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An dem Morgen, an dem das Bazarfest stattfinden sollte, erlitt Isidor eine herbe Enttäuschung. Als er sich gegen den Rat seines Prokuristen Goldschmidt entschlossen hatte, das Pantheon in Verlag zu nehmen, war zweifellos das entscheidende Moment die Hoffnung, Doras Hand zu gewinnen; aber als Unterton spielte doch noch ein anderer Gedanke hinein. Er wollte das Werk, sobald der erste Band herauskam, allen Monarchen des deutschen Reiches und des Auslandes überreichen. Unbekannt mit den Bestimmungen, nach denen keine derartigen Sendungen ohne vorher eingeholte Genehmigung erfolgen dürfen, und zu scheu, den Hofmarschall, der sicher in diesen Dingen Bescheid wußte, um Rat zu fragen, sandte Isidor nach Fertigstellung des Bandes an fünfzig Pakete ab. Er hatte künstlerisch ausgeführte Anschreiben herstellen und diese nach vollzogener Unterschrift in Saffianleder binden lassen, dessen Decke das geprägte Wappen des betreffenden Landes trug. Die Herstellung zog sich durch Wochen hin und kostete ihn ein kleines Vermögen.

Isidor hoffte bestimmt auf einen großen Erfolg. In seinen kühnsten Träumen schwebten ihm fünfzig Orden vor, in ruhigeren Momenten rechnete er auf zwanzig, auf zehn, sicherlich aber auf fünf. Auch hatte ihm der Hofmarschall, indem er sich die Übergabe des Bandes an den Herzog vorbehielt, versprochen, an höchster Stelle eine Auszeichnung für ihn zu erbitten.

Isidor hatte die Sendungen durch einen, alten, verschwiegenen Hausdiener nach Geschäftsschluß packen und aufgeben lassen. Seitdem war er in beständiger Aufregung.

Als er an diesem Morgen die Zeitung entfaltete, sah er, daß dem Hofmarschall das Großkreuz des Viktor-Ordens verliehen und die Genehmigung zur Anlegung von vier weiteren Dekorationen erteilt war.

Mit einem Schlage wußte er, wozu sich dieser die fünfzig Luxusexemplare vertraglich ausbedungen und beständig darauf gedrängt hatte, sie ihm vorweg zu liefern. Kein Zweifel, der Hofmarschall hatte ihn nach allen Regeln der Kunst hereingelegt.

Zuerst wollte er ohne weiteres an das Telefon stürzen und ihm in erbitterten Worten die Freundschaft aufsagen. Dann aber überlegte er ruhiger. Was konnte er dem Hofmarschall vorwerfen? Hatte dieser nicht das Recht beliebig über seine Exemplare zu verfügen? Hatte er, Isidor, auch nur mit einem Worte angedeutet, mit welchen Absichten er sich trug? Der Hofmarschall würde ihm ins Gesicht lachen. Und war es nicht möglich, ja wahrscheinlich, daß er trotzdem auf seine Rechnung kam? Wenn die Fürsten den Autor dekorierten, so lag darin doch eine Anerkennung des Werkes, die auch dem Verleger zugute kommen mußte. Und wurde es auch kein Großkreuz, – er war bescheiden, ihm war jede Auszeichnung willkommen.

Seit Tagen war er nicht im Geschäft gewesen. Für den Bazar war Dora ein Sektzelt übertragen worden, in dem sie im Kostüm der Champagne ihres Amtes walten sollte. Die Vorbesprechungen, Proben und Einrichtungen für das Fest nahmen alle Mitwirkenden von morgens bis abends in Anspruch, und Isidor wich, seinem Vorsatz getreu, nicht von der Seite seiner Frau. Trettach ließ sich nicht sehen; aber Isidor sah hierin nur eine Finte, um ihn sicher zu machen, und ließ sich nicht beirren.

Heute jedoch mußte er sich in das Geschäft begeben. Das Erste, was er erfuhr, war die Mitteilung, daß von seinen Paketen bereits mehr als die Hälfte mit verweigerter Annahme zurückgekommen war.

Eine Sendung mit dem Vermerk »Fürstliche Angelegenheit« ließ jedoch einen neuen Hoffnungsschimmer in ihm auftauchen. Die Kiste war mittelgroß, fast viereckig, ganz flach. Isidor sah förmlich den Inhalt vor Augen: auf Samt gebettet ein leuchtendes Emaillekreuz, am breiten, blauen Bande um den Hals zu tragen. Er hatte im Konversationslexikon fast täglich die Ordenstafeln studiert und konnte die Dekorationen der bedeutenderen Staaten fast aus dem Kopf zeichnen. Er schickte den anwesenden Weller hinaus, anscheinend gleichgültig über die Sendung hinwegsehend; kaum aber war er allein, so riß er mit fiebernden Händen die leichtgebaute Kiste auf. Er hatte kein Werkzeug, seine Nägel splitterten, er achtete nicht darauf. Der Deckel wich, er schlug das Seidenpapier zurück, – das Bild des Fürsten mit Unterschrift in glattem Eichenrahmen blickte ihn an. Ein kurzes Dankschreiben setzte ihn von der Verleihung des Porträts in Kenntnis.

Er biß vor Enttäuschung die Zähne zusammen, und als ihm gleichzeitig der Besuch des Grafen Erich Holm gemeldet wurde, schob er verächtlich Bild und Kiste unter einen Haufen Skripturen.

Der Hofmarschall trat ein, mit fröhlichen Augen und rosigen Wangen, in denkbar bester Laune. Gnädig nahm er Isidors kargen Glückwunsch entgegen und erwähnte lächelnd, daß nun »das Dutzend voll sei«. Er behandelte die Verleihungen als etwas Selbstverständliches, das ihm schon lange gebührt habe. Dann sprach er vom Herzog: Es sei die Rede davon gewesen, Isidor die vierte Klasse des Viktorordens zu geben, er, der Hofmarschall, habe jedoch abgewinkt. Er rechne bestimmt darauf, sobald nur noch einige Bände heraus seien, ihm ausnahmsweise sofort die zweite Klasse verschaffen zu können, am roten Bande um den Hals zu tragen. Und Isidor mußte trotz seiner Enttäuschung ihm noch für seine Fürsorge danken.

Auch die Mitteilung Isidors, daß der buchhändlerische Erfolg ein völliges Fiasko bilde, schien die Stimmung des Hofmarschalls nicht zu trüben; er äußerte einige Gemeinplätze, daß »gut Ding Weile habe« und Isidor »die Sache schon drechseln würde«, ließ ein »A rivederci heut Abend!« fallen und verließ leise pfeifend das Bureau. Isidor hatte den Eindruck, als ob der Graf den Glückstag schon etwas begossen hatte.

Mit finsteren Falten auf der Stirn blätterte er in den Papieren, die ihm der Prokurist zur Rücksprache auf das Pult gelegt hatte.

Die Akzepte für die Kosten des ersten Bandes waren in vierzehn Tagen fällig. Das Geschäft war still, erschreckend still. Isidor hatte im Vertrauen auf das Pantheon alle Novitäten und Neuauflagen verschoben, und das rächte sich jetzt.

Er fuhr zu seiner Bank. Er hatte noch eine Hypothek auf eine Baustelle vor dem Tor, die sein Vater einst zum Bau einer Druckerei bestimmt, dann aber verkauft hatte. Die Hypothek war erst in sechs Jahren fällig und brachte nur niedrigen Zins. Nach langen Schwierigkeiten erbot sich die Bank – nur mit Rücksicht auf ihren alten, geschätzten Kunden – sie mit einem Drittel des Wertes zu beleihen, obwohl das Land keinen Ertrag brachte. Die Summe reichte nicht. Cohn tat, als sei ihm die ganze Hypothek unbequem, und bot sie der Bank zu zwei Drittel des Wertes zum Ankauf an. Da die Residenz sich nach dieser Richtung hin entwickelte, die Baustelle also unter Umständen seinerzeit hohen Wert erhalten konnte, schlug die Bank zu, und mit leichterem Herzen fuhr Isidor heim.

 

Als Isidor am gleichen Abend an Doras Seite in den Festsaal der Ressource trat, denselben, in dem vor kaum einem Jahr das Wohltätigkeitsfest stattgefunden hatte, schien es ihm, als sei die Vergangenheit ein Traum, als stehe er wieder einsam an der Säule und starre mit brennenden Augen auf das Mädchen aus der Fremde.

Er sah Sternau, eine entzückende Blondine am Arm, der ihm von weitem mit strahlendem Gesicht sein: »Grüß' Gott, Louisdor!« zurief. Und schon ging die Kunde im Saal von Mund zu Mund, daß er mit der Tochter des Kommerzienrats Reichel, der reichsten Partie in der Residenz, verlobt war. Man tuschelte sich zu, der Vater sei gegen die Heirat seiner Tochter mit dem Offizier gewesen; als dieser aber seiner Werbung die ehrenwörtliche Erklärung hinzusetzte, daß er keinen Pfennig Schulden habe, sei der alte Herr wie umgewandelt gewesen und habe Ja und Amen gesagt. Das Brautpaar war rasch von Gratulanten umlagert. Sternau sah überglücklich aus, die junge Braut hing mit verzückten Augen an dem hübschen Husaren.

Als nach der Vorstellung ein lebhaftes Bazartreiben begann, gestaltete sich der Abend zu einem ungeahnten Erfolge für Isidor und seine Frau. Die Freunde, die er sich durch seine Freigebigkeit erworben, umschwärmten Dora; die Leibhusaren nahmen den Spender des herzoglichen Bildes besonders freundlich auf. Die Herzogin-Mutter nickte beiden zu und reichte ihnen mit freundlichen Worten die Hand; die Hofgesellschaft folgte dem höchsten Beispiel und zeichnete das junge Ehepaar nach Möglichkeit aus. Und als der junge Herzog für kurze Zeit erschien, an Doras Stand sich ein Glas Sekt erbat, das er mit einem Goldstück lohnte, liebenswürdig mit ihr scherzte und dem gespannt in der Nähe harrenden Isidor einige huldvolle Worte über das Pantheon spendete, stand es für jedermann fest, daß Isidor Cohn sich seinen Platz in der »Gesellschaft« erobert habe.

Einmal im Laufe des Abends sah Isidor, der sich beständig in Doras Nähe hielt, Trettachs stolze Gestalt auftauchen, als dieser mit den übrigen Mitgliedern des Komitees und dem Hofmarschall, auf dessen Brust bereits die neu verliehenen Dekorationen funkelten, den Herzog durch den Saal geleitete.

Er vergaß seine Sorgen, sein Geschäft, seine Ordensschmerzen, seine Ehe. Ein überquellendes Glücksgefühl erfüllte ihn. Noch vor Jahresfrist ein unbekannter, jüdischer Mann, stand er jetzt an den Stufen des Throns, umworben und gefeiert, der Besten einer. Und der unwillkürliche Drang des sorgenbeladenen Menschen, einmal auf eine Stunde aufzuatmen, die Freude in vollen Zügen zu trinken, beherrschte ihn. Einige junge Offiziere schleiften ihn in ein in eine Ecke des Saales eingebautes türkisches Zelt. Er bestellte Sekt für sie alle, ließ sich zutrinken, feiern, kam selbst den anderen vor. Aber während er scherzte, lachte und sich von ihnen harmlos schrauben ließ, tauchte mit einem Schlage wieder der Gedanke an Trettach in ihm auf, saß er auf Nadeln, leerte er immer hastiger das Glas, um das graue Gespenst der Eifersucht zu verscheuchen.

Als er sich endlich losriß und in den Saal zurückeilte, schwankte er leicht.

Seine Augen sahen etwas Unerhörtes. Am Stande seiner Frau stand Trettach, allein, mit dem Sektglas spielend, die Zigarette im Mund. Und Doras Augen hingen an dem hochgewachsenen Offizier mit einem Ausdruck, den Isidor niemals bei ihr auch nur geahnt hätte; so flammend, in so dämonischer Leidenschaft leuchteten diese blauen Augen, daß ihm der Anblick die Kehle zuschnürte. Kein Liebeswort, kein heimlicher Brief hätte ihm so klar den unumstößlichen Beweis geben können, daß sie den Mann dort vor ihr liebte, liebte bis zur Verzweiflung, als dieser Blick, in dem ihre ganze Seele flutete. Ihm schien, als schreie sie ihre Schande weit in den Saal hinaus, als verrieten ihre lechzenden Augen aller Welt die Ehebrecherin.

Er sah rot.

Mit einem Sprung stand er vor ihrem Zelt, ohne den ruhig zurücktretenden Trettach zu beachten.

»Zieh dich an, wir fahren nach Haus,« herrschte er ihr zu.

Einige Offiziere wandten neugierig die Köpfe.

Sie sah ihn verständnislos an, sie kannte diesen Ton nicht an ihm. »Warum?« fragte sie dann erstaunt.

»Mir ist nicht wohl,« antwortete er kurz. Das Haar hing ihm feucht in das leichenblasse Gesicht, seine Augen waren blutunterlaufen, seine Lippen zitterten. Sie sah, daß er getrunken hatte. Und der alte Abscheu gegen ihn quoll in Gegenwart des Geliebten doppelt in ihr hoch.

»Du mußt mich entschuldigen,« sagte sie herb, »die Herzogin-Mutter wird jeden Augenblick kommen. Auch muß ich erst abrechnen.«

»Es sind genug Weiber hier, – du kommst!«

Sie sah ihn in lodernder Verachtung an.

Man wurde noch mehr auf sie aufmerksam. »Isidor feiert Purim,« bemerkte ein Leutnant.

»Du kommst sofort!« Er schrie es laut heraus. Mit beiden Händen hielt er den Schenktisch umkrallt, als wollte er das ganze Zelt umreißen.

»Verzeihung!« Ein Finger berührte Isidors Schulter leicht.

Er fuhr herum. Trettach stand vor ihm und trat sofort zur Seite, so daß Dora ihn weder sehen noch hören konnte. Isidor folgte ihm unwillkürlich.

»Verzeihung, Herr – eh – Cohn, wenn ich als Komiteemitglied« – Trettach deutete flüchtig auf die Rosette an seiner Brust – »Sie bitte, in Anwesenheit der höchsten Herrschaften sich zu mäßigen.«

Isidor sah ihm stier in die Augen. Er glich einem Irrsinnigen. Er öffnete den Mund und schloß ihn wieder, unfähig zum Sprechen. »Ihr habt sie mir aufgehängt,« stieß er endlich heiser hervor.

»Pardon! Ich verstehe Sie nicht,« unterbrach ihn Trettach kalt, aber ein dumpfes Grollen würde jeden andern gewarnt haben.

Rittmeister Graf Holm trat heran. »Immer, gemütlich, Kinder!« sagte er beschwichtigend.

Isidor schreckte einen Moment vor der überlegenen Ruhe des Husaren zurück. Dann packte ihn wieder die sinnlose Wut. »Mit Ihnen, Herr von Trettach, red' ich ein andermal,« röchelte er.

»Das tun Sie besser sofort,« antwortete Trettach, völlig seiner Herr. »Ich bitte dich, Alex, komm' mit.«

Und er wandte sich zu dem türkischen Zelt, in dem Isidor eben erst gezecht hatte, schlug die Leinwand vor dem Eingang zurück und trat hinter den beiden anderen hinein.

Das Zelt war leer.

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung,« sagte Hans Joachim, sich zu Isidor wendend.

»Was ist denn nur los, zum Donnerwetter?« mischte Graf Holm sich erstaunt ein.

Isidor fuhr mit den Händen in der Luft umher. Wieder fehlte ihm der Atem. Seine Augen gingen hin und her, unter dem stählernen Blick seines Gegners. Er schwankte nach vorn und wieder zurück.

»Was haben Sie mir zu sagen?« fragte Trettach noch einmal mit erhöhter Stimme.

Isidor faßte sich mit der Hand in den Kragen, als fürchtete er zu ersticken. »Das Weib,« zischte er, »das Weib da, draußen ... Aufgehängt habt ihr sie mir,« brach er dann plötzlich mit der Hartnäckigkeit des Trunkenen wieder aus, »aufgehängt, damit jeder Lump seine Lust an ihr hat.«

»Wen meinen Sie mit dem Lump?« fragte Hans Joachim, beherrscht auf ihn zutretend. Aber eine wilde Freude blitzte in seinen Augen.

Isidor wollte im unbestimmten Gefühl der Furcht zurückfahren; aber seine Kniee versagten. Nur die Arme vermochte er in seiner Trunkenheit hochzuwerfen, instinktiv, um sich zu schützen.

Trettach mißverstand seine Bewegung, die lang zurückgehaltene Erregung brach bei ihm durch. »Hände herab, Bursche,« schrie er ihn an, »sonst gibt es ein Unglück!«

Der Rittmeister legte die Hand auf Trettachs Arm. »Ruhe, meine Herren,« bat er dringend, »um Gotteswillen, keine Gewalttätigkeiten!«

Aber all der Groll, die gährende Wut, all die Demütigungen, Enttäuschungen, die seine Ehe ihm gebracht, das quälende Gefühl, das Spiel verloren zu haben, flammte in dem vom Wein betäubten, von sinnloser Angst vor einer Züchtigung gepackten Manne hoch. Wie ein Pfeil schnellte Isidor vor, hob er die Faust, schlug er dem Freiherrn von Trettach mit aller Kraft mitten in das Gesicht, genau in die Stelle, wohin ihn sein Weib in der Hochzeitsnacht geschlagen hatte. Die Fassung des Brillantringes, den Isidor am kleinen Finger trug, ritzte des Gegners Stirn, eine tiefe, rote Schmarre ließ einzelne Blutstropfen fallen.

Trettach taumelte mit einem Schrei zurück. Vergeblich griff er nach dem Säbel, den er als Festordner abgelegt hatte. Rittmeister Graf Holm sprang sofort hinzu, warf sich mit seiner riesigen Gestalt zwischen beide und packte seinen Freund fest am Arm.

»Hans Joachim,« flüsterte er, selbst zitternd, und ein Schluchzen ging durch die Stimme des sonst so rauhen, beherrschten Offiziers. »Um alles in der Welt, sei korrekt! Hinaus, Mann, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, – hinaus mit Ihnen!«

Isidor starrte ihn mit entsetzten Augen an. Erst jetzt begriff er, was er getan. Er wußte, daß Trettach das Recht hatte, ihn über den Haufen zu stoßen. Wieder packte ihn eine sinnlose Angst. Er stürzte zum Zelt hinaus, durch einen Nebenausgang auf die Straße, suchte sein Auto, ließ sich, vor Frost bebend, von seinem Chauffeur die Garderobe holen und fuhr wie ein verfolgter Dieb nach Hause. Er sandte das Auto zurück. Hinter der Haustür wartete er eine halbe Stunde auf Dora, die keinen Schlüssel hatte. Das Haus offen zu lassen, wagte er nicht.

Endlich hörte er das Rattern des zurückkehrenden Autos. Schweigend ging Dora an ihm vorbei. Sie wußte nichts von den Ereignissen im Zelte. Aber ihr Herz zitterte in Empörung gegen den Mann, der im Trunke Szenen in der Öffentlichkeit verursachte, allein nach Hause fuhr und seine Frau sich selbst überließ.

Zur selben Zeit saß Trettach gebrochen in dem Zelt, das seine Schande gesehen. Graf Holm stand neben ihm; stumm und bedrückt kühlte er ihm mit seinem Taschentuch, das er in einen Sektkühler getaucht, die Stirn. Mit weichen Händen tat er es, wie einem Kind, das sich gestoßen hat ... Und heiser, in abgebrochenen Worten bat Trettach ihn, seine Vertretung zu übernehmen.

 

Isidor schloß in dieser Nacht kein Auge.

Zuerst hielt ihn das blanke Entsetzen gepackt; in seinen Ohren summte es wie von fernen Sturmglocken, schwarzqualmend huschten rote Fackeln vor seinen Augen vorüber, er fühlte jeden seiner Herzschläge wie den Paradeschritt der Bataillone auf hartgefrorenem Boden dröhnen ... Aber je weiter die Nacht vorschritt, desto mehr schwand seine Angst, gewann die Erbitterung wieder in ihm die Oberhand, der glühende Haß gegen die ganze Clique, die sich in seinem Gegner verkörperte. Er wußte, daß eine Forderung kam, er sah ihr mit Freude entgegen. Oh, er würde schon sicher zielen, sich seiner Haut wehren ... Ihm brannte kein Schlag auf der Stirn wie dem andern, der um Leben und Ehre zugleich rang. Gewiß, er war im Gebrauch der Waffen nicht so erfahren, wie Trettach, hatte noch nicht um sein Leben gefochten ... aber trotzdem, der Nimbus eines Waffenganges war selbst mit wochenlangem Krankenlager nicht zu teuer erkauft. Den einen einzigen, unwahrscheinlichen Fall ausgenommen, daß ihn Trettachs Kugel glatt ins Jenseits schickte, waren alle Trümpfe für ihn. Zwei Offiziere würden ihm zur Seite stehen, mit ihrem Namen, ihrer Ehre, ihrem Leben das seinige decken. Der Herzog würde von ihm hören, die Stadt sich in jedem Hause seinen Namen zuraunen: »Wissen Sie schon, Isidor Cohn und Herr von Trettach?« Er würde keine Straße entlang gehen können, ohne daß staunende, ehrfürchtige Augen ihm folgten ... Und wenn es gelang, den drüben auf den Rasen zu legen, – wie würden sie sich in heimlicher Scheu vor ihm beugen, sie alle, die Genossen seines Weibes ...! Dora! Was würde Dora sagen, wenn einer von ihnen fiel? Er sah sie plötzlich vor sich, tiefschwarz, das rotblonde Haar unter dem Kreppschleier flammend, – reich, jung, begehrt, die »Gräfin Holm«, die mit dem Alp ihrer Ehe den verhaßten Namen abgeschüttelt, sah den hochgewachsenen Freiherrn, den Erben von Millionen, wie er sie vor den Traualtar führte, in verschwiegener Nacht ihr den Gürtel löste ... Alles schrie in ihm auf; er durfte nicht sterben, durfte sie dem andern nicht überlassen. Sein Glück, das ihn bisher von Stufe zu Stufe getragen, würde ihm auch jetzt treu bleiben. Und er malte sich aus, wie er heimkam im lachenden Morgensonnenschein, wie er sie aus ihren Kissen aufschreckte, eisig in ihre entsetzten Augen sah, die zitternde Frage: »Hans Joachim?« mit Wollust einschlürfte, um dann leichthin durch die Zähne zu antworten: »Lungenschuß, auf dem Platz verreckt!« Dann mochte sie um den Toten heimlich trauern, so viel sie wollte, wenn nur er, der Lebende, sie besaß. Er würde wohl besser der Beisetzung fern bleiben, aber eine Palme wollte er senden, eine Riesenpalme mit tiefrotem Rosentuff und seidener Schleife: ›Dem tapferen Gegner – Isidor Cohn‹ ... Er sah sie neben Pelzmütze und Schärpe quer über dem Sarg liegen ... Und während dem Freiherrn die harten Erdschollen über dem Kopf polterten, wollte er sie nehmen, Dora, sein Weib, sie nehmen und unter sich zwingen in jauchzender Lebensfreude! Mochte sie jammern und weinen, – er liebte die Frauen doppelt, wenn ihre Augen in Tränen funkelten; mochte sie sich wie eine Verzweifelte wehren, schlagen, beißen, – um so höher die Lust, um so stolzer der Triumph ...! Sein Judentum erwachte wieder in ihm; er vergaß, daß er sich hatte taufen lassen. Er sah sich als Bahnbrecher, der in veraltete Vorurteile die Bresche schlug, hinter sich ein ganzes, durch Jahrhunderte gequältes, mit Feuer und Rad gefoltertes Volk. Alles hatten sie überwunden, Haß und Schmach, Plünderung und Mord, in der stummen, zähen, lebendigen Kraft ihres Glaubens, mit ihrem Gold hatten sie manches Schloßtor gesprengt, so manches Adelsschild gesteift; jetzt trat der Jude als Mann dem Manne gegenüber, den stählernen Lauf in der Hand, seines Volkes Winkelried, er, Isidor Cohn! Er dachte flüchtig an einen vor ihm, Lassalle, den Rackowitz' Kugel fällte, aber der Gedanke war ihm unangenehm. Eine ahnende Angst kroch ihm wieder durch die Glieder ... Würde er auch standhalten, ohne Zucken der Kugel entgegensehen, würden seine Nerven nicht versagen? Nein! Unter den spähenden, auf ein Zeichen der Furcht lauernden Blicken der Offiziere würde er straff bleiben, er, der die Lächerlichkeit tausendmal mehr fürchtete, als selbst den Tod. Er hätte ein Vermögen darum gegeben, wenn er einen Photographen hätte auf den Platz bringen dürfen, der das unvergeßliche Bild festhielt, wie er dem Gegner gegenüberstand. Eine kleine Notiz in die Presse? Er verwarf es sofort, – nur Korrektheit, davon hing alles ab. Und wie lächerlich, wenn die Polizei sie überraschte! Ob er ein buntes Hemde anzog, das weniger Ziel bot? Es hätte als Feigheit ausgelegt werden können, und war zum Gehrock einfach unmöglich! Im Gegenteil, einen recht grellen Schlips wollte er umbinden, und selbstredend Lackstiefel ... Übrigens war der Schlips von der Seite, wenn er den Arm mit der Waffe hob, kaum zu sehen, und die Lackstiefel würden sicher im Grase verschwinden ... Oder mußten die Gegner Rock und Weste ablegen? ... Die Gedanken schwirrten um ihn herum, kamen und gingen ohne Zusammenhang. Erst spät im Morgengrauen schlief er unter wirren Träumen ein.

Er war kaum mit dem Ankleiden fertig, als es läutete. Ein Säbelklirren, diskrete Sporen ... der große Moment war gekommen.

Kitty klopfte und meldete den Grafen Alex Holm. Einen Moment war es Isidor doch, als ob er in Eis getaucht würde. Er fühlte ein leises Zittern in den Gelenken, wie nach einer übergroßen Anstrengung, und eine Sekunde schien ihm der Teppich auf und ab zu federn, als fahre er auf hoher See. Er blieb, bis das Mädchen das Zimmer wieder verlassen hatte, vor dem Spiegel stehn, anscheinend mit seinem Anzug beschäftigt. Ein-, zweimal atmete er hoch auf, während er sich betrachtete und den Rock hinunterzog. Er war mit sich zufrieden, er hatte sogar Farbe. Festen Tritts ging er in den Salon.

Graf Alex Holm stand vor ihm.

Isidor blieb stehn.

»Ich habe die Ehre, Ihnen auf Grund der gestrigen Vorgänge eine Forderung des Oberleutnants Freiherrn von Trettach auf Pistolen zu überbringen,« sagte Graf Holm in knappem Ton. Er hatte Isidor nie das Du angeboten. »Ich ersuche Sie, mir Ihre Zeugen zu nennen.«

Cohn wollte antworten, aber Holm schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Es ist im allgemeinen nicht üblich, daß man gegen eine Partei fungiert,« fuhr er fort, »mit der man, wenn auch nur sehr entfernt, verwandt ist. Hier aber liegt der Fall derart, daß ich absolut keine Bedenken trage, den Freiherrn von Trettach zu vertreten, der sich als Kavalier meiner Cousine, Ihrer Frau, angenommen hat. Ich übernehme also nach jeder Richtung die Verantwortung für meinen Entschluß.«

»Er hat sich meiner Frau angenommen, Herr Graf?« antwortete Isidor, dem unter den eisigen Worten des Rittmeisters das Blut in das Gesicht trat. »Er hat mit meiner Frau –«

»Halt!« unterbrach ihn Holm. »Ein Wort gegen Dora, und ich scheide aus dieser Sache aus und fordere Sie selbst. Die Differenz zwischen dem Freiherrn von Trettach und Ihnen ist lediglich der Streit eines Festordners mit einem Gaste, der sich ungebührlich benommen. Wird Doras Name jetzt oder später auch nur erwähnt, so lange ich Sie mir, Herr Cohn, vorausgesetzt, daß Sie dann noch zu langen sind. Und nur mein Amt verbietet mir Ihnen meine Ansicht über einen ... Menschen zu sagen, der seine Ehrenhändel mit der Faust auszutragen sucht. – Wer wird Sie vertreten?«

Cohn war recht kleinlaut geworden. Es schien ihm jetzt, als ob doch nicht allzuviel Ehre aus der Affäre für ihn herauszuholen war. Etwas bedrückt nannte er Sternaus Namen.

»Gut,« antwortete der Rittmeister, »ich werde ihn um zwölf aufsuchen. Tragen Sie gefälligst dafür Sorge, daß er um diese Zeit zu Hause ist. Ich habe die Ehre.« –

Isidor fuhr zu Sternau in die Kaserne. Er war nicht in seiner Wohnung. Isidor fand ihn endlich nach langem Suchen auf einem der Reitplätze. Er gratulierte ihm zu seiner Verlobung und bat ihn um seine Unterstützung. Auch hier fiel ihm eine unerwartete Zurückhaltung auf; Sternau schien über den Vorfall des gestrigen Abends – er hatte das Fest selbst schon früher mit seiner Braut verlassen – geradezu konsterniert. Er zögerte sichtlich, bis er zusagte. Dann verabschiedete er Isidor auffallend kurz und wandte sich wieder seinen Remonten zu.

Die Meldungen gingen an den Ehrenrat. Mit Rücksicht auf die Schwere des Falls wurden die Verhandlungen fast überstürzt. Noch am gleichen Tage erging der Spruch, daß die Waffen entscheiden sollten. Isidor erhielt durch Sternau am Abend hiervon Mitteilung. Am nächsten Morgen früh um sieben Uhr sollte der Zweikampf stattfinden.

Auch Dora hatte die Nacht nach dem Fest kaum ein Auge zugetan. Eine unbestimmte Angst erfüllte sie. Warum war Isidor förmlich von dem Fest geflohen? Nur aus Zorn gegen sie? Hatte er irgend etwas gemerkt? Sie wußte, sie hatte Trettach in überquellendem Glücksgefühl angesehn, gerade als ihr Mann so plötzlich auftauchte. Und warum war Hans Joachim nicht mehr zurückgekehrt? Was war in dem Zelt vorgegangen? Das böse Gewissen regte sich in ihr, die Angst vor der Entdeckung der unabwendbaren Schmach. Was sollte sie tun, wenn ihr Mann sie ausforschte, bedrohte, wenn er Hans Joachim vor ihr beschimpfte? Würde sie die Kraft haben, alles zu leugnen, ohne sich zu verraten?

Bei Tisch sah sie den Gatten. Keiner sprach ein Wort. Er sah elend aus; mit feindseligen, zusammengekniffenen Lippen saß er da und rührte das Essen kaum an. Und immer noch keine Nachricht von Hans Joachim.

Auch nachmittags wagte sie nicht das Haus zu verlassen, um die Botschaft nicht zu verfehlen, die sie bestimmt von ihm erwartete. Ihr Gatte hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen. Dann kam Sternau, sprach mit ihm und ging wieder, ohne sich bei der Hausfrau melden zu lassen. Gegen Abend hörte sie, wie Isidor den Chauffeur kommen ließ, ihm mitteilte, daß er am nächsten Morgen mit dem Freiherrn von Sternau zur Jagd fahre und daß das Auto diesen um sechs abholen solle. Wieder fühlte sie sich beunruhigt; noch nie hatte Isidor gejagt, noch nie hatte sie eine Büchse in seiner Hand gesehn. Endlos krochen die Stunden. Es schien ihr wie eine Totenstimmung über dem ganzen Haus zu liegen; niemals war es ihr so aufgefallen, wie die weichen Teppiche jeden Laut verschluckten.

Die Uhr schlug zehn. Wieder hatten sie stumm das Abendessen genommen. Dann hatte das Mädchen abgedeckt und gute Nacht gewünscht.

Sie waren allein.

Isidor hatte sich Sekt kommen lassen. Eine Flasche war geleert, die zweite stand halb voll vor ihm. Er wollte sich betäuben, trotz der Gefahr, am nächsten Morgen nicht klar und frisch zu sein. Jetzt, wo die Aufregung von ihm wich, wo er sah, wie die Offiziere den ganzen Ehrenhandel mit eiserner Ruhe, fast geschäftsmäßig behandelten, wie angesichts der unverhohlenen Geringschätzung der Herren immer mehr die Gloriole des Helden von ihm abfiel, gaben seine Nerven nach. Er fühlte Furcht und mit der Furcht eine rasende Wut gegen die Frau, die ihn in diese Gefahr gebracht. Stumm vor sich hinstarrend, trank er Glas für Glas.

Wie Blei lastete die Stille auf den beiden Menschen. Plötzlich hob er den Kopf. »Bin ich morgen um acht wieder hier,« sagte er schroff, »dann ist der Hund verwundet oder tot.«

Sie verstand ihn nicht. Sie dachte an die angesagte Jagd. »Welcher Hund?« fragte sie erstaunt.

»Der Hund von Trettach,« antwortete er cynisch.

Blitzschnell sah sie den haßerfüllten Ausdruck vor Augen, mit dem vor wenig Tagen Hans Joachim ihren Mann Hund genannt. Und in demselben Moment war sie sich über die Lage klar. Ein Streit war in dem Zelt entstanden, Isidor schoß sich morgen mit Hans Joachim. Ihre Nerven waren schon seit gestern, den ganzen Tag über bis aufs äußerste gespannt gewesen; sie hielt den Schlag nicht mehr aus, sie fiel ohnmächtig hin.

Als sie erwachte, sah sie sich auf der Chaiselongue liegen. Mit flackernden Augen stand ihr Mann über sie gebeugt. Unter dem Schatten des Todes, in der Furcht vor dem Morgen, war seine Sinnlichkeit wieder erwacht. Er wollte sie dem andern nicht lassen, er wollte nicht, daß das Waffenglück gegen ihn entschied, daß die beiden über den Toten lachten, der um nichts gestorben war, mit leeren Händen und leerem Herzen. Seine Augen krallten sich in das Bild vor ihm.

Sie versuchte sich aufzurichten, sie fiel wieder zurück.

»Warum?« fragte sie entsetzt.

Ein teuflischer Gedanke blitzte durch sein Hirn. Er wollte sie auf die Probe stellen. »Weil dieser Trettach mir gestanden, daß er mit dir die Ehe gebrochen.«

»Du lügst!«

»Unter seinem Ehrenwort gestanden,« setzte er fast schreiend hinzu.

»Es ist nicht wahr,« widersprach sie heftig.

»Dann ist er ein Lump, ein schamloser Verleumder, ein Schurke an dir, dem ich das Handwerk legen werde.« Er riß sie hoch. »Hier,« herrschte er sie an, »schreib', was ich diktiere. Wenn es nicht wahr ist, hat er sich ehrlos gemacht, wird er mit Schimpf und Schande zum Teufel gejagt.«

Sie richtete sich mühsam auf, ihre Nerven flogen. Die Scham erstickte ihre erste Regung, Trettach nicht Lügen zu strafen, nicht feiger zu sein als er, nicht um der eigenen Rettung willen zu leugnen, was er mutig bekannt hatte.

Isidor diktierte ihr, mit unruhigen Schritten im Zimmer auf und abgehend. Eine hämische Freude erfüllte ihn. Endlich würde er die volle Wahrheit wissen. Schrieb Dora, so war er sicher, daß nichts geschehen war und konnte leichten Herzens, mit ruhiger Hand dem Gegner morgen entgegentreten. Und schrieb sie nicht, so war die Tat bewiesen, Hans Joachim als Ehebrecher gerichtet; mochte geschehen, was wollte, nie würde Dora sein Weib werden können.

Sie schrieb mit fliegender Hand, unsicher, zögernd. »Ich, Dora Cohn, geborene Komteß Holm, erkläre hiermit die Behauptung des Oberleutnants Freiherrn von Trettach für eine infame Lüge ...«

Sie hielt inne.

Er blickte sie mit zornfunkelnden Äugen an. »Schreib!« sagte er mit wuterstickter Stimme.

Sie warf die Feder hin: »Ich kann es nicht,« flüsterte sie, in verzweifeltes Weinen ausbrechend. »Ich kann nicht ...«

Er blieb hart vor ihr stehen. Mit einem Schlage war er vollständig ruhig, fast gleichgültig, als handele es sich um ganz fremde Menschen, nicht um ihn und sein Weib. »Also doch!« sagte er kalt, und ein Hochgefühl, sie erniedrigt vor sich zu sehen, durchrieselte ihn. Und dann, plötzlich, überkam ihn dennoch ein brennender Schmerz über ihr Geständnis.

Sie sah und hörte nichts. So wenig sie in ihrer abgeschlossenen Jugend von der Welt da draußen gesehn hatte, – das wußte sie, daß Trettach verloren war. Sie ahnte es nicht, daß ihr Gatte sie belogen. Ein Offizier mußte unter seinem Ehrenwort die Wahrheit sagen; ein Offizier, der einem anderen die Ehre genommen, war unmöglich; ein solcher Mann schoß, wenn er zur Rechenschaft gezogen wurde, in die Luft, bis ihn die Kugel des Gegners hinstreckte, dem er sein Glück zertreten. Und die ungeheure Angst, ihn zu verlieren, ließ jede andere Erwägung schweigen. Mochte geschehen, was wollte, mochten sie ihn kassieren, – nur ihrem Gatten durfte er nicht gegenübertreten, nur nicht sterben, nur nicht auf ewig ihr entrissen werden. Sie war allein die Schuldige, sie hatte ihn an sich gelockt, sie trieb ihn jetzt in den Tod. Kein Opfer dünkte ihr zu hoch, um den Geliebten zu retten.

Mit flammenden Augen stand er vor ihr, hielt sie an beiden Armen gepackt. Das warme, Leben atmende Fleisch, das er durch den dünnen Stoff fühlte, machte ihn rasend. »Alles habe ich dir geopfert,« sagte er wutbebend, »meinen Glauben, mein Vermögen, mein Herz. Ein Schlag in's Gesicht war der Dank. Aber jetzt sind wir quitt, Reichsgräfin Dora, – ich habe unter deiner Faust geblutet, er unter der meinigen.«

Sie stieß einen dumpfen Wehlaut aus.

»Und während ich dich schonte, dich ehrte, während ich monatelang auf dich harrte, wie der Verdammte auf Erlösung, während ich vor deiner, Tür in Sehnsucht und Schmerz auf den Tag wartete, an dem du dich meiner erbarmen würdest, ging eine Dirne hin und vergeudete lachend ihres Gatten Ehre an einen Schurken, der den Ehrenrock des Soldaten trägt, an einen von ihresgleichen, der seinen Namen und Stand beschimpfte, an mir zum Diebe ward. Gott aber ist mit der gerechten Sache. Und wenn er morgen sterbend sich auf grünem Rasen wälzt, will ich dem Hund noch in das Gesicht speien, das schon die Spuren meiner Faust als Brandmal trägt. Du aber ...«

Sie brach vor ihm in die Kniee. »Schone ihn,« lallte sie, »laß mich für ihn büßen, mich für ihn sterben. Verlange was du willst, nur töte ihn nicht! Es ist ja Mord, er schießt ja nicht auf dich, darf ja nicht auf dich schießen.«

Sie kannte Trettach nicht, sonst hätte sie nicht für ihn gefürchtet. Hans Joachim, der drüben im Busch so manchesmal um sein Leben gefochten, war nicht der Mann, der seine Zukunft, sein Leben, seine Liebe der Gnade des Gegners überließ. In ihm lebte das Gesetz der Wüste: Auge um Auge, Zahn um Zahn!

Eine jubelnde Freude packte Isidor bei Doras Worten. Daran hatte er nicht gedacht. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, er sah sich gerettet. Und jetzt, im Gefühl seiner Sicherheit, flammte sein Sehnen, sie endlich ganz gedemütigt, willenlos zu seinen Füßen zu sehen, in lodernder Flamme auf.

Ihre Widerstandskraft war zu Ende. Sie war endgültig niedergebrochen, zu jedem Opfer bereit. Sie wußte, daß er sie begehrte, wußte, wie sie ihn zu allem bewegen konnte. Sie schlang die weißen Arme um seinen Hals, ihres Leibes Duft schlug ihm entgegen.

»Fordere, was du willst, Isidor,« flehte sie in Todesangst. »Ich will dir dienen mein Leben lang, nur töte ihn nicht!«

Und während sie ihn wie mit Klammern festhielt, blitzte ein neuer Gedanke in ihm auf. Wenn er Doras Bitten nachgab und das Duell verweigerte, blieb Trettachs Ehre besudelt. Ein Offizier, der einen Schlag ins Gesicht nicht mit dem Herzblut des Gegners abwaschen kann, muß selbst sich richten, wenn noch ein Funken Ehre in ihm lebt. Und sie, die ihn jetzt um den Preis ihres Leibes retten wollte, jagte ihn geraden Wegs in den Tod.

»Schreib' ihm,« drängte Dora, »daß du ihm verzeihst, ihm und mir. Schreib' ihm, daß ich auf ihn verzichte, daß er glücklich sein soll, nur leben ... leben ...«

Wieder brach ihre Stimme in wehem Schluchzen.

»Zieh dich aus,« sagte er schroff, »ich schreibe.«

Einen Augenblick zögerte sie noch; dann, unter dem Bann seiner Augen, begann sie sich langsam, zögernd zu entkleiden.

Ein neues, ihm selbst unerklärliches Gefühl überkam ihn. Die Stunde der Erfüllung, die er so lange, so heiß ersehnt, – jetzt sah er ihr in voller Geduld entgegen. Tropfen um Tropfen wollte er den Trank, gemischt aus Liebe und Haß, aus Gier und Verachtung, schlürfen, wie der Kenner den edlen Wein auf der Zunge zergehen läßt.

Er nahm Papier, Feder und Tinte und schrieb. Nach jedem Satz blickte er hoch, wartete er geduldig, bis endlich, widerwillig ein weiteres Kleidungsstück fiel, prüfte er mit seltsamer Ruhe das wunderbar schöne Bild, das immer neu, immer verlockender sich ihm bot, als hätte er eine Statue vor sich, deren Wert er nüchtern abschätzte.

Sie stand hüllenlos vor ihm. Und jetzt zitterte doch seine Hand, als er die Adresse schrieb, die sie ihm angab, und den Brief schloß.

Dann ging er hinaus, weckte den Gärtner und sandte ihn zu Trettach.

Er kehrte zu ihr zurück. Sie hatte sich nicht vom Platze gerührt. Ab und zu überflog sie ein Schauer. Ihre Augen waren erloschen, wie die einer Toten. Er blieb hart vor ihr stehen und zog ihr die Nadeln aus dem Haar, daß die goldene Woge sie bis in die Kniekehlen umhüllte.

Und eine ihm selbst unbegreifliche, quälerische Neugier erfaßte ihn. Er setzte sie vor sich in einen Sessel. Dann begann er zu fragen. Wort für Wort zog er ihr aus den Zähnen, wie sie zu jenem gekommen, wie sie sich ihm gegeben hatte. Und in dem Schmerz ihrer Beichte, die sie wie unter der Folter ablegte, wuchs seine Lust, sie als sein willenloses Werkzeug vor sich zu sehen.

Er schenkte ihr nichts; jede Phase, alles Glück und Leid ihres Liebestraums mußte sie ihm beichten; immer wieder forschte er sie aus, wie ein Verwundeter, der sich selbst das Messer im Leibe umdreht. Sie antwortete leise, automatisch, manchmal nur durch ein Kopfnicken.

Endlich war er zu Ende.

»Und so hob er dich hoch?« fragte er, sie auf seine Arme nehmend.

»Ja.«

»Und trug dich fort, – so?« Er eilte mit ihr in das Schlafzimmer, und warf sie auf ihr Lager.

»Ja.«

»Und er küßte dich?«

»Ja.«

»Mund und Brust?«

»Überall?«

Sie nickte.

»Und du hast mir nichts verschwiegen?«

»Nein.«

»Du schwörst?«

»Ja.«

Er ertrug die Selbstqual nicht länger. Wieder, wie in seiner Hochzeitsnacht, glich er einem Raubtier, das seine zappelnde Beute vor sich liegen sieht. Ein häßlicher Zug triumphierender Grausamkeit lag um seine schmalen, blassen Lippen. Er riß sich die Sachen vom Leib. Mit entsetzten Augen blickte Dora auf ihn hin; ein leises, kaum hörbares Schluchzen schüttelte sie. Dann aber, mit einmal, stieß sie einen Schrei unsinniger Angst aus; und während sie sich wehrlos, in wildem Weinkrampf auf ihrem Bette wand, machte er sie zu seinem Weibe.

In dieser Nacht ward Dora Mutter.

Der Morgen graute herauf. So erschöpft, so zerbrochen sie auch war, sie hatte kein Auge geschlossen. Finster starrte sie in den roten Schimmer im Osten. Ihr Gatte lag schlafend neben ihr, mit offenem Munde und wirrem Haar.

Es klopfte ganz leise am Nebenzimmer, wo Isidor bis zu diesem Tage die Nacht verbracht hatte.

Dora fuhr hoch. Vorsichtig schlich sie mit nackten Füßen zur Tür.

Noch ganz verschlafen, im langen, braunen Zopf und kurzen Röckchen, ganz wie Isidor sie damals erblickt, stand Kitty im Gang, einen Brief in der Hand. Lautlos winkte ihr Dora und nahm ihr das Schreiben ab. Kitty flüsterte ihr zu, daß der Chauffeur, der Herrn von Sternau zur Jagd hatte abholen sollen, nur diesen Brief erhalten habe.

Plötzlich stieß Dora ein lautes Wimmern aus, so schmerzdurchbebt, so hoffnungslos und verzweifelt, daß Isidor es hörte und verstört aus seinem Schlummer aufschreckte. Aber die Müdigkeit der schlaflosen Nacht, der Wein, der Tagesschimmer, der ihm weh tat, ließ ihn die Augen wieder schließen. Er schlief sofort weiter. Dann aber wurde er mit einem Schlage munter. Die letzten Tage waren vor ihm aufgetaucht. Was war geschehen? Wo blieb Sternau? Er tappte mit der Hand nach Dora, – ihr Platz war leer.

Sofort war er völlig wach. Er lief, ohne sich anzukleiden, durch alle Zimmer. Dora war nirgends zu finden. Er kehrte in das Schlafgemach zurück, zog sich notdürftig an und läutete. Kitty kam und berichtete: Ein Brief vom Oberleutnant von Sternau sei angelangt, die gnädige Frau habe ihn abgenommen, geöffnet, in wenigen Minuten sich angekleidet und sei im Auto fortgefahren. Nur langsam gab Kitty Auskunft, während sie ihn halb schadenfroh, halb beleidigt musterte; sie hatte an seinem unberührten Bett gesehen wo er die Nacht zugebracht, und fühlte sich jetzt doppelt von ihm verschmäht.

Er machte sich in fliegender Hast fertig, eilte auf die Straße, sprang in die erste Droschke und fuhr zu Sternau in die Kaserne.

Der Bursche – derselbe, der ihm damals die Absage zum Frühstück gebracht hatte – stand pfeifend auf dem kleinen Korridor der Wohnung und klopfte die Uniform seines Oberleutnants aus. Er wußte nur, daß sein Herr, schon ehe er selbst aus der Mannschaftsstube gekommen, zum Oberleutnant von Trettach geholt worden sei.

Isidor schreckte vor dem Gedanken zurück, zu seinem Gegner zu fahren; dann aber überwog die Sorge, daß Dora sich und ihn unheilbar kompromittieren könne. Er wußte Trettachs Adresse, er hatte sie erst gestern Abend geschrieben.

Trettachs kokette Villa lag nicht weit von der Kaserne, in einer stillen, vornehmen Allee. Als Isidor vorfuhr, sah er eine Gruppe heftig erregter Menschen vor der Gartentür stehen und zu einem Fenster links vom Eingang hinaufstarren. Ein Junge bemühte sich vergeblich, von der Höhe des Gitters aus einen Blick in das Innere zu werfen. Unten, am Ende der Straße, tauchten Polizeihelme auf. Sein Auto stand vor der Tür.

Isidor lohnte den Kutscher ab, ging ungehindert durch das Tor, die Stufen hinauf. Alle Türen standen offen. Die Dienerschaft stand ratlos, mit blassen Gesichtern umher.

Dann sah er ein kleines, reich mit afrikanischen Waffen und Jagdtrophäen ausgeschmücktes Herrenzimmer vor sich. Abseits, unter einem, mächtigen, mit grellen Farben bemalten Duallaschild stand Sternau mit feuchten Augen.

Aber ein perlendes, anschwellendes und wieder verklingendes Lachen ließ Isidor zur Seite blicken. Das Lachen seiner Frau.

Auf dem Sofa lag Hans Joachim von Trettach mit durchschossener Schläfe; neben ihm sein kleiner Terrier, der ihn nach Afrika begleitet und von dem er oft mit zärtlicher Liebe gesprochen, gleichfalls mit einer Kugel im Kopf. Und über beide gebeugt stand Dora in wirrem Haar, die linke Hand auf Trettachs Brust gestützt, und kicherte und lachte unaufhörlich wie ein Kind, das jauchzend bunten Tand bewundert.

Er packte sie am Arm. Mit glückstrahlenden Augen wandte sie sich zu ihm hin. »Da ... da!« stammelte sie. Und wieder setzte ihr unheimliches kicherndes Lachen ein.

Er faßte sie um die Taille und zog sie, ohne Sternau zu begrüßen, die Treppe hinab, an den Polizisten vorbei, die dröhnend die Stufen hinaufschritten, durch die gaffenden Menschen in das Auto hinein. Sie folgte ihm ohne Widerstand, immer wieder hell auflachend. Er atmete auf, als sich die Türen seiner Villa hinter ihm schlossen.

Er ließ den Arzt kommen und erzählte ihm das Nötigste. Dieser stellte einen schweren Nervenchok fest, empfahl die größte Ruhe und verschrieb ihr Morphium. Sie lag regungslos in ihrem Bett. Ab und zu schrillte ihr Lachen durch alle Räume.

Und inzwischen läutete das Telephon: »Der Chef möchte in das Geschäft kommen.«

Der Arzt hatte geraten eine Krankenschwester zu nehmen. Isidor tat es nicht, aus Angst, daß Dora in ihren Phantasieen plaudern könnte. Er wies die Mädchen an, abwechselnd bei seiner Frau zu wachen.

Im Geschäft machte sich wiederum ein Mangel an Betriebskapital geltend. Der Erste stand vor der Tür, Gehälter mußten bezahlt werden. Auch das Papier für den neuen Band des Pantheons war zu decken. Der Lieferant des Autos, das erst zur Hälfte bezahlt war, hatte Klage angestrengt; Termin war schon in vierzehn Tagen. Isidor hatte fünfzehntausend Mark sofort aufzubringen, weitere zwanzigtausend im Laufe des nächsten Monats.

Während er mit seinem Prokuristen konferierte, waren seine Gedanken weit ab, bei seiner kranken Frau, bei dem erschossenen Offizier, bei Sternaus vernichtendem Brief, den er in Doras Tasche gefunden.

Er nahm Doras Leiden nicht tragisch; sie war jetzt sein, sie würde sich beruhigen. Und ein hämisches Glücksgefühl erfüllte ihn, den Mann, der ihm das Schwerste im Leben angetan, dort mit der Kugel im Schädel hingestreckt zu wissen. Das Spiel war aus, er hatte gewonnen.

So weit er mit wirrem Kopfe disponieren konnte, tat er es. Er dekouvrierte sich Weller vollständig. Dieser, dessen Hoffnung auf den Viktororden ebenfalls zu Wasser geworden war, sprach jetzt in schroffen Worten von dem Hofmarschall und schob alle Schuld auf diesen.

Sie beschlossen endlich, bei ihm, wie bei dem Papierlieferanten und der Druckerei Schritte zu tun, um die Pantheonverträge um jeden Preis! zu lösen Es war schon jetzt klar, daß das ganze Unternehmen ein völliger Mißerfolg war, der das sonst so gute Geschäft ruinieren mußte.

Es wurde nach einem Kapitalisten als stillen Sozius inseriert. Ebenso beschloß Isidor, die Villa zu verkaufen und seinen Haushalt zu vereinfachen; er wollte das Geschäftspersonal beschränken, so daß der erste Stock des Geschäftshauses für ihn frei wurde. Die Verhältnisse hatten sich seit einigen Tagen ja nach jeder Richtung hin geändert; er empfand jetzt keine Scheu mehr, Dora seinen Willen aufzuzwingen.

Der Prokurist sollte nach Leipzig fahren, um den Kommissionär zu einem größeren Darlehn zu bewegen.

Endlich ließ Isidor an mehrere Firmen schreiben und ihnen die ertragreichste Gruppe seines Verlages, die Jugendschriften, zum Kauf anbieten.

Einigermaßen beruhigt fuhr er heim. Hier hatte sich nichts verändert. Dora war unter dem Einfluß des Morphiums stiller geworden, ohne jedoch Schlaf zu finden. Leise, wie Vogelzwitschern klang ab und zu ihr girrendes Lachen zu ihm heraus.

Und während Isidor, mit dem kranken Weib daheim, um seine Existenz rang, vollzog sich in der Residenz auf seine Kosten ein ungeheurer Umschwung. Trettachs Tod hatte bis in das Herzogsschloß hinauf ein unbeschreibliches Aufsehen gemacht. Der Fall lag an und für sich so klar als nur möglich: Ein Streit des trunkenen Gatten mit seiner Frau; das Einschreiten eines Komiteemitgliedes mit Rücksicht auf die Anwesenheit der höchsten Herrschaften, eine Auseinandersetzung im Zelt, dann der Schlag. Rittmeister Graf Holm verbürgte sich dafür, daß nichts anderes vorlag; Sternau und die Zeugen des Vorfalls bestätigten es. Dann kam die Verweigerung der Genugtuung seitens Isidors, die den Selbstmord des Offiziers vollständig erklärte.

Und dennoch empfand die öffentliche Meinung instinktiv, daß dieser Selbstmord nur eine andere, noch furchtbarere Tragödie verschleierte. Und das Geraune wollte nicht schweigen.

Alle Sympathieen vereinigten sich auf den toten Offizier, auf Dora, die einstige Komteß, die seines feigen Gegners Weib war. So scharf die Öffentlichkeit den Zweikampf im Prinzip verurteilt, so unerbittlich richtet sie im Einzelfalle über jeden, der seine Ehre nicht zu wahren weiß. Die Blätter brachten wochenlang immer wieder neue Berichte. Eifrige Reporter horchten Isidors Personal aus und überboten sich in dunklen Andeutungen von seinem Eheleben; sein Verkehr mit leichtsinnigen Kavalieren wurde als eine Kette von Orgien geschildert und gegen ihn ausgebeutet. Und bald stand Isidor Cohn als ein Wüstling da, der sein Weib, die junge, schöne Gräfin, vernachlässigte, sein Geld in nächtlichen Ausschweifungen vergeudete und eine harmlose Jugendfreundschaft seiner Frau benutzte, um seinem Haß gegen die Aristokratie Luft zu machen, in die er vergebens unter ungeheuren Geldopfern einzudringen versucht hatte. Die freisinnigen Blätter machten ihrem Grimm gegen den getauften Juden Luft, der seiner Väter Glauben um äußerer, nichtiger Ehren willen verleugnet; die Konservativen hetzten gegen den Juden, dem kein Taufwasser seine Rasse abwusch. Auch im Reiche machte der Fall Aufsehen; zahlreiche jüdische Firmen des Buchhandels brachen jeden Verkehr mit der Firma Siegfried Cohn ab.

Der Hofmarschall und Tante Thekla hielten sich fern. Graf Holm antwortete kühl auf Isidors Brief. Er habe absolut keine Veranlassung, von seinem Vertrage zurückzutreten. Das Material des zweiten Bandes unterliege zur Zeit der von Seiner Hoheit befohlenen Nachprüfung und würde vertragsmäßig nach Beendigung derselben geliefert werden. Es handle sich nicht um den Autor, sondern um das herzogliche Haus, um ein nationales Unternehmen, das unbedingt durchgeführt werden müsse. Im übrigen bitte er angesichts der sichtlich veränderten Sachlage zwecks Vermeidung von Mißverständnissen künftighin von mündlichen Unterredungen Abstand zu nehmen und alle Verhandlungen schriftlich zu führen. Papierhändler und Buchdrucker lehnten gleichfalls ab, ersterer mit der Begründung, daß große Vorräte des sonst nicht verwendbaren Papiers in der stillen Geschäftszeit bereits angefertigt seien, auf deren rechtzeitiger Abnahme er bestehen müsse; letzterer mit Hinweis auf die von ihm für das Werk angeschafften Schriften und Maschinen.

Ebenso mißlang der Versuch, Kapital zu erhalten. Die Zeiten waren schlecht, das Bargeld äußerst knapp, die politische Lage so verwickelt, daß der Diskont eine unerhörte Höhe erreichte und niemand nötig hatte, sein Geld zu besserer Verzinsung in einen Betrieb zu stecken, der keine absolut sichere Deckung mehr bieten konnte.

Der Verkauf der Villa war einem tüchtigen Agenten übertragen. Es kamen Neugierige und ernsthafte Reflektanten. Sie kamen und verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Wenn Isidor auch für jeden annehmbaren Preis verkaufen wollte, so schreckte doch der sichtlich große Apparat des Hauses mit seinen Palmen- und Treibhäusern, der jährlich ein Vermögen kosten mußte, die Käufer ab. Der Agent tröstete: Ein solches Objekt ließe sich nicht im Handumdrehen losschlagen; eines Tages würde unvermutet ein Liebhaber für das Grundstück auftauchen, der es vom Fleck weg erwarb.

Auch der Verkauf der Verlagsgruppe wollte vorderhand nicht gelingen. Man bot Preise, die nicht annähernd den Herstellungswert der Vorräte deckten. Die Jugendschriften, die seit fast dreißig Jahren eine sichere Rente abgeworfen hatten, schienen mit einem Male nicht einen Pfifferling wert. Zuletzt kam eine Anfrage einer bisher unbekannten Firma, die sich bereit erklärte, das Objekt für einen lächerlich geringen Preis zu erwerben, falls Isidor ihr zur Zahlung ein halbes Jahr Frist gab, da erst zu dieser Zeit die Firma ihre Mittel flüssig machen könne. Isidor konnte so lange nicht warten. Als sich jedoch der Reflektant bereit erklärte, die Kaufsumme durch Wechsel zu decken, die Isidor einmal zu prolongieren hatte, und die eingeholten Auskünfte nichts Nachteiliges ergaben, kam der Kauf zum Abschluß. Trotzdem war Isidor bei dem Abkommen nicht wohl, aber er hatte keine Wahl.

Der Kommissionär in Leipzig verlangte eine Bilanz und lehnte nach ihrer Prüfung die Hergabe von Kapital ab; die von Isidor bei der letzten Inventur allzu hoch eingesetzten Aktiva, speziell das mit 50 000 Mark bewertete Verlagsrecht des Pantheon hatten ihn mißtrauisch gemacht. Endlich gelang es Weller nach langem Bemühen, gegen Verpfändung und Überführung des ganzen Lagers nach Leipzig die Hälfte des gewünschten Darlehns zu erhalten.

Zwar zerschlugen sich durch diese Verpfändung die Verhandlungen, die Isidor mit seiner Bank wegen Eröffnung eines Kredits eingeleitet hatte, für den die Lombardierung der Vorräte ebenfalls die Unterlage bilden sollte; aber wieder war wenigstens das Schlimmste abgewandt.

Seitdem die Zeitungen gegen Isidor hetzten, wagte er sich kaum mehr auf die Straße.

Im geschlossenen Auto fuhr er in das Geschäft und wieder zurück. Dies war auch der Grund, weshalb er das Auto mit seinen Kosten nicht abschaffte. Denn nur zu häufig standen neugierige Gruppen vor seiner Villa; eines Nachts flog klirrend ein Stein durch das Fenster.

Vom Kasinovorstand der Leibhusaren traf ein Schreiben ein, in dem ihm mit knappen Worten mitgeteilt wurde, daß man im Hinblick auf die bedauerlichen Vorgänge darauf verzichten müsse, ihn ferner als Gast im Kasino zu sehn; gleichzeitig erhielt er vom Adjutanten die Nachricht, das gestiftete Bild stehe zu seiner Verfügung, er wolle gefälligst umgehend darüber disponieren.

Isidor antwortete nicht, die Sache war ihm zu gleichgültig. Einfach gehorchen wollte er nicht; andererseits wußte er aber auch nicht, wie er sich zur Wehr setzen sollte, ohne in einen neuen Konflikt hineinzugeraten.

Das Bild blieb einige Wochen unberührt im Kasino hängen. Dann kam eines Tages eine Ordonnanz mit einer Stehleiter, stellte sie vor das Bild, schraubte die Widmungsplatte mit Isidors Namen vom Rahmen und verschwand wieder ...

Einmal, als Dora mitten in ihrem Lachen unerwartet irre zu reden begann und der Chauffeur den Arzt im Auto holen mußte, wagte es Isidor, in einer offenen Droschke in das Geschäft zu fahren.

Höhnische Zurufe begleiteten ihn. Die Offiziere, die er traf und grüßte, dankten nicht. Isidor durfte nicht länger daran zweifeln, daß er gesellschaftlich unmöglich geworden war.

Mit wem er auch zusammenkam, bis zum Handwerker hinab, immer hatte er das Gefühl, daß er verfehmt war. Wie eine Verabredung erschien ihm diese Ächtung, die heimlich, für alle bindend, getroffen war, wie ein Freimaurerzeichen, das die Welt austauscht, stumm und erbarmungslos. Nicht, daß man ihn schroff behandelte; aber sie wichen ihm mit verletzender Höflichkeit, mit scheuer Abneigung aus, wie man in seltsamem Grauen mit dem armen Sünder spricht, dessen Todesurteil soeben bestätigt ist.

Als die Hetze kein Ende nahm, faßte Isidor eines Tages Mut; er suchte den Hofprediger auf und bat um seine Vermittlung. Dieser jedoch wich aus und ging mit keinem Wort auf die letzten Ereignisse ein. Er behandelte Isidor als trostsuchendes Glied seiner Gemeinde und schnitt seine Klagen mit dem Hinweis auf die göttliche Gnade ab, die sich an Isidor über Bitten und Verstehen durch seine Taufe bewährt habe. Das müsse ihm in Leid und Freud eine wahrhafte Erquickung sein. »Saul ging aus, des Vaters Esel zu suchen,« schloß er salbungsvoll, »und fand ein Königreich.«

»Ich ging aus, Herr Hofprediger,« antwortete der empörte Isidor, »ein Königreich zu suchen und fand einen Esel.«

»Erlauben Sie!« fuhr der Hofprediger hoch.

»Und dieser Esel bin ich,« setzte Isidor hinzu, wandte ihm den Rücken und ging.

Dora befand sich bald besser, bald schlechter. In ihren klaren Stunden krümmte sie sich unter der Erinnerung. Sie kam sich besudelt vor, wie eine Edelfrau, die die rohe Soldateska des Feindes vergewaltigt hat, wie ein verlorenes Weib, das jedem zu Willen sein muß. So ging sie ruhelos durch das Haus, in unüberwindlichem Grauen vor dem Schlafzimmer, das sie mit ihrem Manne teilen mußte, leichenblaß unter dem Schmuck ihres rotblonden Haares, wie eine lebendige Tote.

Mitunter begann sie plötzlich wieder zu kichern und sich beglückt die Hände zu reiben. Dann schloß Isidor die Türen ab. In ihm fraß der Haß, und im Haß begehrte er sie; indem er sein Weib erniedrigte, schleifte er sie alle durch den Staub, die verfluchten Aristos, die ihn wie einen räudigen Hund verjagt hatten. Alles hatten sie ihm genommen, sein Geld, seine Ehre, – eins mußten sie ihm lassen, die sündige Frau. Je mehr die Sorge um sein Geschäft in ihm stieg, bei Tag und Nacht mit Zentnerschwere auf ihm lastete, desto mehr suchte er sich bei seinem Weibe zu betäuben. Und seine ganze krankhaft erregte Natur kam jetzt zum Ausbruch. Er wartete mit Sehnsucht, bis sie wieder auflachte, ihr Geist zu wandern begann; dann war sie sein, gefügig, willenlos, wie eine Dirne. Und soweit sie es noch nicht war, wollte er sie dazu machen. Er ließ sie nackt an seiner Seite sitzen, – sie weigerte es nicht; er zwang ihr immer neue, freche Stellungen auf, wie seine schweifende Phantasie sie in unerschöpflichem Wechsel erfand, – sie stand, sie lag wie eine Statue vor ihm, geduldig, stumm, gebrochen. Während seine gierigen Hände in ihren weißen Gliedern wühlten, wie eine Spinne über den Marmor kriecht, starrte sie mit großen, leeren Augen in die Weite, in ein fernes, fernes Paradies. Er lehrte sie häßliche Worte, bedrohte sie zornig, bis sie sie willig wiederholte, mechanisch, wie Laute einer fremden, unbekannten Sprache. Und wenn sie stundenlang so vor ihm gestanden hatte, hüllenlos, schamlos, mit irrem Lachen, mit den starren Augen, die durch die Wände blickten, dann warf er sich auf sie, röchelnd wie ein Vampyr. Und während seine Zähne knirschten, sein dürrer, brauner Körper sich über ihr wand, trillerte sie leise die Dirnenlieder, die er sie gelehrt, kicherte sie unter seinen Küssen wie eine Bauernmagd, die der Knecht mit dem Strohhalm neckt. Und dann lag sie regungslos, wie er sie verlassen, die lange, dunkle Nacht

Und in ihr wuchs und wuchs ein neues Leben heran.

Monate vergingen. Es schien, als ob die zunehmende Mutterschaft ihr Erleichterung brachte. Sie war jetzt seltener von ihren Anfällen heimgesucht, tage-, ja wochenlang klar. Wenn aber ihr Geist sich wieder umwölkte, so kannte sie ihren Gatten nicht mehr. Sie nannte ihn dann Hans Joachim, sah den Geliebten in ihm, und mit einem aus Lust und Grauen vermischten Gefühl litt Isidor es, daß sie sich selig, in hingebender Erwartung an ihn schmiegte, den Namen des Toten flüsterte, mit heißen, brennenden Küssen ihn fast erstickte.

Eines Morgens fuhr er hoch. Seine Frau lag quer über ihm, die Hände um seinen Hals gekrallt; mit erstickter Stimme schrie sie ihm heulend die häßlichen Worte zu, die er ihr eingeprägt. Ihm klebte die Zunge am Gaumen; er riß gewaltsam den Arm frei, er hängte sich an die Klingel. Kitty kam hereingestürzt; er konnte vor Schreck nur lallen.

Der Anfall hielt nicht an. So oft er sich aber ihr näherte, sie berührte, wurde sie wieder wild. Sonst saß sie stundenlang, untätig, sang leise Melodieen vor sich hin oder redete mit ihm, der mit durchschossener Schläfe längst unter grünem Rasen lag. Dann veränderte sich ihr durch die Mutterschaft verzerrtes, blasses Gesicht; rosig wurden die Wangen, tiefblau und sonnig die Augen, goldig schimmerte das Haar. Und sie rief nach ihm, flüsterte mit ihm, koste, lachte und weinte in einem Atem, trunken vor Glück ... bis die Stimme wieder sank, die Wangen erblaßten, die Augen erloschen, bis sie schwieg, stundenlang ohne Bewegung, wie erstarrt.

Der Arzt gab sichere Hoffnung, daß alle diese Erscheinungen – soweit er sie kannte – mit der Geburt des Kindes verschwinden würden. Aber er glaubte den wohltätigen Einfluß eines Wechsels der Umgebung nicht entbehren zu können. Er stellte die Wahl: Anstalt oder Reise, und schlug Ägypten vor, von dessen Klima und Eindrücken er sich viel versprach.

Isidor lehnte es ab, sie in ein Sanatorium zu geben. So gern er sie jetzt, wo ihre vorschreitende Mutterschaft sie schon schwerfällig machte und die reinen Linien ihres Körpers entstellte, fortgegeben hätte, – um so mehr, als seine Lage einen klaren Kopf und festen Willen verlangte, wagte er es dennoch nicht. Wieder fürchtete er, daß sie in ihren Anfällen alles verraten würde, was er ihr angetan, was er sie gelehrt, sah er einen neuen Skandal entstehen ... Und obwohl alles im Geschäft die sichere Hand des Führers verlangte, beschloß er zu reisen.

Er ging zum alten Goldschmidt, stellte ihm seine Lage vor und bat ihn alles zu vergessen und das verlassene Steuer in seine Hand zu nehmen. Goldschmidt wußte von allem genau Bescheid, was im Geschäft seit seinem Austritt vorgegangen war, und hielt mit seinen Besorgnissen nicht zurück. Schon liefen Klagen gegen die Firma, die man künstlich, ohne Rücksicht auf die Kosten hinzog, um erst knapp vor der Pfändung die Deckung aufzubringen. Und da selbst die Rechtsanwaltskosten nur zögernd beglichen werden konnten, mußte Isidor für jeden Rechtsstreit einen anderen Beistand nehmen. Aber auch das machte schließlich Schwierigkeiten, da sich diese Erfahrungen in den Juristenkreisen der Residenz herumsprachen.

Goldschmidt hatte keine Hoffnung; und erst als Isidor ihn im Namen des Vaters um seine Hilfe beschwor, willigte er ein. Weller ordnete sich ihm ohne weiteres unter; er war froh, der schweren Verantwortung ledig zu sein.

Der alte Prokurist erhielt Generalvollmacht.

Dann schrieb Isidor an seine Schwester Recha; er bat sie zu kommen und sich des verwaisten Haushalts anzunehmen. Sie zögerte keinen Augenblick, jetzt wo die Not sie rief. Am Abend vor Isidors Abreise traf sie ein.

Isidor raffte fast alle Geldmittel zusammen. Immer wieder ließ er die Außenstände unbarmherzig eintreiben, klagte die kleinsten Beträge rücksichtslos ein, wie er selbst um Tausende verklagt wurde. Er, der so lange im Frack den Menschenfreund, den Apostel der Wohltätigkeit gespielt hatte, ging jetzt im Kontorrock über Leichen.

Der Tag der Abreise war gekommen. Früh morgens fuhr Isidor noch einmal in das Geschäft. Eine unangenehme Überraschung wartete seiner. Breit und wuchtig saß der Drucker des Pantheon da und wartete auf ihn. Man hatte nicht gewagt ihn fortzusenden, da er gedroht hatte Isidor in seiner Villa aufzusuchen.

Die am 1. Oktober fällige erste Rate war unter allerhand Vorwänden hingezogen worden; es hatten zu viel Wechselverpflichtungen vorgelegen, als daß Isidor diese ungedeckte Schuldverpflichtung von 6000 Mark besonders schwer genommen hätte. Wenn aber ein Schiff leck wird, dann pfeifen die Mäuse; nichts spricht sich so rasch herum, als wenn ein angesehenes Haus in stummem, verzweifelten Kampf um seine Existenz, seine Ehre zu ringen beginnt. Und kurz entschlossen war der Drucker herübergefahren, um zu retten, was zu retten war.

Isidor hatte sechstausend Mark im Portefeuille. Er rechnete mit monatelanger Abwesenheit, über Doras Entbindung hinaus, und hatte keine Lust sich auf die Mittel zu verlassen, die ihm vom Geschäft nachgesandt wurden. Wenn hier etwas vorfiel, was dann? Dann saß er in der Fremde, ohne einen Groschen, womöglich als Zechpreller verhaftet, außerstande, selbst die Rückreise zu bezahlen.

Eine Akontozahlung von etwa tausend Mark, die er zur Not entbehren konnte, hatte keinen Zweck; er sah es dem blassen Gesicht, den zusammengekniffenen Mundwinkeln des Mannes an, daß dieser selbst in Sorge war und sein Geld haben mußte.

Wieder griff Isidor zu dem letzten Auskunftsmittel der Bedrängten, – er bot Akzepte. Aber, sein Gläubiger lehnte ab. Er hatte kein Vertrauen, daß sie auch eingelöst wurden. »Gehen die Dinger in drei Monaten zu Protest, dann bin ich fertig, Herr Cohn. Zu Hause stehn die teuren Maschinen und Schriften für das Pantheon, und nichts geschieht. Da gehe ich lieber gleich hin und melde Ihren und meinen Konkurs an, so schwer's mir wird. Ich habe Frau und sechs Kinder daheim.«

Isidor schämte sich bis auf's Blut. Die Reise aufgeben? Jetzt, wo das halbe Hauspersonal gekündigt, wo Recha aus England zurückgeholt, die Koffer gepackt waren? Recha und Dora zusammen lassen? Unmöglich! Er sagte es dem sorgenvoll dasitzenden, vor Angst schwitzenden Manne offen: Augenblicklich könne er nicht, – in acht, vierzehn Tagen, ja. Das Geschäft gehe miserabel, allgemein werde geklagt. Niemand könne ihn für internationale Krisen verantwortlich machen. Mit Akzepten könne sich jener sofort helfen; er bürge ihm ausdrücklich für prompte Einlösung.

Dem Mann wurden die Augen feucht, es ging für ihn um Kopf und Kragen, um die Raten, von denen noch keine bezahlt war, um den Druck der letzten neun Bände, die er in seine Kalkulation mit eingezogen hatte.

Endlich kam er mit seinem letzten Wort; heraus: Akzepte und Sicherheit.

»Welche Sicherheit?« fragte Isidor.

»Verpfändung des Lagers,« antwortete der Mann.

»Des hiesigen Lagers?«

»Nein, des ganzen. Ich will sicher gehen.« Und wieder setzte der Mann hinzu: »Ich habe Frau und Kinder zu Haus.«

Isidor stand auf Kohlen. Es war noch hunderterlei geschäftlich zu besprechen, die Zeit drängte. Und in dem brennenden Wunsch, den lästigen Besucher loszuwerden, überschritt er die Grenze zwischen Recht und Unrecht, zwischen Ehre und Schande. Er setzte sich hin und verpfändete dem Drucker schriftlich die Werte, die schon im Pfand des Kommissionärs in Leipzig lagerten.

Und mit dem Schein und den Akzepten fuhr der Mann getröstet nach Hause zurück.

Isidor nahm Kitty auf die Reise mit, weil Dora der Pflege bedurfte und er sich vor dem beständigen Alleinsein mit ihr graute. Die kleine Kitty schmollte schon lange mit ihm; sie konnte es nicht verwinden, daß er sie um seiner Frau willen aufgegeben hatte und die erhoffte Goldquelle für sie so gut wie versiegt war. Als er ihr den Vorschlag machte, mit ihnen auf Reisen zu gehen, sah ihn das niedliche Ding mit den nußbraunen Augen über dem kecken Stumpfnäschen fest an; und als sie ein stummes Ja in seinem Blicke las, willigte sie ein.

Sie reisten durch Italien, über Griechenland nach Ägypten. Das Klima schien Dora wohl zu tun, sie blühte wieder auf. Auch ihre Anfälle wurden seltener, sie war fast immer still und geduldig. Er schonte sie, nicht nur Kittys wegen, sondern auch deshalb, weil ein neues Gefühl in ihm erwacht war. Er freute sich jetzt auf das Kind; tausendmal hatte er nachgerechnet, die Ärzte gefragt; er wußte, daß er der Vater war, nicht jener, der unter dem grünen Rasen lag.

Da kam eines Tages, als Dora ihre schwere Stunde von Tag zu Tag erwartete, nach Gizeh, wo sie sich im Hotel Menahouse für die Zeit der Entbindung eingerichtet hatten, ein langes Telegramm, das Isidors sofortige Heimkehr forderte. Ein Wechsel, der der Papierfirma in Zahlung gegeben war, hatte bei Verfall nicht eingelöst werden können; die Firma verweigerte Prolongation und klagte gleichzeitig ihre anderen auf den Verlag Siegfried Cohn laufenden Wechsel ein. Auch die Akzepte, die Isidor dem Drucker gegeben, hatten trotz seiner Versprechungen von Goldschmidt, der unbeschränkte Vollmacht besaß, prolongiert werden müssen. Das Schlimmste aber war, daß die Firma, die den Jugendschriftenverlag gekauft, Konkurs angemeldet hatte und Isidor ihre von ihm an seine Kreditoren weitergegebenen Wechsel nunmehr selbst einlösen mußte. Wie durch geheime Verabredung fielen die Gläubiger über das Haus Siegfried Cohn her. Der Kommissionär legte Beschlag auf die bei ihm lagernden Vorräte; der Verlag konnte nicht mehr auf eigene Rechnung ausliefern. Das Haus wankte an allen Ecken und Enden.

Isidor reiste Tag und Nacht, ohne Rücksicht auf seine Frau. Sie war zu stolz, um über die immer stärker auftretenden Schmerzen zu klagen. Bei der Ankunft in München wurde sie ohnmächtig.

Trotz Kittys Widerspruch, die jetzt in ihrem weiblichen Empfinden ganz auf Doras Seite trat, nahm er ein Schlafcoupé und fuhr weiter. Früh Morgens in der Residenz angelangt, mußte er Dora in das Auto tragen lassen. Abends begann sie zu fiebern. Recha ließ sofort den Arzt kommen. Er zog die Brauen zusammen, als er Dora sah und verordnete unbedingte Ruhe. Ausgesprochene Gefahr sei vorläufig nicht vorhanden, doch könne jede Unbesonnenheit die schon bedenkliche Geburt noch mehr erschweren.

Bereits von Neapel aus hatte Isidor Goldschmidt Weisung gegeben, seine Hauptgläubiger zu einer Konferenz nach der Residenz zu bitten. Ihm schwebte ein Akkord, ein Moratorium vor, irgend etwas, was ihn für den Augenblick retten und die Verhältnisse sanieren konnte.

Am Abend des Tages, an dem er eingetroffen war, fand die Sitzung statt.

Es war ein bitterer Augenblick für Isidor, als er nach Monaten wieder vor seinem Privatkontor stand und drinnen die erregten Stimmen seiner Gläubiger hörte, beim Eintritt ihren feindseligen Mienen begegnete. Goldschmidt hatte ihm bereits das Schwerste abgenommen, die Bücher vorgelegt, jede Auskunft erteilt. Nur über eines nicht, das Pantheon. Hier wußte er nicht Bescheid.

Kaum hatte Isidor begonnen die Verträge zu erläutern, als das Telephon schrillte. Recha bat den Bruder sofort heimzukehren. Doras Stunde war gekommen. Isidor ließ zurücksagen, man möge alles tun, vor allem die Ärzte rufen, er käme so bald als möglich.

Dann begann er mit stockenden Worten den Autorvertrag über das Pantheon vorzulesen. Immer länger wurden die Gesichter, immer schärfer, schonungsloser die Worte, die hart wie Hammerschläge auf Isidor niedersausten. Sie nannten die Schenkung an seine Frau, die jetzt schon über zwei Jahre zurücklag und nicht mehr anfechtbar war, eine Hinterziehung, Irrsinn schalten sie das Abkommen mit dem Hofmarschall, ein Produkt unfaßbaren Ehrgeizes; der die Firma persönlichen Interessen opferte. Und sie schienen genau Bescheid zu wissen. Sie hielten ihm wütend seine Wohltätigkeit, seinen Haushalt, das Auto, jeden überflüssigen Dienstboten vor. Sie sagten ihm mit unbarmherziger Schärfe, daß er als Kaufmann unredlich gehandelt habe. Erst jetzt sah Isidor, wie sehr dieser Vertrag, der ihn an das Pantheon band, der dem Hofmarschall ein Vermögen in den Schoß warf, sein Unglück war, an dem alles scheitern würde.

Und inzwischen gellte alle fünf Minuten das Telephon, wurden die Nachrichten schlimmer, der Ruf nach ihm immer dringender. Ein weiterer Arzt wurde herbeigeholt, – es ging auf Leben und Sterben.

Drinnen aber im Kontor fiel die Frage nach neuen Verpflichtungen seit Abschluß der letzten Bilanz. Isidor beichtete zögernd das Darlehen seines Kommissionärs und den Verkauf der Jugendschriften. Man forschte nach den Eingängen aus dem Verkauf, fragte, welche Sicherheit er in Leipzig gegeben habe. Und als er gestehen mußte, daß jeder Pfennig aus dem Verkauf verloren und die Wechsel zu decken waren, daß er sein ganzes Lager zweimal verpfändet hatte, da brach der Sturm los. Als gerade der Drucker wie ein Unsinniger auf Isidor losstürzte, den der selbst völlig überraschte Goldschmidt mit Tränen in den Augen zu decken suchte, schrillte noch einmal das Telephon. Isidor riß sich aus den Händen seines Angreifers los und eilte an den Apparat.

Schneebleich wandte er sich um.

»Schlagen Sie mich ruhig tot,« sagte er mit heiserer Stimme zu dem verzweifelten, mit geballten Fäusten vor ihm stehenden Mann, »mein Weib ist soeben verschieden!«

Sie wichen einen Augenblick zurück. Dann aber erhob sich, als ob sie sich ihrer weichen Regung schämten, der Lärm doppelt stark. Flüche schallten durch den Raum. »Schuft!«, »Lump!« »Graf Cohn!« schrieen sie ihm in das blasse, entsetzte Gesicht, und lärmend erhoben sie sich, um die Verhandlungen abzubrechen. Der Drucker schlug mit erregter Faust auf den Tisch und erklärte, er werde sofort die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstatten. Vergeblich suchte Goldschmidt noch einmal zu vermitteln, sie hörten auf nichts. Sie griffen nach Hut und Mantel und frugen draußen laut den erschreckten Hausdiener, der Nachtdienst hatte und aus tiefem Schlaf auftaumelte, nach dem Wege zur Polizei.

Oben aber blickte von seiner hohen Säule ernst und stumm die Marmorbüste Siegfried Cohns auf den Zusammenbruch seines Lebenswerkes herab.

Isidor war seltsam ruhig, fast versteinert. Der Mann, der Hilfe bittend jetzt vor seinen Gläubigern stand, war nicht derselbe, der vor Jahresfrist sich mit kühner Hand sein Glück aufzubauen gewagt hatte, der im Vertrauen auf sich und seine Kraft vor keinem Hindernis zurückgeschreckt war. Vielleicht, daß er sonst doch noch einmal das fliehende Glück festgehalten, das drohende Verhängnis beschworen, vielleicht, daß sein Selbstvertrauen auch seinen Gläubigern von neuem Zuversicht eingeflößt, ihre Bedenken beschwichtigt, ihren Grimm besänftigt hätte. Aber Isidor war, auch körperlich nicht mehr der Alte, erschöpft, ein Schatten, aufgerieben durch alles, was er durchlebt hatte.

Der weinende Goldschmidt sandte den Hausdiener fort, um nach einer Droschke zu fahnden, obwohl in so später Stunde nur der Zufall diesem eine solche in den Weg führen konnte. Sein Hauptgrund war, Isidor zurückzuhalten, bis sich die andern entfernt hatten. Als er ihm in den Mantel half, schlug Isidors Hand an den Revolver, den er auf seinen Reisen bei sich zu tragen pflegte und den er seit gestern abend noch nicht herausgenommen hatte.

Es war gegen drei Uhr morgens. Eine geschlossene Droschke hielt vor der Tür, am Schlag stand in strammer Haltung der Hausdiener.

»Nach Hause?« fragte der Mann,

Isidor nickte stumm.

»Zu Befehl!«

Der Schlag fiel zu, das Pferd zog an.

»Geld verloren, wenig verloren, – Ehre verloren, viel verloren, – Mut verloren, alles verloren,« klang es Isidor aus dem Rattern und Poltern des Wagens hartnäckig ins Ohr. Er hatte kein Geld mehr, keine Ehre, keinen Mut.

Er sah seine erregten Gläubiger die Anzeige gegen ihn erstatten; er wußte, sie kannten kein Erbarmen. Und doch hatten sie von ihrem Standpunkt aus recht. Welcher Richter würde in sein Herz sehen, ihm all die Sehnsucht, all die Liebe zu seinem Weibe als mildernden Umstand anrechnen? Er hatte verspielt, er zahlte die Zeche.

Und noch einmal zog sein Leben an ihm vorbei. Er sah es klar, sie hatten ihn nie für ernst genommen, die Herren vom Adel, nie für ihresgleichen; sie hatten nicht mit ihm geplaudert, gekneipt, sich geduzt, – nein, nur mit seinem Geld. Blut war dicker als Wasser, Rasse stand gegen Rasse ... Und auch er war trotz seiner Taufe im Herzen der Jude geblieben, der die Gojim haßte, ausbeutete, sie als Sprungbrett benutzte. Sie hatten es mitangesehen, lachend im Gefühl ihrer Stärke, wie ein edles Roß den schwachen Reiter duldet, um ihn beim ersten Zügelruck, beim ersten Sporenstich herabzuschleudern, wie man einen seltsamen Käfer gelassen an sich emporkriechen läßt, um ihn dann kurzer Hand abzuschütteln und zu zertreten. Und seines Lebens größter Irrtum wurde ihm klar. Hundertmal hatte er sich der Waffe gerühmt, die ihm die Kraft, die Sicherheit gab, seines Geldes; und doch hatte er gerade dieses Geld verschleudert, mit vollen Händen an diese Aristokraten vergeudet, sich selbst waffenlos gemacht, ihnen wie Simson der Dalila das Geheimnis seiner Stärke ausgeliefert. Und nichts blieb, als der arme, verhaßte, ausgeplünderte, ausgestoßene Jude. Hätte er die letzten Jahre aus seinem Leben streichen, sie neu beginnen können, – jetzt hätte er gewußt, wie er die Gegner niederzwang. Spärlich, brockenweise geben, mit Wenn und Aber versprechen, immer die Hoffnung auf Beute anfachen, nie sie ganz erfüllen ... Dann wären sie vor ihm gekrochen, dann hätten sie jede Ohrfeige geduldig eingesteckt, die Herren vom Schwertadel! ... Jede Ohrfeige? ... Trettach fiel ihm ein, der Mann mit der durchschossenen Schläfe. Hatte der den Schlag von ihm geduldig hingenommen? Gab es vielleicht doch zweierlei Adel, wie es zweierlei Juden gab? Steckte im Adel doch ein unverwüstlicher Kern, eine feste Phalanx der Edelsten, die, furchtlos und stark, ihre Ehre rein hielten, die, wenn sie im Sturm der Leidenschaft fehlten, wenn ein anderer ihre Ehre besudelte, mit fester Hand die Rechnung ausglichen, so oder so? Eine dumpfe Ahnung stieg in ihm auf, daß der echte Adel, der wahre Aristokrat, ein Alex Holm, ein Trettach, sich niemals mit ihm gemein gemacht hätte, wie der wahre Jude sich nie zum »Grafen Cohn« gewandelt, nie sich in hohe Kreise eingedrängt, sein Geld um fremder Schmarotzer willen vergeudet, nie einer Komteß sich verlobt und ihr zuliebe seinen Glauben abgeschworen hätte; eine Ahnung, daß Adel und Judentum nicht wie zwei aufeinanderprallende Gletscher knirschend, Brust an Brust, die Kraft ihres Stoßes aneinander messen, sondern für Ewigkeit aus weiter Ferne, aus steiler Höhe sich grimmig messend nur mit dem schmutzigen Schutt ihrer Moränen sich verächtlich streifen.

Langsam nahm er den Revolver aus der Tasche.

Er war sich nicht klar, was er tat. Er glaubte aus dem Zwange der Verhältnisse die Konsequenzen zu ziehn, wie sie sein eigen Denken und Empfinden, sein Ehrgefühl ihm zwingend gebot; und er hatte kein Bewußtsein davon, daß er auch in dieser letzten, ernstesten Stunde der Komödiant des Lebens blieb, der zu den Höherstehenden hinaufschielend sein Tun und Handeln nach ihrem Richterspruch bestimmte, – wußte es nicht, daß der Mann, den er am meisten gehaßt, den er selbst in den Tod getrieben, auch jetzt noch sein Vorbild war, aus dem Grab heraus die Faust reckte und ihm die Waffe in die Hand drückte. So zwingend beherrschte ihn der Gedanke an Selbstmord, der, seiner innersten Natur von Grund aus fremd war, der Anschauungen entsprang, die er künstlich, gewaltsam in sich eingesogen, daß er darüber ganz vergaß, an sein Heim, an sein totes Weib zu denken, sich nicht einmal fragte, ob sein Kind ein Mädchen oder ein Sohn, ob es lebte oder der Mutter gefolgt war. Er sah nur seine rasenden Gläubiger, glaubte jeden Augenblick den Wagen von nervigen Polizeifäusten angehalten, sich als Betrüger verhaftet zu sehn, erblickte sich auf der Anklagebank, im Zuschauerraum alle die höhnischen Gesichter, die ihm einst zugenickt und die ihm jetzt die Sträflingshaft in enger Zelle von Herzen gönnten.

Er spannte den Revolver.

Und im Angesicht seines Endes überkam ihn ein stolzes, glückliches Gefühl. Sie hatten ihn mit seiner eigenen Klinge gefällt, die Herren vom Adel, aber im tödlichen Stoß sich selbst die Sehnen zerschnitten. »Ihr Juden nehmt Zinsen, wir Christen das Kapital,« hörte er den Grafen Alex Holm an jenem ersten Abend spöttisch sagen. An seinem Kapital würden die Christen nicht viel Freude erleben. Er sah eine ganze Reihe von Prozessen voraus, in denen der Konkursverwalter die Schenkungen des Toten anfechten und für die Masse zurückfordern würde. Er sah den Hofprediger die Hände ringen, Tante Thekla in höchster Ungnade; er sah vor allem den Hofmarschall vor sich, dem der Preis für seine Schlauheit aus den Händen glitt, der niemals sein famoses Pantheon vollendet sehn, der als pensionierter Hofbeamter ohne die fette Rente für den Rest seines Lebens, ein stiller, verzweifelter Mann, innerlich verbluten würde. Mochte der Mantel fallen, wenn nur der Herzog nach mußte! Er dachte an alle die Zechgenossen, die betrogenen Betrüger, die bunten Offiziere, die der getaufte Jude sich gehalten, wie früher die Fürsten sich bunte Narren leisteten. Und zum ersten Male in seinem Leben weitete sich sein Blick, erkannte er, welche Unzahl Menschen gleich ihm »Graf Cohn« waren, Schwächlinge, die vor Sehnsucht nach dem, was ihnen versagt ist, kranken und vergehen ...

Er hob die Waffe.

Für einen Augenblick begannen seine Gedanken sich zu verwirren. Er sah die Hofkirche vor sich, laut schallte es durch das Schiff: »Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden ...« Und Heinrich Heine rief höhnend dazwischen: »Ich bin ein Jude, ich bin ein Christ ..., und der Kaiser, der Kaiser gefangen!« Dann rauschte Orgelklang auf, deutlich klang Prinz Lothars Stimme vom Altar her: »Aufgeschnittene Exemplare werden nicht zurückgenommen,« während Dora in Schleier und Kranz neben ihm kniete und leise wimmerte: »Ich bin so müde, – muß ich mir das bieten lassen?« Plötzlich stand zähnefletschend ein riesiger Bulldog vor ihm, sprang auf ihn ein, verbiß sich in seine Kehle, – der Dom verschwand, keuchend lag er in der Synagoge. Und gellend scholl ihm seines Volkes Schrei ins Ohr: »Verflucht seist du bei Tag und Nacht! Verflucht, wenn du gehst, verflucht, wenn du kommst! Möge dir Gott nie vergeben ...!« Immer lauter scholl das Fluchen und Heulen, reckten sich ihm die wütenden, mit den Gebetriemen umwickelten Arme entgegen, drangen, schlugen sie rasend auf ihn ein ...

Und dann, mit einem Schlage, wie wenn des Orchesters Sturm jäh abbricht und nur eine einzige schluchzende Geige schwermütig in langem, sehnenden Ton fortklingt, wie wenn das kochende Meer plötzlich vor dem heranziehenden Wettergrollen den Atem anhält, dachte er wieder klar, überfiel ihn eine köstliche Ruhe. Er war unterlegen an seinen eigenen Fehlern, an denen seiner Rasse, unterlegen, weil er, ein einzelner Mensch, mit schwachen Kräften den Kampf gegen eine ganze Kulturwelt gewagt; mochte sie gut oder schlecht sein, sie war, und sie war stärker als er. Er war gescheitert als Mensch, als Gatte, als Jude. Aber er bereute es nicht; er hatte doch einen köstlichen Kampf gekämpft, einen Traum geträumt, so übermenschlich schön, daß kein Erwachen, kein Leid, kein Tod ihm den Blütenrausch der Erinnerung nehmen konnte. Er hatte gefehlt in Liebe und Haß, in Sehnsucht und Verzweiflung, aber er nahm die Strafe mutig auf sich. Vergessen war alles Böse, was einst aus seiner kranken Seele emporgequollen, vergessen das Weh, das sie ihm angetan, sein Weib, der Mann unter dem grünen Rasen, – in dieser letzten Spanne seines Lebens stand es wieder vor ihm, das Mädchen aus der Fremde, dort unten auf der flammenden Bühne, zum Greifen deutlich. Rotblond das Haar, tief hinab die schimmernde Flut bis in die Kniekehlen ... Ein hellblaues Kleid, von Schneeglöckchen über und über bedeckt, hüllt sie ein; aus dem gerafften Schoß ihres Gewandes blüht der Blumen Fülle, aus ihrer hocherhobenen Hand ranken sie sich tief hinab. Lächelnd blickt sie ihn an ... Und sieh, jetzt steigt sie herab in den dunklen Saal, an der Herzogin-Mutter vorbei, den langen Gang hinauf, zu ihm, ihm, Isidor Cohn!

Der Wagen kreuzt die Überführung der Eisenbahn, ein Zug fährt rasselnd oben entlang.

Im Wagen fällt ein Schuß. Der Kutscher hört ihn nicht.

Drinnen ist Isidor vom Polster herabgesunken, die Wunde an derselben Stelle wie Trettach. Ein Blutstreifen, der sich wie ein Band über sein Hemd legt, wie das heißersehnte rote Band des Viktor-Ordens, rinnt langsam, feierlich herab. Sein Kopf beugt sich tief und tiefer, wie in Ehrfurcht vor der unsichtbaren Majestät des Schicksals.

Knirschend fährt der Wagen über den Kies und hält vor dem Portal.

Oben aber liegt Dora tot. Ein Kind ist geboren, ein Knabe, der schlummernd in der Wiege ruht

Im Sterbezimmer sitzt die weinende Recha; sie liest den Psalm, der Juden und Christen ein Kleinod ist. Mit lauter Stimme liest sie ihn, und es scheint, als lausche die Tote mit ihrem leicht zur Seite gewandten Haupte den Worten, die seit Jahrtausenden die Menschheit in Jammer und Leid erquickt haben:

Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir ...
So du willst, Herr, Sünde zurechnen,
Herr, wer wird bestehen?
Denn bei dir ist die Vergebung ...

Sie läßt die Hände in den Schoß gleiten. Dann tritt sie zur Wiege des Kindes, das sich ängstlich regt, und nimmt es auf ihre Arme.

Die Nacht ist zögernd gewichen, ihr auf den Fersen schwingt sich die Morgendämmerung über, die traumbefangene Welt.

Regungslos starrt Recha auf das Neugeborene. In seinen Adern fließt Judenblut und Aristokratenblut. Wird Isidors und Doras Kind den Zwiespalt überwinden? Wird es als Auslese zweier Rassen das Leben wahrhaft meistern? Wird es doppelt belastet, doppelt krank an seinem Erbe verbluten?

Sonnenlicht bricht durch den Nebel, übergießt das junge, blühende Weib mit goldgesponnenen Strahlen und küßt das kleine elternlose Kind. Und aufschluchzend, wie um Erbarmen flehend, hebt Recha den schlummernden, unschuldigen Knaben auf ihren reinen, starken Armen empor, dem neuen Tag, der neuen Zukunft entgegen ...

 

*


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