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Kindheit

Schauplatz

Man braucht kein Dichter zu sein und kein Schloß Boncourt sein eigen genannt zu haben, um im Alter verklärenden Schimmer über die Zeit sich breiten zu sehen, die einem die ersten bewußten Eindrücke der seltsamen Einrichtung gab, die man Leben nennt und über die nachdenkliche Kinder vielleicht ernsthafter sinnieren als mancher Erwachsene. Warum ich nicht mein Bruder sei und mein Bruder nicht ich, war eines der ersten philosophischen Probleme, in die mein Kinderkopf sich hineinbohrte. Aber die reale Tatsache ließ sich nicht umstoßen: ich war ich und wuchs auf zwischen zwei Brüdern, als »Koopmanns Dochter«, wie unsere Waschfrau, die alte Rastede, mit respektvoller Betonung hervorzuheben pflegte, in dem Haus, Hof, Stall und Garten – und damit für das Kind unbegrenzte Möglichkeiten – umschließenden Grundstück Achternstraße 2 in Oldenburg an der Hunte.

Ich bin nicht dort geboren. Mein Geburtshaus liegt einige Häuser weiter an der Langenstraße. Seine Besitzerin, ein altes Fräulein Gesche Kimme, flößte mir in der Dämmerzeit meines Kinderlebens manchmal Angst ein, wenn sie uns, die wir harmlos vorüberliefen, anfuhr und uns schlimme Kinder nannte. Vielleicht hatten wir etwas längst Vergessenes auf dem Kerbholz; ich aber empfand nur den unverständlichen Protest gegen unser Dasein, in dem es uns schon ganz behaglich zu werden anfing.

In Gesche Kimmes Hause habe ich also den ersten Schrei getan, und zwar, wie die Überlieferung will, mit einstimmend in das Geschrei einer erregten Menschenmenge, die sich – es war am 9. April 1848 – in Oldenburg durch Fenstereinwerfen eine kleine Nachfeier der Märztage gestaltete. Mein Vater pflegte mir in Fällen besonders lebhafter Temperamentsäußerungen diesen Geburtstag als mildernden Umstand in Anrechnung zu bringen.

Meine ersten bewußten Eindrücke aber haften an der Achternstraße, in die wir bald übergesiedelt sein müssen. Und wenn ich von den ersten Jahren absehe, wo das körperlich und geistig An-der-Hand-geführt-werden dem sehr selbständig veranlagten Kinde eine ungern geduldete Einschränkung bedeutete, so steht als Höchstes und Liebstes vor meinem geistigen Auge die unbeschränkte Kinderfreiheit, die wir genossen. Hie und da traten die Erwachsenen wohl einmal mit unbequemen Erziehungseingriffen und Grenzsetzungen in unser Bereich, im ganzen aber herrschte, bewußt oder unbewußt, der heilsame Grundsatz, uns gewähren zu lassen und die Erziehung durch die Verhältnisse und Dinge ihr Werk an uns tun zu lassen. Das »Jahrhundert des Kindes« war gottlob noch nicht erfunden. Wir fühlten uns nicht wichtig genommen, wenn wir auch ein Unterbewußtsein davon hatten, daß wir von Bedeutung für Haus und Familie waren. Und so sind wir denn niemals intensiv »erzogen« worden. Wir durften wir selbst sein und wir selbst werden. Das hat unsere Jugend so glücklich gemacht.

Denn nur so – ungeleitet und unbeeinflußt – konnte die Phantasie in dem so kleinen, für uns so großen Reich ungehindert ihr Spiel treiben, das Hof, Stall und Garten darstellten. Der Hof zwar – er wurde von den Nachbarhäusern und meines Vaters Kontorfenstern bestrichen – bot noch keine vollkommene Sicherheit. Mehr als einmal, wenn ich mich aufs lebhafteste an »Räuber und Soldaten« oder sonst einem aufregenden Knabenspiel beteiligte, öffnete sich die Luftscheibe des Kontors, und es kam eine jener nicht häufigen, aber dann unabänderlichen Weisungen: »Geh hinauf und spiele mit Theo«. Hinauf ging ich, aber mein Bruder Theodor, den sein Alter noch von wilden Spielen ausschloß, wird nicht allzuviel von der Schwester gehabt haben, die sich gewöhnlich sofort in ein Buch vergrub, um das verlorene Paradies zu vergessen.

Viel sicherer als der Hof war schon der Stall. Und viel ergiebiger. Da war zunächst rechter Hand die Waschküche. In regelmäßigen Zwischenräumen war sie freilich Bereich der alten Rastede. Etwas Unverwüstlicheres gab es nicht. Sie hatte eine Reihe von Kindern. »Kinner kriegen, is dat ok wat? – Dat is as Pannkokenbacken« – erklärte sie wohl unserm ostfriesischen Mädchen Theda, unbekümmert um unsere Kinderohren. Und: »Ümmer nobel, lieber Louis, stets mit Locken«, pflegte sie uns zu begrüßen, wenn wir ihr zu irgendeinem Ausgang festlich gekleidet beim Waschen einen Besuch abstatteten. Auch diese Waschtage waren interessant. Den heißen Kaffee in die Untertasse gegossen und daraus getrunken zu sehen, regte zur Nachahmung an; – wir mußten dann freilich erfahren: wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Ebenso fand die einfache Eßregel der Rastede: »Ett, wat du magst un li (leide), wat dana kummt«, zu unserm Bedauern nicht die mütterliche Zustimmung. – Aber die Waschküche außerhalb der Waschtage war doch noch anregender. Denn was ließ sich alles daraus gestalten! Häufig diente sie als Räuberhöhle. Der umgekehrte Waschtrog war dann der Altar, auf dem ein Hundeschädel, den die Jungen einmal aus der »Graft« gezogen und »präpariert« hatten, den für Treu- und Racheschwüre unerläßlichen Menschenschädel ersetzte. In der Waschküche waren auch unsere jungen Hunde geboren; hier hatten sie ihr Nachtlager, und jeden Morgen erscholl ein klägliches Geheul, bis Theda ihnen die Freiheit gab und mein besonderer Liebling in rasendem Lauf in mein Schlafzimmer fegte und mir aufs Bett sprang.

Das war die Waschküche. Aber viel stärker noch fesselte der Torfhaufen, der die dämmernde Tiefe des Stalles ausfüllte. Im Sommer zusammengesunken, schwoll er im Herbst zu stattlicher Höhe an. Das war dann die Burg von Troja. Unten standen die andrängenden Griechen, oben die abwehrenden Troer. Wurfgeschosse waren die Torfsoden. Hervorragende Führer – ich erinnere mich eigentlich nur an solche – trugen Kronen aus gelbem Papier; alle waren mit selbstgefertigten Schwertern und Schilden bewehrt. Mir wurde ein für allemal der Odysseus zugestanden. Wie bei allen solchen Kinderspielen, waren Vorbereitung und Personalien die Hauptsache. Einer wirklich rollenmäßig durchgeführten Belagerung erinnere ich mich nicht; sie wäre auch schwierig gewesen, denn ernstlich wollte sich niemand für den Besiegten hergeben. Irgendwelche Jüngere und weniger Orientierte wurden für die Rolle des Hektor und seiner Helden gepreßt.

Auch ein Bergwerk mußte der Torfhaufen wohl vorstellen. Es wurden vorher Ziegelsteine darin verborgen und man schürfte dann auf Gold, das schließlich in solchen stattlichen Klumpen gefunden wurde.

Im Stall brüteten auch die Hennen und kamen die jungen Küchlein zur Welt. Er barg unsere Kaninchen und zahmen Dohlen, oder was wir sonst gerade für ein Getier hegten – einmal hatten wir sogar einen Igel gezähmt. Mit den Kaninchen wurde ein regelrechter Handel getrieben. Von Zeit zu Zeit erschienen von unbekannter Hand Kreideinschriften an den auf die Staulinie führenden Gartentüren: Mittwoch, den soundsovielten, nachmittags 3 Uhr, Kaninchenmarkt auf dem grünen Flecken. So hieß die begraste Stelle, an der das Land breiter in den Stadtgraben, die »Graft«, vorsprang. Der Markt war meistens nur von den Jungens beschickt; ihre Böcke und Seken unter dem Arm oder in Lattenkäfigen, handelten und tauschten sie dort wie die Alten.

Aus dem Stall führte die Tür auf den schönsten Spielplatz, den Garten. Heute sind die Häuser hineingedrungen, und ich vermeide sorgfältig, wenn ich einmal wieder in der alten Vaterstadt bin, die Staulinie zu passieren, um meine Erinnerungen nicht durch die Steinhaufen blockieren zu lassen. Klein war er, der Garten, aber was für eine Welt trug man hinein! In dem alten Gravensteiner ließ es sich prachtvoll lesen; das Gartenhaus war bei »Mutter und Kind« die vornehmste Wohnstätte. Hier spielte man auch Schule; wie immer bei diesem Spiel, trat der Lehrer mit einer drakonischen Strenge auf, die man am eigenen Leibe nie erfahren hatte. Hier wurden auch dramatische Aufführungen und lebende Bilder veranstaltet. – Auf dem Platz unter dem Gravensteiner, an dem grünen Gartentisch, den mein Vater immer selbst wieder frisch anstrich, entstanden erste Gedichte, wurde der schönste Teil aller Schularbeiten in Angriff genommen: der Aufsatz. Hier schrieb man an dem Drama: natürlich Julius Cäsar und natürlich in fünffüßigen Jamben, und tief war die vierzehnjährige Verfasserin erschüttert, als der Vater das sorgfältig gehütete Geheimnis entdeckte und sich vor Vergnügen über den Anfang:

»Ein heimlich Schaudern rüttelt mir den Geist,
Und Schreckensbilder treten vor die Seele,«

gar nicht erholen konnte. Hier wurde, wie eigentlich überall, gelesen, gelesen, gelesen. Aber auch Schatten traten in den Garten. Denn hierher flüchtete man auch, wenn man zu unsäglicher Pein auswendig lernen mußte:

»Le signal est donné sans tumulte et sans bruit,
C'était à la faveur des ombres de la nuit« – –

oder:

»Au pied du mont Adule, entre mille roseaux,
Le Rhin, tranquille et fier du progrès de ses eaux« – –

lange Stücke, die, zu spät angefangen, niemals rechtzeitig sitzen wollten. Und dem festen Glauben an die mystische Wirkung des unter das Kopfkissen gelegten Buches war man in der hohen Sphäre der Klasse, in der man den »Vinet« las, doch entwachsen. – Schatten – aber das Licht überwog. Es lag nicht eigentlich im Garten, es war die Ausstrahlung von Jugend, Lebenshunger, phantastischer Welt- und Zukunftsträume. Hier schuf man sich seine Ideale – überlebensgroße Menschen und Ereignisse, unmöglich in ihrem Glanz und ihrer Vollkommenheit, und doch das Herz weitend und den Willen befruchtend.

Nebenbei trat auch wohl das in sein Recht, was eigentlich den Garten ausmacht. Man hatte sein eigenes kleines Beet, – ich pflegte dort eine »Baumschule« anzulegen, die kam am längsten ohne Pflege aus und hatte so einen Zug ins Große, wenn auch die Bäume nie groß wurden – aber die Hauptsache war eben nicht der Garten, sondern die gesteigerte Möglichkeit, die er in seinen gesicherten Planken und Mauern bot: des Träumens, Phantasierens, geistigen Schaffens.

Wenn man allein war, natürlich. Aber man war häufig allein, denn den Jungen war der Garten als Tummelplatz zu eng. Die stürmten durch das Tor auf die Staulinie, die damals noch von vier Reihen stattlicher Ulmen bestanden war, oder sie machten gelegentliche Besuche in den Nachbargärten. Die Nebengrundstücke waren nach dem gleichen Plan angelegt wie unseres; sie gingen bis zur Staulinie durch und schlossen da, wo heute lauter Häuser sich erheben, mit Garten und Gartenhäuschen ab. Alle gehörten zu unserem Spielbereich. Die nächsten Nachbargrundstücke zwar von Ratsherr Wiencken und dem vom Lande hereingezogenen Rentner Wöbcken waren nur mir zugänglich, da dort nur Mädchen waren. Der Garten von Tischler Glauert wurde wegen seiner großen Knabenschar von den Jungen bevorzugt. Besondere Anziehungskraft hatte dort auch die Tischlerwerkstatt, besonders wenn ein Sarg verfertigt wurde; dann ging, wie wir uns flüsternd mitteilten, nachts die Säge von selbst.

Den allerschönsten Spielplatz aber bot jenseits der Graft »Egloffsteins Garten«. Ich war ein paarmal darin gewesen, als er noch im Besitz des alten Generals war, von dessen Hause am Stau er sich bis fast jenseits des grünen Fleckens erstreckte. Else von Egloffstein – trotz meiner entschieden demokratischen Weltanschauung hatte es die Romantik des Namens mir angetan – hatte mich in die Labyrinthe von Johannis-, Stachel- und Himbeerbüschen geführt, in denen auch unsere kräftigsten Verheerungen kaum sichtbar waren. Später wurde der größte Teil des Gartens verkauft; unsere Nachbarn waren beim Ankauf beteiligt, und so wurde er nun vor der langsam erfolgenden Parzellierung und Bebauung ein wunderbarer Spielplatz. Daß man erst in Glauerts Boot über die Graft setzen mußte, erhöhte den Reiz und die Sicherheit vor dem Abgerufenwerden. Ich pflegte mit meinem Hunde Jeck und einem Kaninchen hinüberzuziehen und mich dort mit einem Buch in die Wildnis zu vergraben, während der Hund das Kaninchen hüten mußte. Ich sehe noch die gespitzten, vor Leidenschaft bebenden Ohren, wenn er mit aufmerksamen Augen das seinem Instinkt entschieden zuwiderlaufende Hüteramt vollzog.

Zu dem allen kam nun noch Großvaters Garten. Aber das führt zu einem neuen Kapitel: meine Familie.


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