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Zwischenstufen

Über die zunächst folgende Zeit kann ich kurz hinweggehen. Ödland. Kleinstadtleben in der Heimat, wo ich bis auf weiteres das Dasein einer »Haustochter« im großväterlichen Hause führen sollte. Das bedeutete: ein wenig Haus- und Handarbeit, etwas Klavierspielen, einen Spaziergang durch den Schloßgarten oder das Everstenholz und »Kaffeevisiten«, bei denen häufig der rote kalte Pudding mit weißer oder der weiße mit roter Sauce das wesentlichste Unterscheidungsmerkmal bildete. Der geistige Bedarf wurde durch eine gründliche Erörterung bevorstehender oder schon erledigter Bälle oder sonstiger gesellschaftlicher Veranstaltungen, Verlobungen oder Verlobungsmöglichkeiten gedeckt. Manchmal wurde dabei eine überflüssige Stickerei mehr oder weniger gefördert. Wenn man bedenkt, daß so oder ähnlich das Dasein ungezählter junger weiblicher Wesen in der »Wartezeit« ausgefüllt wurde, kann einen noch nachträglich ein Grauen ergreifen bei dem Gedanken an die Unsumme vergeudeter Energien und Wirkensmöglichkeiten.

Vorläufig wußte man es nicht besser. Man schwamm zunächst mit dem Strom. Fand man doch viele gute Jugendbekannte beider Geschlechter wieder, die inzwischen aus der Puppe geschlüpft waren. Man tauschte Erinnerungen aus und knüpfte aufs neue Beziehungen an. Aber man blieb innerlich leer. Man las wohl wieder, meistens aus der Leihbibliothek; aber wenn sich daraus auch allmählich einige Kenntnis der neueren Literatur aufbaute, so war das doch keine Nahrung, von der man geistig leben konnte. Und mit ernsthaften Studien kam man nicht recht weiter; es fehlten die Bücher und die Führer. Und doch beschäftigten mich die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der Möglichkeit, ihn auf dem Wege des Denkens zu ergründen, nach der Beziehung von Geist und Materie, Fragen, die in Schwarzenhütten zurückgetreten waren, nach der Unterbrechung um so lebhafter. Einmal stieß ich auch auf Verständnis, und führte mit einem meiner Hauptballpartner eine lange Korrespondenz in Versen, die wohl den Mangel an exakter Beweisführung besser verschleierten, über die Unsterblichkeit der Seele; der erste Grund dazu war bei einem Kotillongespräch gelegt worden. Aber Tiedges »Urania«, die als Hauptbeweisstück von ihm angeführt wurde, konnte mir nicht genügen. Zuletzt wurde dies unausgefüllte Dasein zu einer unerträglichen Qual. Eine Bitte an meinen Vormund, das Lehrerinnenexamen machen zu dürfen, wurde damit abgewiesen, das habe noch niemand im Oldenburger Lande getan. So verschaffte ich mir denn mit Hilfe meiner guten Eninger Freunde eine Stelle »au pair« in dem Pensionat der Mademoiselle Verenet in Petit Château bei Beblenheim im Elsaß. Ich sollte dort, knapp achtzehnjährig und ohne jede Fachvorbildung, deutsche Literatur und Grammatik lehren und dafür das Recht haben, alles aufzunehmen, was das Petit Château an Weisheit bot. Mit Ösers Literaturgeschichte bewaffnet – sie hat in der Tat vollkommen ausgereicht –, zog ich dahin ab, in Eningen Station machend. Ich genoß die Reise ins Unbekannte hinaus mit vollen Zügen, ging in Straßburg Goethes Spuren nach, stand welt- und zügevergessend auf der Plattform des Münsters und traf so erst gegen zehn Uhr abends auf der Station Ostheim ein, wo ich, wie man mir gesagt hatte, einen Wagen vorfinden würde. Aber es war keiner zu haben. Da stand ich denn fast auf freiem Felde; die kleine Station bot kein Nachtquartier, und ich war herzlich froh, als zwei Blusenmänner sich bereit erklärten, mich auf ihrem Gefährt, das ein paar Stückgüter von Ostheim abgeholt hatte, mit nach Beblenheim zu nehmen. Die Verständigung war nicht leicht vor sich gegangen; weder Plötzsches Französisch noch Oldenburger Deutsch wollten verfangen, erst mit etwas Schwäbeln kam ich zum Ziel. Wenn ich später darüber nachdachte, was mir alles hätte geschehen können, als ich, wildfremd im Lande, mit den beiden unbekannten Männern in die Dunkelheit hineinfuhr, erging es mir fast wie dem Reiter mit dem Bodensee. Damals aber fuhr ich mit dem glücklichen Gott- und Menschenvertrauen der Jugend, seelenvergnügt auf meinem Koffer in dem hinteren Raum des offenen Gefährts sitzend, in die Nacht hinein, den Vogesen entgegen, die sich dunkel unter dem wundervollen Sternenhimmel hinzogen. Erst als wir dann um Mitternacht in Beblenheim – Petit Château war nicht mehr erreichbar – vor einer Art von Fuhrmannsherberge hielten, aus der lautes Getöse und dickes Tabaksgewölk quoll, wurde mir etwas schwül ums Herz. Aber ich hatte Glück: die freundliche Wirtin war eine Badenserin; sie führte mich in ein ganz nettes Gaststübchen. Es war unverschließbar; ich schob den Waschtisch vor die Tür und schlief den Schlaf der Jugend und des guten Gewissens. Am folgenden Morgen frühstückte ich in der Familienstube, wo die Wirtin die Kinder anzog, bezahlte dann Nachtquartier und Frühstück mit einem Franken und machte mich nach Petit Château auf den Weg.

Es würde sicher viel Interessantes über diesen Aufenthalt zu berichten sein, wenn man irgendwelche Bewegungsfreiheit gehabt und Land und Leute hätte kennen lernen können. Aber das Pensionat stand, wie das in Frankreich üblich ist, unter fast klösterlicher Klausur, so daß selbst die Ereignisse des Sommers von 1866 nur schwache Wellen dahin schlugen. So war das einzige: Lernen und immer wieder lernen. Ich legte eine gute Grundlage im Französischen und in der Musik, die ich dann gleich selbst in den Anfangsgründen weiterlehren mußte. Den Hauptanziehungspunkt der Anstalt bildete der ebenso geistvolle wie gründlich unterrichtete Jean Macé, der nach allerlei Lebensstürmen dahin verschlagen war. Er war schon damals in Frankreich sehr bekannt als Begründer der Ligue d'enseignement und Verfasser für die Jugend bestimmter populärwissenschaftlicher Bücher, vor allem der Histoire d'une Bouchée de Pain; in der Republik hat er dann später auch politisch eine Rolle gespielt. Er bewohnte mit seiner Frau ein besonderes Häuschen auf dem weit ausgedehnten Grundstück. Madame Macé war eine gute Seele, aber ohne jede Schulbildung; sie konnte weder lesen noch schreiben. Ihr Mann hatte sie aus Dankbarkeit geheiratet, als sie ihn in einer gefährlichen Krankheit mit großer Aufopferung gepflegt hatte. Seine reizenden Erzählungen und Märchen für die Jugend pflegte er zuerst seiner Frau vorzulesen; wenn sie sie verstand und mochte, so war ihm das ein gutes Zeichen für ihre Wirkung auf die Kinder.

Der Unterricht von Monsieur Macé war von überwältigender Lebendigkeit und Eigenart. Seine seltene Fähigkeit, die schwersten Themen zu elementarisieren, das Abstrakteste anschaulich zu machen, weckte, was an ähnlichen Möglichkeiten in einem selbst lag; seine scharfe Zurückweisung jeder Phrase, sein unablässiges Dringen auf exakte Definition, auf logisches Denken wurde durch das Medium der fremden Sprache noch eindringlicher. Man mußte sich daran gewöhnen, nur zu sagen, was zur Sache gehörte, das aber auch vollständig zu sagen. Wenn er Aufsätze zurückgab, die er nie zu Hause, sondern gleich aus dem Stegreif beim Vorlesen korrigierte, saß alles wie gebannt. Er konnte dann das Phrasengewirr, zu dem die Französinnen ja besonders neigen, unbarmherzig zerpflücken; sagte er aber nach der Vorlesung eines dieser » articles« vergnügt schmunzelnd: » Mettez lui un cinq« (die höchste Nummer), so war der Stolz der glücklichen Verfasserin so groß wie der Neid der Klasse. – Im übrigen wurde ehrlich, aber ohne jeden Aufwand an Geist geschafft; daß wir unter Anleitung einer tüchtigen Lehrerin eine französische Grammatik selbst systematisch aufbauen mußten, war eine gute Übung, die ihre Früchte trug.

Die Klasseneinteilung erfolgte nach dem Fachsystem, nicht nach Altersklassen. Jede der fünfzig bis sechzig Schülerinnen hatte daher ihren eigenen Stundenplan und saß in jedem Fach in der ihren Fähigkeiten entsprechenden Klasse. Diese Stundenpläne, alle von Mlle. Verenet persönlich geschrieben, waren ein kleines Kunstwerk, wie denn überhaupt die ganze bis ins einzelste durchgeführte und ineinander greifende Organisation der Anstalt und die darin herrschende musterhafte Ordnung bewundernswert waren.

Die Erziehungsmethoden des Petit Château waren die in Frankreich üblichen. Den Elsässerinnen unter den Pensionärinnen entsprachen sie im ganzen; so deutsch die Bevölkerung war, die Bourgeois-Familien des Elsaß sprachen und empfanden französisch, soweit wenigstens meine Eindrücke reichen. Die seltsame Mischung einer auf deutschen Untergrund aufgepflanzten französischen Kultur trat einem schon in den Namen entgegen: Clémence Zopf, Valérie Schmutz usw. Uns Deutschen aber und den Engländerinnen waren die seltsamen Erziehungsmethoden unverständlich und zum Teil unerträglich. So galt der echt französische Grundsatz, der ja auch in der Jesuitenerziehung seine Rolle spielte: » Jamais seule, rarement deux, toujour trois.« Beim täglichen Spaziergang mußten wohl je zwei und zwei zusammen gehen, um nicht die Straße zu sperren, wenn die lange Schlange des Pensionszuges sich durch das Dorf wand; die Paare durften sich aber nicht nach freier Wahl zusammentun. Häufig zog die Lehrerin zwei Nummern eines Lottos, und die, welche die entsprechenden Ordnungsnummern für Schrank, Wäsche usw. halten, mußten miteinander gehen, ob sie sich leiden konnten oder nicht; ja wir hatten das Gefühl, als ob es eine gewisse Befriedigung erregte, wenn der Zufall uns recht unpassend gekoppelt hatte. Auch das System des » tableau noir« und » tableau d'or« das allwöchentlich die schwarzen Schafe von den braven Kindern schied, war undeutsch und bot dem Strebertum wie der Angeberei unliebsame Handhaben. Das Schlimmste aber war die stete, stille Überwachung, die sich einem gelegentlich unheimlich bemerkbar machte. Alle Briefe mußten offen abgegeben werden und wurden von Mlle. Verenet nach Belieben gelesen. Für die deutschen Briefe wurde ich manchmal als Übersetzerin herangezogen; ich gestehe offen, daß meine Übersetzung mehr dem »Schutz der Schwachen« als dem Überwachungssystem gedient hat. Der sittlichen Bedenklichkeit dieser Methoden wurde sich Mademoiselle Verenet, die eine wohlwollende, groß angelegte Natur war, nicht bewußt; sie waren eben im französischen Institutsleben alt hergebracht. Und ihr fehlte, bei mancherlei guten erzieherischen Eigenschaften, eines völlig: der Humor, der Kindereien als solche nimmt. Er fehlte dementsprechend auch sämtlichen Sous-maitresses. Ich erinnere mich da eines charakteristischen kleinen Erlebnisses. Es gab von Zeit zu Zeit mittags » choucroute« mit kleinen Speckscheiben. Eine Französin aus dem Innern erklärte, dieses Barbarengericht nicht essen zu können und wußte bei Tisch auf irgendwelche Weise wenigstens den Speck verschwinden zu lassen. Da praktizierten wir ihr eines schönen Tages ein Stückchen Speck in ihren Schrank, mit diebischem Vergnügen des Augenblicks wartend, wo sie sich bereit erklären würde, in Ohnmacht zu fallen. Statt ihrer kam aber die »Revision«, die von Zeit zu Zeit die Schränke auf ihre Ordnung hin prüfte, an das Corpus delicti. Das bleiche Entsetzen, das die ganze Anstalt durchfuhr, die tiefernsten Gesichter der Lehrerinnen habe ich noch lebhaft vor Augen. Ich wurde als halbe Lehrerin und damit schwerer verantwortliche Persönlichkeit vor das Forum von Mademoiselle Verenet geladen. Als dann aber in der Tat so etwas wie ein Ketzergericht abgehalten werden sollte, fuhr es mir heraus: » Mais, Mademoiselle, ce n'est donc pas un crime, c'est une bêtise.« Ich sah, wie sie stutzte; sie mochte die Richtigkeit der Bemerkung einsehen, wenigstens wurde die Sache dann als erledigt betrachtet.

Was meine eigenen Stunden betrifft, so gab ich Literatur ganz gern. Ich ging von meinem einzigen festen Besitz, dem Hainbund, aus und erzielte großen Eindruck damit; besonders waren die Grafen Stolberg meinen Schülerinnen interessant. Von dort aus ackerte ich dann so weiter; ich fürchte, ich habe selbst am meisten dabei gelernt. Die Grammatik war um so mehr eine Marter, als beiden Teilen die Lust dazu fehlte; die Lehrbücher waren schlecht und der Mangel an Methode machte sich mir hier natürlich am meisten fühlbar.

Mein Arbeitstag war lang und anstrengend; halb Lehrerin, halb Schülerin, hatte ich die Pflichten beider zu erfüllen und stand meistens vor Tau und Tage auf, um ihnen nachzukommen. Fehlte mir doch jede feste Wissensgrundlage. Eine Wiederholung meines Augenleidens zwang mich dann zu vorzeitigem Abbruch in Beblenheim, das ich dankbar für manche Bereicherung verließ.

Ich habe Mademoiselle Verenet und Monsieur Macé im Jahre 1884 noch einmal wiedergesehen. Nach dem Siebziger Kriege, in dem Mademoiselle Verenet ihren einzigen Neffen verlor – ein schöner Mensch, dessen gelegentliche Anwesenheit in Petit Château stets die ganze Pension in Aufregung gebracht hatte –, verkaufte sie das Grundstück und verlegte das Institut nach Monthiers. Ich fand Mademoiselle Verenet sehr gealtert; sie hatte das Schicksal Straßburgs, bei dessen Verteidigung ihr Neffe auf den Wällen den Tod gefunden, nie überwunden. Madame Macé war gestorben; mit rührender Pietät ließ ihr Mann ihr Zimmer genau in dem Zustande, in dem sie es verlassen hatte. Ich fand das gleiche Interesse für meine Arbeit, das er früher schon der » fille d'Odin«, wie er mich zu nennen liebte, bewiesen hatte; der kleine »Précis« der französischen Literatur, den ich gerade für meine Seminaristinnen zusammenstellte, interessierte ihn, und er gab mir manchen Fingerzeig in bezug auf die zu benutzende Literatur. Er teilte damals als Senator seine Zeit zwischen Paris und Monthiers. Den Krieg haben wir nie berührt; er war auch bei ihm die Wunde, die sich nie schließt.

Es konnte für mich natürlich nicht die Rede davon sein, nach Beblenheim etwa dauernd wieder in Oldenburg die Rolle einer, »die wartend saß« zu spielen, wenn mich auch zunächst allerlei Krankheitszustände zu einer Mußezeit nötigten, die ich teils in Schwarzenhütten, teils im großväterlichen Hause zubrachte. Eifrig mit Studien beschäftigt, die meiner Berufsvorbereitung dienen sollten – ich hatte mich für Ostern 1867 zur Übernahme einer Stelle verpflichtet –, aber durchaus nicht weltabgewandt, sondern mitnehmend, was sich bot. Dazu gehörten auch die winterlichen Tanzvergnügungen. Ich zog mich gerade für den Silvesterball an, als ich plötzlich bei leichtem Husten den Mund voll Blut hatte. Was das bedeutete, wußte ich natürlich genau, aber es sagen, hieß den Ball aufgeben, zu dem wir allerlei Nettes geplant hatten. Also schwieg ich hübsch still, tanzte vergnügt die Nacht hindurch und ging erst am Morgen des zweiten Januar zu unserm alten Sanitätsrat. Der machte nach der Untersuchung ein sehr ernstes Gesicht und verordnete »sofort nach dem Süden«. Ich konnte ihn nur belustigt anlachen; ein Aufenthalt im Süden lag ganz außer dem Bereich der Möglichkeit, überdies nahm ich die Sache nicht schwer; ich war von Jugend auf mit der Schwindsucht vertraut, und wenn es denn sein mußte, so mußte man sich eben darein schicken. Einstweilen aber fühlte ich mich nicht danach. So kamen wir überein, die Sache für uns zu behalten und die weitere Entwicklung abzuwarten. Der gesunde »Kehrmichnichtdaran«, das tätige Leben und der mit dem Frühjahr beginnende jahrelange Aufenthalt auf dem Lande haben denn auch das Ihre getan. Schon als ich das nächste Jahr zu kurzem Besuch nach Oldenburg kam, stellte mein Arzt die beginnende Vernarbung der schadhaften Stelle in der Lunge fest und erklärte meine Methode für besser als die seine.

Die Erzieherinnenstelle, die ich im Frühjahr 1867 angenommen hatte, führte mich in die Familie des Fabrikanten Gruner auf Burg Gretesch bei Osnabrück. Die richtige Ausbildung als Lehrerin war mir zwar nach wie vor versagt geblieben, aber ich glaubte auf Grund meiner autodidaktischen Vorbereitung mit gutem Gewissen in meine Tätigkeit hineingehen zu können – das war ja damals nichts Außergewöhnliches. Ich denke gern an die drei Jahre zurück, die ich auf Gretesch zugebracht habe. Ich hatte fünf Kinder, die in drei Klassen gehörten, in allen Schulfächern der höheren Mädchenschule zu unterrichten und suchte mir dazu meine eigenen Methoden, wie ich später sah, nicht zum Schaden meiner Schülerinnen. Jedenfalls wurden sie in ganz normaler Weise gefördert, so daß sie bei meinem Fortgang in die ihrem Alter entsprechenden Klassen der höheren Mädchenschule in Osnabrück aufgenommen werden konnten. Die Kinder waren gut geartet und die Eltern vernünftig genug, um meine Arbeit mit diesem Unterricht und einem gemeinsamen Spaziergang als abgetan zu betrachten, so daß mir genügend freie Zeit zur Fortbildung blieb, die ich tüchtig und systematisch ausnutzte. Ich geizte so damit, daß ich monatelang eine Liste ausfüllte, die die Rubriken »Arbeit« mit fachlichen Unterabteilungen, Essen, Vergnügen, Schlafen usw. enthielt. Wenn die letzten Rubriken meiner Meinung nach mehr als billig mit Stundenzahlen angefüllt waren, so gab ich mir einen ernsthaften Ruck in der Richtung der wertvolleren Rubriken. Von den unangenehmen Seiten des Erzieherinnenberufs, die mir oft so lebhaft geschildert waren, habe ich nichts erfahren; meine Arbeit interessierte mich und fand Verständnis, meine Kinder kamen vorwärts. Ich fühlte mich in jeder Hinsicht zu Hause und fand freundliche Beziehungen, die auch der rein menschlichen Entwicklung Nahrung boten. Die mächtigen Eindrücke des Krieges von 1870-71 fielen in diese Zeit. Ihre wesentliche Wirkung auf alle, die sie bewußt in sich aufnehmen durften, war das anfeuernde Gefühl, einem starken, mächtig aufstrebenden Volk anzugehören, einem Volk, das seine besondere Aufgabe in der Geschichte hatte und dem eine große Zukunft bevorstand. Dieses Gefühl wurde auf Schritt und Tritt gestärkt, als ich im Herbst 1871 nach Berlin ging, um dort, von keinem Vormund mehr abhängig, endlich meine Lehrerinnenprüfung abzulegen. So weit ging meine Absicht; in Wirklichkeit bin ich dann 45 Jahre dort geblieben.


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