »Meine Judenbraut«, wiederholte Jeschower mit ruhiger Zärtlichkeit.

»Wieviel Uhr?« gab Florentine zurück; sie fragte es flüsternd, als ob sie durch diese gänzlich belanglose Frage ein Geheimnis mit ihrem Gatten teilte; ein Rendezvous, dessen Treffpunkt und Uhrzeit noch auszumachen wäre.

»Schulanfang, denk ich, in Philadelphia, und Lunch in Vancouver, nehme ich an; aber Opernbeginn in Melbourne«, sagte Arthur Jeschower mit flüchtigem Blick auf das mondhelle Zifferblatt.

»Dann«, fuhr seine Frau befriedigt fort, ohne die Grundlagen ihres Spiels, das beide Nacht für Nacht trieben wie Kinder, näher zu untersuchen, »nimmt jetzt Philly die Mappe unter den Arm und setzt seine Mütze auf. Wenn er nur nicht über den Fahrdamm rast, bevor das Licht – rot, gelb, grün . . . na, hopp –! Ist Philadelphia sehr groß?«

»Aber du weißt doch, daß seine Mutter, ich meine, daß Maud, ihn im Wagen hinbringt,« beruhigte sie der Mann, »sie fährt sehr sicher, und wie mir durch Jakob bekannt ist –.«

»– Jack –«, wies ihn Frau Florentine zurecht . . .

»– war sie früher Autovorführerin und hat auch daher den kleinen Ford –.« 73

»Alle haben sie dort einen Ford«, erwiderte Florentine. »Aber sage mir nun, was Joseph macht. Es ist heute sehr heiß in seinem Büro, denn das Hochhaus hat Wände aus Glas. Wahrscheinlich läutet er eben der blonden Sekretärin, damit sie ihm Eiscrem-Soda bringt, oder fährt mit dem Lift zu dem Restaurant im ersten Stock herunter.«

»Dazu hat Joseph durchaus keine Zeit. Übrigens braucht er nicht erst zu läuten, denn Kitty ist schon da.«

»Natürlich, Kitty ist bereits da«, sagte Frau Flora erleichtert. »Sie trägt ein Tablett mit Eiscrem-Soda –.«

»Grapefruit –«

»Meinetwegen auch Grapefruit. Und wo befindet sich Lea jetzt? Meine süße kleine geliebte Lea? Ist jedermann gut zu ihr?«

»Wie kann man anders als gut zu ihr sein?« fragte Jeschower zurück. »Wahrscheinlich gibt man heute Othello. Die erste Sängerin ist erkrankt, und Lea springt für sie ein.«

»Als Desdemona?«

»Als Desdemona.«

»So spät in der Spielzeit?«

»Gerade deswegen. Ihre Kollegin ist indisponiert, will verreisen oder sich scheiden lassen und gibt ihre Rolle ab.«

»Dann wird Lea endlich, wie man sagt, ihre große Möglichkeit haben?«

»Das wird sie. Denk' an die Sterbeszene und an das Schwanenlied.«

Sie sahen einander aufblitzend, scharf und prüfend in die Augen; dann, während ihre Blicke wie Klingen, die sich unversehens getroffen haben, nach unten glitten, flüsterte Florentine: »Du lügst. Meine Kinder sind längst gestorben. Joseph, in Buchenwald, Jakob in Auschwitz und Lea in Ravensbrück. Ohne Schwanenlied hat sie der Mohr ermordet, der jede Nacht zu mir kommt.« 74

»Flora –!« mahnte der Mann sie leise.

»Nicht: Flora«, stöhnte Frau Levi-Jeschower. »Ich sollte Rahel heißen –.« Sie setzte sich auf, nahm den Kopf in die Hände und sagte mit tonloser Stimme: »Ein Rufen hört man zu Rama, viel Weinen und Wehgeschrei. Rahel beweint ihre lieben Kinder und will sich nicht trösten lassen; denn, ach, sie sind nicht mehr.«

»Du bist nicht Rahel, mein liebes Herz«, sagte Levi-Jeschower streng. »Und deine leiblichen Kinder sind nicht gemordet worden. Sie leben in Philadelphia, Vancouver, und Lea lebt in Melbourne.«

»Schön, schön. Sie leben wahrscheinlich, Arthur. Vielleicht gut, vielleicht schlecht wie andere auch. Aber sie leben, und einmal wird man sie wiedersehen. Ich weiß das; wie sollte ich das nicht wissen, was mich immer getröstet hat?«

»Und jetzt? Jetzt tröstet es dich nicht mehr?« fragte der Mann sie schroff.

»Nein –. Nein, jetzt tröstet es mich nicht mehr. Soll mich denn trösten, was andere Mütter zur Verzweiflung getrieben hat? Geboren zu haben, tröstet nicht mehr; es ist schlimmer als Unfruchtbarkeit. Mein Schoß ist jetzt trocken. Ich lobe Gott. Ich lobe ihn für die Trockenheit und müßte doch wünschen wie Fische im Meer, millionenmal zu gebären . . . Verstehe mich richtig: ich spreche als Rahel und nicht als Florentine. ›– – und will sich nicht trösten lassen‹, sagt Jeremias von Rahel. Doch warum sagt er das? Könnte nicht Rahel von neuem empfangen, von neuem Kinder gebären? Dann finge der Kreislauf von vorne an: die Geburten, das Wachsen, das Geldverdienen, das Hochzeitmachen, das Altern und satt sich Niederlegen.«

»Sie wird es ganz sicher. Da sei du ruhig«, sagte Levi-Jeschower hart.»Sie sitzt schon da mit gespreizten Beinen 75 und hält den Ausweis der OdF behaglich in der Hand. Dieses ganze Volk – es vergißt so rasch, wie nur Dummheit, mit Trieb und Kraft gepaart, auf der Erde vergessen kann.«

»Dummheit?« fragte ihn Flora erstaunt.

»Ja – Dummheit; eine besondere Spezies von auserkorener Dummheit; von Unbeschnittenheit, sage ich dir, an Herz und Ohren und Geist.«

»Dann wäre also Vergeßlichkeit und Dummheit dasselbe, behauptest du?« fragte ihn seine Frau.

»Negativ ausgedrückt: ohne Gedächtnis verhungert der Intellekt; in dieser Lösung leben die Wurzeln jeglicher Geistigkeit.«

»Bah. Luftwurzeln, weiter garnichts, mein Lieber«, sagte Florentine enttäuscht. »Dann eher noch in dem heiligen Geist. Denn, was du eben gesagt hast, Guter, ist Intellekt plus Chemie.« Sie kreuzte die Arme gedankenvoll hinter dem Kopf und sagte: »Wird Er nicht auch Memoria genannt? Ich glaube, bei Augustinus diesen Ausdruck gelesen zu haben. Damals – in Anastasiendorf mit Mater Demetria . . .«, fügte sie noch hinzu.

Herr Levi-Jeschower verzog seinen Mund und lächelte amüsiert. »Chemie? So, findest du? Und warum nicht? Schließlich ist ja das ganze Leben, cum grano salis natürlich, nichts anderes als Chemie. Eine Formel, die mir verläßlicher vorkommt als die gnostischen Kunststücke Augustini oder sonst ein abstraktes Zeug.«

Wieder sahen beide einander mit jener spöttischen Kampfeslust an, die nur tiefe Vertrautheit gewährt. »Man sagt, der heilige Geist sei die Liebe. Die Liebe in Person«, murmelte Florentine.

»Lassen wir jetzt den heiligen Geist. Für unsere Überlegung gebrauchen wir ihn nicht.« Herr Levi-Jeschower fuhr über die Decke, als ob er einen Krümel mit flacher 76 Hand von dem Leinen herunterfegte; sein eigensinnig gespanntes Gesicht, das Gesicht eines klugen alten Juristen, wendete sich dem Ausgang zu, und hinter den Augen rafften sich wieder in seinem scharfen Gehirn die Fäden über dem Abgrund zusammen, der Raum und Zeit hieß, Schicksal und Gnade, Geschichte und Gegenwart. »Zurück«, sagte Levi-Jeschower entschieden, »zurück an den Anfang, die Urtatsache, ja, hinter die Ursache ihrer selbst und ihres Daseins denken, können die Wenigsten. Sie sehen Bewegungen, Katastrophen, sie sehen sogar Gesetzmäßigkeiten und ein Gefälle, das man zur Not vorausberechnen kann. Dann errichtet man wieder Staudämme, Wälle und neue Sicherungen; man baut nach dem alten Ameisenmuster, wie man vor tausend Jahren und mehr die zerstörten Ameisenhügel gebaut hat; man flüchtet sich in das Kollektiv: Millionen Ameisen sind zertreten, Millionen andere warten begierig, den Platz der Zertretenen einzunehmen; Eier zu legen, die Larven zu hüten und dem schrecklichen Wunsch nach Vermehrung und ewiger Wiederholung bedingungslos nachzugeben. Von dem jüdischen Volk geht das Kollektiv aus, das Massendenken, die Massenbewegung, die Masse an und für sich. Dieses gleiche Volk war ein Individuum unter allen Völkern der Erde. Es war der auserwählte, von Gott bezeichnete Gegenstand der Heilsgeschichte, Flora; seine Braut, sein Schoß, sein versiegelter Brunnen, sein Weinberg, seine Zisterne und seine Bundeslade. Dieses Einzige hatte den Einen hervorbringen sollen; seinen Messias, und sollte ihn anerkennen als Gott und Menschensohn. Hier ist der Schnittpunkt seiner Geschichte: sein Koordinatensystem. Die Katastrophe- nenne sie ›Kreuz‹; nenne sie ›Golgatha‹. Vorher und nachher: wo gab es Individuen, sag, wie die großen und kleinen Propheten – Isaias und Daniel, Baruch, Elias und den fanatischen Jonas unter dem 77 Feigenbaum? Bileam mit dem störrischen Esel, und zuletzt auf der Schüssel der hübschen Salome den abgeschlagenen Kopf des Täufers, der noch immer donnert und blitzt? Was ist ein Alexander dagegen, die Statue des glatten Eidechsentöters oder die weiche Venus von Milo, ja selbst ein Sokrates? Doch nachher? Nach diesem Schnittpunkt, Flora? Dieser katastrophalen Entscheidung, dem katastrophalen Fehlurteil des jüdischen Intellekts? Von da ab hat die Vermassung begonnen, das Ghetto, der dunkle Zusammenstrom in Rußland und Galizien; in den Slums von London, den Schlachthausvierteln von Chicago, Boston, New York. Von da ab fangen die Wanderungen der großen Heuschreckenschwärme an, die nicht einmal alle jüdische waren, sondern begründet sind in der Bewegung und Unruhe dieser Zeit. Um ein Wolkengebirge auszulösen, eine chemische Konstellation zum Zerfall zu bringen – was braucht es weiter als ein gewisses Ferment? Dieses Ferment, diese Umgruppierung, die mitten in der Unruhe wohnt, in einer Unruhe, deren Teile sich in beständigem Zucken und Flimmern vergeblich zu formieren versuchen, zu verbinden, um Gesicht oder Richtung und feste Gestalt zu gewinnen, war das jüdische Volk als der große Magnet der Unruhe an und für sich; ihr geheimer Gegenpol und auch zugleich die lockende Katastrophe, wohin der Magnet sie zog; der Sog eines Wirbels, der stracks hinunter in das tiefste Inferno führte. Diese Wolke der Unruhe, glaube mir, nimmt nun bald die Form eines Pilzes an mit niederregnenden Lappen und einem Stiel, der den Hut immer weiter und weiter sich ausdehnen läßt. Sie segelt über Länder und Meere, sie ist ein großes, gräßliches Zeichen und doch weiter nichts als ein Index dafür, daß in der Tiefe der Erde bereits eine Katastrophe vollzogen, einem Vorhaben stattgegeben wurde, dessen Name noch unbekannt ist.« 78

»Nein, nein«, sagte Flora angstvoll und leise, indem sie die Augen schloß und die Hände furchtsam darüber deckte, »du machst aus einem historischen Schicksal ein metaphysisches.«

»Glaubst du, du kannst das Schicksal der Juden auf andere Weise verstehen?« fragte Levi-Jeschower ungeduldig und fügte ruhiger hinzu: »Zu jeder metaphysischen Deutung gehört ein Messias, Flora. Mit der Masse, wenn sie sich selbst vollzieht in einer Massenbewegung, wird der Diktator geboren – und mit dem Diktator der neue Messias einer sozialen Ordnung, deren Magnetfeld sich abzeichnet – ach – wohin du auch immer siehst.«

»Ja«, flüsterte Flora, »wir waren schon immer sehr eifrig bemüht, den Messias der Masse auszugebären; einen Diktator messianischer Größe und messianischer Gottnatur.«

»Verflucht!« sagte Levi-Jeschower plötzlich und trommelte mit geballten Fäusten ein paarmal gegen die Brust. »Ich habe es satt, die Schablone für ein Kräftefeld abzugeben, das mich überall wieder einsaugen wird, um den Stern auf mir abzubilden, obwohl ich getauft worden bin.«

»Ja, das bist du auch noch!« rief Florentine mit verzweifelter Offenheit aus. »Doch hätte es nicht sein müssen, Bester – Mutter Demetria wäre groß und gütig genug gewesen, um ebensowohl einen Mohammedaner wie drei zerzauste Huronenmädchen samt einem Anbeter der Astarte und ihres versilberten Ärschleins bei sich in dem Kloster aufzunehmen wie einen Juden, den die Gestapo mit ihren Häschern verfolgt.« Sie zögerte einen Augenblick lang, während ihr Herz in der kurzen Spanne zwischen der Unverbindlichkeit eines Satzes, der spielerisch gemeint war, und der Realität, die er gleich darauf setzte, drei heftige Schläge tat. »Und überdies liebt Demetria dich«, sagte sie atemlos. 79

»Glaubst du?« fragte Herr Levi-Jeschower; es war eine überflüssige Frage, er wußte es bereits. Ein wildes Triumphgefühl, eine Blendung von furchtbarer Süßigkeit überdrang und erschütterte ihn so heftig, daß er sich flach auf den Rücken warf, wie plötzlich vom Blitz gefällt. Es war nicht der Andrang eines Gefühls und einer Erkenntnis allein, sondern weit mehr: der Andrang des Lebens in seiner ganzen berauschenden Fülle, seiner lange nicht mehr empfundenen Kraft, seinen Möglichkeiten und seiner Lockung, ihm aufs neue entgegenzugehen. Dieser gefährlich schöne, verführerische Mann mit dem schweren antikischen Kopf eines reifen Antinous und dem spöttischen kleinen Lockenwirbel über dem stierhaften Nacken, den androgynen, doch kräftigen Händen und der mächtig gewölbten Brust wäre sich wohl auch dann seines Reizes, eines vorwiegend melancholischen Reizes, von seltener Bindekraft und Blendung bewußt gewesen, wenn nicht die zahlreichen weiblichen Opfer, die ihm zufielen, ohne daß er sie suchte, sie ihm bestätigt hätten. Er zog sie mit jener Unschuld an, wie eine Ranke von wildem Wein in der Blüte die Bienen anzieht, oder der große, goldene Kelch einer Kürbispflanze, die über die Mauer geklettert ist, Wespen und Käfer, Schmetterlinge, Fliegen und Brummer und Getier jeglicher Art. Weil er nicht diese und jene Frau, geschweige diesen und jenen Menschen in seiner Besonderheit suchte, sondern einzig allein sich selbst, war Arthur Jeschower nicht eben wählerisch; er war wertblind und frauenblind wie ein Kollege in scherzhafter Form von ihm sagte; eingeschlossen in eine tiefe wortlose Dunkelheit, in welcher alle Gestalten vertauschbar und nur durch den Tastsinn allein und die Haut wiedererkannt werden konnten . . . jede eine Persephone, die niemals den Schleier lüftete, es sei denn für einen kurzen, schrecklichen Augenblick. 80

Wie um das Gleichnishafte und Trübe dieser Art Liebschaften vollzumachen, hatte die letzte Levi-Jeschower an den Rand des Verderbens gebracht. Mit juristischen Scheinabwicklungen: Listen, Statistiken und Verwaltungsgeschäften in den letzten jüdischen Reservaten – dem Krankenhaus, der Fürsorgestelle, dem Mündelwesen – beschäftigt, war es dem außerordentlich klugen und sachverständigen alten Juristen gelungen, die Ausbürgerung und das teuflische Los der erzwungenen Abwanderung nach dem Osten bis zur Grenze des Möglichen aufzuschieben . . . als ihm eines Tages die rotbraune Hella, eine wilde eiskalte Schönheit mit dschungelhaften Instinkten, gefährlich nahe kam. Natürlich wußte er wie die meisten seiner Rassegenossen von ihrem Dasein und ihrem grauenhaften Beruf einer ›Menschenfängerin‹, wie man das nannte: sie schlief abwechselnd in dem Gestapoflügel des jüdischen Krankenhauses mit den Kerlen, welche dort einquartiert, und dann wieder mit den jüdischen Burschen, die irgendwo untergetaucht und einer Hure bedürftig waren, an die sie als Kaufpreis den Aufenthalt ihrer eigenen Eltern, Brüder und Schwestern zu verraten imstande waren. Sich ihr zu verweigern, wie hinzugehen, war beides gleich gefährlich; überdies nahmen viele in der Verzweiflung der letzten Glückserfüllung, was ihnen das Leben anbot – seien es Zigaretten und Schnäpse oder sei es der Schoß dieser jungen Frau, welche allgemein ›Gottesanbeterin‹ im Vergleich mit dem gräßlichen Insekt hieß, das nach der Begattung den Kopf des Männchens gewohnheitsmäßig abreißt und nicht weiter berührt davon ist. Es hatte lange genug gedauert, bis dieses Geschöpf ein Auge auf Levi-Jeschower warf . . . wahrscheinlich, weil ihre Verdorbenheit einen Grad erreicht hatte, der zu Jeschowers grandseigneuraler Haltung, zu seiner unbekümmerten Anmut und seiner geistigen 81 Vitalität in keinem Verhältnis stand. Sie pflegte ihm zwar zu begegnen, doch ihn nicht wahrzunehmen bis zu dem verhängnisvollen und schuldhaften Augenblick, als er sie fragte – sie war im Begriff, einen Friseur aufzusuchen –, ob sie eigentlich alles Haar an sich dunkelrot auffärben ließe. Zum Teufel – es war ihm herausgefahren; es hatte ihm auf der Zunge gelegen wie ein winziges Pfefferkörnchen, das er ausspucken mußte; er spuckte es aus und war damit verloren. »Du kannst ja nachsehen«, sagte sie frech. »Das alte Badezimmer in dem Gestapoflügel hat eine Couch bekommen.« Sie sahen sich beide unverhüllt an, Levi-Jeschower zitterte leise und wußte im gleichen Augenblick schon, daß sein Urteil gesprochen war. In derselben Nacht noch erlebte er die Gottesanbeterin; vielmehr es begann ein Kampf zwischen ihm und diesem Frauenzimmer, der der Erfahrungen beider würdig und seiner Lebensangst, ihrer Gier und endlich dem unterdrückten Bedürfnis ihres abgründig bösen Herzens: zu lieben, um töten zu können, und, tötend, noch einmal zu lieben, ganz angemessen war. Aber zum erstenmal unterlag sie. Sie rutschte vor ihm auf den Knien herum und bettelte ihn um Dinge an, die selbst ein Mann wie Levi-Jeschower nicht einmal dem Namen nach kannte. Er sah seine Chance und nutzte sie aus, indem er ihrem Verlangen nur zögernd entgegenkam. Ohne daß seine Feindin es merkte, ließ er sich von dem Mädchen belehren, um ihr dann Stück für Stück das Gelernte wieder zurückzugeben; er täuschte sie, die der rasende Taumel ihrer Begierden fortgerissen und so dumm gemacht hatte, daß sie vergaß, in wessen Diensten sie stand. Schließlich sagte sie: »Du mußt fort. Die Gestapo hat Wind bekommen. Entweder du oder ich.« Sie versteckte ihn in der Höhle des Löwen, wo noch immer, groteskerweise, das kleinste Risiko war, und sperrte in einem Anfall von Großmut 82 auch Florentine ein. An dem nächsten Morgen sollten beide irgendwo untertauchen, doch Florentine Jeschower, [ganz gegen alle Berechnung] von jeder Zumutung ihres Gatten, welcher Art sie auch immer sei, mehr als von dem Gedanken des Gaskammertodes empört und abgestoßen, weigerte sich zu fliehen und bestand darauf, in der Bayrischen Straße, die gerade ausgekämmt wurde, zu bleiben – wahrscheinlich, weil es ihr vorkommen mochte, schon jenseits des Lebens zu sein. Was in der folgenden Nacht geschah, wurde bereits erzählt. Die unmittelbare Nähe des Todes – wie bei den meisten Menschen – belehrte sie eines Besseren und machte sie willig, sich jedem Dasein, und sei es noch so armselig, elend und freudlos, zu unterziehen, wenn es nur Rettung bedeutete oder wenigstens Aufschub des Todesurteils, das ihr gesprochen war.

In dieser Bereitschaft traf sie das Schicksal in Gestalt jener alten Lehrerin, von der bei Gelegenheit später noch berichtet werden wird. Ihr Name war Sichel – ganz allgemein wurde sie nur ›das Sichelchen‹ in weiten Kreisen genannt. Das Sichelchen war ein buckliges Wesen, häßlich und weise wie ein Lemur, der unter der Hausschwelle wohnt, und so gütig, daß es niemand bewußt ward, wie groß seine Häßlichkeit war. Diese Bucklige war eine Schulkameradin von Frau Florentine; sie waren beide in Nierstein geboren und in Mainz zur Schule gegangen: bei den Englischen Fräulein am Ballplatz zuerst, dann, weil zwei getaufte Judenkinder in einer weltlichen Schule besser, dem Geldbeutel ihrer Väter entsprechend, von den Lehrerinnen behandelt, ja sogar vorgezogen und höflich umschwänzelt wurden, im Diehl'schen Institut.

[Übrigens hatten sie dort auch die ›Butt‹, genauer gesagt: die Ui-Ui gekannt, diesen menschgewordenen Käuzchenruf, der mit Ewald Hauteville auf die Wanderschaft 83 nach Anastasiendorf ging . . . aber nicht damals, als Flora und Arthur Jeschower in dem Kloster Unterschlupf fanden, sondern erst später, im zweiten Abgang, an der Peripetie des Bogens nämlich, der von Berlin nach dem Wallfahrtsort führte, tauchte der Name Ui-Ui aus der Vergessenheit auf.]

Dieses Sichelchen also stand an dem Morgen, dem die Schreckensnacht in der Bayrischen Straße vorausgegangen war, an der Flurtür, zu der es den Schlüssel hatte, und trat, unsagbar stolz und verruschelt, mit flammenden blauen Augen, die das einzig Schöne an seinem Gesicht und in die jüdische Physiognomie einer wahrhaft erschreckenden Ghettomaske wie zwei Zisternen in eine Wüste voll grauer Stachelkakteen hineingeronnen waren, vor das ratlose Ehepaar. Von dieser Stunde an konnte sich Flora den Erzengel Raphael niemals anders als mit einem Buckel behaftet denken, ebenso wie Herr Arthur Jeschower von da ab die Geister des alten Bundes, die die Schlafenden in die Rippen stießen und »Mache dich auf!« zu sagen pflegten, sich wie Sichelchen vorstellte: schrecklich zerzaust und glühend vor innerem Glanz. »Heute nachmittag«, keuchte sie atemlos und noch stärker zischend als sonst, »fährt der Wagen, welcher das Bunkerholz nach Berlin hereinbringen soll, nach K. und nimmt euch bis dorthin mit. Hier sind eure Pässe. Martha und Otto Kajewski aus dem polnischen Grenzgebiet, das schon geräumt worden ist. Kurz hinter dem Ortsschild von K. erwartet euch euer kleiner Neffe, der Sohn deiner Schwester Johanna«, sagte sie rasch zu Levi-Jeschower, »und führt euch auf einem Umweg nach Anastasiendorf. Er heißt Hannes; Hannes Labude und hat solche Sachen schon öfter gemacht; ein ganz gerissener kleiner Kerl mit lauter Sommersprossen auf seiner Rotznase – zuverlässig wie Habakuks Hirsebrei. Nehmt weiter nichts als die 84 Zahnbürste mit – Mutter Demetria weiß Bescheid und erwartet euch heute noch . . .«

Mutter Demetria – –. »Glaubst du wirklich?« wiederholte jetzt Levi-Jeschower noch einmal seine bereits beantwortete und nur akademische Frage und fuhr fort: »Ihre Kühnheit und ihre Geduld wäre wohl ohne dieses Gefühl kaum zu erklären gewesen.« Er griff aufs neue nach Florentines leicht widerstrebenden Händen und flüsterte, zärtlicher noch als vorher: »Meine Judenbraut –.«

»Ja, dein altes, dein uraltes Testament«, sagte sie unbeleidigt. »Es ist vollkommen richtig: ich bin das alte und Demetria ist das neue der beiden Testamente. Beide lieben sie dich. Aber um diesen plötzlichen Einfall nicht auf die Spitze zu treiben, Arthur, diese Erleuchtung, welche uns beiden wohl nicht von ungefähr kommt; vergiß nicht, daß auch in mir die Taufe wirksam gewesen ist.«

»Aber sie hat dich nicht frei gemacht«, sagte Levi-Jeschower laut. »Geschweige mich, der ich nur aus Berechnung, um dich zur Ehe nehmen zu können, übergetreten bin.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Flora heftig. »Wir haben als christliche Eheleute dreißig Jahre lang miteinander gelebt und Kinder aufgezogen. Du hast mich geehrt – auch da, wo du schwach warst, und mir eine Treue gehalten, die stärker als die Versuchungen deiner Natur war, Bester, welche doch schließlich mehr noch dich selber als mich und unser gemeinsames Leben im Stich gelassen hat.«

»In der Not«, sagte Levi-Jeschower verzweifelt, »hält manche Bindung ganz leidlich zusammen, die im Glück auseinanderfällt. Ich bitte dich: laß uns beide versuchen, was von uns übrig bleibt, wenn wir Anastasiendorf wiedersehen. Laß uns nachholen, was wir vergessen haben: vielleicht eine himmelhohe Passion, vielleicht eine schonungslose Erkenntnis, vielleicht auch nur uns selbst.« 85

»Du suchst – Demetria?« fragte die Frau mit steinernem Gesicht.

»Wie kannst du so töricht sein, zu glauben, ich suchte Demetria?« sagte er sanft. »Ich suche – vielleicht, ich weiß es noch nicht – nur etwas, das ihr gleicht.«

»Eine Idee?«

»Nein. Keine Idee. Mehr als eine Idee. Eine Weisheit, die vor den Ideen war – und eine Liebe, die Gott, den Schöpfer, veranlaßt haben könnte, dieser Wahrheit Menschengestalt zu geben und im Hinblicken auf ihr schönes Gesicht die Fundamente der Schöpfung zu legen, die vor dem Beginn unserer Zeitrechnung, Flora, noch paradiesisch war.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Flora spröd. »Aber es ist wohl richtig, mein Guter, daß wir beide viel zu voreilig waren, als wir wieder zu leben begonnen haben – du mit dem Anwaltsschild an der Haustür und ich wie die Parze mit Schere und Besen, um die Brotkarten, Zucker- und Nährmittelkarten wie ehedem abzuschneiden und die alten Stuben zu fegen. Laß uns nach Anastasiendorf gehen, laß uns umdrehen – nicht für lange, Arthur –, um anders zurückzukehren. Wie gut war es dort . . .«, ihre Stimme erstarb, um flüsternd fortzufahren: »Es war im Spätsommer, weißt du noch, und in der ersten Nacht fiel der Regen von den hohen Kiefern am Rande des Parks auf die Schalen der Kürbisblätter herunter, die wie große, lappige Regenschirme nach unten gebogen waren.«

»In der ersten Nacht«, fuhr Jeschower fort, »verging der Sommer, der Herbst begann und hat uns eingesponnen. Die Zeit wurde lang, sie rann wie Syrup von einem schräggehaltenen Löffel, dessen Inhalt kein Ende nahm.«

»Denkst du noch an das Muhen der Kühe, an ihre zornige Melancholie, und wie der hervorgestoßene Atem vor den Mäulern der Tiere wie eine weiße, verwandelte 86 Posaune in der Herbstluft stehen blieb, ohne die Mauern durch den Ton zum Einsturz zu bringen, wie unser Erschrecken glaubte?« fragte ihn Florentine.

»An den heiligmäßigen Pater Mamertus, der sich wie eine eisgraue Tanzmaus beim Dominus vobiscum auf den Hinterpfoten aufrichtete und, während er sang, sein ausgefleischtes, rührendes Eremitengesicht in dem Flötenrohr seines Mundes förmlich zusammenpreßte?«

»An die engelhafte, kleine Cäcilia, die an der Hauswand des Dormitoriums Weintraubenblätter pflückte, um sie zusammen mit Dill und Kirschblatt auf die eingemachten Gurken zu legen? Diese Nonne«, sie lächelte leise im Dunkeln, »die wie aus dem abgeblätterten Goldgrund eines Filippo Lippi herausgetreten war?«

»Und immer wieder«, sagte Jeschower mit dunkler Stimme, »die Zeit. Die lange, zähflüssig rinnende Zeit, die bereits Ewigkeit war. Tausend Jahre ein Tag – ein einziger Tag so lang wie tausend Jahre. Keine Zeitung, kein Radio. Ein mystisches Grab, um drin allein zu sein. Wenn das Glöckchen zum Chorgebet läutete, dieses arme kleine blecherne Ding, hätte man jedes Mal glauben können, an dem eigenen Platz ein Häufchen Asche und sich selber gestorben zu sehen.«

»Unser Platz in der linken Ecke der zweiten Bank vor dem Chorgestühl, Arthur, an welches das hölzerne Hämmerchen von Mutter Demetria anschlug, wenn sich die Nonnen erheben sollten und das still gebetete Credo der abendlichen Komplet zu Ende gegangen war. Dann hörte ich das Rauschen der Kutten wie das Rauschen von Engelsflügeln; der ganze Raum war von Engeln erfüllt, deren Gefieder uns dicht umgab und die Kapelle verdunkelte samt ihrem Hochaltar und den Worten, die über dem Hochaltar stehen.«

Herr Levi-Jeschower atmete tief. Dann sagte er zu Flora: 87 »Aber noch will ich mir selbst nicht sterben oder zu Asche zerfallen – jetzt wo das Leben wieder beginnt mit all seinen Möglichkeiten.«

»Damit es wieder beginnen kann«, sagte sie halsstarrig wie ein Mensch, der eine ihm eben gezeigte und erst zögernd erfaßte Gelegenheit sich plötzlich zu eigen macht, »müssen wir an den Anfang zurück wie zwei Katzen, die ihren Weg nicht finden, bevor sie sich umgedreht haben.«

»Gut gut, das meinte ich eben«, stimmte Jeschower ihr bei. »Erst von dem Hafen aus fahren die Schiffe nach Amerika und Australien –«

»Warum nicht gleich an die Enden der Erde?« fragte ihn seine Frau.

 

Als der gewaltige Menschenfischer, jener Engel in Gestalt eines Mannes mit starken gewöhnlichen Zügen, der an der Ecke der Ausfallstraße nach dem Süden Berlins stand, die sieben Menschen von verschiedenen Seiten herankommen sah, zog er das Netz ein, das unsichtbare, das an leichten, hüpfenden Korken über den Wassern der Trübsal schwebte, und hatte sie in der Hand. Von da ab blieben sie alle beisammen, denen soeben Auskunft erteilt und ein gemeinsames Ziel ihrer Wünsche, ihrer Pilgerschaft, ihrer Tränen gegeben worden war. Warum es gerade diese Sieben und nicht sieben Andere waren, die Gnade gefunden hatten, wußte nur Gott allein. Ihnen allen, welche an jenem Schnittpunkt vorüberstrudelten, wäre sie nötig gewesen. Durch sie alle ging jene Spur des Feuers, das mitten durch die Geschöpfe herabgefahren war, das sie geblendet und dann in dem Dunkel einer umso tieferen Unwissenheit zurückgelassen hatte. Im Hinblick auf diese erste, die Katastrophe an und für sich, waren die anderen alle nur untergeordneten Ranges und abzuleiten wie jeder Blitz, der immer wieder den kürzesten 88 Weg sucht: den Weg durch das Menschenpaar. Ihrer Gesetzlichkeit konnte Nichts und Niemand widerstehen; sie wurde nicht durch die Bemühung wohlgefälliger Werke, noch durch die Gerechtigkeit aufgehoben, welche nicht Sache des Schuldigen, sondern Sache des Richters ist. Er hatte auserwählt, welche er retten, und wen er verderben würde, indem er ihnen die Ohren verstopfte und ihnen die Augen verdunkelte, damit sie hörten und doch nicht hörten, sahen und doch nicht sahen. An dem Weg dieser schrecklichen Auserwählung stand – ihm in den Arm zu fallen, Barmherzigkeit zu erbitten und wie Esther vor ihn zu treten – die Muttergottes allein. Sie, selber ausgewählt durch den Ratschluß, der Schlange den Kopf zu zertreten, durchbrach das Gesetz ihrer Hieroglyphe: den Kreislauf der Sünde, die Folgen der Schuld und die magische Wiederkehr. Sie war die Hagia Sophia des Ostens und auf den Straßen, welche von Osten bis an die Grenzen des Abendlandes führten, die Madonna von Fatima. Immer aber war sie die gleiche: Gedanke Gottes und Bauplan der Schöpfung und die tiefe Ursache unserer Freude, die als unzerstörbares Element der Schöpfung zugrunde liegt. 89

 


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