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Und unter dem verwirrenden Einfluß der neuen Eindrücke ging eine Änderung mit Isidor vor. Er glaubte sich plötzlich von seiner Leidenschaft zu Dora geheilt. Die Erschlaffung, die seine Sorgen und die durchzechten Nächte mit sich brachten, täuschte ihn über seine eigenen Empfindungen. Die zynische Verachtung, die aus den Reden seiner Freunde gegen die Weiber durchklang, tat ihm jetzt wohl. Er wollte es sich nicht gestehen, aber er fühlte es doch im tiefsten Herzen: Hätte er ein Mädchen aus seinen Kreisen, seines Glaubens geheiratet, nie hätte er sich das bieten lassen, was Dora ihm angetan. Aber er hatte Furcht vor der hochgeborenen Komteß, Furcht vor der vornehmen Dame, die in der Atmosphäre des Hofes aufgewachsen war, während in ihm der Geist der Vorfahren noch spukte, die, den Riemen um den Arm, sich im Gebet in der Synagoge wiegten. Und wieder, wie schon einmal vergeblich, suchte er sich innerlich ganz von Dora frei zu machen, rief er seine Phantasie zur Hilfe, um ihr Bild zu trüben, für immer aus seinem Herzen zu reißen. Er suchte sie sich vorzustellen, dreißig, vierzig Jahre älter, fett und runzlig; dann wieder als arme Dirne, in Lumpen, mit zerrissenen Schuhen; er malte sie sich im Geiste aus, nach stürmischer Liebesnacht, blaß, mit entzündeten Augen, zerzaustem Haar, er selbst gesättigt, übersättigt von ihr, wie er es von der kleinen niedlichen Kitty geworden war. Und er schwor sich: War Doras Waffe das Versagen, so sollte die seine der Verzicht sein. Und um sich in seiner Umwandlung zu bestärken, nahm er in einer Art Galgenhumor eine forcierte, übertriebene Lustigkeit an. Fremde Herren, denen er kaum vorgestellt, suchte er an den Haaren in sein Haus zu ziehn. Selten ein Abend, an dem er daheim blieb, der nicht das Haus von Lärm erfüllt sah, – von Gästen, die den Hausherrn mehr oder minder verblümt aufzogen und der jungen, stillen und doch so liebenswürdigen Hausfrau ihre ehrliche Huldigung erwiesen. Es schien, als ob die ganze Gesellschaft der Residenz sich das Wort gegeben hätte, Dora mit Liebe und Nachsicht zu umgeben, hartnäckig in ihr die Gräfin Holm, nicht die Frau Cohn zu sehn. Und Isidor duldete es in seiner Eitelkeit gern, wenn seine Frau als Gräfin behandelt und angeredet wurde, wie er sich ja ohne Widerspruch den »Grafen« gefallen ließ.

 

»Wissen Sie, Graf Cohn,« apostrophierte ihn eines Sonntags beim Frühschoppen ein junger Husar, »bei uns im Kasino ist eine leere Wand, wie geschaffen für ein Konterfei des Herzogs. Worauf Sie hierdurch freundlichst hingewiesen werden.«

Cohn, der sich schon als Stammgast fühlte, sah ihn gelassen an: »Passen Sie gut auf, Herr Leutnant! Sobald ich Gelegenheit habe, mir als Ihr Gast die Wand selbst anzusehn, stifte ich das Bild. Worauf Sie hierdurch freundlichst hingewiesen werden.«

Der Leutnant war Regimentsadjutant und benutzte die nächste passende Gelegenheit, um bei dem Kommandeur anzuklopfen, – dem Nachfolger des Obersts von Gemmen, der inzwischen eine Brigade bekommen und die Residenz mit seiner neuen Garnison vertauscht hatte. Der neue Kommandeur, der von den Vorgängen nichts erfahren, jedoch die günstige Stimmung des Hofes Isidor gegenüber kennen gelernt hatte, sagte nicht ja, nicht nein. Es war bedenklich, ein Porträt des regierenden Herrn abzulehnen, ebenso bedenklich, sich dem pp. Cohn, einem ihm unbekannten jüdischen Herrn, zu verpflichten. Schließlich erklärte der Kommandeur: Die Sache interessiere das Regiment als solches nicht, solange sie nicht an das Kommando offiziell herantrete. Er betrachte das Angebot also als eine private Schenkung an einen einzelnen Offizier. Gegen die Plazierung des Bildes seitens dieses Offiziers im Kasino habe er an sich natürlich nichts einzuwenden. Und das Unglaubliche geschah: An einem Bierabend mit Gästen, wie ihn die Leutnants des Regiments regelmäßig unter sich veranstalteten, saß sechs Wochen später Isidor Cohn im Kasino des Regiments zwischen dem Adjutanten und Sternau, und der erstere brachte einen halb begeistert, halb belustigt aufgenommenen Toast auf den gütigen Stifter des Ölbildes aus. Aller Augen richteten sich während der Ansprache auf das Bild, das auf dem unteren Rande des Goldrahmens eine Widmungsplatte trug, die den Namen des Spenders für ewige Zeiten im Regiment unsterblich machte. Isidor hörte dem Redner mit Entzücken zu. Immer von neuem fragte er sich, ob das Unfaßbare Wahrheit war, ob er, Isidor Cohn, sich wirklich als Gast im Kasino der Leibhusaren befand. Mit gespannten Sinnen beobachtete er alles, was um ihn herum vorging. Er sah einmal, wie ein Fahnenjunker diensteifrig aufsprang, um einem der Herrn die Zigarrenlampe zu reichen, und sofort nahm Isidor den gleichen Betrieb in großem Maßstabe auf. Wo er irgendeine nichtbrennende Zigarette oder Zigarre vermutete, fuhr er hoch und bot Feuer an, so daß ihn einer der Leutnants unter allgemeinem Beifall »Aladin mit der Wunderlampe« taufte. Daß ein blutjunger Gemeiner, den er als Ordonnanz ansah und wegen eines ausgebliebenen Schnapses im schneidigen Ton der Offiziere anschnauzte, ein eben eingetretener Junker aus einem der ersten Geschlechter des Landes war, merkte Isidor überhaupt nicht; auch nicht den Irrtum, daß er die ihm fremden durchweg adligen Offiziere, die sich ihm ohne Nennung des »von« vorstellten, schlankweg als bürgerliche anredete. Ebenso machten ihm die Chargen Schwierigkeiten, um so mehr, als er den hochgewachsenen Husaren beim Stehen nicht auf die Achselstücke blicken konnte. Er memorierte daher beständig die Aufschlüsse, die die Antworten der Junker an die Offiziere ihm gaben, ohne jedoch Verwechslungen vermeiden zu können. Schließlich half er sich, indem er zu dem fehlenden Adel noch die Charge wegließ, was natürlich eine schrankenlose Heiterkeit entfesselte ... Die häufigen Lachstürme setzte er wieder auf Rechnung seiner Unterhaltungsgabe und glaubte völlig auf der Höhe der Situation zu stehn. Nur einer der Offiziere, Herr von Seddin, der Isidor schon in der Weinstube stets geschnitten hatte, hielt sich dauernd von ihm fern; um so eifriger umwarb ihn dieser, ohne daß jedoch sein Liebesmühen irgendwelchen Erfolg hatte. Nur als Isidor einen abgleitenden Bissen hastig mit dem Messer in den Mund brachte, redete ihn Seddin an und fragte laut: »Sie sind wohl beim Gabelfrühstück, Herr Cohn?« Isidor glaubte in den Boden sinken zu müssen; und er dankte Gott, als ein anderer Offizier ihm eine Antwort ersparte, indem er über den Tisch hinweg fragte: »Eins verstehe ich nur nicht, Graf Cohn, warum sind Sie noch nicht Kommerzienrat?«

»Ich danke,« entgegnete Isidor, schon wieder hochtrabend, »das ist ja jeder Schnorrer heutzutage.«

»Und warum wollen Sie da eine Ausnahme machen?« warf Seddin eisig ein.

Isidor lachte krampfhaft. »Herr von Seddin,« antwortete er kriechend, »sehr liebenswürdig sind Sie gerade nicht. Aber Ihnen nehme ich nichts übel, für Sie könnte ich ins Wasser springen.«

»Sie würden mich dadurch zu Dank verpflichten,« antwortete der.

»Ins rote Meer,« bemerkte ein Leutnant witzig.

»Hoho, ich bin Christ, Herr Leutnant,« entgegnete Isidor stolz. »Wenn Sie befehlen, zeige ich Ihnen mein reines Hemd.«

»Schimpfen Sie nicht auf die Juden,« unterbrach ihn Seddin schroff, »das klingt semitisch.«

Es war selbstverständlich Ehrensache für die Leutnants, den Gast nach allen Regeln der Kunst »einzuseifen«.

Isidor hielt jedoch zunächst tapfer stand; er war jetzt alkoholisch bereits ziemlich geaicht. Allmählich aber, als die Stimmung immer mehr und mehr stieg, blieb auch er nicht nüchtern. Die Begeisterung erreichte ihren Höhepunkt, als er die Offiziere, mit Ausnahme von Seddin, der es ablehnte, mit echtem Sekt traktierte; und endlich stand fast alles derart unter Alkohol, daß einer der Husaren, ein Leutnant von Hagen, sich mit Isidor unter dem Tisch zusammenfand und beide sich umarmend in stammelnden Worten Brüderschaft schlossen. Schmerzlich war nur der Umstand, der in der ganzen Garnison die Runde machte, daß dieser Herr von Hagen, der erst neu ins Regiment gekommen war, als Isidor ihn am nächsten Sonntag beim Frühschoppen mit dem ostentativ betonten, vertraulichen Du begrüßte, vor versammelter Korona mit reichlich dummem Gesicht erwiderte: »Sagen Sie mal, Sie, wie heißen Sie denn eigentlich?«

Erst im Morgengrauen brach Isidor auf. Er hatte sich inzwischen, auf ein Sofa im Lesezimmer des Kasinos gepackt, einigermaßen wieder erholt.

»Darf ich mich empfehlen?« wandte er sich in zudringlicher Liebenswürdigkeit an Seddin, der noch breit und unentwegt hinter seiner Burgunderflasche saß.

»Ich bitte sogar darum,« antwortete der grob, »Adieu!«

Der halbtrunkene Isidor lachte unter der Ohrfeige hell auf. Aber er hatte nicht den Mut, dem Offizier sofort mit gleicher Münze zu dienen. Dann aber faßte er sich und entgegnete frech:

»Sehr gern! Sie haben die Ehre, Herr von Seddin!«

Der sah ihn von oben bis unten groß an: »Seien Sie nicht so verschwenderisch mit Ihrem Geist, Graf Cohn!«

»Keine Angst, Herr von Seddin,« antwortete Isidor, »für uns beide langt er bestimmt noch.«

Und mit dem Gefühl, den letzten Schuß im Gefecht abgegeben zu haben, verließ er, schwankend das Kasino.

 

Doras Geburtstag war gekommen. Sie hatte sich über das Auto, das mit Blumen bekränzt in der Garage stand, aufrichtig gefreut. Auch sonst war ihr Tisch mit Geschenken überladen; Isidor hatte alles mögliche an Schmuck und Luxussachen für sie zusammengekauft, weniger weil er der Überzeugung war, daß Dora sie brauchen konnte, als um der vornehmen Gesellschaft, die sein Haus erwartete, zu imponieren.

Tante Thekla kam am Vormittag, ebenso der Hofmarschall. Graf Erich war in gehobener Stimmung; in wenigen Wochen sollte der erste Band seines Pantheons erscheinen. Gräfin Thekla war dagegen sichtlich deprimiert. Isidor hatte nach seiner Rückkehr von der Hochzeitsreise weitere Zahlungen an sie abgelehnt und sich nur bereit erklärt, seine Beiträge unter seinem eigenen Namen direkt an die Kassen der wohltätigen Institutionen zu senden. Das war ein schwerer Schlag für die Gräfin Thekla gewesen, die bisher dank Isidors Hilfe als die erfolgreichste Förderin der humanitären Sammlungen in der Residenz gegolten hatte. Und seltsamerweise übertrug sie ihre Verstimmung auch auf Dora, ohne einen Grund hierfür zu haben; sie ließ sich seltener und seltener sehn, und als sie zur Gratulation kam, waren wohl vier Wochen seit ihrem letzten Besuch verflossen.

Dafür sah Isidor sie um so öfter in den Sitzungen der Wohltätigkeitskomitees. Auch hier führte er jetzt das große Wort, ohne das Mißbehagen zu bemerken, das sein vorlautes, herrisches Wesen oft erweckte. So oft eine Maßnahme mit Rücksicht auf die Kosten nur in beschränktem Umfange durchgeführt werden sollte, erbat er sich von der Vorsitzenden das Wort, tadelte alles, was die Berichterstatter vorschlugen, suchte jeden Beschluß über den Haufen zu werfen, widersprach jedem Einwand und bewilligte eigensinnig aus seiner Tasche die Mittel, um seine Vorschläge zur Annahme zu bringen. Man empfand ihn als ungemein lästig, aber man konnte ihn nicht entbehren und stimmte ihm schließlich aus materiellen Gründen zu. Kam dann in den nächsten Tagen der Bote, der das Geld einzog, so machte Isidor sich lebhafte Vorwürfe; dennoch aber ließ er sich immer wieder hinreißen über sein Wollen und über seine Mittel hinaus zu gehn.

Als am Abend die elektrischen Flammen die Villa in Tageshelle tauchten, wogte eine glänzende Gesellschaft durch die mit Palmen und Blumen überreich geschmückten Räume. Die einen waren aus Neugierde erschienen, um die Einrichtung zu sehen, von der in der Residenz so viel gefabelt wurde, die anderen aus Teilnahme für die Gräfin, die übrigen, weil sie sich dem freigebigen Kneipgenossen verpflichtet fühlten oder förmlich zum Kommen gepreßt worden waren. Dora erregte in ihrem weißen Spitzenkleide, eine gelbe Rose an der Brust, allgemeines Entzücken. Sie war als junges Mädchen so gut wie nie in die Öffentlichkeit getreten, und wie an jenem Wohltätigkeitsfest, bei dem Isidor sie zum erstenmal gesehen, machte sie auch heute Sensation, so daß Isidor manches scherzhafte Wort scheinbaren und ehrlichen Neides über sich ergehen lassen mußte. Unter den Gästen befand sich einer, der nur gekommen war, um durch sein Fernbleiben kein Aufsehen zu erregen, obwohl die Trauer um den Großvater eine genügende Entschuldigung gewesen wäre. Finster sahen die grauen Augen des Freiherrn von Trettach aus dem scharfgeschnittenen Kopf, an dem jeder Zug von eiserner Energie sprach. Er hatte sich von dem Hause Cohn bisher unter allerhand Vorwänden ferngehalten, – er konnte Dora nicht vergessen. Auf seiner einsamen, kleinen Station dort unten, wohin er in sechswöchentlichem Marsche von der Küste gezogen war, von der er acht Tage einsam durch den Wald reiten mußte, um einen Weißen zu sehen, wo niemand seine Sprache verstand, als in kargen Brocken der schwarze Dolmetscher, – dort hatte er übergenug Zeit gehabt, an die ferne Heimat, an den Abschied von Dora zu denken, dort war sie seines Herzens Seligkeit geworden. Damals, als er aus tiefer ehrlicher Liebe zu ihr es nicht gewagt, ihre blühende Jugend als Geschenk zu nehmen, damals, als er auf den breiten Wogen des Ozeans in die Ferne zog, durch Steppe und Urwald wanderte, in schweigenden Nächten nach Norden blickte, – damals erst, als er sie verloren, wußte er, was sie ihm gewesen. Und von dieser Stunde an bereute der Mann seinen Edelmut. Immer nagender fraß ihm der Schmerz am Herzen. Sie war frei gewesen, niemand angelobt, und die Erinnerung an ihres schimmernden Leibes Süße war über Meer und Berge mit ihm gezogen, wie die russischen Bataillone ihr Heiligenbild vor sich her in die Schlacht tragen. Er wußte nicht, ob ihn das tückische Fieber wieder heimlassen würde, ob nicht die Lanze schon geschliffen, die ihm bestimmt war, wußte nicht, wie er sie wiederfand. Monate brauchten die Briefe ... Wo war sie jetzt? Lag sie in ihrem schlichten, jungfräulichen Stübchen allein, in Liebe oder in Haß an ihn denkend, aber doch denkend an ihn? Oder ruhte sie in den Armen eines fremden Mannes, lachend ihn mit den Schätzen überschüttend, die er in unbegreiflicher Scheu verschmäht? ... Und als endlich das Schiff, den Heimatwimpel am Heck, wieder mit ihm nach Norden zog, eilte sein Herz ihm voraus, zu ihr, die er nicht vergessen hatte, nicht vergessen konnte ...

Er fand sie, als er heimkam, als Braut, als das künftige Weib des getauften Juden.

Und ein unsäglicher Zorn, eine grimmige Verzweiflung erfüllte sein enttäuschtes Herz. Er wollte ihr aus dem Wege gehn, so weit er konnte; aber traf er sie, so würde er ihr nichts schenken, ihr offen seine Verachtung zeigen.

Nur an ihrem Hochzeitstage hatte er sich beherrscht, ihr Glück gewünscht. Ihm selbst war damals zu elend zumute gewesen, wenn er daran dachte, daß dieser Mensch dort neben ihr in wenigen Stunden sie besitzen sollte.

Heute begrüßte er den Hausherrn eisig, wie einen gleichgültigen Menschen, der einem zufällig über den Weg läuft. Isidor fühlte sich verletzt und doch wieder erfreut; denn er sagte sich, daß der Offizier, wenn er an Dora noch dächte, sich an ihn anschließen, in seinem Hause dauernden Verkehr suchen würde. Und ruhigen Herzens führte er ihn durch die lange Zimmerflucht der Hausfrau zu.

Dora hatte seit Wochen vor diesem Augenblick gebangt. Sie war entschlossen, Hans Joachim unbefangen entgegenzukommen, als sei die Stunde, von der nur sie und er auf weiter Welt wußten, nichts als ein Traum gewesen. Sie ahnte, daß ihr Mann sie beide beargwöhnte, sie mit Luchsaugen beobachten würde. Die Tatsache, daß er noch niemals den Namen Trettach ausgesprochen hatte, obwohl dies doch so nahe lag und er gewiß von jenem Gerücht gehört hatte, das sie mit Hans Joachim in Verbindung brachte, bestärkte ihren Verdacht. Sie konnte nicht begreifen, woher jenes Gerede entstanden war; sie wußte eben nicht, daß nichts sich so leicht verrät, als heimliche Liebe, die wie Blumenduft unmerklich ihre Kreise zieht.

Als Trettach sich in seiner neuen Husarenuniform, mit dem schwarzen Flor um den Arm, über ihre Hand beugte, sahen hundert neugierige Augen nichts als ein Bild korrektester Höflichkeit.

Dann trat er sofort zurück.

Sie hatte ihm bei dem glänzenden Mahl, das kurz nach seinem Erscheinen begann, einen Platz gegeben, von dem aus er sie nicht sehen konnte. Sie hätte es nicht ertragen, seinen Blick auf sich lasten zu fühlen. Mit allen Kräften suchte sie den Groll gegen ihn, den sie zwei Jahre lang vergebens in sich geschürt hatte, in Flammen auflodern zu lassen, ein seltsamer Schauer überlief sie, wenn sie daran dachte, daß sie wieder in einem Raume mit ihm war, dieselbe Luft mit ihm atmete, und sie fühlte, wie ihre Glieder langsam erschlafften, wie eine quälende Unruhe sie trieb, mit ihm zu reden, ihm in die Augen zu sehn.

Sie wachte wie aus einem Traum auf, als wieder der Toast auf das »Haus Graf Cohn« in ihr Ohr schallte.

Erst spät nach Tisch, als eine anerkannte Sängerin des Hoftheaters die Arie der Elisabeth sang und alle Gäste um den Flügel bannte, fand sie ihn allein, im Rauchzimmer ihres Gatten. Sie blieb an der Tür stehn, jeden Augenblick bereit, bei der geringsten Störung zurückzutreten.

»Herr von Trettach!« sagte sie leise.

Er sprang auf. Seine Haltung hatte etwas unverkennbar Feindseliges. Er schwieg.

Sie hatte ihn fragen wollen nach allem, was die Jahre der Trennung ihm gebracht, sie brannte darauf zu wissen, welche Gedanken sich hinter seiner undurchdringlichen Stirn bargen, – sie wagte es nicht. Sie griff nach irgendeiner Anknüpfung. »Sie haben mir heute noch nicht Glück gewünscht,« sagte sie endlich.

»Ich brauche es Ihnen nicht zu wünschen,« antwortete er herb. »Sie haben es sich selbst gesucht, es selbst gefunden –, Frau Dora Cohn.«

Die Art, wie er ihren Namen aussprach, wirkte wie ein Peitschenhieb.

»Und Sie glauben, Herr von Trettach,« antwortete sie bitter, »einer Dora Cohn schulden Sie keine Rücksichten?«

Er wich aus. »Kommt Ihnen das ›Herr von Trettach‹ nicht seltsam vor?« fragte er zurück.

Sie lächelte einen flüchtigen Augenblick. »Ja,« sagte sie dann, »mir kommt der Herr von Trettach allerdings recht seltsam vor.«

»Es war einmal anders,« erwiderte er gereizt, durch die Zähne.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen,« antwortete sie, unsicher ausweichend. Seine schroffe Art machte sie ängstlich. Sie fürchtete jetzt eine Auseinandersetzung.

Die Zornesröte schlug ihm in das Gesicht, bis in die Stirn hinauf. Er vergaß sich. »Was ich meine?« grollte er. »Über zwei Jahre ist eine lange Zeit, – aber ich glaubte bisher doch, der Einzige gewesen zu sein, um den Dora Holm geweint.«

Sie trat einen Schritt zurück. »Hans Joachim,« antwortete sie mit zuckenden Lippen, »ich hielt dich für einen Mann von Ehre.«

Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Auf Ehre, wie sie in eurem Hirn sich malt, auf die verzicht' ich,« sagte er schroff. »Ihr gebt nur den Lumpen die Ehre, Ehre und Leib, die euch mit ihrem Gelde kaufen.«

Sie wollte ihm heftig antworten, aber sie hörte ein Geräusch hinter sich. »Tritt zurück, Hans Joachim,« flüsterte sie, ohne sich umzuwenden. »Ich danke,« setzte sie dann laut hinzu, »ich tanze nicht.«

Die Schritte gingen vorüber.

»Es gibt Dinge, Hans Joachim,« fuhr sie langsam fort, die Finger in die Portière gekrampft, »Dinge, an die wir nicht denken dürfen, und die wir doch nie vergessen, keinen Tag, keine Sekunde, an deren Erinnerung wir bis an das Grab zehren.«

Sie kämpfte mit den Tränen. Den ganzen Abend hatte sie darauf gelauert, ein flüchtig Wort von ihm zu erhaschen, das ihrem Leben neuen Sonnenschein gab. Bei seinem Anblick war aller Groll von ihr gewichen, wie der Nebel vor der Sonne vergeht, und nur der eine, heiße, leidenschaftliche Wunsch nach einem Zeichen der Liebe beherrschte sie. Sein verschlossenes Wesen brachte sie zur Verzweiflung. Sie verlor jede Überlegung; blaß, stammelnd wie ein Kind, das sich vor Schlägen fürchtet, stieß sie hervor:

»Es sollte nicht sein, Hans Joachim ... Und ich bin jetzt Frau ... und will rein bleiben ...«

»Ja, um Himmelswillen,« antwortete er schneidend, »wer hat denn etwas dagegen?«

Sie brachte keinen Laut hervor. Ihr war, als fiele sie in einen tiefen, tiefen Abgrund.

»Es gibt nun einmal Männer,« fuhr er fort, und die ganze Qual jener langen, furchtbaren Nächte unter dem südlichen Kreuz brach aus seinen Worten hervor, »Männer, die auf getragene Sachen verzichten.«

Sie bog sich unter dem Hohn. »Du bist schlecht, Hans Joachim,« sagte sie aufschluchzend.

Er war wie im Rausch, wie in jenen bangen Stunden, wenn die dunklen Kriegergestalten zu hunderten seine kleine, verlorene Schar umzingelten, immer näher, von Baum zu Baum huschend, den Tod an der Spitze ihrer Speere ... Eine einzige Minute der Vergeltung für jahrelange Folter, dann würde ihm leichter sein ...

»Ich hab' dich längst vergessen, Dora,« sagte er langsam, und wie Gifttropfen fielen die Worte von seinen Lippen, »hab' hier ein Mädel lieb, das nennt mich nicht schlecht ... Blond wie reifer Mais, mit sonnigen Augen und blitzenden Zähnen ... Die liebt mich toll, die küßt mich immer wieder, stundenlang, bis ihr die Lippen bluten. Dann läuft ein Schauer über ihren Leib ... Sie ist schöner als du.«

Ihr Trotz reckte sich unter dem Hohn auf. »Du lügst,« sagte sie, »du weißt ja gar nicht, wie schön ich bin.«

Er sah sie fest an. Beiden stand die Stunde vor Augen, in der sie ihm einst ihr Magdtum geboten.

»Um so besser,« sagte er dann hart, mit glühendem Haß in den Augen, »um so besser für Isidor Cohn.«

Sie blickte ihn an, und mit dem Instinkt des Weibes sah sie in seinem Haß die alte, unerloschene Liebe. Ihr Herz schwoll.

»Hans Joachim,« sagte sie demütig, »sei barmherzig. Ich bin doch auch nur ein Mensch.«

Ein rauschender Beifall klang bis zu ihnen hinein. Die Sängerin hatte geendet. Im selben Augenblick trat Isidor über die Schwelle. Seine Augen glitten mißtrauisch von seiner schweratmenden Frau zu dem kühlen, beherrschten Mann. Er argwöhnte etwas, aber er wagte nichts zu sagen. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl der Furcht, wie das Wild die Gefahr wittert, noch ehe es den Schützen erblickt. Dora schien tief erregt, – was war vorgegangen? Was jetzt, in dieser Stunde, – was damals, als Trettach schied? Und während seine Augen rastlos hin und her gingen, sagte er gewaltsam lächelnd, mit kriechender Höflichkeit:

»Sie sind kein Freund der Musik, Herr Oberleutnant?«

»Ich habe zwei Jahre lang die Stimmen des Urwalds gehört,« antwortete der Offizier hochmütig. »Mir ist es lieber, die Bestien schreien zu hören, als ein Frauenzimmer.«

»Und doch haben Sie darauf verzichtet, zu Ihren Bestien zurückzukehren?« fragte Isidor mit leichter Schärfe im Ton zurück. Er war gekränkt, – die Sängerin kostete ihn ein Heidengeld.

»Es gibt auch hier übergenug von ihnen,« antwortete Trettach mit völliger Ruhe und unheimlicher Bezüglichkeit. »Die drüben ziehe ich allerdings vor. Die schießt man ab, wenn sie einem im Wege sind.«

Isidor schwieg, er zögerte doch, den Offizier zu reizen. Dann aber siegte sein kochender Groll gegen den Gegner, und hämisch antwortete er:

»Und trotzdem holen wir uns noch die Bestien von Afrika herüber.«

Der Offizier verzog keine Miene. »Bestien und Weiber,« antwortete er, »alles dasselbe. Wir haben sie in nächster Nähe und holen sie uns doch aus weiter Ferne. Und dann sterben sie bei uns an Heimweh.«

Und ohne Isidors Antwort abzuwarten wandte er sich, um Dora den Arm zu bieten.

Sie war verschwunden.

 

Als der letzte Gast das Haus verlassen hatte, trat lsidor zu Dora. »Bist du zufrieden?« fragte er.

Sie saß in den dunklen Ledersessel des Rauchzimmers geschmiegt, denselben, in dem sie Trettach gefunden. Sie hielt beide Hände um ihre Kniee geschlungen, das leicht gewandte Haupt zeigte die feinen Linien ihres Halses und Kinns. Sie glich in ihrem weißen Kleide einer leichtgetönten Statue Klingers.

»Sehr!« antwortete sie lakonisch.

Noch nie, selbst nicht an ihrem Hochzeitstage, hatte er sie so schön gesehn. Er war von seinen ungewohnten Pflichten als Gastgeber, von seinem Wortduell mit Trettach erregt. Einen Augenblick flackerte wieder der Wunsch in ihm auf, sich auf sie zu stürzen, sie in Besitz zu nehmen, mit Gewalt, hier auf dem weichen Smyrna, unbekümmert um jede Störung, – sie zu packen, niederzuzwingen, und dann höhnisch ihr in die weinenden Augen zu blicken, als Herr, als Sieger ... Unwillkürlich trat er einen Schritt auf sie zu. Sie regte sich nicht. Er zauderte, er wich zurück ... Nein, er wagte es nicht. Ihn schauderte vor der Flut der Verachtung, die er Zeit seines Lebens in ihren Augen lesen würde. Und ein neuer Gedanke blitzte in ihm auf: Ihre Weigerung war der beste Schutz seiner Ehre; solange noch kein Mann sie erkannt, würde sie den Schatz ihrer Unschuld nicht vergeuden. Die Frau aber, die er geschändet, die würde sich rächen, sich zur Dirne machen, nur um mit dem Schlamm ihrer Sünde sein Heim zu besudeln.

Er vergaß, daß er hatte verzichten wollen. Er beugte sich vor ihr, er bat.

»Wann?« fragte er demütig, von fern, mit heiserer Stimme.

Sie dachte an Trettach. »Wann?« wiederholte sie flüsternd, mit sehnsüchtigem Ausdruck in den blauen Augen. Und noch einmal: »Wann?«

Er wagte nicht weiter zu fragen.

 

Und wieder, doppelt stark, packte ihn das alte verzweifelte Sehnen nach ihr, verstärkt durch die unbestimmte Eifersucht, die in ihm aufgeflammt war, durch keine Vernunft sich mehr beschwichtigen ließ. Er kannte jetzt seinen Feind, oder er glaubte ihn wenigstens zu kennen. Und das Gefühl der Machtlosigkeit dem ritterlichen Gegner gegenüber ließ ihn Höllenqualen erleiden. Wieder lauschte er auf jeden ihrer Tritte, schlich er sich heimlich in ihr Schlafgemach, küßte er mit zitternden Knieen das Linnen, das sich um ihren Leib geschmiegt, stahl er ihr heimlich das Glas, aus dem sie getrunken und preßte seine Lippen auf den Rand, dort wo ihr roter Mund ihn berührt ...

Und alles das, obwohl die graue Sorge in sein Haus gekrochen war.

Denn eines Tages klingelte ihn der Prokurist Weller an und bat ihn um sein Kommen.

Es war Ende September; die auf die stille Sommerzeit verlegte Inventur war beendet.

Er kam. Äußerlich kühl, reserviert – denn er hatte im Geschäft die Allüren eines Kavaliers angenommen – blickte er in die Bücher; aber innerlich schlug ihm das Herz. Sein Privatkonto war mit 150 000 Mark belastet: die Ankaufskosten und Reparaturen der Villa, die Einrichtung, die Ausstattung seiner Frau, das Wohltätigkeitskonto, der Haushalt, sein persönlicher Verbrauch, die Hochzeitsreise ... Dazu das Auto, für das er die Hälfte angezahlt, die Hälfte in wenigen Wochen erlegen mußte. Er überflog nochmals die Posten; es konnte nicht stimmen. Aber wieder kam er auf 150 000 Mark. Er ließ sich die Bücher geben, er verglich die Fakturen und Kassenbelege mit den Eintragungen, – umsonst! Und er sagte sich ehrlich, daß er in Zukunft, obwohl die Anschaffungen fortfielen, mit einem nicht viel geringeren Etat rechnen müßte. Allein das Auto, – und mit dem einen würde er nicht auskommen, das hatte ihm der Chauffeur schon klargemacht – kostete Tausende jährlich; der Haushalt, wie er nun einmal im Rahmen der Villa eingerichtet war und durchgeführt werden mußte, verlangte das Einkommen eines Millionärs. Sollte er Dora nach kaum fünfmonatlicher Ehe zur Einschränkung zwingen? Er schreckte davor zurück.

Dazu kam die Festlegung von 300 000 Mark zu ihren Gunsten, die das bisher schuldenfreie Geschäftsgrundstück belasteten. Nach all den Ausgaben des vorigen Jahres war sein Privatvermögen so gut wie erschöpft, war er fast ganz auf sein Geschäft angewiesen. Und dieses war im letzten Jahre wesentlich zurückgegangen.

Und nun noch das Pantheon, das große, zehnbändige Werk! In einigen Tagen mußte der erste Band erscheinen. Das Zirkular, das in hervorragender Ausstattung die Novität als einen »Schatz« anzeigte, »der in jedem patriotischen Hause den Ehrenplatz einnehmen müsse«, war völlig wirkungslos geblieben; eine Lieferungsausgabe, die vielleicht einen besseren Erfolg gebracht hätte, hatte der Hofmarschall entrüstet, auf seinen Kontrakt gestützt, als der Würde des Werkes widersprechend abgelehnt. Auch die Kosten dieses Bandes mußten in Kürze bezahlt oder durch Akzepte gedeckt werden.

Der Bilanzabschluß einschließlich des Haushaltkontos, in dem alle Privatanschaffungen – Einrichtung und anderes – mit fünfzig Prozent des Kaufpreises, die Villa zum Ankaufspreise eingesetzt war, ergab eine kleine Unterbilanz.

Isidor entschloß sich, um allen Eventualitäten zu begegnen, die Bilanz zu ändern. Er setzte statt der fünfzig Prozent Abschreibungen nur zehn ein; er ließ die Villa amtlich taxieren und den sich ergebenden Mehrwert von 20 000 Mark gegen den Ankaufspreis als Aktivum einsetzen; endlich bewertete er das Verlagsrecht des Pantheon mit fünfzigtausend Mark. Statt einer Unterbilanz ergab sich jetzt eine Überbilanz von rund fünfundsiebzigtausend Mark.

Aber Isidor gestand sich angesichts dieser Zahlen doch ehrlich, daß er im Begriff war eine schiefe Ebene hinabzugleiten, an deren Ende die Not stand. Und die Energie seiner Rasse, die Zähigkeit seiner Vorfahren, die so lange in ihm geschlummert hatte, regte sich plötzlich in ihm.

Er konnte seine Ausgaben nicht einschränken, also mußte er seine Einnahmen vergrößern. Und zum Staunen des Personals saß er jetzt jeden Tag von acht bis sechs im Bureau und suchte die schleifenden Zügel fest in die Hand zu nehmen, die Sünden des letzten Jahres wieder gut zu machen. Aber nach wenigen Wochen schon ließ er entmutigt die Hände sinken. Vom Prokuristen bis zum jüngsten Laufburschen stieß er auf einen stummen, aber hartnäckigen Widerstand. Das Personal hatte sich zu sehr daran gewöhnt, ohne den Chef zu disponieren, und sträubte sich mit aller Macht dagegen, seine Selbständigkeit aufzugeben. Verlangte Isidor eine Auskunft, so wurde sie ihm widerwillig erteilt; forderte er weitere Aufschlüsse, so sah er in mürrische Mienen oder spöttische Gesichter. Während er sich mühte, seine Existenz wieder auf feste Füße zu stellen, fühlte er sich ringsum von Feinden umgeben. Und dieses Gefühl täuschte ihn nicht; freilich hatte das Personal für sein seltsames Verhalten auch noch besondere Gründe. Seitdem Isidor mit den Offizieren in Berührung getreten war, hatte er die ihm gewaltig imponierenden militärischen Allüren nach Möglichkeit auf seinen Geschäftsbetrieb übertragen. Er liebte es, wenn die Gehilfen in halbwegs straffer Haltung mit ihm sprachen, er verlangte, daß die Hausdiener ihm mit: »Zu Befehl!« antworteten, daß der Mann, der die Nachtwache gehabt, der Portier, der die Feuerlöscheinrichtungen revidierte, und der »Markthelfer vom Dienst« jeden Morgen auf ihn warteten, um ihre Meldung bei ihm abzustatten, die er, mit der Hand zum bloßen Kopf fahrend, entgegennahm. Dieser ungewohnte Zwang machte das ganze Personal immer unlustiger und widersetzlicher, und schließlich fand es von Tag zu Tag mehr Vergnügen darin, jede Absicht des unbeliebten Chefs heimlich zu durchkreuzen.

Der erste Band des Pantheon erschien. Das Sortiment versagte völlig; nur wenige bedingte Bestellungen liefen ein, fünf Exemplare wurden fest verkauft. Dabei hatten die Kosten des ersten Bandes durch das beständige Drängen des Hofmarschalls nach prunkvoller Ausstattung, durch eine Unsumme von Korrekturen, neue Wünsche und Bestimmungen, denen Weller keinen Widerstand entgegensetzte, die pessimistische Kalkulation des alten Goldschmidt noch überschritten. Und schon war die neue Papiersendung für den zweiten Band avisiert.

Der Reisebuchhandel, der als entscheidender Faktor für den Absatz gegolten hatte, ließ ebenfalls das Werk fallen. Nach den Kosten des Bandes konnte der Verlag die von ihm verlangten hohen Prozente und Kredite nicht bewilligen, ohne von vornherein zuzusetzen. Auch war wenige Wochen vor Erscheinen des Pantheon ein populärwissenschaftliches Werk, »Himmel und Erde«, mit einem ungewöhnlichen Geschick auf den Büchermarkt geworfen, das glänzend einschlug und dem Reisebuchhandel für Jahr und Tag Gewinn versprach.

Bücher haben ihre Schicksale, die selbst der Tüchtigste nicht voraussehen kann. Und dennoch glaubte Isidor, wenn er mit düsteren Augen durch den Lagerraum ging, wo die Tausende von Bänden des Pantheon wuchtig, wie Cyklopenmauern, in hohen Stapeln den Weg versperrten, selbst in den Augen der Markthelfer die Schadenfreude zu lesen, den stummen Vorwurf, der ihm, dem unpraktischen Chef, die Schuld an diesem ersten Mißerfolg des Hauses Siegfried Cohn zuschrieb.

Und immer mehr sank sein Mut, immer rascher kehrte er in sein Heim zurück, wo alles Reichtum, Glück und Erfolg atmete.

Eine tiefe, hoffnungslose Niedergeschlagenheit bemächtigte sich seiner. Bis in den Schlaf hinein verfolgte ihn die Sorge. Oft träumte er, sein Vater läge im Sarge, der eben geschlossen werden sollte; und plötzlich richtete er sich in seinem Sterbehemd auf und forderte mit zornbebender Stimme sein stolzes Geschäft, sein stattliches Vermögen von dem entarteten Sohne zurück. Dann wachte Isidor mit kaltem Schweiß bedeckt auf.

Als ihm der Prokurist die Liste der am 1. Oktober fälligen Zahlungen vorlegte, schob er sie anscheinend gleichgültig beiseite. Und doch wurden ihm fast die Augen feucht. Er wußte: Er war in großer Verlegenheit.

Er dachte an Recha, an ihr Kapital. Aber das Testament des Vaters ließ keine Lücke, an ihr von Goldschmidt verwaltetes Vermögen war nicht heranzukommen.

Auch an Dora und die ihr verschriebene Hypothek dachte er; aber abgesehen, daß auch hier alles notariell festgelegt war, ließ ihn die Scheu vor ihr und vor dem Hofmarschall den Gedanken sofort verwerfen. Die Furcht vor dem Riesenskandal, wenn Graf Erich Holm unruhig wurde und Lärm schlug, wenn mit einem Schlage seine bedenkliche Lage vor aller Welt bloßgelegt, er als Blender und Schwindler hingestellt wurde, erfüllte ihn mit Entsetzen.

Dennoch kam er über den ersten Oktober hinweg. Er schrieb persönlich an seine Kreditoren, wies flüchtig auf die schlechten Zeiten und den Kapitalbedarf seines sich immer mächtiger entwickelnden Verlages hin und regulierte mit Wechseln, die anstandslos angenommen wurden. Der Hofmarschall erhielt auf die Minute pünktlich den Scheck über die fälligen fünftausend Mark.

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