Elisabeth Langgässer
Märkische Argonautenfahrt
Elisabeth Langgässer

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Die Großstadt endigte nicht, sie zerriß an ihrer Peripherie. Sie zerfetzte wie das brüchige Tuch einer vom Wind umtobten, knatternden Fahne, die man schon längst von dem Mast hätte abnehmen müssen, weil die Sache verloren war, der sie gedient und für die sie sich hatte in Stücke reißen und bis auf den letzten schäbigen Rest hatte verbrauchen lassen. Noch lagen an dem Ausgang der Straßen die Überbleibsel der Panzersperren und spotteten ihrer selbst; Heereswagen, als hätte die Faust eines Riesen sie zusammengequetscht wie ein dünnes Blech und mit einem Fußtritt die Böschung hinan in Haufen von Munition getreten, bäumten den ausgebrannten, scheußlichen Hinterleib. Andere wieder, Kadavern ähnlich, welche Schakale und Geier ganz ausgeweidet haben, waren so von dem Feuer der Schlacht und den Schnabelhieben der Artillerie ihres ursprünglichen Stoffes beraubt, daß ihre Skelette nur noch ein Klappern hervorzubringen vermochten, wenn man dagegen stieß. Unter dem jammervoll alten Gerümpel der frischen Niederlage war kaum ein winziges Fleckchen Erde, das diesen Namen verdiente, noch irgendwo wahrzunehmen, denn, was da, von Glas und Geschossen gespickt, an das Tageslicht trat, hätte ebensogut Saturngemarkung oder Mondpaß genannt werden können; ja, dieser ganze Planet schien hier tiefer als die Urstromtäler zu liegen, tiefer selbst als sein eigener Ursprung und, wenn das noch schlechterdings in diesen Tagen möglich gewesen wäre, als seiner entsetzten Bewohner, der Menschen, Menschlichkeit. Sie war umgestülpt, diese alte Erde, sie war so vollkommen umgegraben, daß, was sich da immer noch ausgab mit ihrem ursprünglichen Namen, etwas völlig von ihr Verschiedenes war, nämlich der Tartarus.

Der Tartarus war an das Licht getreten, das Reich der 127 Unterwelt war offenbar, die Wege der Unterwelt, ihre Gesteinsart: verrostete Hülsen, Konservendosen, Blindgänger, allerlei Eisenbrocken in ausgezackten Formen, und dazwischen lag, faulig und schillernd, das süßliche Lethewasser, das die Minenlöcher erfüllte. Längs den Straßenfronten wurden die Fenster wieder eilig zusammengeschlagen; das Geräusch der Hämmer auf Holz und Pappe, das Klirren und Schurren der großen Schaufeln, die den Schutt aus den Kellern hoben, die Aufräumearbeit der Pflichtkolonnen, die mit unzulänglichem Werkzeug zerbrachen, was mit Hilfe von Zementmassen, Tanks und riesigen Mengen Erde zusammengeknetet worden und von ebenso riesigen Mauerbrechern wie Nichts überrannt worden war – dieses ganze fieberhafte Getue, das eine künstliche Hitze erzeugte und die Fliegenbrut aus den Schlupfwinkeln lockte, welche zu all diesen sinnlosen Tönen noch ein ununterbrochenes Summen fügte, machte die alte Klio, die mit Tafel und Griffel am Wegrand saß, halb wahnsinnig vor Verzweiflung. Sie verstand nichts mehr, und auch jene Schatten von Gesprächsfetzen, die noch immer, obwohl schon alles vorbei war, wie Pulverwolken an ihr vorüber und weiter segelten, vermochten nicht, ihr den Zustand des Ganzen aufzuhellen, das nichts Vergleichbares in dem Gedächtnis der armen Muse hatte, obwohl sie doch früher Pompeji, Messina und San Franzisko gesehen hatte, ohne verwirrt zu werden. Nein, ihre Hand hatte nicht gezittert, als sie den Zeitpunkt ihrer Vernichtung in schönen lateinischen Ziffern vermerkte, denn niemand störte sie damals in ihrer Beschäftigung. Nun aber trug sie ein und strich aus und trug wieder von neuem ein mit der Empfindung der Hoffnungslosigkeit. Ihre Arbeit war sinnlos, sie fühlte es, ohne zu wissen, warum. Schließlich kam sie auf den Gedanken, daß Moira, der sie sich seltsamerweise mit fast kindlicher Liebe verbunden 128 fühlte, während der Finsternis, die das Ende der Stadt begleitet hatte, die Attribute Justitias und ihre eigenen vertauscht hätte, dergestalt, daß nun sie selber mit der schwarzen Binde behaftet, und die Gerechtigkeit mit dem Fluch unzähliger steinerner Tafeln und dem Gekritzel von Anklagen, Schwüren und Entschuldigungen belastet wäre, die für das kommende Säkulum jedes Urteil unmöglich machten. Natürlich war diese Annahme falsch, aber wer hätte von ihr, der kalten, leidenschaftslosen Gefährtin des Schicksals, erwarten können, daß ihr bewußt war, in das Totenreich gleichfalls miteingegangen und menschlich geworden zu sein? Denn sie war es. Niemand erkannte sie mehr, als sie da armselig hockte mit ihrem Griffelkasten und scheinbar mit ängstlicher Miene die Sätze für Brot und Zucker, Nudeln und Fett zusammenzurechnen suchte; niemand würde sie wohl auch in Zukunft für eine Göttin halten oder glauben, daß er sich einmal vor Tafeln, die auf den Knien der Ewigkeit lagen, würde verantworten müssen . . ..

Wieder kamen die Stimmen der vorüberhuschenden Styxbewohner verwirrend auf sie zu. Es waren Männer- und Frauenstimmen, die sie immer deutlicher unterschied, und an der Neugier, mit der sie lauschte, hätte ihr eigentlich klar werden müssen, daß es zu Ende war mit ihrem Anspruch voraussetzungsloser Kühle, und damit ihrer Unsterblichkeit, die sie an der Natur der Götter bisher hatte teilnehmen lassen. Sie fühlte Rührung, sie fühlte Schmerz, sie fühlte, daß sie bereit war, den Griffel niederzulegen und um Gnade für jene zu bitten, die sie hätte verurteilen sollen.

»Nein«, hörte sie Friedrich Am Ende mit harter Stimme sagen, »so kommen wir alle, wie wir da sind, niemals aus diesem Kreis. Oder glauben Sie«, er wandte sich Beifuß in schauerlicher Beherrschtheit zu, die etwas jammervoll 129 Einsames hatte und sich gleichzeitig absolut zu setzen, wie aufzuheben schien, »daß es den Totenrichter besticht, wenn wir das Leidensmaß, das wir besitzen, wie einen Obolus auf der Zunge und unseren Schreckenspaß bei uns tragen, der mit Blut und Feuer gestempelt ist wie ein Entlassungspapier? Das spezifische Gewicht unsrer Tränen, Sie wissen es selbst, Herr Beifuß, ist ihm vollkommen einerlei.«

Albrecht Beifuß zuckte nur leicht mit den Achseln und griff nach der plötzlich taumelnden Lotte, die ihr Gleichgewicht zu verlieren drohte, weil die Innenseite der öden Straße, die mit geplünderten Warenspeichern an dem Wasser vorüberführte, tief aufgerissen war; gleichzeitig überdeckten die Schwingen eines mächtigen Bombers, der, niedrig fliegend, die letzten Worte von Friedrich Am Ende mit seinem Gebrüll verschlungen hatte, für den Bruchteil einer Sekunde Lottes erblaßtes Gesicht.

»O, danke«, sagte sie wie benommen. »Meine Knöchel sind nicht sehr stark.« Sie blieb stehen, der Brandgeruch aus den Kellern schlug mit der fanatischen Hartnäckigkeit einer weiterwirkenden Katastrophe den Wanderern entgegen.

»Bleiben Sie nicht an der Häuserseite, sondern gestatten Sie mir, daß ich rechts von Ihnen gehe, Frau Lotte –«

»Corneli«, ergänzte sie.

Er ließ ihren Arm los, den er noch immer mechanisch umklammert hatte, und sah sie zum erstenmal an. »Oder wollen Sie meine Hand?«

Sie überließ ihm sofort ihre Finger, sehr brennende, aber trockene Finger, durch welche ein immerwährendes Fieber zu pulsen, zu eilen, zu jagen schien, ohne daß sie es wußte.

»Corneli –?« fragte der Schauspieler rasch. »Die Frau des Komponisten Corneli?« 130

»Ja, wenn Corneli noch lebt.« Diese Worte kamen heraus wie etwas, das sich unaufhörlich im Gleichtakt des Fiebers durch ihr kochendes Blut bewegte; wie die Stimme eines verborgenen Dämons, der ihren Leib bewohnte und ihn nach seinem Gefallen verstummen und wieder tönen machte.

»Ich habe das Cellokonzert gehört, das er kurz vor dem Ausbruch des Krieges in Brandenburg dirigierte«, sagte Beifuß entsetzt und leise. »Ich entsinne mich«, fuhr er verhalten fort: »drei Sätze, Sonatenform, die Kadenz des Solisten im langsamen Satz. Die Violinen nur einfach gesetzt, zwei Hörner, vier Holzbläser, Pauken. Das tiefe Violoncell«, er stockte und schien mit grübelndem Ausdruck dem Nachklang einer fernen Musik zu lauschen, »war wunderbar schwerelos.«

»Ja«, sagte Lotte mit schwankender Stimme, »die Versuchung, durch eine allzu gesunde und blühende Kantilene die A-Saite niederzuhalten, war fast vollkommen ausgelöscht. Und trotzdem fehlte ein Element – –« sie suchte nach einem treffenden Ausdruck und bewegte in stiller Verzweiflung den Kopf wie ein Träumender hin und her. »Verstehen Sie mich jetzt richtig, Herr Beifuß – das Ganze war zu schön. Es war ohne Mangel und ohne Trauer, ohne die Schwermut, begreifen Sie, der letzten Vollkommenheit. Ich meine nicht, daß es zu glatt und zu leicht war. Es war . . . blasphemisch; es war nicht anders, als ob Dionysos mit den Mänaden im Schatten des Kreuzes spielt.« Ihre Züge zuckten und zitterten auf sonderbare Art; ein lieblicher Wahnsinn funkelte plötzlich in der Tiefe ihrer goldbraunen Augen, in ihren Mundwinkeln nistete Spott und Raserei zugleich. Dann drehte sie ihren Weiberkopf über die Schulter zurück mit dem Ausdruck einer Echse, welche, gelähmt von der Sonne, zu gehämmertem Erz erstarrt ist, und sagte mit einer entsetzlichen 131 Freude und Befriedigung in der Stimme: »Architrave und Säulen, gestürzte Blöcke, zerschlagene Kapitäle – auch das hier ist Griechenland.«

»Ja«, Beifuß setzte diesen Gedanken mit rücksichtsloser Heftigkeit fort. »Wenn der Teufel ausgetrieben ist, kommt er sicher mit sieben anderen wieder zurück und findet das Haus gekehrt.«

»Heute Nacht«, sagte Lotte verführerisch wie eine Hierodule, »habe ich ganz die gleichen Worte von meinem Bruder gehört. Aber gehen wir weiter, wir holen sonst die Anderen nicht mehr ein.«

»Müssen wir das?« fragte Albrecht Beifuß; er sprach so leise, daß Lotte nicht hörte, was er geäußert hatte; von dem Sims der vorgebauten Veranda eines Verwaltungsgebäudes lösten sich jetzt mit Gepolter einige Mauersteine und erfüllten die Luft mit Staub.

»Welch ein Chaos!« sagte Lotte Corneli.

»Welch eine Entsprechung«, gab Beifuß zurück, »in unserer eigenen Brust.«

»Sie haben recht«, sagte Frau Corneli. »Jetzt ist mir leichter geworden.«

»Ich verstehe nicht.«

»Nein, wie sollten Sie auch? Gehen wir! Gehen wir!« drängte sie und faßte von neuem nach seinem Arm, während sie weiterlief. »Je mehr zerschlagen wird, lieber Beifuß, desto mehr Chancen für mich. Die Welt wird offen wie eine Wüste mit unendlichem Horizont. Einmal werde ich Wilhelm finden, denn nichts versperrt mir länger den Weg und läßt mich anprallen, lenkt mich ab und wirft mir, so oder so, einen Schlagschatten über mein Ziel.«

»Diesen Schlagschatten werden Sie immer finden«, sagte der Schauspieler langsam und starrte sie gleichzeitig hingerissen und mit äußerster Abwehr an. »Sie wissen auch, wer ihn wirft.« Er legte ihr hart den Arm um die 132 Schultern, sie stöhnte auf, als ob eine Wunde mit dieser Berührung verschärft worden wäre, und folgte ihm wie ein Kind.

›Verloren –‹ sagte sich Albrecht Beifuß mit der Hellsichtigkeit, die ihm eigen war, wenn diese unbestechliche Stimme, dieser Richter in seiner eigenen Brust sich ihm entgegenstellte. ›Wir sind beide verloren – unwiderruflich – wenn nicht eine plötzlich wirkende Kraft uns auseinanderreißt.‹ Aber zugleich fühlte Beifuß den Rutenausschlag des Lebens über dem zugeschütteten Quell seiner verhärteten Brust; er hörte ein Rieseln, er vernahm Töne, die einer Windharfe ähnlich waren; er fühlte eine durchdringende Süße, einen Anhauch von Blüten, die ihre Knospe noch nicht geöffnet haben.

Neue Gesteinsmassen lösten sich wieder aus dem Verband einer Mauer, die unter fernen Detonationen, welche ein Sprengkommando irgendwo ausführen mochte, wie Pferde in einem Gewitter unaufhörlich zitterten, schauderten und wie, wenn jene mit ihren Hufen gegen die Stallwand schlagen, mit stürzenden Steinen von Zeit zu Zeit das Pflaster erschütterten.

»Ich hätte Lust –«, sagte Lotte plötzlich und blickte neugierig in die Höfe der großen Lagerhallen, die völlig ausgebrannt waren.

»Wozu?«

»Den Abkürzungsweg durch die Höfe zu gehen, Herr Beifuß. Mein Bruder und dieses Fräulein von Dörfer sind uns schon weit voraus. Selbst Levi-Jeschower mit seiner Frau und Herr Friedrich Am Ende sind nicht mehr zu sehen – übrigens hängt der entsetzliche Staub wie ein Vorhang über der Straße. Wir werden dann schneller den Parallelweg gewonnen und die anderen wiedergefunden haben, vorausgesetzt, daß diese Innenhöfe an der Rückseite ebenso offenstehen wie an der Straßenfront.« 133

»Zu gefährlich«, erwiderte Albrecht Beifuß. »Jeden Augenblick können weitere Wände auf uns herunterkommen.«

»Stürzet über uns Hügel! Bedecket uns Berge«, sagte Lotte gedankenlos.

»Nun gut«, gab ihr Albrecht Beifuß zurück. »Gut. Gut. Ein Gottesgericht.« Er riß die Betäubte zu sich heran, sie beide flüchteten förmlich mitten in jene Hölle hinein, in welcher das Feuer, der Sturm und die Glut, die den Sturmwind entfesselt, sich vergnügt hatten wie seit dem Engelsturz, als die Flammen zum ersten Mal aufwärts schlugen, um niemals mehr zu erlöschen. Die Hitze, ein fast metallischer Duft und die geronnene Atmosphäre der letzten Katastrophe lagen immer noch, ringsum eingefangen von den hohen Mauern, wie eine Glocke über dem schrecklichen Ort; zerstörte Substanzen: Leder, Melasse und verkohlte oder zerrissene Säcke, die aus Mauerhöhlungen quollen, türmten sich rechts und links von dem Weg, über welchen schmale Geleise führten; verbogene Loren legten sich schief, als ob sie zum Sprung ansetzen und aus den Schienen rasen, ihre Bahn verlassen und heulend und klappernd in das Bodenlose heruntersausen und dabei den Rest ihres schäbigen Inhalts erleichtert auskippen wollten.

Eine brennende Dunkelheit schien Albrecht Beifuß und Lotte zu überfallen, als sie die teilweise überdeckten und unregelmäßigen Höfe betraten, und indem sie sich umdrehten, blitzte das Licht zwischen zwei Häuserwänden durch die schmale, schon weit entfernte Spalte wie ein drohendes Cherubschwert.

»Lotte –«, flüsterte Albrecht Beifuß, außer sich vor Begierde. Seine rissig aufgesprungenen Lippen näherten sich ihrem schönen Gesicht, über welches die bräunlichen Lockenschlangen im Schatten der Schläfen spielten, und seine unendlich fühlsamen Hände berührten ihre Brust. Sie widerstand nicht, sie gab sich hin, und plötzlich [wie 134 in Dantes Inferno die beiden Verdammten] wurden sie von dem allmächtigen Sturm ihrer dunklen Gefühle hinweggetragen, von dem schwarzen Sog, der sie unwiderstehlich in den Wirbel des Höllentrichters zu reißen und zu entrücken schien . . .

[»Das Geheimnis des Fleisches ist tief, mein Kind«, sollte nur wenige Tage später Pater Mamertus sagen.]

 

Eigentlich hatte Irene von Dörfer bei dem Anblick von Herrn Levi-Jeschower auf der Stelle umkehren wollen. »Ich habe genug von dem jüdischen Elend«, sagte sie unliebenswürdig zu Ewald. »Auch, wenn es dem Krematorium entgangen und für das nächste Massaker aufbewahrt worden ist.« Der erstaunten Abwehr in Ewalds Gesicht mit leichtem Erröten begegnend, zuckte sie fast verwegen mit den Schultern und lachte auf. »Diese Begründung scheint Ihnen sehr zynisch, verehrter Herr Architekt?«

»Sehr – hochmütig, Fräulein von Dörfer«, erwiderte Ewald steif.

Gleich darauf waren sie weitergegangen ohne sich umzusehen. Hauteville bemühte sich unwillkürlich, mit Irene von Dörfer Schritt zu halten, die gleichsam vorwärts stürmte wie eine Jägerin; ein unbehagliches, dumpfes Gefühl erinnerte ihn dabei an den Traum der vorhergegangenen Nacht. In flaschengrüne Breeches gekleidet, mit verschabten Ledergamaschen, die schon manchen Dornbusch gestreift haben mochten, schien sie immerfort auf der Flucht zu sein – eine Gejagte, sich selber entfliehend, Hirschkuh und Artemis . . .

 

Irene von Dörfer und Ewald Hauteville folgte Friedrich Am Ende, der nach dem kurzen, fast inhaltlosen Gespräch mit Beifuß seinen Weg fortgesetzt hatte. [»Das spezifische Gewicht unsrer Tränen, Sie wissen es selbst, Herr 135 Beifuß, ist ihm vollkommen einerlei.« Dem Totenführer nämlich – ihn hatte Friedrich Am Ende gemeint; vielleicht auch den Gott mit Pfeil und Bogen, den Bruder der Artemis.] Um Friedrich Am Ende schien selbst die Luft dünner geworden zu sein. Sie schien in seinem Umkreis verflüchtigt und gleichzeitig schärfer zu werden; ihre Zusammensetzung, untauglich von Menschen geatmet zu werden, zerstörte die Lungen, in welche sie eindrang, und bewirkte, daß sich um ihren Träger eine Gefahrenzone aus Eis und ätherischen Giften bildete und ein Niederschlag blendender, scharfer Kristalle, die ihm zugleich etwas weit Entferntes und Statuarisches gaben. Vor Friedrich Am Ende und hinter ihm schien die Welt sich erst abzugrenzen und in Erscheinung zu treten; sie unterschied sich in vielfachen Formen von dem formlosen Wesenlosen; sie wurde spezifisch und seltsamerweise wurde sie, weil sie den reinen Bezirk des Mathematischen hinter sich ließ, gleichzeitig ungenau. Erst im Auge Gottes würde dann später eine neue, genauere Unterscheidung ihrer Ordnungen vor sich gehen und eine Scheidung in Gut und Böse erst bei dem jüngsten Gericht. Denn auch Friedrichs magischer Atheismus würde gerichtet werden, dieser subtile Gegengott Jahwes – nicht weniger Gegengott als das Kalb und die silbernen Schenkel Astartes.

Sich von der Begierde und von dem Schmerz, dessen Ursache diese Begierde war, um seiner selbst willen abzulösen, dünkte Friedrich Am Ende gut; es dünkte ihm leichter, sich aus der Umarmung und dem verstrickenden Liebesblick der Schöpfung zu befreien, als dem Schmerz unterworfen zu sein.

[»Was – schmerzt?« würde Mater Demetria fragen. »Materie«, sollte Mamertus erwidern, »die eingeatmet wird. Nur der Engel im Fleisch zieht Materie mit jedem Atemzug ein.«] 136

Er aber, Friedrich Am Ende, zog nicht länger Materie ein. Er stieß sie ab, sie zerfiel an ihm, sie wurde atomisiert und ging in das äußerste Nichtsein ein. Was von ihr blieb, war ein quälender Traum, den man heute zu Ende träumte; eine Erinnerung, welche lautlos in scheußlichen Laboratorien zerfiel: in Gaskammern, Hinrichtungszellen und Atomzertrümmerungshülsen, die nur noch Vorgang waren. Aus ihnen zog sich Friedrich zurück, indem er sich selbst und den Anfang der Schöpfung nur noch als Traum erlebte; als eine Verdichtung magnetischer Kurven, deren Figuren jetzt unwiderstehlich auseinander zu eilen schienen, indem sie sich lautlos um die Vernichtung, vielmehr um den Kern der Vernichtung bogen: die Leugnung der Substanz. Welche Stille in den satanischen Räumen der großen Vernichtungslager! Wie aus den Krematorien des Ostens nur der Rauch aus dem Schornstein und aus den Zellen der Gemarterten an die Ohren der Menschheit kaum mehr als ein Flüstern gedrungen war – so lag auch um die Versuchsbaracken der Atomzertrümmerungsfelder ein Wall von undurchdringlichem Schweigen; um die Gefangenenlager Sibiriens und um die Schreibstuben, wo das Elend eines ganzen Volkes in Abstraktionen: Verwaltungsmaßnahmen, Kalorien und Fiktionen aufgeteilt wurde. Das Ende der Welt war, wer wollte es leugnen, ein geisterhaftes Verschweigen, Verstummen und fürchterlich Lautloswerden, wie ihr Anfang das unermüdliche Sprechen Gottes gewesen war. ›Gott sprach . . .‹ In dem höchsten Zelt, dem Zelt der erhabenen Trinität bewegte sich unaufhörlich das Wort wie eine Webspule hin und her. Es bewegte sich: Gras und Kräuter entsprangen, Fische und Vögel, Vierfüßler, Drachen und jegliches Getier. Durch dieses Wort wurde alles geschaffen und nur durch das Wort allein. Wenn es verstummte, verstummte die Schöpfung und hob sich selber auf. Dann erst, nicht einen Augenblick 137 früher war die Stunde des Nirwana gekommen, die Friedrich Am Ende ersehnte – die Stunde, in welcher Christus und Buddha einander begegnen würden. Denn: »Das Geheimnis des Fleisches ist tief«, würde auch ihm Mamertus sagen. »Aber nicht tiefer als das des Geistes, welches mit jenem von Ewigkeit her eine gemeinsame Quellsohle hat in dem Innern der Trinität.« Friedrich Am Ende griff nach der Brust, wo das kristallene Abbild der Erde sich hob und senkte, senkte und hob, solange es Gott gefiel . . .

 

Nach einer kurzen Weile des Schweigens fing Irene von Dörfer wieder zu sprechen und an die letzten Worte Hautevilles sich zu erinnern an – langsam, mit jenem beherrschten Ausdruck einer fast unerträglichen Sanftmut, die sie als Maske über ihr Leben und sein Geheimnis legte. »Vergessen Sie diesen seltsamen Ausbruch, ich bitte Sie darum«, sagte Irene in einem Tonfall, der Ewald Hauteville ergriff. »Als Barfrau in den Kasinos der besetzten Gebiete verlernt man allmählich, jedes Wort auf die Waage zu legen.« Sein erschrecktes Gesicht und den Widerwillen, der sich offen und jäh in ihm spiegelte, mit einem leichten Lächeln quittierend, fuhr sie fort: »Ich schokiere Sie jetzt wohl von neuem? Schade. Das wollte ich nicht. Aber sehen Sie«, fuhr sie im Plauderton fort, »es gibt eben Dinge und Situationen, aus denen man sich nicht lösen kann, so gerne man es auch möchte.«

»Ich verstehe«, sagte Ewald Hauteville mit kalter Höflichkeit. »Rauchen Sie etwa?« Er fuhr in die Tasche und brachte, über sich selbst verwundert, eine Packung außerordentlich guter und lange gehüteter Zigaretten zum Vorschein, um sie ihr anzubieten.

»Danke«, sagte Irene höflich. »Ich möchte Sie nicht berauben. Außerdem habe ich selbst welche bei mir –.« Schon hatte sie einige Zigaretten aus ihrer Hose gekramt, 138

Ewald Hauteville bediente sich gleichfalls und rätschte das Feuerzeug an.

Wie aus Zufall berührte sein kleiner Finger ihr lieblich gekerbtes Kinn; sie zuckte zurück, er sagte ›Pardon‹ und blies das Benzinflämmchen aus. »Sie lügen, mein gnädiges Fräulein«, sagte er freundlich und fügte hinzu: »ich möchte darauf schwören.«

»Oh«, gab sie ihm ohne Zögern zurück, »und ich möchte nicht die Veranlassung sein, daß Sie jetzt meineidig werden.«

Ewald blickte sie prüfend an, eine leichte Enttäuschung, ihm selbst nicht bewußt, verschattete sein Gesicht. »Übrigens geht mich das auch nichts an«, sagte er knapp.

»Natürlich nicht. Bleiben Sie ruhig in der Meinung, Hauteville, daß ein allzu genaues Wissen um alle Zusammenhänge nur den Schlaf des Gerechten stört.«

»Nun, was meinen Schlaf angeht«, rief Hauteville, sein zerrissenes Herz entblößend, »so wird er gerade durch dieses Nichtwissen in seiner Ruhe gestört.«

Irene blickte ihn schwankend an und sagte zögernd: »Vielleicht, Herr Hauteville, könnte ich Ihnen einiges sagen, wenn Sie mich deutlicher merken ließen, worauf Ihre Wißbegier zielt.«

Ewald Hauteville lachte mißtönend auf. »Nächstes Mal«, sagte er roh und verzweifelt. »Nächstes Mal werde ich ganz bestimmt fragen, wenn ich wissen möchte, wie man zum Beispiel Rumba und Swing vollführt. Denn das war doch wohl Ihre Spezialität, mein gnädiges Fräulein, wie?« Sie schwieg. Er begann einen Schlager zu trällern: »Kind, ich schlafe ja so schlecht. Kind, ich träume ja so schwer.« Dann sagte er mit veränderter Stimme: »Ich schlafe wirklich sehr schlecht.«

»Und Sie träumen sehr schwer, nicht wahr?« fragte Irene ruhig. 139

Er zuckte zurück, als ob ihre Worte ihn wie glühendes Eisen angerührt hätten, und flüsterte widerstrebend: »Oh ja – ich träume sehr schwer. Aber das ist das Schlimmste noch nicht«, fuhr er, den starren, beschlagenen Blick fast wie ein Nachtwandler auf das Mädchen an seiner Seite geheftet, fort. »Das Schlimmste ist, daß ich selbst nicht mehr weiß, was Traum und Wirklichkeit ist; ja, manchmal kommt es mir vor, als ob ich nichts weiter als eine Traumfigur in dem Schlaf einer mächtigen Gottheit wäre und also mitgeträumt.«

»Mitgeträumt«, sagte Irene höhnisch. »Mitgeträumt, wie sich die Häuser, die Brücken, die Kellerfenster mitträumen ließen, als sie die Bombe entzweischlug, und aufgewacht, wie sie nun alle erwacht sind: verkohlt und schief, mit zerschlagener Hüfte und eingeworfener Treppenstufe, die über den Abgrund hängt. Sehr einfach, sehr verantwortungsvoll, mein bester Herr Hauteville. Aber träumen Sie weiter – schwer oder leicht macht keinen Unterschied.«

In dem nächsten Augenblick fühlte Irene ihre Handgelenke umklammert und sich an Ewald herangezogen, der ihr weiß vor Wut, mit verzerrtem Gesicht die beiden Hände bis unter die Augen herauf gerissen hatte. »Ich möchte Sie schlagen«, flüsterte er und stieß sie dann von sich fort. »Was wissen Sie –?«

»Ja. Was weiß ich?« fragte Irene mutig zurück mit steinernem Gesicht. »›Was weiß eine Barfrau‹, wollten Sie sagen, ›von den schweren Träumen der deutschen Männer, die diese Frau wie Absinth genossen und als ihr eigenes schlechtes Gewissen auf die Kniee genommen haben?‹«

»Verzeihen Sie«, sagte Ewald finster und taumelte gegen die rostige Wand eines durchlöcherten Panzerwagens, der an dem Bürgersteig stand. »Ich begreife, daß Ihre Erfahrung sehr groß ist – wenn auch auf anderer Ebene, als ich vermutet habe.« 140

»Auf – welcher?« fragte Irene gespannt, »und welche Erfahrungen meinten Sie?« Ein merkwürdig flehender, drängender Ausdruck trat in die weit geöffneten Augen des jungen Mädchens, ihr Mund blieb halb offen, die kleinen, weißen, ein wenig unregelmäßigen Zähne blitzten in schüchterner Anmut zwischen dem Lippenpaar.

»Nun doch – Erfahrungen, die man erwirbt, wenn man als Tochter aus guter Familie die Marketenderin spielt. Wahrscheinlich sind Sie ganz einfach von Hause fortgelaufen? Habe ich recht oder nicht?« fragte Ewald Hauteville im Gesellschaftston und blickte Irene von Dörfer mit erzwungener Teilnahme an; schon begann das Gespräch in ihm leer zu laufen, ihn zu langweilen, ja, sogar abzustoßen, obwohl er durchaus nicht beabsichtigte, sie zu beleidigen.

»Richtig«, sagte das junge Mädchen. »Ich bin von Zuhause fortgelaufen. Wie gut Sie raten können. Aber wäre es denn nicht möglich gewesen, daß mein Ziel ein ganz anderes war?«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen wollen, mein sehr verehrtes Fräulein von Dörfer«, sagte Ewald Hauteville gequält. Immer noch stand der drängende Ausdruck, diese stumme, geheimnisvoll brennende Frage in Irene von Dörfers Blick. »Was wissen wir Menschen im Grund von einander«, fügte er konventionell hinzu und sah mit jähem Erschrecken plötzlich, daß seine Begleiterin weinte; vielmehr, daß ihr unbegreiflich beherrschtes und vollkommen unverzerrtes Gesicht von Tränen überschwemmt war.

Gleich darauf stieß Irene von Dörfer ein bebendes Lachen aus. »Das kommt von den schlechten Träumen, Hauteville«, sagte sie mit dem seltsamen Gleichmut, mit welchem sie jegliche Anstandsregel wie eine regierende Fürstin oder ein Straßenmädchen zu ignorieren pflegte. »Ich 141 glaube tatsächlich, es wäre das Beste, wir würfen unsere Träume zusammen, damit sie einander auffressen könnten wie altes Schlangengezücht.«

»Ich wollte Sie nicht kränken, Irene«, sagte Ewald Hauteville bestürzt.

Schon hatte sich Fräulein von Dörfer gefaßt. »Das können Sie auch nicht, Herr Hauteville«, sagte Irene gelassen und trat mit dem Fuß einen Stein zur Seite, der ihr im Wege lag.

[Nein? fragte eine entsetzliche Stimme mitten in ihrer Brust. Nein? Habe ich dich so gründlich zerstört, daß nichts mehr dich kränken kann? Habe ich dich viel tiefer entehrt, als Vergewaltigung, Unzucht und Raub dich hätten entehren können? Sieh mich an! Betrachte mich ganz genau, mein hübsches Masurenmädchen! Und ein Gesicht von satanischer Schönheit kehrt sich Irene zu; ein unterdrücktes, leises Gelächter, dessen Eindringlichkeit den abscheulichen Donner der sich entladenden Sprengkörper leicht und mühelos überdeckt, schlägt an Irenes Ohr. Mein verlauster Schatz, meine schmutzige, kleine, verkrätzte Eurydike, fährt die Stimme, die zu dem Gesicht gehört, von dem fürchterlichen Gelächter gefärbt, immer vernehmlicher fort. Nichts zu machen. Du bist mein Eigentum, ich habe dich auserwählt. Du trägst mein Zeichen, ich schlafe mit dir und jeden Morgen mußt du aufs neue mich aus deinen Bettlaken lesen wie Wanzen; aus deinem Nacken wie juckende Tierchen, aus jeder Hautfalte wie eine Milbe, die dir After und Scham zerbeißt. Pfui, pfui! Nimm Cyklame und Rouge baiser und schminke dich, mein verwegenes Liebchen, mit kußfestem Lippenstift. Gib dich schüchtern und leichtfertig, gut oder böse, verführerisch, tiefsinnig oder kokett, als Hure oder Unschuldslamm – keine Maske verdeckt dein tieferes Wissen, und keine Grimasse jene Erfahrung, an der ich 142 dich teilnehmen ließ. Du kannst nicht vergessen. Es gibt keine Lethe, die stark genug wäre, dich auch nur im Schlaf die Summe der Bilder vergessen zu machen, die ich dir eingeprägt habe. Lebend gestorben, mußt du den Tod in deinem zukünftigen Leben für immer weiter tragen, und hartnäckig haftet sein Duft an dir wie an der Sohle des Wanderers der Geruch von Hundekot haftet, den man nicht abstreifen kann. Du willst mir entfliehen? Ach, wie vergeblich! Du wanderst auf mich zu. Denn du weißt nicht, daß ich dir, während du glaubst, immer weiter voranzugehen, den Kopf zurückgedreht habe. So kannst du auf keinen Orpheus mehr hoffen, der dich heraufführen wird. Oder glaubst du, dieser Herr Ewald Hauteville habe die Kraft dazu? Er, welcher sich selber nach rückwärts bewegt und nach der Gabelung seiner Träume in der Tiefe des Orkus tastet; nach der Stelle, wo er den Weg verfehlt hat in schuldhafter Unwissenheit? Auch Anastasiendorf wird dich nicht retten, denn Anastasiendorf – fühlst du es nicht – lässest du hinter dir mit jedem Schritt, den du heute noch darauf zugehst; ja, wenn du glaubst, es erreicht zu haben, wirst du wissen, daß du im Kreis gelaufen und wieder am Anfang bist. Bleibe stehen! Tritt auf dein eigenes Herz! Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Dann nämlich, wenn du gelernt haben wirst, das Labyrinth nach unten zu treten und mit dem Labyrinth zu versinken, wirst du endlich gerettet sein. Wie in den Schlössern der Fee Morgana gibt es hier eine gewisse Stelle, eine Falltür, welche die Tiefe des Abgrunds und der Vergessenheit auftut und dich dir selber entwenden und dich ausschlüpfen lassen kann . . .]

Ewald Hauteville, auf Irenes Entgegnung: »Das können Sie auch nicht, Herr Hauteville!«, mußte inzwischen weitergesprochen; Irenes Unterbewußtsein gleichsam – wie das Ohr den Regenfall immer noch hört, wenn der Geist 143 schon entschlummert ist – ihn aufgenommen; ihr ganzes Wesen mußte ein Schlafgespräch mit ihm begonnen und freilich dabei die Stimme Hautevilles mit der Stimme des Quälers verwechselt haben, als der Quäler rief: »Oder glaubst du, dieser Herr Ewald Hauteville habe die Kraft dazu? er, welcher sich selber rückwärts bewegt und nach der Gabelung seiner Träume in der Tiefe des Orkus tastet? nach der Stelle, wo er den Weg verfehlt hat in schuldhafter Unwissenheit?« Denn: »Ich glaube, Sie ahnen jetzt, Fräulein Dörfer«, hörte sie Ewald Hauteville in kalter Verzweiflung weiterfragen, »Weshalb ich mein Schlangengezücht, wie Sie's nannten, mit dem Ihrigen nicht zusammenwerfen und es auf diese billige Weise plötzlich vernichten kann. Wenigstens nicht«, fuhr er eigensinnig, den eben gefundenen Ausdruck noch einmal verwendend, fort: »bevor ich die Gabelung in dem Orkus wiedergefunden habe. Jene Stelle –.«

Irene erzitterte und kreuzte wie eine Bittsucherin, ohne daß diese scheue Gebärde ihr zum Bewußtsein gekommen wäre, die Arme über der Brust. »Ich glaube allen Ernstes, Hauteville, ich würde Sie wiederfinden, denn auch ich . . .« Sie verstummte, geschlossenen Auges, in einer Erwartung, die so unendlich, so dringend und nah der Erfüllung war, daß sie kaum mehr zu atmen wagte.

»Auch Sie? Was wollen Sie damit sagen?« fragte Ewald Hauteville zurück. Ihre Gesichter waren einander unsinnlich angenähert, ihr Flüstern das zweier Blätter an ein und demselben Baum.

Unendliche Stille und die Vertrautheit mit den fernher trommelnden dumpfen Lauten wandernder Katastrophen schien beide zu umgeben. Ein Zauberbann, eine Verwunschenheit, die sie befallen hatte, nahm ihnen Frage und Antwort ab und versetzte sie in den Geheimniszustand einer geisterhaft leichten Vertauschbarkeit und 144 Vermischung ihrer Gefühle und ihrer Erinnerungen – derart, daß jede Selbstoffenbarung an dem Andern zum Echo wurde und sich an den Grenzen des Abtastbaren in das Unbegrenzte verlor; in Räume aus Schall, in Echostuben aus Hall und Widerhall; ja, nicht nur waren sie beide das Flüstern zweier Blätter an ein und demselben Baum, sondern mehr noch: ein Kuckucksruf, der in der Einheit sich selber gegabelt hat.

Aber schon wurden sie – seltsam genug – über die leicht zu verfehlende Stelle, die sie suchten, hinausgetrieben; sie wurden wie zwei dryadische Wesen, deren Heimat dort liegt, wo das Echo entspringt, in das Grenzenlose gestoßen; von einer Strömung hinweggerissen, die sie beide über Frage und Antwort wie zwei große Vögel dahinsegeln machte, während unter ihnen sich Wälderrücken und Höhenzüge verschoben, sich einebneten und gleichförmig wurden in verzaubertem Einerlei. Welch eine Trauer in diesem zarten, elementarischen Schweben! In diesem Necken, Einandersuchen, Verfolgen und Wiederfinden – welch eine Melancholie! Welch ein Mißverständnis in ihren Gesprächen, welche Gleichgültigkeit in ihrer Entzweiung und selbst in dem Doppelton ihrer Klage welch eine Monotonie! Noch später, als Irene und Ewald einander bereits so nahe waren, daß das merlinische Spiel ihrer Seelen auch ihre Leiber ergriff und sie drängte, die unsichtbaren, luftigen Linien ihrer Vereinigung nachzuvollziehen, blieb ihre Umarmung so unbehaust wie die eines Kuckuckspärchens; sie hätten sich ebenso gut einen anderen, als gerade diesen Gefährten erwählen können, und daß sie sich so rasch und so gründlich, gewissermaßen ganz unentrinnbar, wie durch Hephästos' Hammer geschmiedet, mit einander verkettet hatten, zeugte sowohl für die traumhafte Logik ihrer tief in der Unterwelt stattgehabten und von chthonischen Kräften vollzogenen Bindung, wie für den 145 Charakter einer Beziehung, die nur symbolisch und stellvertretend doch am Ende nicht sinnlos war. Irene für einen ganz anderen Menschen, nämlich für Vera, zu nehmen, und in dem mißverstandenen Schicksal Fräulein von Dörfers die eigene Schuld gleichnishaft zu begreifen: die Schuld des Mannes, der, wie sie sagte, »sein schlechtes Gewissen wie eine Frau auf die Kniee genommen hatte«, war Ewald schon sehr frühe entschlossen – schon bei dem ersten blitzhaften Tasten der Gnade nach seinem Herzen; jener Gnade, die ihm Gesicht an Gesicht wie eine vermummte Bittsucherin gegenüberstand und eine Frage von ihm gefordert hatte, die er in voller menschlicher Freiheit und in Erwartung einer Entgegnung, die ihn wahrscheinlich zermalmen würde, nicht hatte stellen wollen. Und was hätte sich auch der Bruder der schönen Zauberin Lotte, dieser träge, egoistische Träumer, in dem tiefsten Grund seines Wesens anderes wünschen können als nur eine magische Sühne für seine sehr menschliche Schuld? Er, welcher zwar in dem Nachtgespräch mit Lotte geäußert hatte, daß es in Anastasiendorf nichts für ihre Hexenküche und ihre Künste gäbe, und der trotzdem schon an dem ersten Kreuzweg sich selbst und seine Gnadengefährtin in – richtig verstanden, könnte man sagen: das doppelte Totemtier jener Gesellschaft von Wallfahrern oder Büßern – zurückverwandelt hatte . . .

Denn er suchte nicht sie selbst, sondern Vera [und auch nur Vera, weil mit den Toten die Tote zu begraben, ihm wahrscheinlich einfacher dünken mußte, als eine Lebendige aus dem Dunkel der Toten hinauf zu führen]; er liebte nicht dieses Mädchen Irene mit der verschlossenen Maske des Hochmuts und der Verwundbarkeit. Sie war ihm gleichgültig; ja, sogar dann, als er Irene am stärksten begehrte, war sie ihm fremd und verhaßt. Nur jenes seltsame Stürmen und Schweben, jenes Weiterdrängen – wonach, 146 wohin? – hatte ihn angezogen; dieses unruhige Flattern und Flügelschlagen, dieses klatschende Sausen glühender, starker, betäubender Fittiche – und als Lotte schon lange unfehlbar wußte, daß jene ihm als Erinnye geschickt waren und ihnen beiden als das Motiv einer Karfreitagsratsche, ahnte Ewald noch nichts davon. So nahe der Deutung, so nah der Erlösung wie die geheimnisvoll fordernde Inschrift über dem Hochaltar in Anastasiendorf Flora Jeschower einmal gewesen war – vermochte er doch dieses Flügelwesen nicht eher zu erkennen, als bis es sich vor seinen schaudernden Augen in eine Rächerin verwandelt hatte, oder [wie Florentine es auszudrücken beliebte] in einen schwarzen »Schlüssel und Dietrich tragenden Geist« . . . dieses Wesen, das wiederum auch in der Form des rasch und fürchterlich unaufhaltsam über den Himmel ziehenden Flugzeugs den Mond geteilt hatte und zugleich das Atelierfenster dunkeln machte und Albrecht Beifuß durch die Berührung seines Schattens aufgeschreckt hatte.

Flügel – –! Flügel – –! Essenz einer Botschaft, Auftrieb der Schwere, das Vorübereilende an und für sich, das jeder Vision vorausgeht; das die Schlafenden anstößt, Heli vom Stuhl warf und Zacharias, dem Alten, zurief hinter der Bundeslade. Das an Zachäus, dem Zöllner vorbeikam, der in dem Feigenbaum hockte, und ihm, obwohl er krummbeinig war und wenig angetan, sich die Herzen seiner Mitbürger zu erringen, in das große, weit aufgetane, das Ohr des künftigen Jüngers, einblies: Der Herr, der Herr ist am Wege! Steige herunter und eile dich, ihm Wohnung anzubieten!

Ihm, diesem Vorbeieilenden, ach – wer würde ihm [ Gnade oder Erinnye] Obdach zu geben wagen?

 

»Wir waren sehr glücklich in unserem armen, weltverlassenen Kloster«, sagte gleichzeitig Florentine Jeschower 147 zu dem schweigsamen Friedrich, der zwischen ihr und ihrem Gatten ging. »In diesem Refugium, das jeden Flüchtling zusammen mit dem Ewigen Licht unter dem gleichen Dach beherbergt und ihm Nahrung gespendet hatte. Es fügte sich damals so, daß eine Nonne in meinem eigenen Alter gerade gestorben war. Ich schlüpfte in ihren verwaschenen Kittel und trat in ihre Schuhe; man nannte mich Mutter Perpetua, ich lernte die Ziege melken und den Hühnern Brennesselblätter unter die Körner zu häckseln. Ich nähte Säckchen zum Trocknen der Pilze, die wir gesammelt hatten, und kochte die Vogelbeeren und Hagebutten ein. Denn, wie ich schon sagte, das Kloster war arm, so arm, daß wir damals die ausgebutterte Milch noch verkauften und selber Wasser tranken. Aber das Wasser war klar und eisig und schmeckte nach Brunnenkresse – wer es trank verlor jede Furcht vor Seuchen; vor Bosheit und Verrat. Die Äbtissin ordnete damals an, daß es aus graublau glasierten Krügen in kleine Landweingläser gegossen und ohne jeden Zusatz getrunken werden sollte. Denn sie ehrte dieses Geschöpf, wie sie sagte, als Zeichen der Wiedergeburt, und nur an Sonntagen mischten wir es mit eingedicktem Johannisbeersaft und tranken es getrost und erheitert wie Kanas Hochzeitswein.«

»Auch mich hat dieses Wasser berauscht«, sagte Herr Levi-Jeschower, »wenn ich vor Tagesanbruch das gemauerte Rund der Zisterne unter der Brunnenöffnung für den Garten voll Wasser pumpte. Die Mondsichel, bleich und bereits gemindert, zitterte auf dem dämmernden Spiegel, über den eine Trauerweide sich neigte, die das Bild der Mondsichel hundertfältig in der Gestalt ihrer schmalen Blätter über das Wasser warf, das der kühle Morgenwind rillte. Das Krähen der Hähne kam nah und fern auf, in den Ställen muhten verschlafen die Kühe, man hörte das Klirren der eisernen Ketten, und hörte in einem 148 gleichsam den Schlummer der ganzen Kreatur wie an Winden aus der Tiefe gezogen werden; an ächzenden Seilen, die ihn dem Licht und dem Sonnenaufgang entgegenhoben, wo er wie Nebel verging. In dieser Stunde, wenn ich ermüdet von der Pumparbeit auf der Steinfassung saß und in das Wasser blickte, das den blassen lieblichen Himmelskörper mühelos einfing, war mir zumute, als ob die ganze Menschheitsgeschichte darin zu lesen wäre: Schöpfung und Sintflut, das Rote Meer, die Jordanstaufe, der Teich von Bethesda und die Fahrt des Kämmerers von Äthiopien, dessen schwarzes Gesicht bei dem Untertauchen in den Brunnen am Reiseweg heller wurde – ein gutes, brüderliches Gesicht, das mich trösten und stärken wollte.«

»Mir aber«, fuhr Florentine fort, »war zur gleichen Stunde, wenn ich erwachte, das Buch ›de ordine‹ aufgeschlagen, und mir dünkte, es führe ein großer Engel, der neben mir auf der Bettkante saß, mit seinem Finger die Seiten entlang und erläuterte meinem Geist den Ursprung aller Ordnungen in dieser Welt. Ich hörte, wie der Wind in den Bäumen des Landgutes Cassiacum Früchte und Blätter herunterschlug und die Regenrinne mit den abgefallenen Blättern verstopfte, sodaß das Wasser unregelmäßig und von Zeit zu Zeit angehalten, in dem Behälter ankam, der unter der Rinne stand; dann klopfte Licentius, unser Gefährte, mit einem Stück Holz der knappernden Maus unter dem Dielenboden – und wieder wandte der große Engel Seite um Seite um.«

»Wir waren furchtlos«, sagte Jeschower, »denn wir wußten uns in der Hand eines Engels, der uns wiederum aus der Hand eines anderen entgegengenommen hatte. Dieser andere, ach, sehr liebenswerte und außergewöhnlich häßliche Engel – er legte den Kopf in den Nacken, als suche er über dem Trümmerfeld den Himmel ab, welcher unberührt und in gehämmerter, eherner Bläue ohne Mitleid 149 darüberstand – hatte bereits die Erde verlassen, als ich Wasser in die Zisterne pumpte, und mir das Bild der Mondsichel winkte, das auf dem Spiegel schwamm. Ich wußte, vielmehr, ich ahnte es damals im nächtlichen Augenblick. Es wurde mir denn auch später durch einen anderen Fundevogel, der Anastasiendorf auf der Flucht nach der Schweiz passierte, bestätigt –.«

»Durch einen Schlüpfunter wolltest du sagen«, verbesserte ihn Florentine und fuhr, zu Friedrich Am Ende gewendet, diesen Ausdruck erhellend, fort: »Fundevögel waren nur solche, die längere Zeit in dem Kloster blieben, während die Schlafgäste für eine Nacht ›Schlüpfunter‹ geheißen wurden.«

»Eine Fülle von Bildern«, erwiderte Friedrich mit einem spöttischen Lächeln, »wenn ich bedenke, daß nun noch immer der Zusammenhang zwischen dem fraglichen Engel und der Mondsichel, welche Herrn Levi-Jeschower aus dem Brunnen entgegenwinkte, geklärt werden müßte, wie?«

»Dieser Engel, dem wir das Leben verdankten, hieß Sichel; wir nannten ihn ›Sichelchen‹«, erläuterte Florentine. »Sichelchen war meine Schulkameradin, eine bucklige, kleine Lehrerin, die wahrhaftig nichts Himmlisches an sich hatte, es sei denn eine himmlische Güte und engelhafte Geduld.«

»Sie war also, wenn ich Sie richtig verstehe, eine fleischgewordene Allegorie oder meinetwegen eine Metapher, die Sie eben in Ihren Wechselgesängen auf das Beste verwendet haben.«

Herr Jeschower sah ihn befremdet an. »Eine abgeschiedene Freundesseele ist keine Allegorie«, versetzte er ärgerlich. »Auch wird sie nicht zu einer Metapher, wenn sie mir nach dem Hinübergang in einem Bild erscheint.«

»Ich selbst verbiete mir alle Bilder, alle Metaphern und jeden Vergleich, der das Wesen der Dinge verdeckt«, 150 sagte Friedrich Am Ende mit jener Kälte, die das Auszeichnende an ihm war; das, was ihn ausschließlich charakterisierte und seine erschreckende Farblosigkeit, das Anorganische [wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck auf ein menschliches Wesen irgendwie anzuwenden] seiner Beschaffenheit deutlich machte . . . das Anorganische, das zugleich ein Amoralisches war.

Jeschower blickte ihn von der Seite halb ironisch, halb mitleidig an. Noch niemals glaubte er, einem Gesicht von so spezifischer Unmenschlichkeit und Unnatur – wenn Natur etwas ist, das an dem Menschen teil hat – im Leben begegnet zu sein; einem Gesicht, das wie mumifiziert und vollkommen alterslos war. Er hatte rohe Gesichter genug, dumpfe und fast schon vertierte gesehen, in denen sich hündische Domestizierung und Bösartigkeit durchdrangen. Dieses Gesicht aber, weit entfernt von Bösartigkeit und Vertierung, war hoffnungslos wie ein Stein. Es war nicht ansprechbar; das war alles, und es deswegen anorganisch zu nennen, war eigentlich ungenau. Denn obwohl jener Mensch nicht ansprechbar war, war er doch leidensfähig; auf luziferische Art allerdings, die mit dem eigenen Leide zusammen den eingemauerten Zustand der Seelen im Schoß der Hölle ergibt. Die dicht beieinanderstehenden Augen und eine außerordentlich edle, aber allzuscharf gebogene Nase mit verächtlich vibrierenden Flügeln hätten ihm fast etwas Vogelhaftes, eine Ähnlichkeit mit der archaischen Plastik ägyptischer Sperberköpfe gegeben, wenn nicht die sonderbar fleischliche Wölbung seines vorgeschobenen Mundes, dessen Bogen nirgends eingekerbt war, zu dieser Vogelphysiognomie schlecht hätte stimmen wollen. Natürlich war es kein sinnlicher Mund, denn um ausgesprochen sinnlich zu sein, fehlte es ihm an Geist; an den Grübchen des Witzes, der Röte des Lebens und den nach oben drängenden Linien der Unschuld und 151 Kinderei. Es war ein Mund, dessen Fülle freudlos, dessen breit, obwohl klar gezeichnete Lippen ohne Lächeln und Demut waren. Zusammen mit Nasen- und Augenpartie enthüllte der Mund das Gesetz des Geistes, der, wenn er mit sich allein bleibt, dem Fleisch noch viel näher ist, als das Fleisch sich selber zu sein vermag: nämlich fleischerner als das Fleisch, Er konnte nicht wissen, daß auch auf Friedrich die Behauptung der Mutter Hieronyma, einer früheren Irrenwärterin, zutraf: daß nämlich jede Art Geisteskrankheit mit Hochmut verbunden sei. »Man kann sie nicht überzeugen, wissen Sie, diese Menschen«, sagte Hieronyma, »weil sie alle hochmütig sind. Könnte man sie von dem Hochmut heilen, so wären sie gesund. Insofern ist jede Geisteskrankheit eine Todsünde«, meinte die alte Nonne, »und doch auch wieder nicht. Denn was kann der Apfel für seinen Wurm, der das Gehäuse zerstört hat und von innen nach außen drängt? Und kann er sich selbst von dem Wurm befreien, welcher sein Wesen verdirbt? Darum müßte im Grund jeder Geisteskranke exorzisiert werden, glauben Sie mir«, sagte Hieronyma. »Diese Art wird nur ausgetrieben durch Fasten und Gebet«, fügte sie noch hinzu.

An die Meinung von Mutter Hieronyma mußte Jeschower denken, als er Friedrich betrachtete. [Latenter Wahnsinn, durchzuckte es ihn, der wahrscheinlich schon sehr lange vorhanden, sehr lange in Zucker und Alkohol wie eine Frucht kandiert worden ist – nein, wie in der Frucht jener Wurm des Wahnsinns, den Mutter Hieronyma meint.] Levi-Jeschower, von Grauen und Mitleid in gleicher Weise geschüttelt, nahm die Worte Friedrich Am Endes auf und versuchte, sie auszukernen: doch blieb an dem Kern wieder Fruchtfleisch hängen und blutete an der Wunde naturnotwendig aus.

»Was verlangen Sie von einem Menschen des jüdischen 152 Volkes«, sagte er, »wenn Sie zu ihm von dem ›Wesen der Dinge‹ wie Aristoteles sprechen? Wir sind, vergessen Sie das doch nicht, Leute von Stamm und Art jenes David, der vor der Bundeslade einhersprang und auf der Harfe schlug.«

Friedrich Am Ende verzog seinen Mund. »Vor der Bundeslade«, sagte er höhnisch, »die weder Bilder noch Zeichen enthielt, sondern den Dekalog. Glauben Sie, daß diese Hüpferei Ihrem Jahwe gefallen hat?«

In diesem Augenblick lachte Frau Flora unendlich erheitert auf; sie lachte wie Patriarchenfrauen des Alten Bundes gelacht haben mochten, wenn ihre Männer sich mit einem Traum oder der unmittelbaren Begegnung eines Engels gebrüstet hatten. Ihre bogenförmigen, hellbraunen Augen verschwanden fast über den hohen, chinesischen Backenknochen und waren von einem Strahlenkranz bezaubernder Fältchen umgeben. »Es ist nicht jeder dafür geschaffen, mit angezogenen Beinen zu sitzen und sich auf den eigenen Nabel zu konzentrieren, mein Bester«, sagte sie unbefangen. In dem Gefühl, ihn verletzt zu haben, der jetzt in eisiger Abwehr die linke Braue hochzog und den Oberkörper zurücknahm, fuhr Florentine rasch und geläufig, sich fast überstürzend fort: »Wahrhaftig, wir sind keine Philosophen, und wenn wir versuchen, solche zu sein, ergeht es uns jedes Mal, wie es Paulus am Areopag erging. Sie kennen doch diese für griechische Ohren so entsetzlich obskure Predigt von der Auferstehung der Toten –?«

»Ich weiß«, sagte Friedrich Am Ende kurz. »Und Sie finden sie also gleichfalls obskur?«

»So obskur wie die Fleischwerdung Gottes, ja!« erwiderte Florentine. »Beides gehört zusammen und ist im Grunde gleich.«

»Die Auferstehung der Toten!« wiederholte Friedrich 153 Am Ende mit unbeschreiblichem Ausdruck. »Wer sich dem Kreislauf der Zeugung und Fleischwerdung widersetzte, machte sie überflüssig.«

Herr Levi-Jeschower schoß einen raschen, erstaunten Blick zu Friedrich Am Ende, der grüblerisch weitersprach. »Ich meine: wer sich der Fleischwerdung widersetzte als Fleischwerdung in sich selbst. Dem Anfang. Der Wiederkehr.«

»Mein Gott«, sagte Florentine betroffen. »Diese Befürchtung, daß Rahel von neuem dasitzen würde und darauf bedacht sein, mit neuen Geburten von vorne anzufangen, besprachen wir heute Nacht.«

»Und damit sie nicht wieder aufs neue beginnt«, fragte Friedrich herausfordernd langsam, »fliehen Sie stellvertretend für Rahel nach Anastasiendorf?«

»Nein. Weder fliehen wir stellvertretend, noch fliehen wir überhaupt. Wir suchen etwas, Herr Friedrich Am Ende, das wir vergessen haben«, erwiderte Florentine.

»Wie kann man suchen, was man nicht kennt?« fragte Friedrich Am Ende zurück.

»Es gibt Dinge«, mischte sich Herr Jeschower mit trockener Festigkeit ein, »die man erst finden kann, Herr Am Ende, wenn man sie wiedererkennt.«

»Aber indem man sie wiedererkennt, kehrt man zum Anfang zurück!« rief der Angeredete aus. »Man setzt von neuem den Anfang, dem man eben entronnen war. Man setzt ihn und beginnt ihn von neuem in der ewigen Wiederkehr. Sichelchen! Kaum ist es untergegangen, so taucht es schon wieder naturgesetzlich aus dem Erdschatten, der es eingeschluckt hatte, mit neuer Begierde auf. Es füllt sich langsam, es schwillt, es wird größer und schwächt sich, eben erst voll geworden, in dem Kreislauf der weiblichen Menses an, um wieder voll zu werden. Dieses Mondweib, diese himmlische Rahel, welche nichts anderes kennt 154 als die Lust, geschwächt und gefüllt zu werden! Gut«, fuhr er mit leidenschaftlicher Kälte und düsterer Ruhe fort, »sagten Sie eben nicht selbst, Frau Jeschower, daß es notwendig sei, diesen Kreislauf der Zeugung zu durchbrechen, der immer wieder den Tod unter das Dasein mischt? Aber nein. Sie wollen ja wiederfinden, was Sie verloren haben. Sie wollen sich einer Sache erinnern, die Sie vergessen hatten, als ob nicht Vergessen mehr sei als jede Erinnerung. Vergessen. Mehr noch: vergessen werden. Welch ewige Seligkeit. Wenn wir den Wechsel fürchten, den Ablauf – was müßten wir mehr erstreben, als diesen Zustand: vergessen zu haben und für immer vergessen zu sein? Unabänderlich, ein für alle Mal und für immer vergessen zu werden?« wiederholte er Frau Jeschower in das entsetzte Gesicht. »Nun ja – die Sekte der Sadduzäer scheint ausgestorben zu sein«, fuhr er mit finsterer Höflichkeit fort, »sonst wäre Ihnen wohl der Gedanke an das Vergessen, Vergessenwollen und Vergessenwerden nicht fremd.«

»Er ist uns durchaus nicht fremd, Herr Am Ende«, sagte Levi-Jeschower stark. »Wir haben nur einen anderen Namen für dieses Vergessensein.«

Friedrich Am Ende blickte ihn an; seine Miene, nackt und verhüllt in einem, trug das Siegel unaussprechlichen Hochmuts und versteinerter Traurigkeit. »Ich weiß es. Ich habe Ihnen vorhin dieses Wort an der Stirne abgelesen, als Sie mich musterten. Sprechen Sie es nur aus!«

»Nicht nötig«, erwiderte jener kurz und nahm Florentines Arm.

Sie hatten sich jetzt bereits wieder Ewald und Irene von Dörfer genähert; das junge Mädchen machte den Eindruck, als schleppe sie eine gebrochene Schwinge, einen verstauchten Fuß, einen Arm, der neben ihr schlenkerte, mit sich voran, obwohl sie nicht langsamer ging. Auch Lotte Corneli und Albrecht Beifuß hatten sich eingefunden; 155 doch während ein unsichtbar mischender Spieler jedes der beiden anderen Paare auch anders einander zugesellen und Friedrich Am Ende fast ohne Bedenken hätte ausfallen lassen können, waren Lotte Corneli und Albrecht Beifuß nicht voneinander zu lösen; sie hielten sich jetzt und in Zukunft wie zwei einander Verfallene fest, welche der Tod erst trennt.

In dem charakteristischen Wechsel von Stadtrand, freiem Laubengelände, Vorort und wieder Laubengelände hatten die Wanderer jetzt allmählich das Trichterfeld aus Ruinen und Häusern, zerschmetterten Werkhallen, eingestampften und in Schrott verwandelten, öden Fabriken hinter dem Rücken gelassen und durchquerten auf wild verwachsenen Pfaden eine an Arbeit, Ohnmacht und Flüchen fast erstickte Kleingärtnerkolonie, die mit der Gewalt einer Feuersbrunst, welche von neuem ausbricht, nachdem sie schon eingedämmt worden war, der gemarterten Erde entstieg: flackernd in einem Meer von Blüten und überschaukelt von Kohlweißlingen, die sich hier und dort niederließen. Weil in der Frühe ein Arbeitskommando die Bevölkerung aufgerufen und nur alte Leute von über sechzig zurückgelassen hatte, waren die Gärten menschenleer und nur von den kleinen, grotesken Götzen aus Terrakotta bevölkert, die ihnen zum Zierat dienten – von lagernden Rehen, zerbrochenen Pilzen und braunroten Gartenzwergen, von denen sich manchmal irgendein Alter mit zitternder Gartenschaufel durch nichts als ein wenig Bewegung mit Mühe unterschied; eine Bewegung, die schwächer wurde, je näher die Wanderer kamen, und endlich – in Furcht und Neugier erstarrt – wie verrunzelte Lava gerann.

Obwohl die Erde hier äußerst dürftig, dazu von Kohlenstaub überflogen, und von Kämpfen so deutlich gezeichnet war wie das Gesicht einer jungen Frau, die mit 156 Puder und Schminke die Spuren der Nacht und der Vergewaltigung zudecken möchte, die sie erlitten hatte – brachte sie doch mit Gleichmut des Lebens Petersilie und Dill hervor, Schnittlauch und Borretsch, Salat und Kohl und hohe Stangenbohnen, welche in roten und weißen Blüten die Fähnchen der Guten Hoffnung hißten, und ihre grünen Rankenspiralen in der Richtung des Uhrzeigers lautlos und heftig um die staksigen Hölzer drehten. Diese Fruchtbarkeit war vor allem dem Umstand zu verdanken, daß große, häßliche Badewannen, bis zum Rand mit Wasser gefüllt, noch immer – in Erwartung, daß sich der Zustand vor der Eroberung noch einmal wiederholen und die Zufuhr an Wasser sperren könnte – überall aufgestellt waren; auch sah man ausgeschachtete Becken, die bis obenhin vollgelaufen, und große, hölzerne Regentonnen, in denen die Gnadengüsse des Himmels gesammelt worden waren. Auch ein verlassenes Vogelhaus mit kleinen Futternäpfen und niedergebrochenen Birkenästen stand unmittelbar in der Nähe einer Wohnlaube, welche gleichfalls zerstört war, und schien in der flimmernden Hitze noch immer von dem Geschrei der Vögel zu gellen und sich wie eine zwitschernde Wolke vom Boden emporzuheben. Diese Volière – seltsam genug inmitten der Schrebergärten – gab in Verbindung mit einer gefüllten, mächtigen Badewanne, an deren Seiten schon Odermennig und betäubender Kälberkropf aufgeschossen und die rote Taubnessel bis in den Stengel hinunter errötet war, dem Ort etwas merkwürdig Fremdes und zugleich weit Entferntes: man hätte sich nicht gewundert, die schöne, verleumdete Susanna dieser Wanne entsteigen zu sehen – weißbrüstig, während das blühende Unkraut ihre von Lichtern umspielten, schwellenden Hüften streifte, und das durchdringende Vogelgezwitscher, dieses Gellen und Pfeifen, das noch in der Luft lag, vor den lüsternen, alten Männern 157 warnte, die sich im Schatten der Haselsträucher versteckt gehalten hatten.

Als die Wanderer jedoch angelangt waren, war das Phantom verschwunden. Auch die Greise mit ihren Gartenschaufeln mußten sich in das Innere der Lauben zurückgezogen und nur noch die Abbilder ihrer selbst, die Terrakottazwerge, zurückgelassen haben. In den Badewannen, den Regentonnen, den betonierten Wasserbehältern spiegelten sich, von dem schläfrigen Atem der Mittagslüfte vorangetrieben, einige Sommerwolken; sie segelten weiter, veränderten sich und bildeten neue Formen, die den ersten unähnlich waren. Von dem kindlichen Bedürfnis geleitet, sich über das Wasser zu beugen, und ihre Gesichter in ihm zu spiegeln, ließen sich die drei Paare auf dem Rand eines solchen Behälters nieder und fanden in den sich teilenden Wolken das Bild der Vergänglichkeit – nicht anders, als es Herr Levi-Jeschower in dem Zeichen der Mondsichel angeschaut und gleichzeitig als Überwindung des Todes seinem Herzen eingeprägt hatte. Nur Friedrich Am Ende setzte sich nicht, sondern blieb mit gekreuzten Armen ohne Bewegung stehen; bildsäulenhaft und ebenso leblos wie die Terrakottafiguren, doch ohne ihren rührenden Anspruch auf Beachtung und Aufmerksamkeit.

Von diesen sechs Menschen gab sich jetzt jeder auf die ihm eigentümliche Weise dem Spiel mit dem Wasser hin: Ewald Hauteville und Irene von Dörfer schienen beide in ihm eine Wunde zu kühlen, Albrecht Beifuß den schwachen und süßen Anhauch der Blüten, die auf dem Wasser schwammen, mit gespannter Erwartung einzuatmen, Lotte versuchte mit einem Stöckchen den Spiegel aufzustören, Florentine in schläfrigem, sanftem Behagen an ihm eine neue Gangart des Daseins zu erproben, und Arthur Jeschower endlich voll Sehnsucht das geheimnisvolle und 158 klare Gesicht der Demetria wiederzufinden. So waren sie alle bemüht, ihren Blick von dem eigenen Innern abzuwenden und damit von ihrem Tod; sie versuchten, sich von etwas außer ihnen beruhigen und trösten zu lassen, und nahmen doch, ohne daß sie es ahnten, nur ihr eigenes Spiegelbild wahr. Als sie sich kurz darauf wieder erhoben, um miteinander weiterzugehen, erblickten sie auf dem Gartenweg, der sich hier wie ein versandetes Flußbett unvermittelt erweitert hatte, ein schmales Soldatengrab.

Inmitten eines blaugrünen Meeres üppigwuchernder Melde, deren Blätter etwas von jener Fülle an sich zu haben schienen, die beständig den Saft aus Gräbern zieht und das gärende Spiel der Verwesung offensichtlich verkündete, lag die Begräbnisstätte gespenstisch, doch überwirklich da: von Steinen und Glasscherben eingefaßt, die im Mittagslicht flimmerten. Zu Häupten des Grabes stak ein Holzkreuz mit einem kleinen Dach; über dem Querbalken trug es ein perlengeschmücktes Medaillon mit zwei geflügelten Engelsköpfen, die auf rundlichen Wolken ruhten. An den Seitenwänden hatte man Vasen von abstruser Häßlichkeit aufgestellt, deren gezackte, durchbrochene Ränder in Form von goldenen Spitzenmanschetten die Blumensträuße zusammenhielten, und am Fußende lag [wahrscheinlich von einem Vertiko abgewandert] ein porzellanener Hund. Nicht genug damit, war eine Gartenbank mit anmontiertem, eisernem Ständer dem Soldatengrab zugesellt; dieser Schirm- und Stockständer schien zum Verweilen und zum Ausruhen aufzufordern; er brachte die Vision eines trüben, verregneten Nachmittages hervor, an dem ein älteres Ehepaar sich entschlossen hatte, zum Friedhof zu gehen und seinen Sohn zu besuchen . . .

Dieses Grab aus Pomp und Gemütlichkeit schien für das Gefühl der Laubenbesitzer ein Familiengrab und zugleich der Salon der ganzen Siedlung zu sein. Es erinnerte an den 159 Friedhof von Mailand mit seinen Marmorfiguren; an die ängstlich umgitterten, kleinen Gräber in französischen Städtchen, den Père Lachaise und an die Versammlung von Schilderhäuschen, in deren Straßen man von der Höhe des Montmartre heruntersieht. So war es, stellvertretend, das Grab, welches Familiensinn und Beharrung, Besitzgier, Starrsinn und Prahlerei an allen Plätzen Europas einst aufgerichtet hatte; Idol der Lüge, die von den Toten ›nil nisi bene‹ zu sprechen vorgibt, und Monument gegen jegliche Einsicht, die den Tod als den Sold der Sünde bezeichnet und damit als Folge der Schuld. Indem aber eine ganze Gemeinschaft dieses Totenmal hegte und pflegte, es verschönerte, seine Vasen mit Blumen und Tränenwasser füllte und sich insgeheim von den Säften ernährte, die ihre Früchte zum Schwellen brachten, ihren Kohl zum Platzen und ihren Salat zum Schießen, aß alles von dem Tod; Mann, Frau und Kind aß die Frucht des Todes, die sie finster und hochmütig machte, uneinsichtig und widerwillig, bei sich selber die Schuld zu suchen.

Plötzlich stand, wie aus dem Boden gewachsen, ein zittriges altes Männchen an der Seite des Hügels, räusperte sich und deutete mit wackelnder Schippe auf das Soldatengrab. »Hier hat noch vor kurzem der Stahlhelm gelegen«, sagte es krächzend, während sein Bart die Bewegung der mühselig mahlenden Kiefer durch sein Vorhandensein unterstrich. »Dann hat ihn ein Russe, mir nichts, dir nichts, in das große Wasserbecken geworfen, wo er heute wahrscheinlich noch liegt.«

»Warum habt ihr ihn denn nicht herausgeangelt?« fragte Lotte Corneli den Mann.

»Das ging nicht. In einem der tiefen Löcher, die bei der Eroberung die Granaten dem Boden eingeschlagen, und wo sie zwischen Zement und Eisen die Erde aufgewühlt haben, muß er eingeklemmt worden sein. Wenn man ihn 160 wenigstens sehen könnte – aber das Wasser ist viel zu schmutzig und trübt sich immer wieder von neuem, wenn es geregnet hat, nach.«

»Laßt ihn liegen«, sagte Irene heftig. »Wahrscheinlich hat er dem Toten da noch nicht einmal gehört.«

»Aber«, sagte der Zwerg gespreizt und wichtigtuerisch, »er war doch ein – Symbol.«

»Wahrhaftig – das war er!« rief Levi-Jeschower mit schrecklichem Lachen aus. »Und der ganze Gräberkult dieser Leute gilt im Grunde nur diesem Symbol.«

Ohne ihn richtig begriffen zu haben, schielte das häßliche, kleine Gespenst Jeschower bösartig an. »Stahlhelm ist Stahlhelm«, sagte er dann, »und wenn er dem Manne auch nicht gehört hat, so war es doch Grabschändung – oder nicht? – ihn dem Toten hinwegzunehmen.«

»Er hat recht«, sagte Florentine bebend und legte ihre schöne, gepflegte und mütterliche Hand auf die Schultern des alten Mannes. »Aber bedenken Sie, liebes Herrchen, daß es Frauen gab, denen man ihre Haare – und Kinder, denen man ihr Püppchen, bevor man sie in die Gaskammer trieb, hinweggenommen hatte. Männer, welchen man kurz nach dem Gastod die verkrampften Kiefer gewaltsam löste, um die Goldkronen auszubrechen.«

Sie brach ab, von Kummer und Schmach überwältigt, Flora und Rahel zugleich.

Der Alte blickte sie stumpfsinnig an. »Das glaube ich nicht, meine Dame. Das kann man mir nicht verkaufen«, sagte er unberührt. »Ich glaube nur das, was ich selbst gesehen und selbst beobachtet habe«, fügte er mit dem starren Hochmut des Unbelehrbaren bei. »Diese Bilder von Auschwitz an jedem Brett – jeder vernünftige Mensch kann sich denken, wie sie zustande kamen. Propaganda und weiter nichts.«

»Und wenn sie wahr wären?« rief Irene, am ganzen Leibe 161 zitternd. »Wenn ich es Ihnen beweisen könnte –?« Sie brach ab vor dem furchtbaren Ausdruck des Alten, der sie, auf seine Schippe gestützt, erbarmungslos musterte.

»Mein Hemd ist mir näher als meine Jacke«, sagte er, während sich seine Fäuste um den hölzernen Schaufelgriff krampften. »Und ehe ich nicht unsere toten Helden«, fuhr er mit schändlichem Pathos fort, »lebendig machen kann, ist es mir einerlei, ob ein paar Lumpen in Auschwitz vergast worden sind. Zigeuner und Juden, Polen – und solches . . . solches Zeug.«

»Kommen Sie!« sagte Ewald Hauteville und faßte Irenes Hand. »Er weiß nicht, was er sagt. Er weiß nicht, daß er die Lebenden hindert, von den Toten aufzuerstehen.«

»Vielleicht tut er recht daran«, sagte Jeschower mit schmerzlich hingerissenem Ausdruck, »wenn er die Lebenden hindert, von den Toten aufzuerstehen. Vielleicht führt die Hand der Geschichte durch ihn einen bestimmten Auftrag aus; durch ihn und die Art eines Totenkultes, der jegliches Sündenbewußtsein des Volkes, alle Schuldgefühle und jede Erkenntnis in Monumente wie dieses hier einschließt; in die gute Sterbestube der Deutschen, die man mit trauernden Porzellanhündchen und Papierblumen ausgeputzt hat.«

»Der Sterbesalon in Senlis oder Bourges sieht um kein Haar anders aus, lieber Jeschower«, bemerkte Ewald Hauteville. »Ich glaube, die Auferstehung der Toten wird überall reichlich viel altes Gerümpel mit den Schollen nach oben werfen.«

»Ja, ja. Die Verdrängungstaktik ist großartig ausgebildet«, erwiderte Jeschower. »Doch kommt es immer noch darauf an, ob unanständige Wünsche und Träume – oder Gaskammern, Foltermethoden und ein Dschingis-Khan mit auf die Nase gerutschter, angenagelter Kappe zu verdrängen gewesen sind.« 162

»Sie halten also«, fragte Hauteville mit zusammengezogenen Brauen, »den Tod, vielmehr die Bestattungsmethoden der Hinterbliebenen, für eine Verdrängungstaktik?«

»Mehr noch: für eine Totalverdrängung«, gab Levi-Jeschower zurück. »Das Haus der Zukunft – was wird es schon sein, wenn nicht ein Grabmonument? Eines, das aus Gedächtnisreden, aus Phrasen, Selbstbespiegelung, Seufzern, geschmückt mit Emblemen fruchtloser Trauer, errichtet worden ist?«

»Mein Gott«, sagte Ewald Hauteville betroffen, »dann gäbe also wirklich der Tod dem Leben künftighin seine Formen, seine Riten und seine Kulte wie Fertigteile ab, die man von ihm übernimmt?« Er schwieg und sah mit geheimem Schauder, daß seine Träume der letzten Nacht – die funkelnden, prächtigen Totenstädte, die er gesehen hatte, mit dem Triumph von Grabprozessionen und Mumientürmen in die Gestalt dieses Grabes Eingang gefunden hatten; in seine gehäufte, gräßliche Komik, seinen Anspruch, der Mittelpunkt dieser Lauben, und seine Absicht, für immer und ewig ein Dauerndes zu sein . . .

Doch welch eine Einsamkeit – tief und melodisch wie die längst verklungenen Litaneien aus den geschwärzten Baracken der slawischen Fremdarbeiter – lag über diesem Ort! Welch ein Flimmern, als hätte sich Semele dort in goldenen Rauch aufgelöst! Welch ein Duft von Rosenöl, Spezereien und edlen Sandelhölzern hing in der glühenden Luft! Was mit allen Mitteln zum Bleiben gezwungen und felsenhaft werden sollte, drängte ungestüm nach Verflüchtigung hin; es seufzte darnach, nichts weiter als eine Spiegelung seiner selbst in unzähligen früheren Formen, und bemühte sich, ach, wie vergeblich, nur ein Teil des großen Frieses zu werden, welcher sich um die wandernden Wände des abendländischen Sarkophages mit Blume und 163 Mädchenfuß, Nymphe und Faun, Göttern und Helden schlang. Auch die Mittagstunde bemühte sich jetzt, diesem Verlangen, so müßig es war, nach Kräften nachzugeben. Die Lazerte verhielt ihr schreckhaftes Huschen, und die Grillen schickten sich an, jenen Hügel in eine undurchsichtige Wolke von zirpenden Geisterstimmen und gläsernen Koboldrufen, in Hui und Nichts, zu verwandeln; selbst die Gruppe der Wanderer formte sich jetzt, als ob ein geheimes Gesetz ihren Aufbau so und nicht anders erzwungen hätte, zu dem Bild einer Grabstelle um: Florentine, in ihrem Schmerz versunken, hatte den linken Arm voll Verzweiflung über die Augen gelegt; Arthur Jeschower hielt sie umfangen und schien ihr Trost zuzusprechen, während Friedrich Am Ende mit unbewegten, hermetisch verschlossenen Zügen zur Erde niedersah. Das Geschwisterpaar streckte mit innig vertrauter, wie oft schon geübter Bewegung einander die Hände entgegen, deren Fingerspitzen mit leisem Druck sich von dem Dasein des Bruders, der Schwester überzeugten; Albrecht Beifuß war eifersüchtig, doch zögernd auf beide zugetreten, und Irene von Dörfer, die das Genist ihrer gefalteten Finger unter das Kinn geschoben hatte, hielt das strenge, maskenhaft starre Gesicht einer schwarzen Unterweltgöttin den Lebenden zugekehrt.

Dieser Augenblick, seltsamerweise von allen Wandergefährten auf gleiche Weise empfunden [nämlich wie ein entferntes Beben, das quer durch den Erdschoß ging], war schon vorüber, bevor sie sich noch Rechenschaft davon gaben. Dann zerfiel ihre Gruppe, der Boden stand, der Grabhügel wurde fest und gewöhnlich, wie er es vorher gewesen war.

»Wohl den Toten«, sagte Jeschower laut, »die kein Grabmonument verhindert, aus der Tiefe zurückzukehren. Aus der Tiefe der Erde, der Tiefe der Seele, die ihr Gedächtnis bewahrt!« 164

»Wohl ihnen«, fuhr Florentine fort, als nähme sie jetzt den Wechselgesang einer unendlichen Liturgie mit ihren Worten auf. »Wohl ihnen, welche so furchtbar gründlich ihre Leiber verlassen haben, daß nur noch ihr geflüsterter Name erhalten geblieben ist. Nicht einmal ihr Schatten, sondern das Licht, das ihren Schatten hervorgebracht hatte, weil es, obwohl sie es damals nicht wußten, ihnen im Rücken stand.«

»Wohl ihnen«, fiel Arthur Jeschower ein, »welche zu Sternbildern wurden, zu Halbgöttern und zu jenem Geschlecht, von welchem Petrus sagt: ›Ihr seid Götter‹ –« er endete unvermittelt mit einem schluchzenden Laut.

»Sichelchen«, sagte Flora Jeschower. »Ich muß Ihnen allen gelegentlich von Sichelchen erzählen, meiner ermordeten Jugendfreundin, die mit der Mondsichel kommt und geht, verschwindet und wiederkehrt.« 165

 


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