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Eine neue Nummer des Programms begann; mit Beifall wurde der herzogliche Kammersänger, begrüßt. Dann erklangen unter andächtigem Schweigen die ersten Takte des Liedes, zu dessen wunderbarer Größe sich zwei Meister zusammengefunden haben. Weich, wie von heimlichen Tränen erstickt, setzte die Stimme ein: »Nach Frankreich zogen zwei Grenadier' ...«

Und wieder trieb Isidor im Strom der Gedanken. Ein Jude hatte das Lied gedichtet, dem sie dort alle atemlos lauschten, das wehe, stolze Lied vom gefangenen Kaiser. Mochte alles getilgt werden, was an den gewaltigen Korsen erinnerte, dessen schlichter Marmorsarg dort an der Seine noch heut die Herzen in Ehrfurcht beugte, – der Sang des Düsseldorfer Juden sicherte ihm die Ewigkeit. »Drum soll der Sänger mit dem König gehn ...«, der Sänger, den sie aus seiner deutschen Heimat verjagt hatten, in die Matratzengruft hinein ... Alle elend gestorben, der gestürzte Kaiser, der hinsiechende Dichter, der, wahnsinnige Komponist, und alle drei unsterblich, auch er, der kümmerliche Jude, sein Glaubensgenosse ... Und Isidors Gedanken wanderten wieder zum Markt, dorthin, wo er vor einem Jahr den für die Residenz unerhörten Prachtbau seines Geschäftshauses errichtet hatte.

Achtundzwanzig Jahre war er alt, als der Vater starb; acht Jahre hatte er nach seiner Rückkehr aus dem Ausland noch unter ihm gearbeitet, – eintönige Jahre, voll wachsender, geschäftlicher Erfolge, aber ohne Licht und Luft für den Sohn. Das Mißtrauen, das den Vater schon veranlaßt hatte ihn aus der Schule zu nehmen, vertiefte sich im Laufe der Zeit. Mit eiserner Hand wachte der einsame, vergrämte Mann über Wandel und Leistungen des Sohnes. Und dennoch fühlte er, wie dieser ihm immer mehr entglitt, ihm von Tag zu Tag fremder wurde, wie er verbissen sich unter den väterlichen Willen duckte, immer mehr in sich hineinkroch, wie sein Antlitz gewissermaßen versteinerte. Nicht, daß Siegfried Cohn mit seinen Befehlen und Anordnungen auf Widerspruch stieß; kein hartes Wort fiel, niemals rang Vater- und Kindeswille miteinander. Und doch war es, als ob im eisigen Winter das Fenster aufgerissen wurde, wenn Vater und Sohn miteinander sprachen. Und dieses langsame, stetige Auseinandergleiten übertrug seinen Zwiespalt auch auf die geschäftliche Erziehung des künftigen Erben. Mit der einen Hand peitschte ihn der Vater vorwärts, stellte er ihm den Lebensweg seiner Vorfahren als Beispiel hin, die sich aus nichts emporgerungen, die kein Gymnasium besucht, keine Lehre genossen, sich nicht im Ausland weitergebildet hatten und die doch ganze Männer geworden; und auf der anderen Seite drückte er mit eiserner Faust den Burschen nieder, der sich voll heimlichen Trotzes, in verstocktem Aufbegehren mehr dünkte, als er, der angekränkelt war von den Ideen einer neuen, skeptischen, verlogenen Zeit. Aber Siegfried Cohn war nicht der Mann, der sich von seinem Sohne mürbe machen, die Zügel aus der Hand reißen ließ. Fror jenem das Wort im Munde, – er, der Vater konnte noch besser schweigen. Es fehlten eben zwei treue Mutteraugen zwischen den beiden, zwei schwache Mutterhände, die doch Kraft genug besaßen, den Riß zu überbrücken, zwei Mutterlippen, die hier und drüben trösteten, baten, schlichteten. Es war ein Kampf, in dem das Alter die Macht hatte, die Jugend aber schließlich doch siegen mußte, wenn auch nur mit der Wunde einer gebrochenen Kindheit in der Brust, die immer, immer schmerzt und niemals ganz sich schließt.

Und zwischen Vater und Sohn wuchs schuldlos, lieblich und ahnungslos klein Recha auf. Das Kind hatte die Augen der Mutter, die dunklen, sehnsüchtigen Mandelaugen, die den flimmernden Sternen der Wüstennacht glichen, durch die das Volk Israel einst vierzig Jahre irrte. Oft ging der Vater stumm am Sohn vorbei, zur Tochter hinein. Krachend schloß er die Tür. Und dann saß der Mann, dessen Haar im Leid um Verlorenes ergraut war, still vor der kleinen Recha; stundenlang sah er ihr in die Augen und suchte in ihnen die Seele seines toten Weibes ...

Und ebenso oft lag der Sohn mit glühenden Wangen, mit finsteren Falten auf der Stirn schlaflos die lange, lange Nacht, fest entschlossen, der Qual ein Ende zu machen, hinauszuwandern und sich aus eigener Kraft sein Brot zu schaffen, wenn es sein mußte, in Not und Entbehrung, doch freien Herzens, frohen Gemüts. Aber nach einer Richtung hin war Isidor dennoch der Sohn seiner Väter; er kannte die Bilanzen, er wußte den väterlichen Besitz einigermaßen abzuschätzen; er kannte auch den ehernen Willen seines Vaters, seinen unerbittlichen Zorn. Und wenn der Morgen graute, sagte er sich wieder einmal zähneknirschend, daß immer noch Abwarten die beste Parole für ihn war, ballte er blaß, aber schweigend die Hände, wenn ihm ein eisiges Wort des Vaters mitten ins Herz schlug.

Ihm, dem Sohne, gehörte die Zukunft.

Aber gehörte ihm wirklich die Zukunft? Er traute dem Vater nicht. Hatte der Alte nicht die Macht, ihm auch diese Hoffnung zu vernichten? Er konnte sein Hab und Gut bei Lebzeiten verschenken, sein letzter Wille konnte ein Todesurteil für den Sohn sein. Für den grollenden, verbitterten Menschen, zu dem die Verhältnisse Isidor erzogen, war dieses Testament das Kissen, das jeden lauten Schrei erstickte. Und so sah ihn denn jeder Morgen als ersten im Geschäft, arbeitete er freudlos, aber angestrengt, bis der letzte gegangen war. Von allen Zerstreuungen hielt er sich fern; grübelnd und planend saß er die langen Abende am Fenster seines dunkeln Stübchens, eine Zigarette nach der andern zerkauend; er brauchte so gut wie nichts für sich, schonte seine Kleidung, sparte fast sein ganzes Gehalt.

So wurde er achtundzwanzig Jahre.

Das Weib spielte keine Rolle in seinem Leben. Selten, daß er spät abends heimlich zum Hause hinausschlich, um sich eine Stunde später auf Strümpfen die Treppen hinauf zurückzutasten. Er scheute sich vor den Frauen, es war ihm nicht gegeben, sie in sieghafter Kraft zu bestürmen und zu erobern. Wie hilflos gebundene Leidenschaft lag es in ihm; denn heimliche Gedanken kamen und gingen, lichte Bilder, in denen er Herr der Welt war, Gebieter über die Weiber aller Zonen, die Priesterinnen der Lust. Aber der Druck, der auf ihm lag, ließ ihn den Becher nur selten, flüchtig, zagend an die dürstenden Lippen führen. Wenn ihn die Dirne küßte, fühlte er die strengen Augen des Vaters in seinem Nacken brennen, sah er das Dokument: »Es ist mein freier, ernster und wohlüberlegter Wille ...« Und mehr als einmal löste er sich, kaum angelangt, aus weichen Armen, um wie ein Verbrecher wieder nach Hause zu schleichen.

Eines Morgens, als eben Isidor sein eintöniges Tagewerk begann, stürzte Tante Rebekka in das Kontor, schreiend, verzweifelt. Siegfried Cohn lag oben in seinem Bett; keine Falte war verschoben, ruhig schien er zu schlummern. Aber sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Es regte sich keine Trauer in dem Sohne, als er zu der Leiche des Vaters trat, – keine Trauer, aber auch keine Freude, nur ein dumpfes, verständnisloses Staunen. Die Brust war ihm wie ausgebrannt; er konnte das heimlich so lang Ersehnte überhaupt nicht fassen. An der Bahre des Toten fühlte er die wuchtende Hand des Lebenden noch auf sich lasten. Daß diese geschlossenen Augen sich zu keinem zürnenden Blick mehr öffnen, diese blauen Lippen nie mehr harte Worte sprechen sollten, die wie glühende Tropfen in das Herz des Sohnes fielen, daß er, der Sohn, jetzt handeln, bestimmen, befehlen durfte, ohne ängstlich nach dem Vater zu schielen, ohne jede Silbe zu wägen, jedem selbständigen Entschluß ängstlich aus dem Wege zu gehn, – das begriff er einfach nicht. Er empfand keine Spur von befreiendem Gefühl; wie entwurzelt kam er sich vor, wie ein Kind, das im Gedränge die führende Hand verloren. So oft eine laute Stimme in seiner Umgebung erklang, schrak er zusammen, blickte er scheu hin, ob sich der Tote nicht grollend erhob und mit einem Machtwort Ruhe gebot. Selbst die unterwürfige Art, wie das Personal dem jungen Chef, fremde Menschen dem reichen Erben jetzt entgegentraten, machte ihn befangen, unsicher, wirr. Am liebsten hätte er jede Entscheidung von sich zurückgewiesen und wäre wieder still an seine gewohnte Arbeit gegangen. Die Vergangenheit mit ihrer Unverantwortlichkeit erschien ihm wie ein verlorenes Glück.

Die sechzehnjährige Recha war es, die für die Beisetzung die Anordnungen traf, während Tante Rebekka, die bei dem plötzlichen Tode ihres Verwandten und Brotherrn für ihre Zukunft zitterte, jeden Halt verloren hatte.

Die beiden Geschwister waren sich niemals näher getreten, obwohl Isidor die Schwester liebte, – gerade, weil er sie liebte. Ohne daß er sich darüber klar wurde, goß er die ganze zurückgedrängte Sehnsucht seines vereinsamten Herzens über sie aus. Aber er war zu stolz, um sie in seinen stummen Kampf hineinzuziehen. Sie konnte ihm in seinem heimlichen Widerstand nicht helfen, und er wagte es auch nicht, sich mit seinem Innenleben vor ihr aufzudecken. Recha aber, die ein instinktives Verstehen für den blassen, gedrückten Bruder hatte, suchte ihm das Leben so leicht zu machen, wie es der Wille des Vaters nur immer gestattete. Sie sorgte wie ein Heinzelmännchen für ihn; sie war es, die ihn weckte, wenn er einmal zu verschlafen drohte, sie achtete darauf, daß er seine Mahlzeit pünktlich auf dem Tisch fand, wenn er zu kurzer Pause nach oben kam; sie besserte seine Wäsche aus, sie herzte und küßte den Vater, wenn Zornesfalten über den Sohn auf seiner Stirn standen.

Denn Recha war anders geartet, als der Bruder. Sie hatte ohne Schwierigkeiten, ohne Kränkungen die Schule absolviert und schon ein Jahr das Seminar besucht. Alle hatten das freundliche, bescheidene Mädchen lieb, niemand verargte oder warf ihr ihr Judentum vor, das sie offen, ohne Stolz, aber auch ohne Scheu bekannte, wie etwas Selbstverständliches, Gegebenes, Unabänderliches. Von Kindheit an lag etwas Mütterliches in ihr. Sie hatte reiches, blauschwarzes Haar und frische Farben; die leicht gebogene, feine Nase über den roten, etwas zu vollen Lippen verriet ihre Rasse. Mit ihren zarten Gliedern und Gelenken wuchs sie nur zögernd hoch. In den schönen, dunklen Augen, die der Vater so liebte, lag etwas Bittendes, Nachgiebiges, Treues. Recha hatte keinen Feind. Von allem Sündigen unberührt ging sie wie ein Sonnenstrahl durch das Leben. Selbst die Schulgenossinnen, denen nichts Menschliches mehr fremd war, waren vor Rechas reinen Kinderaugen verstummt und zurückgewichen.

Neben dem Bruder, der starr, mit schmalen Lippen auf den Toten blickte, kniete schluchzend im ersten heißen Schmerz ihres jungen Lebens die Schwester.

Wie im Traum zog die Beisetzung an Isidor vorbei. Nicht allzuviele gaben dem Mann das Geleit, dem die Arbeit die Menschen entbehrlich, gemacht, aus dessen Hause sein totes Weib die Freude hinausgetragen hatte. Sein Personal folgte, vollzählig, und unter ihnen war mancher, der ihm alles verdankte, dem die Augen feucht wurden am Sarge des Prinzipals; in erster Linie der alte Prokurist Goldschmidt, der vor mehr als dreißig Jahren als Laufbursche in das Geschäft eingetreten war. Er war klein und dürftig, mit krausem Negerhaar, starkem Schnurr- und Knebelbart, braun und hager wie der Araber in der Wüste. Jetzt war dem fünfzigjährigen Mann das Haar ergraut, und doppelt dunkel erschien sein Gesicht. Wie ein Hund hatte er an seinem Wohltäter gehangen; seine Welt war die Firma, sein Gott der Chef. Dem Sohn gegenüber hatte er sich stets als Freund gezeigt; er sah in ihm ein Teil von Siegfried Cohn, die Hoffnung des Verlags. Und so oft er konnte, nahm er, wenn Isidor etwas verfehlt hatte, die Schuld auf sich. War es doch auch seines Lebens Inhalt, was einst dem jungen Erben anvertraut werden sollte!

Das Testament wurde eröffnet; das Geschäft ging, angemessen bewertet, an den Sohn über, ebenso ein Teil des Barvermögens; der Rest fiel an Recha. Der Prokurist Goldschmidt blieb unkündbar im Geschäft und sollte, auch wenn er sich zur Ruhe setzte, sein volles Gehalt weiter beziehen; ihm vertraute der Tote in herzlichen Worten den Sohn an und übertrug ihm die Verwaltung von Rechas Erbe, das bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr festgelegt war. Legate folgten in knapper Aufzählung, darunter eines, das Tante Rebekkas Lebensabend sorgenfrei machte. Das ganze Testament, das über viele Hunderttausende verfügte, war nicht zwei Seiten lang.

Als nach den Trauerfeierlichkeiten der Alltag wieder in sein Recht trat, fühlte sich der achtundzwanzigjährige Isidor erst recht unglücklich. Befangen trat er dem Personal gegenüber, das ihn am Morgen nach dem Begräbnis feierlich begrüßte. Er bat um Unterstützung, sagte Dank für das, was sie dem Vater gewesen, versprach ihnen ein guter Chef, ein Freund zu sein und verwies sie schließlich an die altbewährte Stütze des Geschäfts, den Prokuristen Goldschmidt, – alles in stockenden Worten, in zaghafter Resignation. Er atmete auf, als er wieder oben im ersten Stock war und vom Kontor nichts mehr sah; er haßte diese Räume, die seiner Jugend Schmerzen gesehen hatten. Das leere Pult des Vaters kam ihm wie ein Katafalk vor, von dem Entsetzen ausging.

Tausendmal hatte er sich den Tag ausgemalt, an dem er endlich, endlich seine Fesseln gesprengt am Boden liegen sah, sich als sein freier Herr in die bunte Welt, das brausende Leben stürzen durfte. Und nun stand er mit müden Händen und schlaffen Gliedern vor dem blinkenden Golde, das der Tote nicht in die kalte Erde hatte mitnehmen können. Wie ein Koloß ragte vor ihm der Vater auf, der ganz allein die Schuld an seines Sohnes innerer Unsicherheit und Zerrissenheit trug, der noch aus dem Grab heraus ihn beherrschte, lähmte, niederzwang ...

»Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,
Viel Schwerter klirren und blitzen ...«

erklang es, und wie Schwerterklang jauchzte die Stimme des Sängers. Ein Sturm des Beifalls erscholl. Das Licht flammte auf, ließ von neuem das glänzende Gesellschaftsbild erstehen. Isidor warf einen Blick zur Seite; noch stand der mächtige Kürassier dort an der Nebensäule, Berner jedoch war verschwunden. Der Graf sah verstimmt aus, nervös biß er sich auf den Schnurrbart; er kam Isidor bekannt vor, aber dieser wußte ihn nirgends unterzubringen. Die Uhr ging auf Mitternacht. Ein trockenes Klopfen am Dirigentenpult, machtvoll setzte der Kaisermarsch ein, der zum Schluß des langen Programms, den lebenden Bildern überleitete. Wieder erlosch das Licht, der Vorhang hob sich zum ersten Bilde: Judith, die Jüdin, am Lager des Holofernes.

Und Isidor dachte daran, was ihm die letzten zwei Jahre gebracht hatten. Allmählich hatte sich die Spannung in ihm gelöst, das Gefühl der Selbständigkeit in ihm Wurzel gefaßt. Immer mehr verblaßten die Bilder der Vergangenheit, wich das Gespenst der überwältigenden Persönlichkeit des Vaters von ihm.

Um das Geschäft, das er in guten Händen wußte, kümmerte er sich wenig. Er ging auf Reisen. Immer mehr begann er sich seines Reichtums zu freuen. Nur seine Befangenheit verlor sich nicht; mochte er auch schon hundertmal sich an den glänzenden Tafeln der internationalen Hotels niedergelassen haben, – stets schlug ihm wieder das Herz, wand er sich unter den kritischen Augen der Gäste, errötete er unter dem prüfenden Blick des feudalen Oberkellners, den er nicht anzurufen wagte. Er wurde freigebig, um sich durch Trinkgelder die Beachtung zu erringen, die andere Reisende als etwas Selbstverständliches forderten und erhielten. Und wieder lernte er so den Zauber des Geldes kennen. Nach und nach, ohne sich selbst den Grund hierfür offen einzugestehen, trat er als Grandseigneur auf; er wählte die besten Hotelzimmer ohne Rücksicht auf die Kosten, obwohl er sich in bescheideneren Räumen viel wohler gefühlt hätte; er bestellte teure, schwere Weine bei Tisch und beneidete seine Nachbarn um ihren billigen Mosel. Er ließ sich die Hotelequipage aufdrängen, selbst wenn die Straßenbahn von der Tür ab zu seinem Ziel führte. Sein zaghaftes Wesen, das wie eine schwache Kletterpflanze nach allen Seiten Halt suchte, klammerte sich allmählich an die Illusion seiner eigenen imponierenden Person. Und je häufiger er mit Trägern klangvoller Namen unter einem Dache weilte, desto mehr gewöhnte er sich daran, in jedem Gespräche nachlässig ihren Namen fallen zu lassen, sie als seine guten Freunde zu bezeichnen. Kam er von seinen Reisen zurück, so vermochte er sich nicht mehr in die alten Verhältnisse zu finden; zu Hause fühlte er doch, wie wenig der Grandseigneur von draußen der Wahrheit entsprach. Auf Schritt und Tritt trat ihm daheim die Vergangenheit entgegen. Und andererseits fühlte er den glühenden Wunsch, gerade hier sich durchzusetzen, wirklich das zu sein, was er auf seinen Reisen zu erscheinen suchte. Aber seine Ängstlichkeit, das Gefühl seines Judentums hielt ihn zurück. Er wußte, nur sein Geld konnte die Brücke über die Kluft schlagen, die ihn von der Gesellschaft trennte; er hielt die Waffe stoßfertig in der Hand, aber er fand kein sicheres Ziel.

Einen Sommer lang hielt er sich ein Reitpferd. Aber ihm fehlte das Herz, das unruhige Vollblut auf der Korsoallee zu beherrschen, wenn die Kavaliere mit ihren Damen rücksichtslos in langem Galopp an ihm vorbeistürmten. Einmal, als er gerade abgesessen war, fand er Gelegenheit, einem vorüberreitenden Ulanen die Reitpeitsche aufzuheben; der Offizier hatte dankend an die Mütze gefaßt, tatsächlich vor ihm, Isidor Cohn, an die Mütze gefaßt, lange und verbindlich. Isidor war das Blut in das Gesicht gestiegen, als er den Hut herabriß und wie ein Rekrut die Knochen vor ihm zusammennahm. Monatelang mimte er es bei jeder Gelegenheit vor, wie der Reiter, der inzwischen zur Königlichen Hoheit avanciert war, an die Mütze gefaßt hatte, vor ihm, Isidor Cohn, lange und verbindlich ... Und er sah sich in seiner Phantasie der Königlichen Hoheit vorgestellt, lud Höchstdenselben zum Diner ein, zu einem opulenten Diner, so märchenhaft, daß ihm die Hoheit mit Tränen dankte. Nur das vergaß Isidor ganz zu erzählen, daß er damals nicht wieder auf den nervösen Vollblüter hinaufgekommen und nach einem längeren Strauß erst eine halbe Stunde nach diesem den Stall erreicht hatte. Seitdem hatte er für immer darauf verzichtet, sich als vernünftiger Mensch auf ein unvernünftiges Vieh zu setzen.

Recha hatte nach des Vaters Tode in einer der besten Pensionen Englands Aufnahme gefunden, um ihre Ausbildung zu vollenden. Isidor hatte darauf gedrungen; er wollte, wie mit allem anderen, so auch mit seiner Schwester Staat machen.

So war es einsam um ihn geblieben. Verwandte besaß er in der Residenz nicht; die auswärtigen kannte er nur aus gelegentlichen Bittgesuchen. Sie waren arm geblieben, wie es der Großvater gewesen war.

Vor acht Tagen war er wieder einmal von der Riviera heimgekehrt. Die Stadt erschien ihm in ihrem Winterkleid doppelt langweilig. Da kam ihm eine Aufforderung zur Teilnahme an einer Wohltätigkeitsvorstellung, die die Hofgesellschaft veranstaltete, ins Haus geflogen. Auch die höchsten Kreise sind nur so lange exklusiv, als sie kein Geld brauchen; und da der Zweck der Vorstellung die Gewinnung von Mitteln für die unter dem Patronat der Herzogin-Mutter stehenden Institute war, wurde so ziemlich das ganze Adreßbuch der Residenz ausgeschrieben und weiteste Kreise mit Einladungen bedacht.

So kam es, daß Isidor Cohn an diesem Abend zum erstenmal alles, was in der Residenz nur einigermaßen zum Hof und zur Gesellschaft rechnete, vor sich sah.

Erst hatte er der Einladung nicht Folge leisten wollen; dann aber hoffte er auf einen Zufall. Wer konnte wissen, ob ihm das Glück nicht gerade jetzt die Hand bot, ob er mit seinem Fernbleiben nicht eine nie wiederkehrende Gelegenheit versäumte? Und so warf er sich denn in den Frack, ließ einen Wagen holen und fuhr in die Ressource, den größten Saal der Residenz.

Er sah nur unbekannte Gesichter um sich; er war ja auch durch seine langen Reisen in der Residenz fremd geblieben. Er scheute vor dem Menschenmeer zurück, und statt seinen teuren Platz in den vordersten Reihen einzunehmen, blieb er im Hintergrund an eine Säule gelehnt stehn.

Einige lebende Bilder waren vorbeigegangen, ohne daß Isidor Cohn darauf geachtet hätte. Jetzt aber weckte ihn ein Rauschen, eine Welle der Spannung, die bis zu ihm hinaufbrandete.

Er wollte das Programm aus seinem Klapphut ziehen, aber er gab es auf, da die Dunkelheit doch jedes Lesen verbot.

Der Vorhang hob sich.

Schiller's »Mädchen aus der Fremde« stand dort oben. Rotblond das Haar, tief hinab in schimmernder Flut bis in die Kniekehlen; zwei große sehnsüchtige Augen im blassen Gesichtchen. Ein hellblaues Kleid, von Schneeglöckchen über und über bedeckt, hüllte sie ein; aus dem gerafften Schoß ihres Gewandes blühte der Blumen Fülle, aus ihrer hocherhobenen Hand rankten sie sich tief hinab. Ihr nackter, schmaler Arm, weiß und zart, hob sich hell vom Hintergrunde ab. Ihm schien es, als ob sie ihn allein unter Tausenden suche, ihm allein die weißen Blüten bot. Sie glich nicht dem Frühling, der sieghaft in lachendem Sonnenschein die Freude bringt, Blütenduft und Himmelsglanz, – sie war der junge Lenz, der leise den Krokus durch den Schnee ruft, bangend, daß eine Frostnacht alle seine Wunder erwürgt.

Plötzlich schien sich das Bild vor ihm zu wandeln: Lebendig verkörpert blickte ihn von dort oben die Schönheit selbst an, die den Mann emporhebt aus dem Gemeinen, das Weib, das ihn mit ihrer Schwäche, in ihrem Liebreiz lähmt, betört, besiegt, wehrlos zu ihren Füßen niederzwingt. Und die blauen Augen, die ihn noch immer zu suchen schienen, wurden seltsam dunkel und tief, wie die See, über die Wetterwolken emporklimmen, sie wuchsen und glühten, inbrünstig, in heimlicher Sünde, die Augen der Salome, die das Haupt des Jochanaan küßt. Nicht bot sie ihm mehr die weißen Knospen in den Falten ihres Gewandes, – ihr eigener junger, biegsamer Leib war es, der ihm schimmernd entgegenblühte, ihm ganz allein, ihm, Isidor Cohn. Er stöhnte auf. Die Vision war verschwunden. Hoheitsvoll und keusch, herb und lieblich zugleich stand wieder das »Mädchen aus der Fremde« vor ihm, der junge Lenz, der zaghaft den Krokus ruft.

Die Herzogin-Mutter erhob sich impulsiv; und ebenso unwillkürlich stieg das »Mädchen aus der Fremde« zu ihr hinab. Ganz Dame, bot sie in tiefem, ehrfürchtigen Neigen der hohen Frau den losen Strauß, und gütig küßte diese sie auf die Stirn.

Die Vorstellung war zu Ende. Aber noch immer stand der Mann an der Säule, wie vom Blitz getroffen. Er sah nicht die an ihm vorbeiflutende Menge, die zu den Büffets strömte, nicht die schmucken Offiziere mit den leuchtenden Orden, die Spitzen des Adels und der Finanz, der Literatur und Kunst; er sah nicht die schimmernden Arme und lachenden Augen, die weißen Schultern und sehnenden Lippen der Frauen, die in frohem Geplauder an ihm vorüberrauschten. Erst schüchtern, dann immer kecker knallten in den Nischen ringsum die Pfropfen; lauter wurden die Stimmen, tiefer und feuchter die Blicke; Fächer schlugen scherzend nach Männerschultern, hin und her huschten leise, kosende Worte. Wohltätigkeit hieß die Parole, aber Weib, Weib schrie es aus allen Augen, die in der Flut des elektrischen Lichts sich kreuzten, warben, auswichen, gewährten. Wieder setzte die Musik mit dem wiegenden Walzer ein: »Einmal noch beben, eh' es vorbei, einmal noch leben, lieben im Mai ...« Mädchenlippen summten es nach, unruhige Füße in Atlasschuhen folgten dem Rhythmus, hier und da ein hastiges Sicherheben, und schon füllte sich der Saal, drehten sich die Paare.

Noch immer stand Isidor allein, während die schmalen, feuchten Hände den Klapphut mißhandelten. Er hörte die Musik nicht, sah keine Menschen; ihm stand nur eine Gestalt vor Augen, sie, die er nicht kannte und von der er doch wußte, daß sie seines Lebens Erfüllung war. Er hatte von Kindheit an gelernt den Aufschrei nach Liebe in sich zu unterdrücken, und er glaubte selbst von sich, daß ihm der Rausch des wilden Begehrs versagt war. Aber die Natur läßt ihrer nicht spotten; in einer einzigen Sekunde rächte sie sich für lange Jahre der Unterdrückung. Mochte das Mädchen sein, wer es wollte, aus armer Familie, von geringem Stande, ein schlichtes Kind des Volkes, das sie seiner goldenen Haarflut wegen für eine flüchtige Stunde aus seinem Dunkel hervorgezogen hatten, – er würde es finden, gewinnen, es als sein junges Weib mit sich führen in sein Haus. »Einmal noch leben, lieben im Mai ...« Er hatte daheim, als er sich zum Kommen entschied, flüchtig auf das Programm geblickt. Ein langer Absatz war ihm im Gedächtnis geblieben: UNTER DEM PROTEKTORAT IHRER HOHEIT DER HERZOGIN-MUTTER UND GÜTIGER MITWIRKUNG VON ...« Es folgte eine lange Reihe von Namen, alle mit einem Zusatz, der ihre Angehörigkeit zum Hoftheater bewies, dann eine zurücktretende Zeile: »UND VON DAMEN UND HERREN DES HERZOGLICHEN HILFSVEREINS.« Isidor glaubte sich auch dunkel zu entsinnen, daß seit Beginn der Spielzeit eine neue, goldhaarige Heroine Furore machte und von den höchsten Herrschaften auffallend protegiert wurde. Und er zweifelte nicht mehr, daß er diese Künstlerin vor sich gesehen hatte. Wer war sie, was war sie? Ein Kind aus gutem Hause, das der Künstlerdrang auf die Bretter getrieben? Eine schillernde Pflanze aus sumpfigem Grund, die ihr Talent zur Höhe hinaufgeführt? Eine Priesterin ihrer Kunst, keusch und rein, oder ein Weib, das die Spannkraft zu seinem nervenpeitschenden Beruf aus heimlicher Sünde schöpfte? Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er riß das Programm hoch, faltete es mit hastigen Händen auseinander und überflog den Text. Hier, am Schluß ... LEBENDE BILDER ... Und Isidor las, während seine trockenen Lippen unwillkürlich die Worte formten:

DAS MÄDCHEN AUS DER FREMDE (NACH SCHILLER)
DORA REICHSGRÄFIN HOLM.

Er stand wie vor den Kopf geschlagen; wohl zehnmal murmelte er »Dora Reichsgräfin Holm«, ohne den Sinn der Worte ganz zu erfassen. Und plötzlich traf es ihn wie ein Hieb in die Brust, ein Schmerz, wie ihn das Kind empfinden mag, das sein Lieblingsvöglein aus dem Käfig entflattern sieht. »Isidor Cohn, – Reichsgräfin Holm!« Er, biß die Zähne in Verzweiflung zusammen, daß sie knirschten. Jäh, unerwartet, im Wirbelsturm der Sinne schrie seine Seele nach diesem Mädchen, das Jugend und Rang, Schönheit und Stolz in sich vereinte, das für ihn unerreichbar war. Mochten die Menschen die Liebe auf den ersten Blick leugnen, es gab ein Begehren, das in der Sekunde aufschoß, unbezwinglich, wie der Samum über die Wüste peitscht, wie die rasende See ihre Fesseln bricht, wie die Flammen im Frühlingssturm das Strohdach im Nu in eine lodernde Fackel verwandeln. Sein ganzes Herz, sein Wollen und Empfinden war in wildem Aufruhr; sein Körper zitterte wie im Fieber, die Kniee schwankten unter ihm, wie nach atemlosem, von Todesfurcht gehetzten Lauf, wie nach schwindelndem Aufstieg über rollendes, morsches Gestein, wo ein einziger falscher Tritt das sichere Ende bringt. Und immer wieder schrie es in ihm: Wahnsinnig bist du, ein blöder Narr, der nach der schimmernden Krone greift! Kennst du denn nicht den Übermut der Hochgeborenen gegen den schlichten Mann, den Abscheu des Adels gegen dein Volk? Ein Märchen träumst du, wo Bettler Fürstenkinder freien, ein Märchen, wo blühende Rosenhecken das schlafende Dornröschen umranken, um sich vor wahrer, heißer, mutiger Liebe willig zu öffnen ...

Aber zu stark war die Leidenschaft, die ihm die Brust wie mit Eisenklammern umschnürte. In seinen Adern rollte bei all seiner Zaghaftigkeit doch wohl ein Tropfen des väterlichen Blutes, und dieser eine Tropfen stählte jetzt seinen Willen bis zur Tollkühnheit. Diesmal wollte er kämpfen. Der Siegespreis lohnte die Wunden, die seiner warteten. Er verhehlte sich nicht, er war kein Held, den glänzenden Offizieren nicht gewachsen; er wußte sich nicht in der großen Welt zu bewegen, sein Wissen war klein ... Aber er hatte eins, das Kapital; das schimmernde Gold, das ihm vom Haupte der jungen Gräfin gegrüßt, es war sein Schwert, sein Adel, sein Geist. Und waren die anderen, diese Freiherrn und Grafen nicht auch nur Menschen? Waren die Zeiten des Ghettos nicht vorbei, die den Juden über Nacht wie ein Tier eingesperrt sahen? Aufatmend richtete er sich hoch. Sein Kopf wurde freier; wie aus einem Traum erwacht, blickte er um sich. Und immer mehr grub sich der Wille in ihm ein, sich den Weg zu dieser Gräfin zu bahnen, die nichts von Isidor Cohn ahnte und die sein ganzes Herz besaß.

Eine hohe, stattliche Gestalt zog seine Aufmerksamkeit auf sich, – der Kürassier, der »lieber Berner« gesagt, ohne doch die fünfhundert Mark zu erhalten, und der dann so verstimmt vor sich hingeblickt hatte. Und mit einem Schlage sah Isidor seinen Weg vor sich. Sein Herz schlug ihm wie ein Hammer, aber entschlossen wandte er sich und ging auf den breiten Rücken des Offiziers zu.

Der Graf fühlte an dem heißen Atem in seinem Genick, daß jemand hinter ihm stand. Er wandte sich langsam um. Ein vor Erregung blasses Gesicht mit unruhigen, dunklen Augen, mit zuckenden Lippen, starrte zu ihm hinauf; es gehörte einem mittelgroßen, schmalbrüstigen Herrn, der mit seinen kleinen haarbedeckten Händen krampfhaft den Klapphut festhielt. Die gebogene Nase, das scharfausrasierte Blau der Oberlippe und der Kinnbacken, das bei der Blässe des Gesichts doppelt hervortrat, verrieten das jüdische Blut, ebenso das leichtgekrauste dunkle Haar über der schmalen, an den Schläfen etwas eingefallenen Stirn. Ein großer Brillant blitzte im Hemd.

Der Kürassier maß sein Gegenüber von oben bis unten; er sah, wie jenem die Kniee leicht bebten.

»Herr Graf,« begann Isidor leise, trotz seines mannhaften Entschlusses mit zugeschnürter Kehle, indem er sich in seiner Verlegenheit mit dem seidenen Taschentuch die Stirn tupfte. Und überhastet fuhr er zu reden fort.

»Verzeihung, mein Herr,« unterbrach ihn der Kürassier nach einer Weile, indem er ihn mit den blauen Augen im Bulldoggesicht fest im Auge behielt; er war sich nicht klar, ob er einen Bittsteller vor sich hatte, oder ob die Sache auf eine Provokation hinauslaufen sollte. »Ich bedaure unendlich, aber ich verstehe kein einziges Wort.«

Isidor blickte ihn hilflos an. Gleichzeitig fühlte er einen Stoß im Rücken; ein abseits tanzendes Paar hätte ihn fast gegen den Offizier geworfen. Der Saal drehte sich um ihn, der Boden schien ihm zu schwanken.

Der Graf sah ihm noch immer scharf ins Gesicht. Plötzlich ging ein Lächeln über seine Züge. »Herr Gott, – unser ›Lazarus‹!« rief er gut gelaunt.

»Holm!« entfuhr es Isidor. Die Farbe kehrte in sein Antlitz zurück, er hatte den Offizier erkannt. Der junge Graf hatte mit ihm das Gymnasium besucht, um dann in das Kadettenkorps in Potsdam überzugehen. Sein Vater war Hofmarschall am herzoglichen Hof. Isidor glaubte sich deutlich zu entsinnen: Gerade dieser junge Graf Holm hatte sich ihm oft unfreundlich erwiesen, und auch, als einmal in der Klasse die Rede auf Lazarus und seine Schwären kam, ihm, der sich gerade eines blütenreichen Teints erfreute, diesen Spitznamen aufgehängt.

Seitdem waren fast zwanzig Jahre vergangen, – kein Wunder, daß sich die alten Schulgenossen nicht sofort erkannt hatten.

Der Graf fragte herablassend nach Isidors Schicksalen und erwähnte von sich selbst, daß er von den Gardekürassieren als persönlicher Adjutant des Herzogs in die Residenz kommandiert sei, um später einmal das Hofamt seines Vaters zu übernehmen.

»Pardon, wenn ich noch immer ›Lazarus‹ zu Ihnen sage,« unterbrach er sich dann, »aber hol' mich der Teufel, ich hab' keine blasse Ahnung mehr, wie Sie eigentlich heißen.«

Isidor schluckte auf. »Cohn,« stieß er dann mutig heraus.

Graf Holm knickte förmlich zusammen. »Cohn,« wiederholte er gedehnt, fast ungläubig. Und wie um seine Fassung wiederzufinden, setzte er hinzu: »Mit K oder C?«

»Mit C,« gestand der andere notgedrungen.

»Vorname?« inquirierte der Graf weiter, wie beim Verhör eines Rekruten.

Isidor bekannte diesen.

»Isidor,« wiederholte der Graf. Er betonte jede Silbe nachdenklich, als stehe er einer unfaßbaren Tatsache gegenüber. »Also Cohn, ohne jeden mildernden Umstand.«

Isidor sah ihn beklommen an; er wagte sich nicht gegen die überlegene Persönlichkeit des früheren Mitschülers aufzulehnen. Schüchtern, mit vorgebeugten Schultern stand er vor ihm, ließ er den Hohn über sich ergehen, wie er es einst als kleiner gehetzter Judenjunge getan. Es war, als seien die langen Jahre, die seitdem vergangen, vollständig fortgewischt.

»Nun, lieber Cohn,« nahm der Graf etwas ungeduldig das Gespräch wieder auf, »Sie haben mich doch kaum hier gestellt, um mir die erfreuliche Tatsache zu melden, daß Sie sich mit C schreiben.« Graf Holm schien der Ansicht zu sein, daß er einen genügenden Teil seiner Zeit auf dem Altar der Schulfreundschaft geopfert hatte.

Isidor fühlte, daß ihm der Offizier zu entgleiten suchte, als ob er vor dem Gedanken zurückschreckte, künftig mit dem Zeigefinger an der Mütze den feierlichen Gruß des jüdischen Schulgenossen quittieren zu müssen. Er raffte sich zusammen und ging direkt auf sein Ziel los; aber wiederum sprach er so rasch, daß seine Worte sich überschlugen.

»Herr Graf, ich habe wider meinen Willen Ihr Gespräch mit dem Berner gehört.« Immer hastiger flogen seine Worte, in der Angst, der Graf könnte ihn schroff abweisen, ehe er alles herausgesagt hatte. »Ich bin nicht ohne Mittel, Herr Graf,« fuhr er dringend fort, »und habe schon lange die Absicht gehabt, mich im Dienste der Öffentlichkeit nützlich zu machen.« Es war das eine Lüge, aber darauf kam es Isidor nicht im geringsten an; auch fühlte er sich, während er sprach, von der Wahrheit seiner Worte vollkommen überzeugt. »Ich stelle mich ganz zur Verfügung, verstehen Sie mich,« stotterte er weiter. »Und wenn ich es wagen darf, eine Bedingung, pardon, eine bescheidene Bitte daran zu knüpfen« – der Atem versagte ihm.

»Ich soll doch etwa nicht zum Judentum übertreten?« fragte Graf Holm grimmig zurück.

»Aber Herr Graf!« stammelte der bestürzte Isidor.

»Das würde mir auch zu schmerzhaft sein,« donnerte der Kürassier mit seiner gewaltigen Kommandostimme. »Also schießen Sie endlich mal los, Freund Lazarus!«

Isidor holte entschlossen zum letzten Schlage aus. »Herr Graf,« bat er angstvoll, »helfen Sie mir ein wenig dazu, Eingang in Ihre Kreise zu gewinnen, führen Sie mich irgendwo ein, wo ich Fühlung nehmen kann, und ich zahle mit Freuden die fünfhundert Mark.«

»Geben Sie tausend, und ich führe Sie gleich wieder heraus,« dröhnte Holm. »Sind Sie denn ganz von Gott verlassen? Sich langweilen und Ihr Geld los werden, das können Sie anderwärts viel besser. Lassen Sie die Finger weg, Cohnchen, ich meine es gut mit Ihnen!«

Isidor fühlte eine unsägliche Enttäuschung; kein Zweifel, der Graf wollte nichts von ihm wissen. Wie eine Fata Morgana zerrann das schimmernde Bild der goldhaarigen, jungen Aristokratin, des »Mädchens aus der Fremde«, die jedem ihre Gaben brachte, nur ihm nicht, dem Paria, dem Juden.

Aber wieder ließ die Zähigkeit seiner Rasse, das Erbteil langer Generationen, ihn nicht verzweifeln. Mit sicherem Instinkt fand er auch jetzt noch einen Weg, den Grafen festzuhalten. Er hatte lange genug in das lebhaft gerötete, massive Gesicht seines Gegenübers geblickt, um zu erraten, daß er einen trinkfesten Herrn vor sich hatte.

Absichtlich trat er einen Schritt zurück, um wieder gegen ein herantanzendes Paar anzuprallen. »Herr Graf,« sagte er dann fast schreiend, denn das Orchester setzte eben mit voller Kraft ein, »wenn Sie nichts Besseres vorhaben, – wollen der Herr Graf mir die hohe Ehre erweisen, ein Glas auf alte Zeiten mit mir zu trinken?«

»Eins nicht, aber mehrere,« antwortete Holm, noch immer brummig. »Ich werde Ihrem Sekt die hohe Ehre erweisen, denn dieser letzten Stunden Qual war groß. Dort der Hollunderstrauch verbirgt mich ihm ...«

Und der riesige Kürassier setzte sich ohne weiteres in Bewegung und ließ sich in einer ganz abseits gelegenen Nische schwer und wuchtig nieder.

Isidor zuckte der Verdacht durch den Kopf, daß Holm in seiner Gesellschaft möglichst wenig gesehen werden wollte. Aber sein Entzücken, sich glücklich an ihn festgeklammert zu haben, zum erstenmal in seinem Leben mit einem Gardekürassier an einem Tisch zu sitzen, drängte jede Empfindlichkeit zurück.

Er schlug verstohlen die Weinkarte auf, glitt die Kolumnen des echten Sekts hinab und bestellte beim Kellner die teuerste Marke.

Sobald der Wein in den Gläsern schäumte, goß Holm das seinige mit einem Ruck hinab, schnaufte behaglich auf und fragte:

»Nun sagen Sie einmal, Herr Cohn, warum haben wir Sie eigentlich damals ›Lazarus‹ getauft?«

Auch Isidor hatte pflichtschuldigst das Glas bis auf die Neige geleert, seine Hände zitterten vor Eifer, als er von neuem einschenkte. Er war wie berauscht; er vermochte die Augen von den blitzenden Orden am Koller des Offiziers kaum abzuwenden. Und doch stimmte all das Leben und Licht, die Schönheit und Freude um ihn herum ihn mit einem Male traurig. Er hätte wie ein hysterisches Weib weinen mögen.

»Warum?« antwortete er langsam und bitter. »Weil ich ein kleiner, schwacher, wehrloser Jude war.«

»Na, na,« antwortete Holm, »seien Sie friedlich! Nur nicht sentimental werden!«

»Sehen Sie, Herr Graf,« fuhr Isidor mit schwankender Stimme fort. »Sie können ja gar nicht wissen, was das bedeutet. Wenn ich alle die stolzen, aufrechten Menschen hier um mich sehe, steht mir meine ganze traurige Jugend doppelt lebhaft vor Augen. Mein Vater war zu streng. Mir fehlt der Sonnenschein der Kindheit, der uns jung erhält bis ins weiße Haar. Lassen Sie mich einen einzigen Fall erzählen. Sie werden sich vielleicht des Ausflugs entsinnen, den unsere Tertia eines Samstags nach dem Bergsee machte und auf dem wir so furchtbar einregneten. Ich weiß noch genau, wie der Diener Ihnen mit einem Mantel entgegenkam. Auf diesem Ausflug bekam ich eine Mark mit, fünfzig Pfennig sollte ich wieder heimbringen. Als wir abends triefend naß vom Lehrer nach Hause entlassen wurden, glaubte ich nur fünfundvierzig Pfennig ausgegeben zu haben und kaufte mir einen lange und heiß ersehnten Genuß, einen braunen Maikäfer aus Zuckerguß auf grünem Blatt. Wie einen Schatz trug ich ihn heim. Als ich jedoch kurz vor dem väterlichen Haus noch einmal mein Vermögen nachzählte, waren mir nur noch fünfundvierzig Pfennig geblieben. Fünf Pfennig fehlten. Ich rannte wie ein Verzweifelter durch die Straßen zurück; die Tränen stürzten mir aus den Augen, die Leute auf der Straße sahen mir erstaunt nach. Das Geschäft war geschlossen. Da habe ich mich an eine einsame Mauer gelehnt, hoffnungslos, zitternd vor Angst, fertig mit meinem jungen Leben, hab' da gestanden die ganze lange kalte Nacht. Frühmorgens brachte mich die Polizei zurück; allein hätte ich mich nicht nach Haus getraut. Das war meine Jugend, Herr Graf. Und daheim rollte das Gold.«

Der Offizier zuckte die Achseln. »Seien Sie froh, mein Bester, daß Ihr Vater sparte; heut können Sie über das alles lachen.«

»Sie haben gut reden, Herr Graf,« antwortete Isidor. »Sie stehen auf den Höhen der Menschheit. Ihnen hat die Welt alles geboten, Glanz, Ehren und Reichtum.«

Der Kürassier sah ihn erstaunt an. »Höhen der Menschheit!« sagte er verächtlich. »Du lieber Gott! Die sind wie die Berge; erst wollen sie alle hinauf, und dann sind sie froh, wenn sie heil und ganz wieder herunter sind. Und außerdem, – ausgerechnet ich! Ein Kavallerie-Rittmeister, der sich à la suite hat stellen lassen, um hier dermaleinst den höheren Hofportier zu spielen!«

Isidor zuckte ein Gedanke durch den Kopf. Wieder fühlte er seine Waffe in der Hand; und zugleich erfüllte ihn ein unsägliches Dankgefühl gegen den Aristokraten, der mit ihm an einem Tische trank, so offen mit ihm plauderte, als hätte er seinesgleichen vor sich. Wenn der Graf wirklich nicht reich war, wenn er Geld brauchte? Sein Herz schwoll ihm hoch. »Herr Graf,« begann er vorsichtig, »wenn ich wüßte, ich dürfte ...«

»Sie dürfen alles, nur mir kein Geld anbieten,« unterbrach ihn der schroff.

»Aber ...« stotterte Isidor erschreckt. »Ich denke ja gar nicht daran.«

»Wer nämlich auf die Höhen der Menschheit losgelassen werden will, Herr – Cohn, der muß doch immerhin eins haben, und das ist Takt.«

»Ja wohl, allerdings, – viel Takt, Herr Graf,« stammelte Isidor. »Ich bin mir darüber völlig klar. Ich meinte nur, bei Gelegenheit, im Notfall ... Eine Hand – wäscht die andere.«

»Ich wasche mir meine Hände allein,« antwortete Graf Holm kurz. »Mich würde es nämlich zufällig stören, wenn mir ein Gläubiger plump vertraulich kommt!«

»Aber niemals, Herr Graf, würde ich das, niemals,« versicherte Isidor eifrig.

»Sie würden, Herr Cohn,« widersprach ihm Holm. »Glauben Sie es mir, Sie würden. Ich bin darin Autorität.«

»Herr Graf, Sie scherzen,« antwortete Isidor unsicher.

»Ich sehe Sie schon im Geiste mir auf die Schulter klopfen oder durch das Lokal schreien: ›Ist nicht mein Freund, Graf Holm, hier?‹ Sehen Sie, dann werde ich saugrob. Und warum soll ich grob zu Ihnen werden?«

Isidor schwieg. Der Graf stürzte sein Glas hinab, das letzte aus der Flasche. Isidor winkte dem Kellner.

Holm zündete sich eine Zigarre an. »Schließlich,« fuhr er etwas milder fort, »soll man niemand zu seinem Glücke zwingen. Da oben nimmt man ja auch ganz gern Fühlung mit den verschiedenen sozialen Faktoren. Sie wissen, – Konzessionsschulzen! Ich kann mal meine Tante auf Sie hetzen. Die macht gewerbsmäßig in Wohltätigkeit, – siehe den heutigen Klimbim! Sie wissen ja, daß diese Art Charitas fast immer mit Unterbilanz arbeitet und der Zweck der ganzen Übung nur ein Anna-Orden auf der mehr oder minder speckigen Schulter eines alten Weibes ist. Wenn Sie sich von diesen Amazonen vergewaltigen lassen wollen, – gern! Und dann ... Halt, da haben wir ja den richtigen Impresario für Sie! – Sternau!« rief er einen vorübergehenden Oberleutnant des in der Residenz stehenden Leibhusaren-Regiments an, »Sternau, antreten!«

Der Oberleutnant wandte sich zu ihnen. Er war ein hübscher, schlankgewachsener Mann, der in der Figur an die österreichischen Offiziere erinnerte, mit wasserblauen, hellen Augen und langem, seidigblonden Schnurrbart, das Urbild des »Veilchenfressers«, wie aus einem Backfischroman herausgeschnitten.

»Hier, lieber Sternau,« sagte der Graf sitzenbleibend, »hier haben Sie Herrn Cohn, mit C, Vorname Isidor – tatsächlich, ohne Scherz –, so eine Art Zeppelin, der in die höheren Luftschichten unseres belämmerten Weltalls strebt. Nehmen Sie sich seiner an, und Gottes Segen bei Cohn wird Ihnen lohnen. Lazarus, Sie dürfen dem Oberleutnant Freiherrn von Sternau Ihren Knix machen.«

»Sehr geehrt, Herr Freiherr,« stammelte Isidor. Er war sich über die Titulatur nicht recht einig.

Sternau sah mit seinen sonnigen Augen über ihn hinweg. »Haben Sie ein Glas für mich übrig, Holm?« fragte er.

»Maecenas atavis ...« zitierte der Graf, auf Isidor weisend.

»Ehre –, Ehre –,« stotterte dieser, noch immer stehend. Und verzweifelt sah er sich nach dem Kellner um, der soeben mit der zweiten Flasche herbeieilte. »Gestatten Sie, Herr Freiherr,« fuhr er dann fort, indem er dem Oberleutnant hastig einschenkte. Der Wein lief ihm über die Finger.

Graf Holm lehnte sich vor Vergnügen stöhnend in seinen Stuhl zurück; sein Gesicht glänzte feuerrot, die Augen waren feucht. »Wie geht's, Herr Freiherr?« kopierte er Isidors Anrede.

»Gut,« antwortete der nachlässig, »das heißt natürlich, miserabel. Meinen letzten Trumpf, die Erbtante, hat vorigen Dienstag der Satan geholt.«

»Herzlichen Beileids-Glückwunsch,« erwiderte Holm, an seiner Zigarre ziehend. »Geld muß rollen.«

»Nichts zu machen,« lachte Sternau nervös auf. »Die Verblendete hat alle möglichen segensreichen Institute mit ihren Kröten bedacht, nur mich nicht, – als ob ein Husar nicht das segensreichste Institut auf Erden wäre!«

»Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit das Glück!« antwortete Holm phlegmatisch. »Schlagen Sie doch den Millionär Cohn da tot und lassen Sie sich vorher von ihm zum Erben einsetzen!«

Bei dem Worte »Millionär« flog pfeilschnell ein prüfender Blick aus den blauen Augen des Husaren zu Isidor hinüber.

Dieser lächelte geschmeichelt. »Millionär,« protestierte er, in der deutlichen Absicht, daß ihm sein Widerspruch nicht geglaubt werde. »Sie übertreiben, Herr Graf. Streichen Sie ruhig eine Null.«

»Mein lieber Lazarus,« antwortete Graf Holm gelassen, »sobald die Null gestrichen ist, sind Sie für unsere Megären der Wohltätigkeit erledigt. Über eins müssen Sie sich doch klar sein: Ihr Juden nehmt Zinsen, wir Christen das Kapital.«

Isidor fühlte sich nicht behaglich. Die Art, wie Holm ihm seinen Glauben unter die Nase rieb, war ihm auf die Dauer scheußlich. Er suchte abzulenken.

»Welch ein Kranz von Schönheiten,« wollte er eben bemerken, indem er mit anscheinender Begeisterung in den Saal blickte, wo der Kotillon gerade zu Ende ging und die Paare zu den Buffetts zurückkehrten, als er Sternau plötzlich aufspringen sah. Er wandte sich: Gräfin Holm kam mit ihrer Nichte direkt auf sie zu. Auch der Rittmeister erhob sich, und Isidor folgte schleunigst seinem Beispiel.

Ihm stieg das Blut zu Kopf. In seiner Bestürzung vergaß er die Zigarre fortzulegen, obwohl sie ihm die Finger zu verbrennen drohte. Ihm war, als schwirrten rings um ihn herum sausende Schwungräder, die ihn bei der geringsten Bewegung zu zermalmen drohten.

Erst allmählich gewann er seine Fassung wieder. Er sah eine ältere Dame vor sich, Mitte der Fünfziger, mit behäbigem Embonpoint und klugen grauen Augen unter dem von Silbersträhnen durchzogenen blonden Haar. Und hinter ihr wogte es goldig auf, – das »Mädchen aus der Fremde«, das ihr Kostüm nicht abgelegt hatte. Sie erschien Isidor jetzt kleiner und zierlicher als auf der Bühne. Wieder sah er die seltsam großen, blauen Augen, die im Augenblick so rätselhaft sich zu verdunkeln wußten.

Sternau küßte den Damen die Hand.

Vier Augen musterten Isidor erstaunt und glitten dann ebenso befremdet über die Flaschenbatterie auf dem Tisch. Eine kurze, beklemmende Pause entstand.

Graf Holm raffte sich auf. »Erlaube gütigst, Tante, – liebe Dora, daß ich Euch Herrn ...« Er wollte etwas murmeln, dann aber entschloß er sich zu soldatischer Bravour und schrie den Namen förmlich hinaus. »Herr Cohn, Herr Isidor Cohn!«

Wieder musterten vier Augen den Mann, der leichenblaß, einen wehen Zug im Gesicht, vor ihnen dienerte. Dann senkten sich die Köpfe um eine Linie zum Gruß.

»Durchlaucht! – Frau Gräfin!« stotterte Isidor in seiner Hilflosigkeit. Zum Glück hörte es niemand.

»Komteß, Sie waren entzückend,« klang die weiche Stimme des Husaren. »Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Dank für den hohen Genuß zu Füßen zu legen.«

Ein leises Rot überflog das feine Gesicht der jungen Gräfin, während sie ihn dankbar lächelnd anblickte.

»Und gnädigster Gräfin darf ich zu dem Erfolg des Festes gratulieren?« wandte Sternau sich an die Tante.

»An und für sich gewiß,« antwortete diese zögernd. »Hoheit waren geradezu enthusiasmiert. Aber materiell ...« Sie zuckte resigniert die Achseln.

Graf Holm unterbrach sie. »Dein Freund Berner kneift,« brummte er, »unsicherer Kantonist, saturierter Blender, der ganze Kerl ein Schaumschläger. Das kommt davon, daß ihr dem Burschen den Viktor-Orden versetzt habt.«

Die Gräfin war leicht erblaßt; Doras Augen hingen ängstlich an ihr.

Isidor riß sich zusammen, er fühlte: Jetzt oder nie! Der große Moment fand den richtigen Mann. Wie mit einem Schlage verschwand sein leichter Sektrausch, eine unbeugsame Willenskraft, eine Ruhe und Festigkeit erfüllte ihn, wie sie den Todgeweihten im Angesicht des unabwendbaren Endes überkommt. Er trat vor. Die Anrede des Husaren klang ihm noch im Ohr.

»Gnädigste Gräfin,« sagte er entschlossen, »gnädigste Gräfin wollen verzeihen, wenn ich es wage, mich in Dinge zu mischen, die mich im Grunde nichts angehn. Aber ich sagte es bereits Ihrem Herrn Neffen, dem Grafen Holm, den ich die hohe Ehre habe von der Schule her zu kennen: Es ist schon längst mein lebhafter Wunsch mich nach meinen bescheidenen Kräften in den Dienst der Wohltätigkeit zu stellen.«

Wie auf verdunkelter Bühne die Schleier lichter und lichter werden und plötzlich eine farbenleuchtende Landschaft herabgrüßt, so schlug mit einem Ruck die Stimmung der Gräfin um.

Mit liebenswürdigem Lächeln, eitel Wohlwollen und Huld, streckte sie ihm die Hand entgegen. »Herr Cohn, das lasse ich mir gefallen. Ich danke Ihnen im voraus im Namen unserer Armen und Unglücklichen. Sie glauben ja nicht, wie viel Not bei uns zu lindern ist ...«

»Wenn gnädigste Gräfin mir gestatten wollten,« entgegnete Isidor eifrig, »und wenn ich Ihnen morgen fünfhundert, tausend Mark ...« Er unterbrach sich plötzlich. Er hatte »schicken« sagen wollen, aber ein glänzender Einfall blitzte ihm durch den Kopf; mit einem Male sah er deutlich den rettenden Balken vor sich schwimmen, der ihn aus Wassersnot an das ersehnte Gestade bringen konnte. Mit beiden Fäusten griff er zu. »Wenn ich sie Ihnen morgen überbringen dürfte,« fuhr er dringend fort.

Hell leuchtete die Sonne der Gnade auf dem Gesicht der Gräfin auf. Isidor fühlte festen Boden unter sich. Er sah den Blick nicht, mit dem ihn Sternau aufmerksam von der Seite musterte.

»Herr Cohn,« antwortete die Gräfin, »Sie sind ein guter Mensch; und gute Menschen habe ich lieb. Kommen Sie getrost, von zwölf bis drei bin ich stets zu Hause.«

Und wieder reichte sie ihm die Hand und schüttelte sie herzlich zum Abschied. Dora, die kein Wort gesprochen hatte, folgte ihr mit kurzem Gruß.

Die drei Herren setzten sich wieder. Eine Weile schwiegen sie. »Nun sagen Sie einmal, Lazarus,« sagte dann plötzlich Graf Holm, sich weit über den Tisch lehnend, »Sie sind ja ein verdammter kleiner Schäker. Erst tun Sie, als ob Sie nicht drei Schritt allein gehn können, und dann springen Sie mit beiden Füßen mitten in die Pastete.«

Isidor sah ihn mit strahlenden Augen an; nie hatte ein so unsägliches Gefühl des Glücks ihn erfüllt. Er begriff in diesem Augenblick nicht, wie ihm soeben erst noch das Herz vor den beiden Offizieren hatte schlagen können. Er war ihnen ebenbürtig, jeder Situation gewachsen.

Aber ein heimlicher, sicherer Instinkt verhinderte ihn, seinem Triumphgefühl offen Ausdruck zu geben. »Ihnen, Herr Graf, habe ich das alles zu verdanken,« antwortete er bescheiden. »Gestatten Sie mir, auf Ihr spezielles Wohl!« Und wieder leerte er sein Glas.

»Prost!« erwiderte der Graf gemütlich. »Weiß Gott, Sie verstehn den Rummel! Wer die alten Weiber für sich hat, der hat die ganze Welt in der Tasche. Ich gratuliere vorweg zur wohlverdienten Höchsten Auszeichnung.«

Wieder wußte Isidor nicht, ob der Graf ernsthaft oder im Scherz sprach, und sein Selbstbewußtsein sank. Verlegen spielte er mit seinem Glas.

»Wie alt ist Komteß Dora eigentlich?« fragte Sternau nach kurzer Pause.

»Hm!« antwortete Holm, »ich muß erst einmal rechnen. So an zwanzig oder einundzwanzig.«

»Und noch nicht verlobt, – solch ein Bild von Mädchen. Ist das nicht geradezu ein Skandal?« bemerkte Sternau.

»Du lieber Gott, Sie wissen doch Bescheid. Wir Holms sind keine Krösusse. Drei Brüder, – der älteste mein Vater, den sein Hofmarschallamt kümmerlich ernährt, der zweite, der Tante Thekla heiratete und in jungen Jahren auf der Jagd verunglückte, und endlich der jüngste, Doras Vater, der Oberstleutnant, der 1900 in Tien-tsin am Typhus blieb, worauf sich die junge Witwe hier zu Tode weinte ... Wer geht da ran? Ich habe ja schließlich für mich zu leben, von meiner Mutter her, – aber Inzucht? Nichts zu machen! Man hat auch gegen seine ungeborenen Kinder Pflichten.«

»Ja,« sagte Sternau nachdenklich und zerstieß seine Zigarette im Aschbecher, »wenn ich es könnte, ich kriegte es fertig und holte sie mir ... Übrigens, war da nicht mit Trettach einmal etwas im Gange?«

»Nein,« antwortete Graf Holm scharf, indem er sich energisch aufrichtete. »Nein, absolut nicht! Ich autorisiere Sie, jedem solchen Geschwätz in meinem Namen deutlich entgegen zu treten.«

»Na, na, beißen Sie nur nicht, Holm,« antwortete Sternau. »Relata refero. Es fiel mir eben ein, weil Trettach doch nächstens von da unten zurückkommt. Seine zwei Jahre müssen bald um sein. Hat der Mensch einen Dusel, – mitten in den Aufstand hinein, und dann so glänzend abzuschneiden!«

Isidor saß wie auf Kohlen; er lauschte auf jedes Wort, wie ein Angeklagter auf das Urteil, krampfte die Hand so fest um den Stengel des Glases, daß es abbrach. Ein Blutstropfen rann träge über seine Hand, er merkte es nicht.

Denn seine Seele ging hohen Gang. Gräfin Dora arm, Gräfin Dora frei! Wie ein Hohelied jauchzte es in ihm: Gräfin Dora arm, Gräfin Dora frei! Zum erstenmal wagte er seiner dumpfen Sehnsucht, seinen vermessenen Wünschen mit vollem Bewußtsein ins Auge zu sehen. Vor seinen vom Wein erhitzten Sinnen stand die goldhaarige Fee, strahlend in Jugendprangen, erschauernd unter seinem Kuß ... beide allein ... Gräfin Dora frei, Gräfin Dora arm ... Mit allen Schätzen der Erde wollte er sie sich gewinnen, in rieselnde Seide und köstlichen Schmuck ihre Schönheit betten ... Und wenn die Nacht herabsank, wenn sie auf weichem Pfühle seiner harrte, sein Weib, seine Königin ...

»Gute Nacht, Herr Cohn,« hörte er plötzlich Sternaus ironische Stimme.

»Heißen Dank für das Interesse, daß Sie an meinem erlauchten Stammbaum nehmen,« fügte Graf Holm in gleichem Tone hinzu.

Isidor blickte verstört auf. Er hatte alles um sich vergessen, das Fest, die Herren am Tisch ... Durch Märchenauen war er gewandert, wie Moses hatte er sehnend in das ferne gelobte Land geblickt, von dem ihn Berg an Berg und Schlucht an Schlucht noch trennte.

Graf Holm zog gähnend die Uhr. »Halb vier,« sagte er mißmutig, »Zeit für uns Kinder, zu Bett zu gehen. Um acht muß ich oben im Schloß sein, – verdammtes Hundedasein!«

Sternau lächelte. »Wenn Sie aufstehn, Holm, hab' ich schon anderthalb Stunden Karussel geübt, die blödsinnigen Militärsoldaten immer die Reitbahn herum, bis ihnen und mir trieselig wird. Alles für Fürst und Reich und drei Mark fünfzig den Tag.«

»Schlaft wohl, Leute!« antwortete der Graf. »Schönen Dank, Lazarus. Auf Wiedersehn!«

Und er ging schweren Schrittes, den Pallasch in der Faust, dem Ausgang zu.

Isidor trat mit dem Kellner zur Seite. Acht Flaschen waren getrunken; die hundertfünfzig Mark, die er bei sich hatte, langten gerade für Zeche und Trinkgeld. Sternau trat auf ihn zu. »Ist es Ihnen recht, wenn wir zusammen heimwandern?« fragte er liebenswürdig. »Nach solcher Sitzung gehe ich gern zu Fuß, das macht den Kopf frei.«

Isidor war überrascht. Der Husar, der sich fast den ganzen Abend ihm gegenüber so reserviert verhalten, so oft stumm und verträumt vor sich hingestarrt hatte, um dann wieder in auffallende Lustigkeit zu geraten, war ihm nicht recht sympathisch gewesen. Jetzt schämte er sich seines Vorurteils; und wieder regte sich der Stolz in ihm, Seite an Seite mit einem Oberleutnant und Freiherrn den Saal durchqueren zu dürfen. Besonders herzlich erwiderte er daher: »Mit tausend Freuden, Herr Freiherr,« und erhobenen Hauptes folgte er dem säbelrasselnden Offizier. Eifrig wehrte er die Garderobenfrau ab und half dem Husaren trotz seines Protestes in den pelzbesetzten Mantel.

Kalt schlug ihnen die Nachtluft entgegen; der Schnee knirschte unter ihren Füßen, die Sterne glitzerten in unruhigem Glanz. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander; der Rauch der Zigarre und Zigarette mischte sich mit ihrem Atem.

Isidor hatte die Winternacht wieder ernüchtert. Der Name Trettach summte ihm durch den Kopf; Graf Holm war sichtlich empfindlich gewesen. Und immer mehr empfand Isidor ein bohrendes Gefühl, einen dumpfen Schmerz, eine unbestimmte Eifersucht auf den Unbekannten, dessen Name mit dem der Gräfin Dora in Verbindung gebracht wurde.

»Trettach!« sagte er langsam, wie zu sich selbst. »Ich meine, ich habe da unten in Nizza einen Trettach kennen gelernt, vor drei oder vier Jahren.« Es war kein Wort davon wahr; vor drei Jahren saß Isidor noch unter den Augen des Vaters festgenagelt an seinem Pult. Aber er empfand eine innere Freude an der Lüge, die ihm Gewißheit bringen sollte. »Ein großer, blonder Herr, etwas schwach auf der Brust. Es hieß damals, er hätte eine Kugel in der Lunge ...«

»Nein,« antwortete Sternau, »das ist nicht unser Trettach. Der ist ein Freund des Grafen Holm, vom Kadettenkorps her. Dann kam er als Fahnenjunker zu uns ins Regiment und verkehrte wie ein Sohn im Holmschen Hause.« Sternau schwieg einen Augenblick, um dann in abgehackten Sätzen fortzufahren.

»Eine verflucht merkwürdige Geschichte mit dem Trettach! Der alte Graf Bolden, sein Großvater von Mutterseite, über achtzig Jahre alt, Millionen über Millionen, gar nicht zu zählen! Sein Schwiegersohn, der Vater unseres Trettach, leichtsinniges Huhn, wie behext von den Karten, immer bei der vorletzten Flasche; aber ein Prachtkerl, dem keine Hürde zu hoch war und der sich vor keiner Klinge fürchtete, Kronprinz-Ulan oben in Preußen. Die junge Bolden sah ihn bei der ›Armee‹ als Ersten durch's Ziel gehn, und sehn und lieben war eins.

»Als er um sie anhielt, antwortete ihm der alte Graf Bolden gar nicht, sondern klingelte, gab dem Diener den Auftrag, dem Gaste ein Spiel Karten und eine Flasche Sekt zu bringen, und verließ das Zimmer. Trettach rächte sich prompt für den Schimpf. Er ging mit dem Mädel durch. Der alte Bolden hängte die Sache an die große Glocke, Trettach mußte den Abschied nehmen. Nun denken Sie sich die Situation: die junge Frau, einzige Tochter und vermutliche Universalerbin, aber ohne einen Groschen vom Vater; Millionen in Aussicht, aber Not im Haus, Gerichtsvollzieher und gepfändete Stühle. Ein Sohn wird geboren; die junge Mutter will sich nicht erholen, nur der Süden könnte sie retten, – der Alte rührt keinen Finger. Die Frau stirbt, Graf Bolden verweigert die Annahme der Todesanzeige. Zwanzig Jahre schlägt sich der Vater unseres Trettach mit dem Leben herum, immer vis-à-vis de rien, immer Kavalier; dann stirbt er, als eben der Sohn das Korps verläßt und zu uns kommt. Der pumpt, er kann ja nicht anders. Auch das nimmt schließlich ein Ende. Er meldet sich zur Schutztruppe und geht hinüber nach Kamerun. Das ist jetzt über zwei Jahre her; er hat sich den Viktor- und den Kronenorden mit Schwertern geholt und muß jetzt zurückkommen. Sie wissen, alle zwei Jahre sechs Monate Urlaub. Mit dem Gehalt da drüben kann er zur Not durchkommen. Aber der alte Graf Bolden blüht immer mehr auf. Muß scheußlich sein, – stets das Futter vor sich und die Kette zu kurz! So ein à conto-Leben, von der Hand in den Mund, Proletarier und Nabob in spe zugleich ...«

»Und wenn der alte Graf stirbt?« fragte Isidor gespannt.

»Dann ist nur die Frage, ob Trettach zehn oder zwanzig Millionen bekommt,« antwortete Sternau. »Eins kann ihm der Alte ja nicht nehmen, das Pflichtteil seiner Mutter. Schließlich doch ein verflixt angenehmes Dilemma, – wenn ihn das Fieber da unten inzwischen nicht frißt!«

»Und,« – Isidor holte tief Atem – »und Sie meinen, dann wird Gräfin Dora Frau von Trettach?«

Sternau zuckte die Achseln. »Sie haben Holm ja heute gesehen. Ein bissel Liebe ist doch wohl dabei; ob das nur blöde Jugendeselei gewesen oder chronisch geworden ist, wer soll das wissen? Eins steht für mich fest: Dem Trettach würde ich die kleine Dora gönnen, und ihr den Hans Joachim erst recht. Die hat noch nicht viel frohe Tage gesehen, – immer bei der Tante, in dieser muffigen Kirchenluft, immer im Dalles! Ich würde an Gräfin Doras Stelle einen Bantuneger heiraten, bloß um einmal was anderes zu sehn.«

Isidor blieb mitten im Schnee stehen. Als er bemerkte, daß Sternau ihn erstaunt anblickte, zündete er sich umständlich seine brennende Zigarre an. Kein Wort hätte er sprechen können, so wild jagten sich seine Gedanken. Trettach kam zurück, Trettach konnte jeden Augenblick Millionen besitzen! Er fühlte einen wahnsinnigen Haß gegen diesen Mann, von dem er vor wenigen Stunden noch nichts gewußt, und dessen Name allein ihm jetzt an die Nerven riß, ihm körperlichen Schmerz bereitete. Eins sah Isidor klar: kam der Offizier zurück, ehe er, Isidor, eine Entscheidung herbeigeführt hatte, so war Dora für ihn verloren. Mit dem instinktiven Gefühl der Todfeindschaft fühlte er, daß irgend etwas zwischen beiden vorgegangen war; und mochte die Liebe auch inzwischen erloschen sein, erstickt in der Folter langen Harrens, in den Fieberdünsten der Kolonie, – im Augenblick, wo Trettach zurückkam, der Held, der dort unten im Dickicht sein Leben hundertmal eingesetzt für Kaiser und Reich, in dem Augenblick würde die alte Liebe wieder aufflammen, um so heißer, je hoffnungsloser sie blieb. Er, Isidor besaß keine Millionen, wie jener sie zu erwarten hatte, aber der Sperling in der Hand war immer noch besser als die Taube auf dem Dache. Nur daß die Tage, die Stunden kostbar waren, daß das Eisen geschmiedet werden mußte, ehe der andere sich selbst und – wenn sich zwei Augen schlossen – die endlich eroberten Schätze in die Wagschale werfen konnte. Und der Weg lag klar vor ihm. Er hatte die Gräfin Thekla für sich gewonnen; sie war das Sprungbrett, auf dem Isidor Cohn sich emporschnellen würde, mochte es kosten, was es wollte.

»Haben Sie Zahnschmerzen, Herr Cohn?« hörte er seinen Begleiter lachend fragend.

»Verzeihen Sie, Herr Freiherr –«

»Pardon, lieber Cohn,« unterbrach ihn dieser. »›Herr Freiherr‹ ist eine Sünde wider den Heiligen Geist. Sagen Sie Herr Baron, wenn Sie absolut nicht anders können, obgleich auch das überaus schmerzlich ist, oder einfach den Namen. ›Herr Freiherr‹ ist ein Witz, auf den Sie stolz sein dürfen.«

»Danke, Herr von Sternau,« antwortete Isidor ohne Empfindlichkeit. »Sie berühren da etwas, an das ich eben selbst dachte. Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, in höheren Kreisen zu verkehren. Wollen Sie mich nicht ein wenig unter Ihre Fittiche nehmen?«

»Meine Fittiche, lieber Cohn,« – Isidor fiel es auf, daß der Husar das »Herr« fortließ; aber er war sich nicht klar, ob er dies als Nichtachtung oder als Auszeichnung betrachten sollte – »meine Fittiche sind nur mieß, verzeihen Sie das jüdische Wort. Ich muß bei meinem Wechsel, den mir mein alter Herr auf seiner Klitsche in Pommern geben kann, verflucht vorsichtig hüpfen. Für große Sprünge langt es nicht, und Fêten verkneife ich mir, soweit ich nicht, wie heut, von oben herunter dazu befohlen werde. Ich glaube wirklich nicht, daß ich der richtige Mann für Sie bin.«

Isidor war in Verlegenheit. Schon wieder sah er die Hoffnung entflattern. Durfte er dem vornehmen Freiherrn Geld anbieten? Er hatte genug von diesem Versuch beim Grafen Holm. Aber der Mut der Verzweiflung trieb ihn vorwärts, wie ein ungeübter Segler im aufkommenden Sturm jeden Fetzen Leinwand aufspannt, nur um der Angst ein Ende zu machen, und wenn es ein Ende mit Schrecken wäre.

»Herr von Sternau,« sagte er langsam, vorsichtig, von Wort zu Wort sich weitertastend, »denken Sie sich folgende Lage: ein Mensch erhofft eine Gefälligkeit von einem anderen, und zufällig erkennt er, daß er auch diesem anderen helfen könnte. Aber er wagt es nicht, sich auszusprechen, weil dann die Erfüllung seiner eigenen Bitte leicht als der Preis für seine Hilfe erscheinen und dies den anderen beleidigen könnte. Wie würden Sie sich in solchem Fall verhalten?«

»Ich würde mich vor allen Dingen deutlich ausdrücken,« antwortete Sternau.

»Und wenn Sie dabei riskieren den anderen, wenn auch ohne jede solche Absicht, zu verletzen?«

»Dann würde ich es lassen,« erwiderte der Husar.

Cohn sog fieberhaft an seiner Zigarre. So ganz leicht war die Sache denn doch nicht. Verstand ihn der Offizier nicht, oder stellte er sich nur taub? Er fühlte unsicheren Boden rings um sich und wagte sich keinen Schritt vorwärts. Endlich faßte er wieder Mut.

»Mit dem Lassen ist keinem von beiden gedient,« sagte er, »und zwei vernünftige Männer sollten sich doch immer einigen. Ich erbitte einen Dienst von Ihnen, und es ist nicht mehr als recht und billig, daß auch ich Ihnen einen solchen erweise, – gern, mit Freuden erweise,« setzte er hastig hinzu, »auch, wenn Sie mir meine Bitte glatt abschlagen.«

Der Offizier sah vor sich durch die Nacht. »Mit einem Wort, Sie möchten mir unter die Arme greifen,« antwortete er nachdenklich. »Sie wollen nicht, daß ich den Sekt bezahle, den ich als Ihr getreuer Eckart trinke, und den ich übrigens auch gar nicht bezahlen kann. Sie möchten mich auch nicht blamieren, indem Sie mich vor anderen Leuten freihalten; also wollen Sie mir diskret den nötigen Vorschuß geben, auf daß ich Arm in Arm mit Herrn Cohn mein Jahrhundert in die Schranken fordere.«

Das »mit Herrn Cohn« klang schrill in Isidors Ohr. Er wagte kein Wort mehr zu sagen.

»Sehen Sie, lieber Cohn,« fuhr Sternau fort, »das ist eine Sache, die denn doch überlegt sein will. Fallen wir ab, so sind wir beide die Leidtragenden, und Sie erheben obendrein ein Jammergeschrei, wie Ihre Vorfahren an den Wassern Babylons. Ich setze mich aber nicht gern zwischen zwei Stühle, dazu ist mir mein freiherrliches Gesäß zu lieb.«

»Aber Herr Fr ..., Herr von Sternau,« unterbrach ihn Isidor bestürzt.

»Sie sind ein guter Mensch, sage ich mit der Gräfin Holm,« fiel ihm Sternau ins Wort, »aber gute Menschen sind – pardon! – mit Vorsicht zu genießen. Ich will mir also die Sache beschlafen. Morgen beim Reitunterricht habe ich genug Zeit dazu. Und dann können wir ja gelegentlich als gute Freunde darüber reden.«

Cohn atmete auf, obwohl ihm das »gelegentlich« nicht sehr ermutigend erschien.

»Ich gebe mein Schicksal ganz in Ihre Hand,« sagte er demütig, mit abgezogenem Hut; denn Sternau war vor der Kaserne angelangt und stehen geblieben. »Wenn Sie mir morgen um elf die Ehre geben wollten, ganz unter uns ... Ein kleines Frühstück, nur meine Schwester ... Ich bitte Sie dringend, Herr von Sternau, machen Sie mir die Freude, die Sie zu nichts verpflichtet. Ich würde Sie nicht so drängen, aber ich muß ja morgen zur Gräfin Holm und möchte mich bei Ihnen noch klug fragen. Ohne alle Umstände, Herr von Sternau, ich bitte sehr, geben Sie mir keinen Korb!«

»Bon!« sagte der Husar endlich, nach langer Pause, »um elf Uhr also. A rivederci, lieber Cohn!«

Isidor überrieselte ein seliges Gefühl, als zum erstenmal in seinem Leben ein Offizier vor ihm die Sporen zusammenschlug, die Hand an die Pelzmütze hob und ihm dann herablassend einen Finger reichte. Er hätte am liebsten alle Glocken der Stadt Sturm läuten lassen, damit die ganze Residenz zusammenlief und seinen Triumph sah.

Während er von allen den Ereignissen des Abends wie betäubt, vom Wein benommen, sich fiebernd in seinen Kissen wälzte und Bilder voll rauschenden Glücks im Dunkel der Nacht ihm vor die geschlossenen Augen traten, ein Nixchen mit goldigem Seidenhaar und glänzenden Augen, blau wie der Enzian, tief wie die See, ging Sternau über die steinernen Treppen in seine Dienstwohnung hinauf. Er dachte an Isidor, und leise mit sich sprechend faßte er seinen Eindruck in die Worte zusammen: Il est trop poli, pour être honnête!

Zu gleicher Zeit sagte Komteß Dora Holm ihrer Tante gute Nacht.

»Der Herr – Cohn heißt er ja wohl? – der, scheint ein recht netter Mensch zu sein,« äußerte die Gräfin zuletzt noch.

Komteß Dora blieb auf der Schwelle des Zimmers stehn und sah die Tante groß an. Dann wandte sie sich, und im Hinausgehn sagte sie mit unsäglicher Verachtung:

»Der Jude!«

*

Am nächsten Morgen war Isidor in aller Frühe schon auf den Beinen. Er hatte sich als Chef nie allzuviel um sein Geschäft bekümmert und alles meist dem alten Goldschmidt, seinem Prokuristen, überlassen; aber dennoch hatte er sich bisher jeden Tag, soweit er nicht auf Reisen war, unten eingefunden, um sich die eingegangene Post vorlegen zu lassen und durchzusprechen. Er benutzte nicht die unbequeme Wendeltreppe, die direkt vom ersten Stock in sein Bureau führte, sondern ging, um sich vor dem Personal sehn zu lassen, die Haupttreppe hinab und legte so den Weg zurück, den alle Besucher gehen mußten, ehe sie zu ihm gelangten. Im Vorflur des Kontors hingen in langen Reihen, prächtig eingerahmt, die Diplome und Ausstellungsmedaillen, die der Firma »Siegfried Cohn« seit dreißig Jahren erteilt worden waren. Trat er durch die kunstverglaste Eingangstür hindurch, so schweifte sein Blick über den langen, feierlich öden Saal, in dem die Buchhalter an schweren, eichenen Pulten unter Totenstille ihre Bücher wälzten. Dann stieg er die teppichbelegte Treppe am Ende des Saals wieder hinauf, durchquerte die Expedition und das Handlager, ging durch das dunkelgetäfelte Konferenzzimmer mit dem in Stein gehauenen Verlagssignet über der Tür und kam so endlich in sein luxuriös ausgestattetes Privatbureau. Gern betrat er diesen Raum nicht; er konnte die Zeiten, in denen des Vaters Wille hier Gesetz gewesen war, noch immer innerlich nicht überwinden, und es wurmte ihn, daß Goldschmidt durch das Testament seinem Einfluß entzogen war und sich im Gefühl seiner Erfahrung und Unentbehrlichkeit völlig unabhängig gab. Daß der Vater, indem er den bewährten Mitarbeiter und Freund in seiner Existenz sicher stellte, nur bezweckt hatte, ihn um so fester an das Geschäft zu fesseln und dem Sohne die erprobte Stütze möglichst lange zu erhalten, das kam Isidor nicht in den Sinn. Es erbitterte ihn, daß Goldschmidt sichtlich beim Personal mehr galt, als er, und daß seine Anordnungen, so selten wie sie waren, fast regelmäßig dem Einwand begegneten: »Herr Goldschmidt hat das anders bestimmt!«, daß er, der Chef, offenbar nur als äußere Folie der Firma, als der Ora, der alte Prokurist als der eigentliche Leiter, der Labora galt. Und das verleidete ihm immer mehr die Arbeit. Kaum, daß er noch einen seiner Autoren und Lieferanten zu Gesicht bekam; alle Welt war gewohnt mit Goldschmidt zu verhandeln und die Ansicht des Prokuristen als entscheidende anzusehen. Er verlor die Übersicht, die er nie ganz besessen hatte, bald völlig, und machte infolge seiner Unkenntnis des Geschäftsganges in seinen spontanen Dispositionen immer häufiger Fehler, die dem Personal Anlaß zu kaum versteckter Heiterkeit boten. Und bald sah er in seinen Angestellten Feinde, gegen deren Nichtachtung er sich wehrlos fühlte, wollte er sie nicht alle mit einem Ruck auf die Straße setzen. Die Wenigen aber, die es für klug hielten, um den doch immerhin das Heft in den Händen haltenden Chef herumzuschwänzeln und ihm zu schmeicheln, die zog er bei jeder Gelegenheit heran, fragte sie vertraulich aus und untergrub so selbst die Disziplin, die das Rückgrat jedes großen Betriebes ist.

Zum erstenmal entschloß er sich heut, nicht hinunterzugehen und Goldschmidt die Post ohne ihn erledigen zu lassen.

Er war in ungeheurer Aufregung. Sein Haushalt war auf Repräsentation nicht zugeschnitten. Solange er nicht auf Reisen war, hatte er daheim, in Rechas Abwesenheit, ein Junggesellenleben geführt und die wenigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, die ihm die Firma auferlegte, im Restaurant erfüllt. Auf das Mädchen, die alte Therese, die schon zu Lebzeiten des Vaters im Hause gewesen, konnte er sich nicht verlassen. Und Recha war erst seit wenigen Tagen aus England zurückgekehrt.

Schon am frühen Morgen, lange bevor das Geschäft geöffnet wurde, ließ er die Schwester wecken. Als sie am Kaffeetisch erschien, entwickelte er ihr aufgeregt sein Frühstücksprogramm, nahm einen Zettel und notierte alle Delikatessen, die ihm auf seinen Reisen begegnet und vermutlich in der Residenz erhältlich waren. Recha saß ihm still gegenüber, ohne ihn durch Widerspruch noch mehr nervös zu machen. Sie bot im Schmuck ihrer achtzehn Jahre ein reizendes Bild. Die braunen, sanften Augen unter der klaren Stirn, der frische, rote Mund, die feingewölbte Nase ließen sie jetzt als Schönheit erscheinen, die alle Vorzüge ihrer Rasse vereinte. Ihr Anblick erinnerte an das Köstlichste, Herzbezwingendste des Judentums, das dieses aus den Zeiten des alten Testaments in unsere Tage hinübergerettet hat, – an seine Frauen, Judas Töchter, schlank wie die Rehe, mit den kühlen und doch so heißen Gazellenaugen, mit der mattgetönten Haut, die sich unter dem Herzschlag der Liebe so rosig färbt, Judas Töchter, die als Gattinnen der Sonnenschein ihres Heims sind, fleißig und schlicht, selbstlos und treu, Frauen, vor denen ein jeder sich huldigend beugen darf.

Und während Isidor seine Frühstückspläne entwickelte, hielt er Recha gleichzeitig einen Vortrag über den Verkehr mit hohen und höchsten Herrschaften. Leider habe sie bisher keine Gelegenheit gehabt, wie er, ihr Bruder, in enger Fühlung mit dem Adel zu leben. Graf Holm zum Beispiel, der gestern ihm nicht von der Seite gewichen sei; die Gräfin Thekla, die ihn so herzlich gebeten habe, sie heute wieder einmal zu besuchen; der Freiherr von Sternau, der ihn schon lange quäle, bei ihm verkehren zu dürfen und viele, viele andere. Er nannte ihr die Titulaturen, erzählte mit schneidendem Hohn von einem Banausen, diesem unglaublichen Berner, der gestern Sternau »Herr Freiherr« nannte, was einen Sturm der Heiterkeit erregt habe. Er malte glänzende Bilder an die Wand, sprach von neuen Zeiten, von Finanz- und Geburtsaristokratie, die bestimmt seien sich miteinander zu verschmelzen und die Welt zu beherrschen. Er log, daß er sich gestern Abend nur mit Mühe der Herzogin-Mutter entzogen habe, die ihm für seine Wohltätigkeitsbestrebungen danken wollte; er schwatzte von Hofmarschällen, Viktororden, Husaren und Kürassieren, bis er atemlos innehalten mußte.

Während der ganzen Zeit saß Recha still, die Hände im Schoß, und blickte mit ihren schönen, braunen Augen tief auf den Grund seiner Seele.

Kaum schlug die Uhr acht, als er zum Haustelephon stürzte. Er ließ sich einige hundert Mark heraufsenden, – »auf Privatkonto zu buchen« – und verlangte sämtliche Hausdiener und Laufburschen. Es war eine förmliche Mobilmachung. Der eine mußte zum Lohndiener, der andere zum Weinhändler eilen, der dritte fahndete nach Delikatessen, – dieser hatte die Importen und Zigaretten zu besorgen, jener stürzte von Koch zu Koch, um frische Pasteten zu beschaffen, während wieder andere das gute Geschirr und Silber auspackten und Therese in der Küche mit feuerrotem Kopf die Bouillon aufsetzte. Nichts war Isidor gut genug, nichts wurde ihm recht gemacht; und während er sich eilig in den Überrock warf, dirigierte er das Decken des Tischs, rückte Teller und Gläser und war, als die Uhr elf schlug, mit seinen Kräften so gut wie zu Ende.

Dafür hatte er aber auch ein kulinarisches Märchen aus der Erde gestampft. Von dem Tisch mit seinen drei Kuverts waren zwei Platten ausgezogen, um alle die Herrlichkeiten zu fassen. Hier der weißgraue, gekühlte Malossol, dort die riesigen Hummern zwischen kaltem Braten und langschnäbeligen Schnepfen, in der Mitte edler Wein in altersgrauen Flaschen, weiß, rot, Cherry, Port, – eine wahre Ausstellung. Draußen Austern und dreigesternter Kognak auf Eis; im Herrenzimmer ein ganzes Schaufenster von Zigarren und Zigaretten, alles in Mengen, die zwanzig Herren nicht bewältigt hätten.

Und wieder schnellte Isidor trotz seiner Müdigkeit hoch. Zehnmal betrachtete er sich im Spiegel von oben bis unten, zupfte an der Kravatte, wechselte die bunte Weste. Er versuchte an Rechas schlichtem, eleganten Kostüm zu mäkeln, wich jedoch vor ihren ruhigen Augen zurück. Er stürmte in die Küche, um die Bouillon zu prüfen; er beschwor den inzwischen eingetroffenen Lohndiener, die Ehre des Hauses zu wahren, drückte ihm vorweg eine Spende in die Hand und ließ durchblicken, daß er, von langjähriger Reise zurückgekehrt, künftig – bei seinen vielen Beziehungen zu den höchsten Kreisen – fast täglich solche kleinen Feste veranstalten werde und den Mann bei zufriedenstellenden Leistungen ganz allein ernähren könne. Er belehrte ihn, daß er in seinem Hause die Gäste genau so gemeldet zu sehen wünsche, wie er dies von der englischen Aristokratie her gewöhnt sei, und er markierte selbst den Gast, um den Lohndiener einzuexerzieren. Zwar hatte Isidor absolut keine Ahnung von dem Leben und Treiben der upper five am Themsestrand, dennoch war es für ihn ein erhebender Moment, als er vom Entree in die Stube hineinknixte und der Mann, die Tür vor ihm aufreißend, mit aller Anstrengung seiner Lunge: »Herr Oberleutnant Freiherr von Sternau« brüllte.

Die Uhr zeigte halb zwölf. Eine unbestimmte Unruhe packte Isidor. Eifrig wandelte er um den Tisch, mit zugekniffenem Auge die Richtung der fünf Gläser vor jedem Gedeck prüfend, und drehte die Weinflaschen so, daß die hochtönenden Etiketts dem Platze des Gastes zugewandt waren. Dann ließ er sich wieder in seinem Zimmer nieder, immer bereit, beim ersten Klingelzeichen aufzufahren. Recha kam und setzte sich schweigend neben ihn.

Dreiviertel auf zwölf. Es läutete. Isidor schnellte hoch; er eilte so hastig zum Eingang, daß er sich die Schulter empfindlich stieß. Stundenlang hatte er sich vorgenommen, in nachlässiger Haltung den Gast im Salon zu erwarten, als sei er es gewohnt, täglich Gäste bei sich zu sehen. Aber sein Temperament riß ihn fort. So stürzte er denn in den Flur, schob den verwunderten Lohndiener beiseite und öffnete mit strahlendem Lächeln die Tür.

Ein vierschrötiger Husar stand in strammer Haltung vor ihm.

Isidor fror das Lächeln auf dem Gesicht Er brachte kein Wort heraus.

»Der Herr Oberleutnant von Sternau – der Herr Oberleutnant von Sternau lassen eine schöne Empfehlung ausrichten,« stotterte der Bursche verlegen sein offenbar auswendig gelerntes Sprüchlein her, »und der Herr Oberleutnant bitten um Entschuldigung, – bitten um Entschuldigung, daß der Herr Oberleutnant nicht kommen, weil der Herr Oberst den Herrn Oberleutnant um zwölf – um zwölf auf das Regimentsbureau bestellt haben. Und der Herr Oberleutnant werden gern ein andermal kommen, lassen der Herr Oberleutnant bestellen ...«

Isidor war kreidebleich, er sah den Lohndiener an, der verstohlen feixte, dann den Husaren, der froh, seinen schwierigen Auftrag los zu sein, über das ganze pausbäckige Gesicht grinste ... Haltung! Haltung! schrie es in ihm. Und plötzlich schoß ihm das Bild durch den Kopf, wie Sternau gestern an dem Portier der Ressource vorbeigegangen war, der ihm die Tür aufhielt. Er. reckte sich zu möglichst getreuer Kopie auf. »Danke, – 'n Morgen!« sagte er kalt und herablassend zu dem Husaren und schloß energisch die Tür.

Der Lohndiener war schleunigst in die Küche retiriert; er konnte seine Freude, ohne Arbeit seinen Tageslohn verdient zu haben, nicht länger bezähmen.

Isidor stand ganz allein in dem engen Korridor. Die Glieder waren ihm wie abgeschlagen. Hundert Gedanken kreuzten sich in seinem Hirn, während er verzweifelt auf die schimmernde Tafel im Eßzimmer blickte, wo jede Flasche, jede Speise ihn zu verhöhnen schien.

Was tun? Wie vor Recha, wie vor der Köchin, dem Geschäftspersonal, das durch die Hausdiener sicherlich Bescheid wußte, wie vor dem Lohndiener, der gewiß in allen Häusern der Residenz plaudern würde, die ungeheure Blamage verbergen? Eine rasende Wut erfüllte ihn gegen Sternau, der ihn mit der ganzen Rücksichtslosigkeit der Aristokraten bloßgestellt, der seine Zusage zweifellos nur gegeben hatte, um den lästigen Semiten auf anständige Art los zu werden. Isidor konnte ja nicht wissen, daß jener gestern innerlich die Annäherung des »Millionärs« wie eine Rettung in Todesnot begrüßt hatte und entschlossen war, ihm bei erster Gelegenheit sein ganzes, bekümmertes Herz auszuschütten; er ahnte ja auch nicht, daß in dieser selben Minute der Oberleutnant Freiherr von Sternau, die Pelzmütze in der Hand, mit angefaßtem Säbel vor seinem »dienstlich« mit ihm redenden Oberst stand, der ihn mit knappen Worten um eine Meldung innerhalb acht Tagen »ersuchte«, daß die seit drei Monaten unbeglichene Kasinorechnung von hunderten von Mark bezahlt sei. Daß alles wußte Isidor nicht. Ihm klangen nur verworren die Worte des Grafen Holm im Ohr: »Höhen der Menschheit sind wie die Berge. Erst wollen sie alle hinauf, und dann danken sie Gott, wenn sie wieder hinunter sind ...« War er, Isidor, denn nicht König in seinem kleinen Reich? Unabhängig nach jeder Richtung, ein freier Mann? Ein Gegenstand des Neides für alle die Hochgeborenen, die, in die engen Fesseln der Standespflichten, des Amtes, der Etikette verstrickt, ihr glänzendes Elend wie eine Sträflingskugel mit sich schleppten? Hatte er es nötig, sich von diesen hochmütigen Burschen brüskieren, verspotten, ausbeuten zu lassen? Wie sie an seinem Namen herumgewürgt hatten, die Herren Offiziere, wie an einer halbverschluckten faulen Auster! An diesem ehrlichen, makellosen Namen, der besten einer im Buchhandel! Er konnte mit steifem Nacken, mit Stolz sein Judentum bekennen, er konnte warten, bis sie Kotau vor ihm machten, ihnen die Bettelgabe vor die Füße schleudern, sie die Treppe hinabwerfen ... Aber hatte Graf Holm ihm nicht mit deutlichen Worten erklärt, daß er »sich seine Hände allein wasche«? Hatte Sternau nicht lange mit seiner Zusage gezögert und war dann dennoch heut fortgeblieben? Die wollten ja gar nichts von ihm, die hohen Herren, die dankten dafür, sich ihm persönlich zu verpflichten, und wenn ihnen das Messer an der Kehle saß. Die gingen lieber zum Abschaum seiner Volksgenossen und kauften Waggons voll Kochgeschirre und großweise Regenschirme, um ein paar hundert bare Mark mit blutigen Zinsen herauszuschinden ... Und die Gräfin Holm? Wollte die denn etwas für sich? Hatte er ihr das Geld nicht förmlich aufgedrängt? Sorgte die vornehme Frau nicht selbstlos für die Armen, um die er sich in seinem Reichtum bisher den Teufel gekümmert hatte? Und neben dem gutmütig klugen Gesicht der Tante tauchte flimmernd goldiges Haar vor ihm auf. In dem Dunkel des Korridors, in dem er noch immer unbeweglich stand, während das meckernde Lachen des Lohndieners und das unterdrückte Schimpfen der Therese aus der Küche zu ihm hinausklang, sah er mit einer Deutlichkeit, die ihn selbst verblüffte, das Antlitz der jungen Reichsgräfin vor sich, die stolze Stirn unter der schweren Haarflut, die feinen Augenbrauen über den beständig wechselnden, jetzt kornblumblauen, jetzt schwarzschimmernden Augen, den blühenden Mund mit dem zierlichen Kinn, den zarten Halsansatz ... Und wieder schlug das Herz dem verstörten Manne bis an den Hals hinauf, ließ eine hoffnungslose Sehnsucht ihn erschauern. Was war ihm Holm, was Sternau? Was die Gräfin Thekla? Tote Steine, die seine Hand übereinandertürmte, sein Fuß rücksichtslos zermalmte, um sich hinaufzuschwingen auf den Fels, dort, wo die Lorelei ihr goldenes Haar kämmte ... Er würde nicht abstürzen, nicht im Strudel ertrinken, und wenn er, mit seinem letzten Goldstück die Klüfte des Felsens ausfüllen müßte, – er würde bis zu ihr emporklimmen und ihr die weißen Füße küssen, sie mit seligen Tränen benetzen ...

Die Uhr schlug zwölf. Er hörte Stimmen, – Recha und Therese. Er sah, wie beide, die ihn längst fort glaubten, die festlich gedeckte Tafel abzuräumen begannen. Da griff er lautlos zum Zylinder und Pelz, und wie ein Dieb schlich er sich hinaus, um Gräfin Thekla Holm sein Geld hinzutragen.

* * *

 


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