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Aufbauende Arbeit

Die Realkurse für Frauen

Was wir mit Hilfe der Kaiserin Friedrich schnell und großzügig durchführen zu können gehofft hatten, mußte nun langsam, in mühsamer Arbeit errungen werden. Statt großer Quadern mußten wir Sandkorn um Sandkorn fügen. Es hatte keinen Sinn, den Anfang hinauszuschieben, denn auf eine Änderung der Anschauungen in »maßgebenden Kreisen« war unter dem neuen Regiment weniger zu hoffen als je. Nur ein gemeinsamer Frauenwille konnte erzwingen, was uns allein unter allen Kulturvölkern noch verwehrt war.

Schon vor meiner englischen Reise hatten Dr. Franziska Tiburtius und ich mehrfach die Möglichkeit erörtert, eine Anstalt zu begründen, die als eine Art Aufbau auf der höheren Mädchenschule sich das Ziel setzen sollte, auch den Mädchen die intellektuelle Disziplin zu schaffen, die in den Knabenschulen hauptsächlich durch Mathematik und alte Sprachen erreicht wurde. Zugleich aber sollte sie möglichst schon die allgemeine Bildungsgrundlage für praktische – gewerbliche oder kaufmännische – Berufe geben. Auch die Vorbildung für die Universität wurde schon in Rechnung gezogen, wenn vorläufig auch nur das Ausland – für Deutsche besonders die Schweiz – für ein Studium in Betracht kam. Frl. Dr. Tiburtius hatte für diesen Plan Interesse in weiteren Frauenkreisen zu wecken gewußt, vor allem durch einen Vortrag, den sie in der Frauengruppe der akademischen Vereinigung hielt, die unter Leitung von Frau Minna Cauer stand. Es lag nahe, besonders durch unsere Verbindung mit dem Schraderschen Hause, für diesen Plan den wissenschaftlichen Zentralverein in Berlin zu gewinnen, der die Humboldtakademie begründet und vielfach sein Interesse für Frauenbildung bekundet hatte. Sein Vorsitzender war der Abgeordnete Rickert. Am 20. Dezember 1888 richtete ich daher mit Dr. Tiburlius und Frau Cauer ein Schreiben an den Verein, in dem der Antrag gestellt wurde:

»Der wissenschaftliche Zentralverein wolle die Einrichtung von Realkursen für Frauen zum Zweck der Vertiefung bzw. Ergänzung der allgemeinen Bildung, sowie zur Vorbildung für eine etwaige höhere gewerbliche oder wissenschaftliche Tätigkeit übernehmen.«

In kurzen Zügen war dann die Art der Ausführung gekennzeichnet. Die Herbeischaffung der Geldmittel nahmen wir auf uns, behielten uns aber den nötigen Einfluß auf die Gestaltung der Kurse vor. Im Grunde sollte der Zentralverein der Sache nur die wissenschaftliche Legitimation geben, deren sie in den Augen des solchen Neuerungen mißtrauisch gegenüberstehenden Publikums zu ihrer Entwicklung bedurfte. Die Antwort, die am 16. Januar 1889 einlief, zeigte auch, daß man uns vollkommen richtig verstanden hatte. Eine Rücksprache mit einigen Mitgliedern des Kuratoriums, darunter Rickert und Schrader, hatte als Endresultat den Beschluß, die »Realkurse für Frauen« im Oktober 1889 als eine Veranstaltung des wissenschaftlichen Zentralvereins, aber unter einem besonderen, mit ganz selbständigen Befugnissen ausgestalteten Kuratorium zu eröffnen. Die Leitung der Kurse übernahm ich; das Kuratorium bildeten mit einigen Herren des Zentralvereins im ersten Jahr die drei Antragstellerinnen, von da ab Frl. Dr. Tiburtius und ich.

Die Beschaffung der Geldmittel machte uns einige Sorge. Zwar hatte sich der Allgemeine Deutsche Frauenverein zu einem jährlichen Zuschuß von 800 Mark verpflichtet; daneben gaben der Verein Frauenwohl und die akademische Vereinigung kleinere Zuschüsse; immerhin waren noch, trotzdem ich die Leitung natürlich ehrenamtlich führte, ziemlich viel Mittel aufzubringen. Das geschah durch Werbung in Privatkreisen und durch allerlei Veranstaltungen; ein Vortrag, ein Konzert mußte aushelfen, wenn die Mittel zu knapp wurden. Schwierig war das wegen der großen Unpopularität des Unternehmens. Man fühlte ordentlich den Widerstand in der Luft, und durch Schaden klug geworden, erwähnten wir den Zweck eines zum Besten der Kurse gegebenen Konzerts nur in ganz allgemeinen Ausdrücken, um nicht abzuschrecken. Zur Erleichterung diente es, daß die Raumfrage von Anfang an gelöst war; die städtische Schuldeputation hatte Klassenzimmer der Charlottenschule Zur Verfügung gestellt, deren Direktor Carl Goldbeck dem Unternehmen von Anbeginn und durch seine ganze Amtszeit hindurch warme Teilnahme entgegenbrachte.

Die Eröffnung der Kurse fand programmäßig am 10. Oktober 1889 in der Aula der Charlottenschule in Anwesenheit der Kaiserin Friedrich statt. Meine Eröffnungsansprache wies in erster Linie hin auf die inneren, geistigen Gründe, die zur Errichtung der Kurse geführt hatten, ausgehend von dem, was ich als das Verhängnis unserer Zeit für mein Geschlecht empfand: geistigen Müßiggang.

»Es hat Zeiten gegeben, wo er nicht in der Weise wie heute gerade in die feinste Lebenstätigkeit der Frau zersetzend eingegriffen. Denn die Aufgabe der Frau liegt immer da, wo die Not des Tages liegt. Wenn die Verhältnisse es erfordern, so rührt sie nur »ohn' Ende die fleißigen Hände«; wehrt sie damit die Not von den Ihren ab, so ist ihre Aufgabe in der Welt erfüllt; sie hat Liebe gegeben und anderen gedient.

Aber so liegen die Dinge heute nicht. Unzählige fleißige Hände sind überflüssig geworden durch Räder und Federn; das Leben, das sich bei uns mehr oder weniger im stillen Hause abspann, treibt jetzt draußen in mächtig pulsenden Fluten und brandet hinein in jede Häuslichkeit. Und ob die Frau auch nicht selbst hinaus braucht ins Leben, sie muß es verstehen lernen, schon um der Ihrigen willen, um derer willen, die ihr anvertraut sind, um sie für das Leben zu erziehen ... Die Entwicklung des werdenden Geschlechts liegt in unserer Hand. Auf uns zum großen Teil kommt es an, ob es seine Aufgabe recht erfassen, ob es in das komplizierte Getriebe der Zeit hineintreten wird mit der inneren Unabhängigkeit des Charakters oder ob es, abhängig in Leben und Gesinnung, den Fortschritt der Zeit aufhalten soll.

Kurz, unsere Aufgabe ist, in der Gegenwart nicht nur der äußeren Not des Tages zu steuern, wie es die engen Verhältnisse früherer Zeiten verlangten, unsere Aufgabe ist heute vor allen Dingen, Menschen zu erziehen, die innerlich und äußerlich wohlgerüstet in den Kampf der Tage eintreten können. Darum genügt heute nicht, was früheren Jahrhunderten vielleicht genügen mußte: bloße äußere Geschäftigkeit in Küche und Haus.

Und wie verhält sich unsere Zeit dem allen gegenüber? In ängstlichem Mißverstehen der neuen Aufgabe, die den Frauen gestellt ist, wehrt sie das Verlangen derer, die ihre Aufgabe richtig erfaßt haben, nach Wissen ab und nimmt Partei für den tändelnden Dilettantismus, mit dem so viele Frauen leider schon gelernt haben, die Leere ihrer Tage auszufüllen. Es gilt für weiblich, mit einem sehr zweifelhaften Kunstkultus, mit überflüssigen Nadelarbeiten, mit Gesellschaftgehen und Toilettemachen seine Tage zu verbringen; für unweiblich, nach ernster Geistesarbeit zu verlangen. Man glaubt dadurch das Haus, die Familie gefährdet. Mit Recht haben Frauen dem gegenüber betont, daß es die Frivolität der Müßigen ist, die keine höheren Interessen haben und ihre Zeit in gesellschaftlichen Genüssen vertändeln, welche das Haus zerstört, nicht die Sehnsucht nach echter Bildung; mit Recht betont, daß die Frau, welche wirklich erst einmal Interesse an den höheren Fragen des Lebens gewonnen hat, eifriger als je darauf bedacht ist, die Heiligkeit des Hauses zu wahren; mit Recht betont, daß die Frau, die gründlich zu denken und geistig zu arbeiten gelernt hat, auch am besten imstande ist, ihren Haushalt weise und systematisch zu ordnen; daß ihr erweiterter Gesichtskreis nicht so völlig von Kleinigkeiten verdunkelt werden kann, als der unserer sogenannten ›guten Hausfrauen‹. Und dennoch erzieht man die Mädchen bei uns in unzähligen Fällen zu geschäftigem Müßiggang, der sie wenig geeignet macht, ihre Aufgabe als Mütter und Erzieherinnen später zu erfüllen. Sie leben, ohne für etwas zu leben: ohne bestimmte Zeiteinteilung, ohne Zweck, ohne Nutzen; kann man da erwarten, daß sie plötzlich beim Eintritt in die Ehe durch Instinkt den Eifer, den Fleiß, die Übersicht und die Verfügungsfähigkeit erlangen werden, deren die Hausfrau so dringend bedarf und von deren Vorhandensein oft das Wohl und Wehe der ganzen Familie abhängt? Sollte nicht der Mangel an all diesen Eigenschaften, über den so häufig geklagt wird, zusammenhängen mit dem Mangel einer straffen, geistigen Disziplin bei unseren Mädchen?

Aber gottlob! manche, die besseren unter ihnen, verlangen selbst danach. Für manche ist die Erkenntnis der Zweck- und Inhaltlosigkeit ihres Lebens der erste Schritt zu dem Entschluß, ihrem Leben einen Inhalt zu schaffen. Sie gehen mit Ernst daran, zunächst aus sich selbst etwas zu machen. Aber auf Schritt und Tritt stoßen sie auf Hindernisse; überall fehlen ihnen die Hilfswissenschaften, die dem Manne die Schule schon gegeben; sie sind außerstande, ein wissenschaftliches Buch mit Kritik zu lesen. Diejenigen, die gar nicht wünschen, daß sie dazu imstande seien, machen sich wohl die Tragweite dieser Zustände nicht klar. Für die Frau, die nur Spielzeug sein soll, liegt allerdings keine Gefahr vor; wohl aber für die Frau, die erziehen soll, für die Kinder, die ihr anvertraut werden. Gehört sie den geistig leitenden, den sogenannten gebildeten Ständen an, so hört sie täglich um sich her Probleme erörtern, zu denen ihr der Schlüssel fehlt. Argumenten, die der Mann mit Leichtigkeit widerlegt, weil man ihn logisch denken gelehrt hat, steht sie hilflos gegenüber. So wird ihre Weltanschauung bestimmt durch Personen und Bücher, die der Zufall ihr entgegenwirft, und die Erfahrung lehrt, daß die Halbgebildete mit besonderer Vorliebe die Zersetzungsprodukte der modernen Literatur in sich aufnimmt, deren Skepsis ihr imponiert. Wie schwer und spät ringt sie alle diese Widersprüche und Unklarheiten nieder, wenn sie, wie wir alle, lediglich auf den Weg der Autodidaxie verwiesen ist! Welche Mühe auf diesem Wege, welche Enttäuschungen, welche geistige Not! Diese geistige Not nachzuempfinden vermag niemand, der nicht unseres Geschlechts ist. Wem sie aber einmal selbst ans Herz gegriffen, der setzt sein Leben daran, um sie von anderen abzuwehren!« ...

So traten wir denn in die Arbeit ein. »Zum ersten Male, kann man wohl sagen, in der Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts wurde in dieser Anstalt mit dem Ästhetisieren in der höheren Mädchenbildung tatsächlich gebrochen, zum erstenmal der praktische Versuch gemacht, die Frauenbildung der oberen Stände mit einem gesunden Realismus zu durchdringen.«

Im Vordergrunde standen Mathematik und Naturwissenschaften mit wöchentlich 8 Stunden, daneben trat Latein mit wöchentlich 4 Stunden, Geschichte und – gleichfalls ein ganz neuer Versuch in der Entwicklung des Mädchenschulwesens – die Elemente der Nationalökonomie mit gleichfalls 4 Wochenstunden, während Deutsch, Französisch und Englisch mit zusammen 7 Wochenstunden den Kursus ergänzten. Die Gesamtdauer der Kurse war zunächst auf zwei Jahre berechnet. Die Teilnahme an Einzelkursen war gestattet. Die Methoden legten in weitgehendem Maße Gewicht auf die häusliche Arbeit der Schülerinnen, entsprechend ihrer größeren Reife und ihrem selbständigen Interesse an ihrer Fortbildung. Diese Methode hat sich vorzüglich bewährt und es ermöglicht, mit einer verhältnismäßig kleinen Stundenzahl relativ viel zu erreichen. Die Stunden mußten auf den Nachmittag gelegt werden, da man nur dann die Lehrkräfte und Räume zur Verfügung hatte, und da man auch auf die Beteiligung von Lehrerinnen als Schülerinnen der Kurse Rücksicht nehmen wollte.

Was wir mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten, war die Art, wie die Fächer, die bisher der Knabenschule vorbehalten waren: Mathematik, Naturwissenschaften auf mathematischer Grundlage und Latein, von den Schülerinnen aufgenommen wurden. Und da machte ich die mich selbst überraschende Erfahrung, daß gerade Mathematik, bei der ich besondere Schwierigkeiten vorausgesehen hatte, keine bot. Zwar bekamen wir die Mädchen – ich ziehe gleich Erfahrungen aus späteren Jahren mit heran – vielfach im Rechnen im Zustand primitivster Unschuld; es war erstaunlich, was trotz jahrelangen Rechenunterrichts in dieser Beziehung möglich war. Wir haben später immer im ersten Halbjahr das ganze Schul-Rechenpensum nochmals erledigt und dann erst mit Mathematik eingesetzt. – Ebenso gut ging es mit dem Lateinischen. Um mich nicht zu wiederholen, will ich die Erfahrungen mit unseren besonderen Methoden erst an die spätere Entwicklung anknüpfen. Im ganzen zeigte sich schon in den ersten Jahren, daß unsere Erwartungen sich erfüllen ließen; die Grundlage war auch tragfähig für die weitere Vorbildung zur Universität. Es haben mehrere Schülerinnen, die zwei Jahre die Realkurse durchgemacht hatten, nach kurzer privater Vorbereitung in der Schweiz die Reifeprüfung abgelegt und Medizin studiert. Nur für die Nationalökonomie fehlte doch Interesse und Vorbildung noch zu sehr; an ihrer Stelle wurde später auf Wunsch der Lehrerinnen Psychologie und Methodik eingefügt. Mir waren diese Fächer, die ich selbst übernahm, als kleiner Ersatz meiner Lehrtätigkeit am Seminar lieb; ich hatte meine Stellung an den Crainschen Anstalten schweren Herzens aufgeben müssen, da sich auf die Dauer die doppelten Pflichten nicht durchführen ließen. Und um die Wende der neunziger Jahre wurden noch andere Dinge spruchreif, traten neue, gebieterische Aufgaben in den Vordergrund.


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