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Ein graues, großes, verwittertes Haus. Links unten ein Gemüsekeller, aus dem keifende Stimmen herausklingen, rechts einige Stufen hinauf ein Friseurladen. Gegenüber ein Park, der zu den herzoglichen Gärten gehört. Die Treppe mit schmalem Läufer belegt, im zweiten Stock rechts ein Schild: GRÄFIN HOLM. Darunter eine Karte: In Angelegenheiten des Herzoglichen Hilfsvereins von 12-1.

Er läutete. Nach längerem Warten hörte er Schritte, ein Auge blickte spähend durch das kleine, runde Guckloch der Tür, die sich dann zögernd öffnete. Ein älteres, sauberes Mädchen, noch an der rasch vorgebundenen weißen Schürze knüpfend, stand vor ihm. Er fragte nach der Gräfin. Das Mädchen ließ ihn durch einen breiten, mit »uralter Väter Hausrat« vollgestopften Gang in ein Wartezimmer zur Rechten eintreten. Nur wenige Stühle standen in dem Raum, an der Wand hing Guido Renis Christuskopf mit der Dornenkrone.

Nebenan hörte er eine klagende weibliche Stimme:

»Den ganzen Tag sielt er sich auf dem Bett 'rum, die Schnapspulle neben sich, und wenn er voll ist, dann schlägt er auf mich los. Den Kindern predigt er immer: ›Nennt doch die Hure nicht Mutter!‹ Er hat ja gewußt, daß ich eins mitbrachte, von dem ich heut noch nicht weiß, wie ich dazu gekommen bin. Wenn er mich darum nicht für'n anständiges Mädchen hielt, dann brauchte er mich doch nicht zu nehmen. Haben tat ich ja so wie so nichts, als die Fetzen auf dem Leibe. Gestern hat er die Petroleumlampe nach mir geworfen, daß die Sachen der Kinder vor ihren Betten angebrannt sind ...«

Isidor hörte die Gräfin einige Worte einwerfen.

»Nein, keinen Groschen verdient er, der starke Mensch,« klagte die Stimme weiter, »und ich kann doch nicht stundenlang von den Kindern weg. Morgens, ehe die Großmutter zur Arbeit geht, bring' ich die Würmer hin und gehe bei einem Herrn reinemachen. Zehn Mark zahlt er den Monat; aber er heiratet jetzt, dann ist's auch zu Ende. Die alte Frau gibt den Kindern ihr letztes Stück Brot, die weint sich bald tot ... Ich bleib' nicht mehr bei ihm, Frau Gräfin, – so wahr ein Gott lebt, ich nehme die Kinder alle drei und geh' ins Wasser ...«

Isidor faßte einen großen Entschluß. Obwohl ihm die Befangenheit die Brust zuschnürte, ging er ohne Zögern über den Gang und klopfte an der Stubentür links.

»Herein!« rief die Gräfin.

Er öffnete und sah sie neben einer ärmlichen, noch jungen, aber durch Leid und Not frühzeitig gealterten Frau stehen, die sich mit ihrer groben Schürze die Tränen aus den Augen wischte. Die Gräfin schien über die Störung erzürnt, dann glättete sich plötzlich ihr Gesicht und sie sagte liebenswürdig:

»Ah, – Herr Cohn!«

Isidor hatte einmal etwas von drei bei Audienzen vorgeschriebenen Verbeugungen gelesen und bemühte sich nun dies Zeremoniell nachzuahmen. Er hatte den Pelz noch an, den Hut in der Hand. Ihm war heiß.

Endlich konnte er in seiner Erregung sprechen. »Verzeihung, gnädigste Gräfin,« stammelte er, »ich weiß es wohl, – ungeheure Kühnheit ... Bitte untertänigst mich nicht als zudringlich zu betrachten ... Ich hörte ohne meine Absicht die Leidensgeschichte dieser armen Frau hier ... Wenn eine kleine Spende – augenblickliche Not ... Ich wäre ungemein erfreut ...«

Die Gräfin wandte sich der Frau zu. »Sie sehen, Frau Richter,« sagte sie erhaben, »Gottes Güte ist unendlich. Er verzeiht Ihnen selbst die frevelhaften Worte, die Sie in unverzeihlichem Kleinmut soeben gesprochen. Der Allmächtige gab uns das Leben, nur Er in seiner unerforschlichen Weisheit darf ihm ein Ziel setzen. Und dennoch sendet er Ihnen seinen Engel ...«

Isidor hatte im allgemeinen wenig Humor; trotzdem aber kam er sich als Engel etwas wunderlich vor.

»Sie sind ein guter Mensch, Herr Cohn,« wiederholte die Gräfin die Worte des gestrigen Abends, »und Gott wird Ihnen Ihr Erbarmen lohnen.«

»Ich bitte ein für allemal, gnädigste Gräfin,« versicherte der entzückte Isidor, »ganz über mich verfügen zu wollen.« Und mit hastiger Hand überreichte er ihr sein Portemonnaie.

Die Gräfin nahm eine Doppelkrone heraus, zeigte sie Isidor und fragte: »Darf ich?«

Als dieser gerade in neue Beteuerungen ausbrechen wollte, läutete es. Dann hörte man ein kurzes Klopfen.

Isidor stockte der Atem. Seine Augen stierten auf die Tür, in den er im nächsten Augenblick Gräfin Dora zu erblicken hoffte. Aber ein hochgewachsener, alter Herr trat ein, dem das Silberhaar fast auf die Schultern fiel. Aus dem starkgebauten, glattrasierten Gesicht mit dem massiven Unterkiefer und der fleischigen Nase blickten zwei weltkluge, überlegene Augen. Die ganze Erscheinung erinnerte an die streitbaren Bischöfe des Mittelalters, die in Panzer und Eisenkappe ihre Fehden austrugen.

Die Gräfin stürzte förmlich auf den neuen Besucher zu. »Hochwürden, wie lieb von Ihnen,« flötete sie, jetzt ganz Demut und Zerknirschung, »wie unsäglich lieb! Und gerade zur richtigen Stunde kommen Sie. Gott der Herr hat Sie sichtlich geführt. Mein lieber, verehrter Herr Hofprediger, darf ich Ihnen einen neuen Freund unserer guten Sache, Herrn Cohn, vorstellen? – Herr Hofprediger von Stetten!«

Eine ganz kurze Pause trat ein. Die weltklugen Augen des Hofpredigers ruhten in stummer Frage auf der mit einem Mal errötenden Gräfin, während Frau Richter, das Goldstück in der Faust, sich in tiefer Rührung mit der Schürze die Nase schnaubte. Und die Blicke sprachen hin und her.

»Ein Jude?« forschten die hochwürdigen Augen.

»Aber mit viel Geld,« antworteten die der Gräfin.

»Und er will zahlen?« fragte er zurück.

»Soviel ich mag,« erwiderten die anderen siegesbewußt.

»Ein Christ wäre mir lieber.«

»Ich kann es leider nicht ändern.«

»Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

»Ihnen, Hochwürden, ist nichts unmöglich.«

Einen Augenblick ruhten die beiden Augenpaare fest, wie verankert ineinander. Ein stiller Gruß ging hin- und herüber. Und als sie sich trennten, hatten die beiden Menschen sich verstanden.

»Mein lieber Herr Cohn,« wandte sich der Hofprediger an Isidor mit gewinnender, fast weiblicher Anmut, die einen auffallenden Gegensatz zu seiner imponierenden Erscheinung bildete, »ich glaube nicht zu irren, wenn ich Sie als Israeliten anspreche.«

»Ich bin mosaisch, Herr Hofprediger,« antwortete Isidor verblüfft.

»Und ich freue mich dessen,« fuhr der Geistliche herzlich fort. »Sie sind mir ein neuer Beweis für die schon immer von mir verfochtene Anschauung, daß wahre Menschenliebe keine Schranken kennt, und daß wir ohne Ausnahme, über alle Vorurteile hinweg, uns zu dem Bruderwerk barmherziger Hilfe einträchtiglich die Hände reichen müssen. Möge der Herr Ihren Eintritt in unsere Bestrebungen segnen!«

Isidor war ziemlich unbehaglich zumute. Er hatte eine dumpfe Empfindung, als ob man statt des gebotenen Fingers seine ganze Hand nehme. Und er, dem alles, was mit Religion zusammenhing, stets widerwärtig gewesen war, fühlte sich auch dem christlichen Geistlichen gegenüber verlegen.

»Ich werde gern Gelegenheit nehmen,« fuhr der Hofprediger in natürlichem Plaudertone fort, »unsere teuren Hoheiten auf den neuen Freund unserer guten Sache aufmerksam zu machen. Besonders unsere Herzogin-Mutter wird zweifellos mit lebhaftem Interesse hiervon Kenntnis zu nehmen geruhen.«

Die Angel war geschickt geworfen, und der Fisch Isidor zögerte nicht zuzuschnappen.

Sein sonst so blasses Gesicht errötete. »Vielen Dank, Herr Hofprediger,« stotterte er. Und um sich aus der Verlegenheit zu retten, zog er seine Brieftasche, entnahm ihr ein Kuvert, hielt es der Gräfin hin und sagte leise: »Gestatten Sie mir, Frau Gräfin, mein Wort einzulösen.«

Gräfin Thekla drückte ihm stumm die Hand, dann gab sie mit leuchtenden Augen dem Geistlichen das Kuvert. »Hier, mein verehrter, lieber Herr Schatzmeister,« sagte sie mit Stolz, »ein Beitrag, der unser gestriges Fest rettet und manche Träne trocknen wird.«

Der Hofprediger öffnete wie zufällig die Hülle und warf einen geübten Blick hinein ... Tausend Mark!

»Herr Cohn,« sagte er mit bewegter Stimme und reichte ihm die weiße, wohlgepflegte Hand, »Herr Cohn, rechnen Sie ganz auf mich! Ich schätze mich glücklich, Sie kennen gelernt zu haben.«

»Gott hat mich gesegnet,« antwortete Isidor bescheiden, indem er nicht ungeschickt den pastoralen Ton kopierte, »so möchte denn auch ich segnen!«

Der Hofprediger nickte ihm beifällig zu und griff nach seinem Hut. Hatte er es aufgegeben, den Zweck seines Kommens mitzuteilen, oder war Isidor Cohn selbst dieser Zweck gewesen? – Dieser schwankte, ob er noch bleiben oder sich ihm anschließen sollte. Würde der geistliche Herr es nicht peinlich empfinden, mit ihm, dem Juden, zusammen sich sehen zu lassen? Stand ihm nicht eine neue Demütigung bevor?

»Kommen Sie, Herr Cohn,« sagte da der Hofprediger, »ich kenne Ihr Geschäftshaus, wir haben denselben Weg. Und ich möchte noch ein wenig mit Ihnen plaudern. Als aufrichtiger, alter Mann darf ich es Ihnen sagen: Ich habe Sie schon jetzt von Herzen liebgewonnen.«

Und wieder kreuzten sich die beiden Augenpaare im gegenseitigen Verstehen.

Isidor atmete auf. Und in seinem Hochgefühl wagte er es, wenn auch recht ungeschickt, der, Gräfin zum Abschied die Hand zu küssen. Aber ehe er ging, wollte er noch einen Beweis seiner Umsicht geben. »Behalten Sie das Geld für sich,« wandte er sich an die noch immer in der Ecke stehende Frau, »und verwenden Sie es für Ihre Kinder. Sieht es Ihr Mann, so sind Sie es los.«

Auf der Treppe hörten sie einen leichten Schritt, das Klirren von Stahl. Plötzlich tauchte Komteß Dora, im Chinchillabarett, das sie zu ihrem goldigen Haar entzückend kleidete, mit den Schlittschuhen am Arm vor ihnen auf. Sie verbeugte sich vor dem Hofprediger, der freundliche Worte zu seiner einstigen Konfirmandin sprach.

Den Hut in der Hand, wie eine Säule, stand Isidor beiseite, mit brennenden Augen heimlich auf das junge Mädchen starrend, das ihn nicht zu sehen schien.

Der Hofprediger wandte sich. »Liebe Dora,« sagte er mit milder Stimme, »ich weiß nicht, ob dir Herr Cohn bekannt ist.«

»Ich hatte den Vorzug,« sagte sie kühl und neigte ein wenig das Haupt. Und ohne ein weiteres Wort reichte sie dem Hofprediger die Hand und stieg die Treppe hinauf. Während sie an Isidor vorbeiging, grüßte sie noch einmal, fast unmerklich. Die blauen Augen blickten eisig an ihm vorbei.

Als Isidor heimkam, glich er der Verkörperung der alten, trügerischen Verheißung: »Und ihr sollt sein wie Gott« ... Er hatte genau gezählt, auf dem kurzen Wege durch die Viktorallee, am Marstall und an der Akademie vorbei, waren sie achtzehnmal gegrüßt worden. Der junge Herzog hatte im Vorbeifahren von seinem Selbstfahrer herab huldvoll mit der Hand gewinkt.

Und durfte Isidor nicht stolz sein? Er hatte mit starker Hand sein Schicksal gemeistert, in vierundzwanzig Stunden mit dem Hof, der Geistlichkeit und der Armee Fühlung gewonnen. Vergessen war das verunglückte Frühstück, der wortbrüchige Sternau. Was war ihm Hekuba, daß er um sie sollt' weinen? Und er nahm sich vor, den hochmütigen Husaren bei der nächsten Gelegenheit so steil abfallen zu lassen, daß der sein Lebtag daran denken sollte. Als einen Scherz in der Weinlaune wollte er das Gespräch hinstellen, als einen guten Witz, auf den der andere glänzend hineingefallen war. Und dann wollte er sich kurz abwenden und ihn wie einen dummen Jungen stehen lassen. Mit diesem freiherrlichen Oberleutnant war er fertig, – total fertig!

Als er die Flurtür mit seinem Drücker geöffnet hatte und in das Speisezimmer trat, erlebte er eine grenzenlose Überraschung. An einer. Ecke des noch ausgezogenen Eßtisches saß vor einer Serviette, die als Tischtuch diente, eine mächtige Hummerscheere in der einen, ein Sektglas in der anderen Hand, der Freiherr von Sternau und wollte sich bei Isidors Anblick vor Lachen ausschütten. Und neben ihm stand mit glänzenden Augen Recha, die stille, scheue Recha, eben damit beschäftigt, für ihren Gast ein Brötchen zuzubereiten, während Sternau, gemütlich sitzenbleibend, ihm sein Glas entgegenstreckte und kreuzfidel ein: »Prosit, Herr Cohn! Es lebe das Leben!« herausschmetterte.

Isidor versuchte den Verschnupften zu markieren.

Aber Sternau war gar nicht wiederzuerkennen. »Lieber Freund,« sagte er strahlend, »muckschen Sie bloß nicht! Seien Sie fidel, – wer weiß, wie nahe mir mein Ende! Ihr halbes Frühstück haben wir schon intus, den Rest holt mein Bursche heut abend ab.«

Isidor sah ostentativ nach der Uhr.

»Ein Uhr, elf Minuten und neunzehn Sekunden,« nickte ihm Sternau zu, »mitteleuropäische Zeit. Vor sechs werden Sie mich nicht los. Sehen Sie sich bloß meine Pelzmütze draußen nicht an, ich habe heut vom Oberst eins drauf gekriegt, daß ich's bis in die Hacken fühle. Um zwölf war die Hinrichtung aus, um viertel eins war ich hier und legte mich um Verzeihung flehend mit meinem knurrenden Magen Ihrem Fräulein Schwester zu Füßen. Dann haben wir den Kaviar mit Löffeln gegessen. Übrigens ein Engel, Ihr Fräulein Schwester ...«

Isidor mußte an die letzte Stunde denken, In der er ebenfalls zum Engel avanciert war.

»Husaren haben eine feine Witterung,« plauderte Sternau fort, »die riechen den Braten bis ins Regimentsbureau. Aber jetzt kann ich nicht mehr japsen, – allerseits gesegnete Mahlzeit! Wollen Sie sich noch ein Häppchen absäbeln, Herr Cohn, ehe wir einpacken? – Mein gnädiges Fräulein, es gibt ein Glück, das ohne Reu', sagte der Freßsack, als man ihm nach Tisch eine Import aufdrängte.«

Recha lachte und stand auf, um mit Zigarren zurückzukehren.

»Donnerwetter, Herr Cohn,« fuhr der unermüdliche Sternau, die Kisten musternd, fort, »Sie verstehen es, weiß Gott, sich kümmerlich durch's Dasein zu schlagen. Kommen Sie her, tun Sie, als ob Sie zu Hause wären. Wir sitzen so fröhlich zusammen und haben einander so lieb.«

Und vergnügt schenkte der Husar Isidor und sich ein und grüßte die erglühende Recha mit erhobenem Glase.

Es war Isidor unmöglich, der Herzlichkeit des Offiziers mit schlechter Laune zu begegnen; schon die Gastfreundschaft verbot es. Er gab jeden Widerstand auf. Es wurde ein reizender Nachmittag, wie ihn das Haus Cohn noch nicht erlebt hatte. Sternau erzählte unermüdlich Schnurren, kam vom Hundertsten ins Tausendste, immer mit seiner glücklichen, gewinnenden Liebenswürdigkeit. Schließlich spielten Recha und er wie die kleinen Kinder Domino und gaben sich Rätsel auf. Erst in später Nachtstunde trennte sich der Offizier von den Geschwistern.

Weder Isidor noch Recha ahnten, welche schweren Gedanken dem leichtlebigen Offizier durch den Sinn gegangen waren, während er mit lachenden Augen seine Scherze trieb. In acht Tagen mußte er seine Kasinorechnung zahlen, oder ihm blühte der Abschied; alle Quellen waren erschöpft. Binnen dieser Zeit mußte er den Mann, der ihm gegenübersaß, anborgen, er hatte niemand anders auf der Welt. Und auch dann war nur eine Galgenfrist gewonnen. Wie hurtig liefen die Akzepte durch die neunzig Tage, wie bitter schwer war das Prolongieren, wie furchtbar die Demütigung. Er dachte der Stunde, wo einer der Maulwürfe des Wuchers, ein frecher, schmieriger Bengel, mit ihm in einer dunkeln Vorstadtkneipe zechte, wie jener stets neue Ausflüchte ersann, immer hartnäckiger auf Vorschuß bestand, um angeblich den Geldgeber, der auswärts lebe, aufzusuchen, bis schließlich der Bursche betrunken ihm die Worte ins Gesicht warf: »Jungchen, wenn Sie uns bemogeln, dann drehen wir Ihnen das Genick ab!« Während er Recha seine kleinen, lustigen Geschichten erzählte, sah er den Hund mit blutiger Nase unter dem Tisch liegen ... Aber war es überhaupt klug, diesen Cohn im Galopptempo anzupumpen? Tat er nicht besser, zu warten, bis die glänzende, unerwartete Hoffnung, die soeben erst vor ihm aufgetaucht war, feste Gestalt angenommen hatte? Denn Recha hatte es ihm angetan, das Judenmädchen mit den mandelförmigen Augen und dem dunkeln Haar, das so seltsam mit seinem Blond kontrastierte. Er fand sie schön, er liebte vom ersten Augenblick an ihre stille, wohltuende Art. Nicht daß ihn die Leidenschaft beherrscht hätte, wie Isidor sie für Dora Holm empfand, – jene Leidenschaft, die alles vergißt, alles überwindet; dazu war der Freiherr Bodo von Sternau nicht geschaffen, war seine Lage zu ernst. Es mischte sich ein Stück Leichtsinn, ein wenig Berechnung in seine Gefühle, die verzweifelte Sehnsucht, endlich einmal die Misere der Geldnot los zu werden, in dem Bewußtsein aufzuatmen, keinem Menschen etwas zu schulden; nicht mehr scheu im bunten, silberverschnürten Attila über die Straße zu gehn, in beständiger Angst, einem Gläubiger zu begegnen; nicht aufzufahren, wenn unerwartet die Klingel ging, nicht immer wieder den neuen Burschen darauf zu dressieren, daß »der Herr Baron nicht zu Hause sei«; nicht mit Zigarren und Trinkgeldern sich das Schweigen der Briefträger zu erkaufen, die mit mitleidigen Augen Tag für Tag die eingeschriebenen Briefe mit den Lieferantenfirmen übergaben. Die Alten oben auf ihrer hochbelasteten Klitsche konnten nicht mehr für ihn tun. Aber trotzdem, – würden sie die Jüdin als Tochter aufnehmen, die Kinder der Jüdin auf ihren Knieen wiegen? Er scheuchte den bangen Zweifel von sich. Nur das Regiment machte ihm Sorge; wenn er Recha nahm, tat er es in der Hoffnung, sich als Leibhusar zu halten. Seit hundertfünfzig Jahren hatten seine Vorfahren den gleichen Attila getragen, waren sie in ihm für ihren Herzog auf grüner Heide gestorben. Lehnte das Regiment Recha ab, so war alles zu Ende. Selbst wenn er sich zu den »Grenzhorden« versetzen ließ, wogegen sich alles in ihm sträubte, so würden die erst recht nichts von ihr wissen wollen, schon um kein schwächeres Standesbewußtsein zu zeigen, als es die feudalen Leibhusaren bewiesen hatten. Und ganz den Abschied nehmen, sich als Zivilist, als »Mann seiner Frau« durchfuttern zu lassen, – er wies den Gedanken weit von sich! Dann noch tausendmal lieber nach Kamerun, wie Hans Joachim von Trettach, und drüben bei erster schicklicher Gelegenheit ein Ende gemacht!

Sein ganzes Schicksal hing von der Stimmung der Leibhusaren ab.

Keinen Augenblick dachte er daran, daß Recha ihm einen Korb geben könnte. Ihm war der selige Blick nicht fremd, mit dem ein unschuldiges Mädchen zu dem Mann emporsieht, dem ihr Herz entgegenschlägt, auch kannte er den oft erprobten Zauber der Uniform. Und er hatte sich nicht geirrt. Als Recha an diesem Abend sich schlaflos in ihren Kissen wälzte, wußte sie: Was auch das Leben ihr bringen mochte, nie würde sie den Mann vergessen, nie einen anderen lieben als ihn. Sie war ein kluges Mädchen, sie verhehlte sich nicht, wie schwer eine Recha Cohn Freifrau von Sternau werden konnte. Und in heißen Tränen rang sie mit sich und ihrer Liebe, schrie sie auf zu dem Gott ihrer Väter ...

 

Acht Tage waren vergangen.

Noch einmal war es Sternau wider Erwarten gelungen seinen ›Leibjuden‹ zu einer Stundung zu bewegen; der Name Recha Cohn hatte Wunder gewirkt. Die Kasinorechnung war bezahlt; stumm hatte der Oberst die Meldung entgegengenommen.

Sternau hatte den Geldmann nicht belogen; täglich war er in dem stattlichen Hause am Marktplatz Gast, und kaum drei Tage nach seinem ersten Besuch hatte ihm Recha die Lippen zum Kuß geboten. Zwar hatte sie keine Hoffnung, aber sie konnte nicht anders; sie hätte nicht geschwankt, und wenn sie den Tod am Ende einer seligen Stunde hätte lauern sehen.

Sternau wollte erst trotz Rechas Bitten, die sich vor ihrem Bruder schämte, sofort mit Isidor sprechen. Aber dieser hielt sich auffällig zurück. Er hatte keine Lust in eine schiefe Lage zu kommen, ehe eine Entscheidung gefallen war. Er konnte es abwarten. Schon mehrfach hatte er inzwischen von der Gräfin Holm ein Billet erhalten: »Lieber Herr Cohn, wollen Sie die Güte haben und mich baldmöglichst aufsuchen?« Und jedesmal war er eiligst in seinen Oberrock gefahren und hatte vorsichtigerweise die Brieftasche mit einigen blauen Scheinen gefüllt. Erst vor zwei Tagen hatte er mit der Gräfin und dem Hofprediger eine wichtige Konferenz gehabt: Die Frau Richter hatte den Erwartungen ihrer Gönner nicht entsprochen. Sie hatte der Versuchung nicht widerstanden, sich und den ihrigen seit langer Zeit ein Stückchen Fleisch zu gönnen; ihr Mann hatte das Geld bei ihr entdeckt, es ihr weggerissen und sie unter dem Vorwurf, es sei erhurt, halbtot geschlagen. Am nächsten Morgen fand man die Frau, das Jüngste in ihrem Arm, die beiden anderen um ihren Leib festgebunden, im seichten Fluß unter dem Eise vor. Die Oppositionsblätter hatten den Fall aufgegriffen und Parallelen zwischen diesem Mord und Selbstmord und dem letzten pompösen Wohltätigkeitsfest gezogen. Das Regierungsblatt unternahm es daher, auf Grund einer vom Hofprediger entworfenen Richtigstellung nachzuweisen, daß die Frau dauernde Unterstützung zu erwarten gehabt und ausdrücklich davor gewarnt worden sei, ihrem Trunkenbold von Mann das Geld zu zeigen. In dieser Erwiderung hatte der kluge Hofprediger wiederholt Isidor Cohns Namen gebracht, teils um diesem zu schmeicheln, teils um die Aufmerksamkeit von den angegriffenen Hofkreisen abzulenken. Und wirklich war seit achtundvierzig Stunden der Name Cohn in aller Munde, und dieser durfte sich im Glanze seines Ruhmes sonnen. Aber nur um so fester behielt er sein Ziel im Auge: Auf dem Wege zur Gräfin Dora in der Gesellschaft festen Fuß zu fassen.

Aus diesem Grunde war er auch von seinem ursprünglichen Entschluß, Sternau über Bord zu werfen, abgekommen und hielt ihn sich in Reserve. Und der Freiherr von Sternau kam ihm aus begreiflichen Gründen auf halbem Wege entgegen.

 

Die Leibhusaren hielten jeden Sonntag Vormittag nach dem Kirchgang einen Frühschoppen in einer renommierten Weinstube der Residenz ab, wo ein für alle Mal ein Zimmer für das Offizierkorps reserviert war. Auch ein jüngerer Vetter des regierenden Herzogs, der bis zu dessen Verheiratung und bis zur Geburt eines Erbherzogs als Thronerbe fungierte und seit einiger Zeit im Regiment Dienst tat, pflegte dort regelmäßig zu erscheinen. Er war ein dreiundzwanzigjähriger Herr, die bête noire des herzoglichen Hofes, gänzlich ohne Verständnis für das Gottesgnadentum des Herrscherhauses; über jeden neuen Orden auf seiner Brust riß er schamlose Witze und versicherte aller Welt, daß auch die Angehörigen der Dynastieen für gewöhnlich barfuß zu Bett gingen. »Oben« galt er seiner eigenen Versicherung nach als »geistig unterernährt.«

Es war ein gewagtes Spiel, das Sternau spielte, als er Isidor Cohn aufforderte, an diesem Frühschoppen als sein Gast teilzunehmen. Denn es war absolut nicht ausgeschlossen, daß dieser irgendeine Taktlosigkeit beging, die die Hoffnungen des Oberleutnants im Hinblick auf Recha mit einem Schlage vernichtete; ja, Sternau fragte sich bedenklich, ob nicht Isidors äußere Erscheinung schon einen Sturm heraufbeschwören würde. Aber Sternau hatte zu oft das Kartenglück herausgefordert und alles auf einen Schlag gesetzt, um ängstlich zurückzuweichen, als Isidor ihm eines Abends eine Einladung in militärische Kreise nahelegte. Ihn in das Kasino zu bringen, riskierte Sternau nicht, deshalb wählte er das neutrale Terrain der Weinstube; auch hier stellte er sich eine halbe Stunde vor seinem Gaste ein, um möglichst für den künftigen Schwager Stimmung zu machen.

Er fand in dem reservierten Zimmer Herrn von Seddin, einen Oberleutnant mit mächtigem, roten Schnauzbart, den Junker Graf Wetter und einige aktive Leutnants und Reserveoffiziere, die zur Zeit gerade übten, vor. Der eine dieser letzteren war Sternau stets besonders sympathisch gewesen; es war ein Dr. Bergen, Chefredakteur des Regierungsblattes, dem Isidor seine augenblickliche Popularität verdankte.

Gerade als Sternau eintrat und den aufschnellenden Junker wieder auf seinen Stuhl drückte, redete Oberleutnant von Seddin eifrig mit Dr. Bergen über einen Vorfall, der weit über die Kreise des Regiments hinaus Aufsehen erregt hatte. Als die Leibhusaren vor wenigen Tagen eine Winterübung veranstalteten und in Regiments-Zugkolonne gerade über den im Winterfrost stäubenden Sand des Exerzierplatzes zur Attacke vorgingen, war ein jüdischer Einjähriger im ersten Zuge gestürzt. Er wußte, daß neunzehn Züge hinter ihm galoppierten, in den Staubwolken, die das ganze Regiment umhüllten, über ihn hinweggehen würden. Er sah den Tod vor Augen. Und in seiner Herzensangst schrie er gellend, immer wieder: »Regiment – halt! Regiment – halt!« Die ungeübte Stimme drang nur bis in die nächsten Züge. Sie stutzten, die anderen ritten in sie hinein, auf sie hinauf, ein Knäuel von Pferden und Reiter wälzte sich auf dem Boden. Mehr als dreißig zum Teil schwerverletzte Husaren wurden in das Lazarett gebracht.

Hin und her gingen die Ansichten über den Vorfall. Plötzlich erhob sich alles. Prinz Lothar stand in der Tür.

Er winkte gnädig ab. »Meine Herren,« sagte er heiter, »welch ein Aufstand in unserm konstitutionellen Großstaate! ›Keiner ging, doch einer kam, siehe, der Lenz lacht in den Saal ... ‹ Von Wagner, nicht von mir! Und dieser Lenz ist ein Thronerbe, dessen Hoffnungen auf der Unfruchtbarkeit einer noch unbekannten Prinzeß beruhen, und der nebenbei einen solchen Durst hat, daß er auf ein Haar das Abendmahl genommen hätte.«

Und schon brachte ihm der Wirt selbst den gewohnten Wein.

Der Prinz hatte sich gesetzt. Die Unterhaltung kehrte zu dem Unglücksfall zurück; man stritt sich, ob und wie der jüdische Einjährige zu bestrafen sei. Die allgemeine Ansicht ging dahin, daß ihn der Kommandeur nur wegen unbefugter Abgabe eines Kommandos auf einige Tage einsperren könne.

»Ein Jammer,« bemerkte Seddin, »daß wir, uns mit solchen Burschen überhaupt herumschlagen müssen. Hätte ich etwas zu sagen, ich nähme die ganze Semitenbande und schmisse sie zum Tempel hinaus!«

»Aber ihre Kröten behalten wir, meine Herren,« setzte Prinz Lothar ernsthaft hinzu.

»Allerdings die einfachste Lösung der Judenfrage, Hoheit,« warf Dr. Bergen lächelnd ein.

»Lieber Bergen,« erwiderte Prinz Lothar, »ich hoffe, Sie werden meine staatsmännischen Grundsätze nicht als Leitartikel frisieren; denn oben denkt man ja leider anders. Aber jeder Pfennig, den die Gesellschaft besitzt, ist unrecht Gut, dem Volke hinterlistig gestohlen, davon bringt mich keiner ab. Und ich für meine Person, ich hasse die Kerls, ich kann die Mauschels einfach nicht sehen.«

»Und doch marschieren sie an der Spitze,« warf Dr. Bergen ein.

»Mag sein,« antwortete der Prinz, »aber immer in der dumpfen Angst, von hinten einen Tritt in das Gesäß zu kriegen.«

»Das bringt sie nur noch rascher vorwärts,« bemerkte tiefsinnig ein Leutnant. »Die Burschen haben Schwielen am Gesäß.«

»Wenn ich Geld brauche, ist mir ein lebendiger Jude lieber als ein toter Christ,« äußerte ein anderer.

Der kleine Junker lachte entzückt auf.

»Wir wollen uns doch nicht täuschen,« nahm Seddin wieder das Wort, »die Judenfrage ist und bleibt in erster Linie eine halb physische, halb ästhetische, kurz, eine Nervenfrage. Alles am Juden, sein Aussehn, die knarrige Stimme, die Haltung sind unerträglich für unsereins. Wie diese klebrigen Burschen die Straße entlangwalzen, mit ihren Plattfüßen schaufeln, mit fetten Lippen schmatzen, wie sie beim Reden mit den haarigen Händen die Luft durchschneiden, die blanken Schädel von Schweißperlen bedeckt! Und diese Weiber, – diese frühreifen Backfische, deren üppige Brust das Gesetz verlacht, diese fettgepuderten Frauen mit schwerem Leib und funkelnden Steinen, Karikaturen ihres Stammes und ihres Geschlechts, – pfui Teufel noch mal!«

»Sie urteilen einseitig, Seddin,« unterbrach ihn Dr. Bergen. »Sagen Sie sich denn nie, daß trotz dieser Äußerlichkeiten doch unendlich viel brave Menschen unter ihnen sind? Daß auch wir unsere Fehler haben, auch wir den Juden vermutlich äußerlich ebenso unsympathisch sind, wie sie uns? Wissen Sie denn nicht, daß der Jude immerhin noch tausendmal barmherziger ist, als der jüdische Christ, oder wenn Ihnen das lieber ist, der christliche Jude? Wir müssen ihr Familienleben bewundern, ihr Zusammenhalten untereinander, ihre gegenseitige Förderung unter Glaubensgenossen, Verwandten, Eltern und Kindern. Wir verdanken ihnen viel, auf allen Gebieten, und wir können noch weit mehr von ihnen lernen.«

»Zugegeben,« antwortete Seddin. »Und wenn wir in einem Coupé, an einem Tisch mit ihnen sitzen, in einem Raum mit ihnen schlafen müssen, dann dreht sich uns der Magen vor Ekel um. Imponderabilien, gegen die der Verstand versagt! Ein einziger Beweis für viele: Heiraten Sie heute eine Jüdin, und morgen schließen sich unsere Türen vor Ihnen und Ihrer Frau, als ob Sie in Blutschande lebten.«

»Meine Herren,« sagte Dr. Bergen, »Probleme lassen sich mit Leidenschaften nicht lösen. Sie treiben Bierbankpolitik und schwärmen für Eisenbartsche Kuren. Mögen Sie die Juden hassen so viel Sie wollen, aber Sie müssen sich mit ihnen abfinden; sie sind heutzutage ein unentbehrlicher Faktor im Staats- und Gesellschaftsleben.«

»Bah«, antwortete Prinz Lothar, »auch Läuse mögen im Haushalt der Natur unentbehrlich sein; darum sehe ich noch nicht ein, daß gerade ich sie haben muß.«

»Man kriegt sie, ohne sie zu wollen,« bemerkte der tiefsinnige Leutnant.

Seddin, die geballte Faust auf dem Tisch, sah vor sich hin. »Die Juden,« sagte er mit schneidender Stimme, »haben uns alles gestohlen, Kunst und Literatur, Theater und Presse. Sie haben das Kapital in Händen, sie werden dekoriert, geadelt; sie sind die Freunde der Fürsten, die heimlichen Leiter der Geschicke der Völker. Habeant sibi! Nur eins sollen sie uns lassen: des Königs Rock. Wenn es gilt vor der Front, seinen Leuten ein Vorbild, den Heldentod zu sterben, da hilft nicht Geld, nicht Konnexionen, da bewährt sich nichts, als die Zucht des Kriegshandwerks, vom Teutoburger Walde über Fehrbellin und Roßbach bis zu Sedan. Wo war der Jude in all den Jahrhunderten, seitdem die Trompeten von Jericho den durch Verrat erkauften Sieg verkündeten? Mag auch der einzelne einmal nicht versagen, – das Volk als solches ist durch der Zeiten unablässigen Druck gebrochen, durch Folterkammer und Scheiterhaufen zermürbt, bis in die letzten Tage von Kischinew hinauf. Und darum sollen den deutschen Bataillonen Germanen vorausgehen, soll der Semit uns nicht das Volk in Waffen erziehen wollen. Wir gaben den Juden alles, – eins aber wollen wir uns rein erhalten: das deutsche Heer, das deutsche Offizierkorps!«

Für einen Augenblick trat lautlose Stille ein. Dann schwirrten die Stimmen um so lauter durcheinander.

Sternau hatte kein Wort gesprochen, bleich sah er in sein Glas. Wenn er für seine Zukunft die Stimmung sondieren wollte, – nun wußte er Bescheid. Zwar kannte er seit Jahren den Ton, hatte selbst nur zu oft in ihn eingestimmt; aber erst jetzt, wo er, den andern unbewußt, sein eigenes Schicksal verhandelt sah, überblickte er die ganze Tragweite seiner Pläne, fühlte er, welchen Abgrund ihn und seinesgleichen vom Judentum trennte, wurde er sich klar, daß keine Vernunft, keine Gründe die Kluft überbrücken konnten, die die kochende Lava blinder Vorurteile immer von neuem aufriß. Er war wie gebrochen unter den Keulenschlägen der haßerfüllten Worte, die er vernommen, er fühlte, daß er im Begriff stand in den Augen seiner Standesgenossen herabzusteigen, etwas Unwürdiges zu begehn. Und doch wußte er keinen anderen Ausweg. Die Wechsel liefen, und Recha hatte sein Wort.

Ein wieherndes Lachen schreckte ihn auf ... Er hatte nichts von dem Gespräch vernommen.

»Witze, die mir gefallen, müssen eindeutig sein,« hörte er Prinz Lothar jetzt sagen. »Zum Überlegen bin ich nach Kirchgang zu faul.«

Er sann weiter ... Eine Kugel? Er fühlte, er liebte das Dasein zu sehr, sein Leichtsinn, eine Frohnatur, seine Jugend wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. Und dann die Eltern dort oben, er, der einzige Sohn, ihre ganze Hoffnung ... Er hatte ja noch nichts von seinem Leben gehabt, immer nur gebebt und gezagt, wenn sich die Zukunft drohend vor ihm aufrichtete. Was war denn seine ganze Existenz gewesen? Ein unablässiger Kampf um eine frohe Stunde, ein Ritt auf morastigem Boden, immer vorwärts, um nicht zu sinken, und doch immer tiefer in den Sumpf hinein ...

»Das Leben ist angenehm,« hörte er die Stimme des tiefsinnigen Kameraden, »angenehm, aber teuer. Man kann es ja auch billiger haben, aber dann ist es eben nicht so angenehm.«

Und ein Gefühl überkam Sternau, ein scheußliches Gefühl, als ob er im Begriff stehe sein ganzes Leben zu zerstören, sich schimpflich selbst zu degradieren.

Ein Kellner trat an ihn heran und meldete ihm den Gast.

Eine ihm selbst seltsame Ruhe erfüllte ihn. »Hoheit wollen gnädigst verzeihen,« sagte er fest, »wenn ich untertänigst einen Gast einführen zu dürfen bitte. Leider gerade heute einen jüdischen Herrn.«

Der Prinz unterbrach ihn. »Noch einmal, bitte, recht langsam, laut und deutlich.«

Sternau fühlte die Verzweiflung in sich aufsteigen. »Einen Herrn,« begann er von neuem, »der in Wohltätigkeitsfragen eng mit den Kreisen unseres Hofes liiert ist und große Summen zur Verfügung stellt, – einen Herrn Cohn. Um jeden Irrtum auszuschließen, Hoheit, – Isidor Cohn.«

»Ich stelle den Antrag,« erklärte Seddin ernsthaft, »die Statuten des Frühschoppens werden dahin ergänzt, daß keine Wuchergeschäfte hier verhandelt werden dürfen.«

»Der Einfachheit halber beantrage ich,« setzte der tiefsinnige Leutnant hinzu, »das Regiment nach Palästina zu verlegen.«

»Fritz, einen Zentner Mazze,« piepste der Junker unhörbar und doch vor Schreck über seine Kühnheit fast unter den Tisch rutschend.

Sternau war bereits hinausgegangen, nachdem ihm der Prinz notgedrungen zugenickt hatte.

Isidor stand im Flur. Sternau überflog seine Gestalt, es war nichts an ihm auszusetzen.

»Kommen Sie, Herr Cohn,« sagte er kurz. »Guten Morgen übrigens. Und lassen Sie sich nicht anöden, hören Sie?«

Er trat mit ihm ein.

»Hoheit,« sagte er laut, »wollen Hoheit mir huldvollst gestatten, Höchstdemselben Herrn Verlagsbuchhändler Cohn ehrerbietigst vorzustellen.«

Dann wandte er sich zur Tafelrunde und nannte die Namen der Offiziere. Da Isidor sich jedoch immer noch tief vor der Hoheit verbeugte, sahen die Herren nichts von ihm als seine auf und ab wippende Kehrseite, ein Bild, das eine nur schlecht unterdrückte Heiterkeit hervorrief.

Aber das Offizierkorps der Leibhusaren hatte seine Tradition; und die gewohnte, in Fleisch und Blut übergegangene Korrektheit schloß es aus, daß ein Gast absichtlich von ihnen gekränkt wurde. Die Unterhaltung ging daher sofort ruhig weiter; es wurde von gleichgültigen Dingen gesprochen.

Cohn saß neben Sternau; er kam sich wie verzaubert vor, von Stolz und Bangen zugleich erfüllt. Er horchte mit beiden Ohren; sobald zwei Herren eine leise Bemerkung austauschten, wurde ihm heiß, spähte er, ob ein ironisches Lächeln, ein spöttischer Blick ihn streifte. Jeden Augenblick fürchtete er ein feingeschliffenes Wort zu hören, das wie ein Rappier ihm mitten durch die Brust ging, ihn innerlich verbluten ließ, ohne sichtbare Wunde. Und hätte er auch noch so schneidig parieren können, – eine Angst, im nächsten Augenblick am Boden zu liegen, einige Zoll kalt Eisen im Leibe, nahm ihm den Atem; dumpfe, märchenhafte Gerüchte von mimosenhafter Aristokratenehre, die berufsmäßig im Blut watete, schwirrten ihm im Kopf herum, und mit unheimlicher Scheu streifte sein Blick die zwischen den Beinen der Offiziere hochragenden Säbelgriffe in den schwarzen Scheiden, die ihn an die Soldateska des finsteren Mittelalters, an Plünderung und schwedischen Trunk erinnerten.

Nur einmal versprach sich Seddin; als zufällig von einem Ankaufspferde die Rede war, gebrauchte er das Wort ›Pferdejude‹. »Entschuldigen Sie, Herr Cohn,« setzte er sofort höflich hinzu, »ein falscher Zungenschlag, – der Ausdruck ist gang und gäbe ...«

»Bitte sehr, keine Veranlassung, Herr ...« Isidor murmelte etwas Undeutliches; denn er hatte den Namen des Sprechers nicht verstanden und kannte sich in den Abzeichen der Chargen noch nicht recht aus. »So antisemitisch,« fuhr er kriechend fort, »wie der anständige Jude, können Sie gar nicht sein.« Er fühlte selbst die Feigheit, mit der er sich mit seinem Glauben vor dem Offizier duckte.

»Meine Herren,« unterbrach Prinz Lothar plötzlich die Unterhaltung, »anständige Pferdejuden, antisemitische Ankaufspferde, alles durcheinander, – das wird mir zu fad. Ich gehe zur Abwechslung zu Hoheit ins Schloß hinauf, da ist es noch langweiliger. – Servus!«

Nachdem der Prinz das Zimmer verlassen, setzte man sich wieder; aber es wollte keine rechte Stimmung mehr aufkommen. Sternau blieb wie vor den Kopf geschlagen; Isidor langweilte sich, innerlich tief enttäuscht. Die ganze Gedankenwelt dieser Offiziere erschien ihm so fremd, so unverständlich, daß er es für völlig unmöglich hielt, Fühlung mit ihnen zu gewinnen; und der Abschied des Prinzen war wenig schmeichelhaft für ihn gewesen. Nur eins tröstete ihn: Seinen Hauptzweck hatte er erreicht, er durfte von heute ab ein halbes Dutzend Offiziere der Leibhusaren auf der Straße grüßen.

Schon wollte er den stumm vor sich hinstarrenden Sternau zum Gehen auffordern, als unerwartet noch zwei Herren eintraten, – der Kürassier Graf Alex Holm und ein älterer, vornehmer Herr mit kahlem Kopf und rosigem Teint, starkem, schneeweißen Schnurrbart und grauen Augen, denen die Krähenfüße ein joviales Aussehen gaben. Er war der Hofmarschall Graf Erich Holm, Alex' Vater, Major der Reserve des Leibhusaren-Regiments.

»Sieh da, der ›Lazarus‹! Lupus in fabula!« sagte der Rittmeister überrascht. »Vater, – Herr Verlagsbuchhändler Cohn, der Mann mit der offenen Hand, von dem wir eben sprachen. – Wie kommt ein solcher Glanz in unsre Hütte?« wandte er sich an Isidor zurück.

Dieser stotterte einige Worte. Wieder fühlte er sich ganz klein; er mochte dagegen ankämpfen, wie er wollte, die Persönlichkeit des ehemaligen Schulgenossen lastete auf ihm und machte ihn unsicher. Auch hatte er eine Todesangst, der Vater würde sich zu ihm wenden; er wußte nicht, war »Herr Hofmarschall« die richtige Anrede?

»Guten Tag, Exzellenz,« hörte er plötzlich einen herantretenden Offizier rufen. Ein Stein fiel ihm vom Herzen.

Sternau war es sichtlich peinlich, daß Graf Alex Holm, der seine pekuniäre Lage kannte, Isidor als seinen Gast unter den Offizieren sah.

»Verzeihung,« sagte er zum Hofmarschall, »ich bin heut Offizier vom Dienst und habe in der Kaserne zu tun. Gestatten Euer Exzellenz, daß ich mich verabschiede?«

»Sie sehen verdammt schmal aus, Sternau,« scherzte Graf Erich Holm in guter Laune, ihn mit den fröhlichen Augen musternd. »Dieser verflixte Winterrummel, – man kommt nicht aus dem reinen Hemd heraus, nicht wahr? Aber den Herrn Cohn, den lassen Sie mir bitte hier, mit dem habe ich noch etwas zu plaudern.«

Die letzten Worte erregten allgemeines Aufsehn. Isidor Cohn ein Schützling des einflußreichen Hofmarschalls? Das änderte die Sache wesentlich. Sofort wurden die Mienen freundlicher, und schleunigst klang bald von rechts, bald von links ein höfliches: »Prosit, Herr Cohn!« – »Erlaube mir, Herr Cohn!« zu Isidor hinüber.

Sternau war gegangen.

Am allererstauntesten aber war Isidor, als ihn der Hofmarschall freundschaftlich zu sich winkte, ihn auf den Stuhl neben sich nötigte und von seinem Weine einschenkte. »Ich kenne Sie ja von meiner Schwägerin her, lieber Herr Cohn,« begann er dann, während die anderen in irgend einer plötzlich aufgetauchten Debatte das Zimmer mit ihrem Lärm erfüllten, »und auch der Hofprediger von Stetten hat mir Ihr Lob schon in allen Chorälen gesungen. Ich möchte einmal eine Angelegenheit mit Ihnen besprechen. Sie brauchen keinen Schreck zu bekommen, im Gegenteil, es soll eine große Sache für Sie werden. Können Sie mich einmal besuchen, – oder wann sind Sie bei sich zu Hause anzutreffen?«

Isidor stockte der Atem. Torheit! Erträumte, – es war einfach unmöglich! Der herzogliche Hofmarschall wollte ihn besuchen, der Vormund der Gräfin Dora, eine regelrechte Exzellenz! Er war blaß, als er ihm dienstbeflissen antwortete:

»Ich bitte, Exzellenz, ganz über mich zu verfügen.«

»Schön, lieber Cohn,« es fiel Isidor von neuem auf, wie leicht die Aristokraten das »Herr« vor seinem Namen vergaßen, »sagen wir also morgen, um zwölf. Paßt Ihnen das?«

»Gewiß, Exzellenz, wie Exzellenz befehlen,« versicherte Isidor.

»Bon,« sagte der Hofmarschall, sichtlich befriedigt, »also abgemacht!«

Als Graf Erich Holm sich kurze Zeit später zum Gehen erhob, wandte er sich plötzlich nochmals zur Tafelrunde: »Apropos, meine Herren, Trettach hat von Las Palmas geschrieben. Er bleibt einige Zeit in Berlin, aber in spätestens vier Wochen ist er hier.«

Isidor kam erst um drei Uhr heim. Er hatte böse Kopfschmerzen von dem ungewohnten Zechen. Das Mittagessen war längst abgetragen, Recha nicht daheim. Er legte sich sofort hin und schlief wie ein Toter bis zum Abend.

Sternau war wie ein Betrunkener heimgetaumelt. Das Spiel war für ihn verloren. Verzweifelt warf er sich auf das Sofa, eine Zigarette nach der andern rauchend. Er stand vor der Entscheidung. Übermorgen war wieder ein Akzept fällig, – er hatte nicht mehr den Mut, um Prolongation zu bitten. »Jungchen, wenn Sie uns bemogeln ...«, tönte es ihm im Ohr. Den Eltern den letzten Sparpfennig für ihre alten Tage fortnehmen, – nein! Afrika? Wirklich Afrika –? Und plötzlich sah er ein Auswandererdeck vor sich, wie er es auf der Fahrt nach Helgoland vor Jahren erblickte, hörte die Taue abwerfen, die Musik: »Nun ade, du mein lieb Heimatland,« sah die heißen Abschiedstränen in Hunderten von Augen schimmern. Und der Husar warf die Zigarette mitten in das Zimmer, wandte sich um und weinte, wie er seit seiner Kindheit nicht mehr geweint hatte.

Als der Abend sank, war sein Entschluß gefaßt.

Am nächsten Mittag stand er vor seinem Kommandeur und erbat eine Unterredung unter vier Augen.

Und dann sprach er es stockend aus: Der Herr Oberst wolle ihm gütigst die Genehmigung zur Veröffentlichung seiner Verlobung mit Fräulein Recha Cohn, der Schwester des Verlagsbuchhändlers Isidor Cohn, erteilen.

Der Kommandeur starrte ihn fassungslos an. Sein eisgrauer Schnurrbart zitterte – wie stets ein Zeichen seiner Erregung –, aber er sagte zunächst kein Wort. Oberst Freiherr von Gemmen war seinen Offizieren und Mannschaften ein strenger, aber gerechter Vorgesetzter, einer der Kommandeure, hinter denen es eine Lust ist in den Feind zu reiten, bei Hof ungemein beliebt, von untadligem Charakter; er kannte die Verhältnisse seiner Offiziere ziemlich genau und ahnte, weshalb der Oberleutnant Freiherr von Sternau eine Recha Cohn heiraten wollte.

Er faßte sich gewaltsam. »Kommen Sie her, Sternau,« sagte er, »und nehmen Sie Platz.« Und er setzte sich selbst ihm gegenüber. »Dort stehen Zigarren, – die andere, nicht die Kiste mit dem Adler, vor der warne ich Sie ernstlich. Und nun wollen wir als Freunde reden, wie Sohn und Vater. Denken Sie, Ihr alter Herr, unser lieber Kamerad, säße hier auf meinem Stuhl. Der würde auch sagen: ›Junge, laß die Finger weg!‹ Sehen Sie, es gibt ja sogenannte Aristokraten, solche Barone von Veilchental und ähnliche Verbrecher, für die sind derartige Heiraten ein gefundenes Fressen. So ein Veilchental kann sich eben sein Wappen auf Bauchfell und Steiß malen lassen, der bleibt darum doch ein Jude. Ein Freiherr von Sternau aber, der hat nun einmal Standesrücksichten, der ist und bleibt ein Kavalier. Lieber Freund, ich weiß selbst, das sind einseitige Anschauungen, aber wir kommen doch nicht um sie herum. Für uns ist zwischen Sozialdemokratie und Judentum kein großer Unterschied, die machen vereint unser deutsches Volk zur Kerze, die an zwei Enden brennt. Und in dieser Not soll deutscher Adel seinem Volke voranstehen, – ein Hundsfott, wer seine Fahne verläßt. Mir ist ein Edelmann in der roten Partei ein Schlag ins Gesicht, einer, der mit der goldenen Partei versippt, ein Schlag aufs Herz. Denn die Kinder aus solchen Ehen sind Judenbälge, ein Hohn auf den adligen Namen ihres Vaters. Mischen Sie Tinte und Wasser, – es gibt immer wieder Tinte, allerdings minderwertige. Und ein Mann, der solche Ehe schließt, geht einen Golgathaweg, verfehmt bei seinen Schwertgenossen, verachtet von dem innerlich so maßlos hochmütigen Judentum. Blut gegen Blut, Rasse wider Rasse ... Mein lieber Sternau, hätte ich die Wahl, einem Sarge zu folgen, von dem herab Ihre Schärpe fleckenlos grüßt, oder auf der Hochzeit mit einem Fräulein Cohn als Ihrer Braut zu tanzen, – bei Gott, so lieb ich Sie habe, ich gehe lieber hinter Ihnen her zum Kirchhof.« Er stand auf. »Sie sind Herr Ihres Schicksals,« fuhr er fort, »aber als Kommandeur, als Edelmann, als Freund Ihres Vaters mußte ich so zu Ihnen sprechen, wie ich's getan. Ich weiß zwar nicht, wie Hoheit in diesem Falle denkt; Sie können sich ja über mich beschweren, ich mache Sie ausdrücklich darauf aufmerksam. Und wenn diese Sache für mich schief geht, dann setze ich mir mit Vergnügen den Zylinder auf, dann danke ich für die Ehre, die Leibhusaren zu kommandieren. Solange ich das aber noch tue, solange meine Offiziere meine Brüder sind, bleibt mir mein Offizierkorps stubenrein, bringt keiner mir ein Judenmädel ins Regiment.« Er reichte dem jungen Offizier, der jetzt aufrecht, unbeweglich vor ihm stand, herzlich die Hand. »Bleiben Sie, der Sie sind, Sternau,« sagte er mit tiefer Empfindung, »der Erbe der Traditionen Ihres Hauses, mit blankem Schild. Ich habe nichts gegen die Familie Cohn, aber für einen Leibhusaren ist die Verbindung nicht standesgemäß. Melden Sie mir übermorgen Ihren definitiven Entschluß.«

Eine Viertelstunde später traf Sternau bei Recha ein. Er wußte, daß der Hofmarschall um zwölf Uhr in das Bureau hatte kommen wollen und Isidor für ein Uhr zur Gräfin Thekla Holm gebeten war.

Recha kam ihm entgegen. Überglücklich beim Anblick des Geliebten, schmiegte sie sich in stummer Seligkeit an ihn an, hob sie das Haupt zu ihm empor, um ihm die Lippen zu bieten, – vor seinem totenblassen Gesicht schreckte sie zurück. Kein Wort war gesprochen, und dennoch wußte sie sofort, daß ihres Lebens Traum zu Ende geträumt war. Die Füße gaben unter ihr nach; still, mit gefalteten Händen setzte sie sich auf den nächsten Stuhl. Auch er schwieg, während er neben ihr stand und mit leeren Augen in die Weite sah, lange, hoffnungslos. Er war bei allem Leichtsinn ein gutherziger, weicher Mensch, und als er jetzt eine kleine, leichtzitternde Hand sich mit leisem Druck in seine schmiegen fühlte, überkam es ihn wieder; vergebens biß er die Zähne zusammen, – die hellen Tränen rollten ihm über das Gesicht, tropften langsam über den bunten Attila in die Silberschnüre hinein.

»Weine doch nicht,« sagte Recha leise und innig, »bitte, bitte, ich kann dich nicht weinen sehn! – Vorbei, Liebster?«

»Vorbei!« antwortete er mit heiserer Stimme. »Recha, sie gönnen es uns nicht. Sie sprechen von einem Mann, der sich an ein Mädchen verkauft; sie glauben nicht an unsere Liebe.«

Mit einem Schlage übersah die kluge, besonnene Recha die Lage. Der Leibhusar durfte die Jüdin, selbst die getaufte, nicht zu seinem Weib machen, weil Tradition und Vorurteil nun einmal höher steht als Menschenglück, weil Name und Glauben schwerer wiegt, als Charakter und Herz.

Und ihr war klar: Um ihretwillen würde Sternau alles, Heimat und Eltern, Beruf und Regiment aufgeben müssen, würde ein gebrochener Mann ihr die Hand reichen, an ihrer Seite den Dornenweg der Verleumdung gehen. Denn der Schein war gegen ihn; sie wußte, daß er verschuldet war, daß ihm das Messer an der Kehle saß.

Sie war rein und gut, und rein und gut dachte sie von dem, den sie liebte; keinen Augenblick tauchte der Gedanke in ihr auf, daß die Welt mit ihrem Argwohn denn doch ein wenig Recht haben könnte.

Sie war sich einig über den Weg, den sie gehen mußte. Und in ihrer offenen Art ging sie ihn ohne Schwanken.

Sie beugte sich über den Fassungslosen und küßte ihn auf die Stirn. Dann nahm sie seine beiden Hände in ihre.

»Ich habe dich lieb,« sagte sie fest, »und nur die Liebe ist echt, die selbstlos ist, nur die Liebe stolz, die Opfer bringen darf. Mein Glück ist dein Glück; dich will ich glücklich sehen. Laß uns durch das Leben gehen, getrennt, aber im Herzen vereint, einsam, aber in Liebe verbunden, in der Liebe, die das Höchste ist, in Entsagung. Und laß mich mit dir teilen, wie du deinen Namen, deine Zukunft, dein Leben mit mir teilen wolltest. Ich bin unabhängig, ich habe überreich. Nimm einen Scheck von mir, Liebster, genügen dir zwanzigtausend Mark?

Es war alles, was sie besaß, die Ersparnisse von zwei Jahren aus ihren Zinsen; denn das Kapital war durch das Testament des Vaters festgelegt.

Er fuhr hoch. Jede Faser in ihm sträubte sich gegen ihr Angebot. »Niemals!« schrie er auf.

Aber sie ließ nicht nach, sie bat immer wieder, unermüdlich. Sie sprach geduldig, Stück um Stück ihr eigenes Glück in Scherben brechend, ihr junges, warmes, jammerndes Herz zerfleischend. Wie die Dämmerung des schwindenden Tages alle Linien und Kanten mit weichem Schleier umspann, so umhüllte ihre sanfte Stimme sein Leid mit linden Worten der Liebe. Raum und Zeit versank; ein Tempel wuchs empor, am Allerheiligsten ein Weib, Priesterin und Opfer zugleich. Sie sprach von einer momentanen Hilfe, die er ihr in besseren Zeiten, an der Seite einer jungen, reichen Frau wiedergeben würde; sie erinnerte ihn an seinen Namen, an die Schmach des Abschieds, an seine Eltern. Er saß stumm am Tisch, das Haupt auf die Arme gelegt. Und als er nach Stunden aufblickte, ein blasser, verweinter, kraftloser Mann, da stand sie leise auf, füllte im spärlichen Schneelicht den Scheck aus und ließ ihn in die Tasche seines Attilas gleiten.

Er lag vor ihr auf den Knieen; er beichtete ihr alles, er sagte ihr ehrlich, mit verhaltener Stimme, wie sein Herz zwischen ihr und allem, was ihm lieb war, geschwankt hatte, wie er unterlegen war mit seiner jungen Kraft.

Und dann ruhte sie zum letztenmal an seiner Brust, küßte zum letztenmal ihm Mund und Hände.

Sein Säbel klirrte die Treppe hinab, leiser, immer leiser ... Jetzt klangen die Sporen auf dem Fliesengang, die Haustür ging stöhnend auf, fiel schwer ins Schloß ...

Oben lag Recha ohnmächtig am Boden.

Und während am nächsten Tage der Oberleutnant Freiherr von Sternau vor seinem Kommandeur stand, um seinen Verzicht zu melden, und dieser ihm freudig überrascht die Hand mit den Worten reichte: »Brav von Ihnen! Hie gut Sternau allwege!«, fuhr Recha im Eilzuge auf Vlissingen zu, um nach England zurückzukehren.

Isidor vermied alles Fragen, er ahnte den Grund ihres plötzlichen Entschlusses. Aber er wollte es mit Sternau unter keinen Umständen verderben und er sah Recha, deren kluge, beobachtende Augen ihm lästig waren, nicht ungern scheiden.

* * *

 


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