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VII

Hans Vedel war seit der frühesten Morgenstunde auf See gewesen.

Er hatte diese Nacht nur wenig geschlafen, bewegt wie er war von den Ereignissen des Abends, und als der Tag graute, stand er auf und ging hinaus.

Die Uhr war kaum drei. Über dem Himmel lag noch eine schwere, graue Wolkendecke, und es regnete ein wenig. Oben in der nordwestlichen Ecke klärte es sich aber stark auf, – es wird nicht mehr lange währen, bis wir gutes Wetter bekommen, dachte er.

Unten am Hafen regte sich in der Dämmerung ein gedämpftes Leben. Die Fischer waren im Begriff, ihre Boote für den Morgenfang zurecht zu machen. Die Segel wurden mit leisem Klirren an den Masten in die Höhe gezogen und die Boote leer geschöpft.

Vedel sprang in sein Entlein hinab. Es lag wie gewöhnlich leicht wiegend auf dem Wasser, weiß, rein und zierlich. Er spülte es schnell ab und machte es segelklar.

Neben einem Fischerboot glitt er langsam aus dem Hafen hinaus. Der Fischer, – ein junger, langhalsiger Mann mit rötlichem Schnurrbart, eine kleine, kurze Pfeife zwischen den Zähnen, – stand da und mühte sich mit seinen Segeln ab.

»Der Herr Baron ist heute frühe im Gange,« sagte er zu Vedel hinüber und grüßte.

»Ja,« sagte Vedel und beugte sich vor: »Sind Sie es, Sörensen?«

»Jawohl, jawohl!«

»Was für Wind haben wir heute morgen, Sörensen?«

»Steifer Nordwest,« sagte der Fischer. »Wenn wir ein bißchen weiter hinauskommen, werden wir es schon merken.«

»Wo wollen Sie hin, Sörensen?«

»Ja,« sagte der Fischer nachdenklich, – »ich wollte ja eigentlich hin und den Holländer preien, der da draußen liegt. Er kann ja immer Tabak und ein paar Flaschen Bier gebrauchen.«

»Aber Sie sagen ja, daß die Holländer immer so schlecht bezahlen.«

»Ja,« sagte er, »das ist ganz recht. Er giebt kein Handgeld. Ich glaube auch, ich gehe lieber nordwärts, da liegt ein Russe, dann kann der Holländer meine Steinbutt von gestern kriegen. Dafür kriege ich jedenfalls ein paar Tauenden.«

Vom Lande her kam ein heftiger Windstoß.

»Da haben wir ihn,« sagte der Fischer und wendete die Segel.

»Na, guten Morgen, Sörensen, und viel Glück bei dem Handel!« sagte Vedel freundlich. »Danke, Herr Baron!« Sörensen war schon ein ganzes Ende entfernt.

Vedel griff nach dem Steuer und lenkte nach Osten, nach Hveen hinüber. Das Entlein hüpfte und stieß ein paarmal gegen die Strömung und glitt dann schnell und ruhig weiter.

Vedel fühlte sich ein wenig schwer im Kopf und etwas fieberhaft nach der schlaflosen Nacht, aber die kurze Unterhaltung mit dem Fischer hatte ihn zerstreut, – langsam glitt er in einen Zustand ruhigen, dumpfen Wohlseins hinüber, wie ihn das Leben auf See ihm immer brachte. Dies stoßweise Wiegen, das schnelle Fließen des Wassers an den Seiten des Bootes entlang, das leise Glucksen am Steven, – diese ganze freie und einsame Fahrt, mit einem Windstoß hie und da und einem schäumenden Wasserstreifen hin und wieder über die Reeling, – das alles betäubte sein Bewußtsein nach und nach, lähmte seine Gedanken.

Stunde auf Stunde saß er unbeweglich da, mechanisch Steuer und Segel bedienend. Er lebte kaum, – und er war ganz glücklich. Er empfand nichts weiter als ein leises Prickeln der Luft gegen sein Gesicht. Das unaufhörliche Glucksen des Wassers vernahm er allmählich gar nicht mehr, – und der Himmel erstarrte vor seinem Blick zu einer einzigen, grauen Fläche. Es war, als werde er lautlos in einen unendlichen Raum emporgetragen, und er entschwand sich selber.

In diesem seligen Rausch war er im Laufe von ein paar Stunden ganz hart an die hohen grauen Ufer der Insel Hveen gelangt. Er erwachte dadurch, daß sich etwas Lebendiges vor dem Steven seines Bootes bewegte. Es war ein Mann, der oben auf einer Wiese zwei Kühe vor sich her trieb. Er sah empor! Der Himmel war jetzt ganz klar, und über den großen, dunklen Wolkenbänken, die nach Schweden hinübergetrieben waren, stand die Sonne. Sie stand schon hoch am Himmel: es mußte ungefähr fünf Uhr sein.

Er drehte das Boot um und nahm den Kurs nach Süden. Der Wind war ganz nach Westen herumgegangen, wie es schien. Es würde wohl fünf bis sechs Stunden währen, bis er wieder zu Hause war.

Er war hungrig und machte sich über die vier Schnitten Butterbrot her, die er immer auf seinen Morgenfahrten mitnahm. Dann hielt er es vorzüglich bis zum Frühstück aus. Und langsam, in sehr langen Schwingungen, fing er an, nach der Küste von Seeland zurück zu kreuzen.

Zuweilen dachte er jetzt an Ingeborg. Und wenn sie vor ihm auftauchte, so fühlte er sich plötzlich bewegt. Er rückte unruhig auf seinem Platz hin und her und preßte die Hand um die Steuerpinne. Es unterlag ja keinem Zweifel, daß sie betrübt war –

Dann aber glitt sie wieder fort, und stundenlang saß er wieder da und starrte in die Luft hinein, ohne einen Gedanken, von seinem schlafähnlichen Zustand bezwungen.

Wie liebenswürdig war sie gestern abend, dachte er dann plötzlich, ich glaube, wir haben noch nie so vertraulich miteinander geplaudert wie gestern. Wir durchlebten ja unsere ganze Kindheit noch einmal.

Unsere Kindheit – –

Aber bewegt und aufgeregt war sie allerdings die ganze Zeit gewesen, dachte er eine Stunde später, so sonderbar forciert. Und wie wütend ich doch auf Hartwig war. Es war eigentlich ein ungemütlicher Abend, wenn Ingeborg das nicht bei Tische gesagt hätte, – das, – das, – – dann hätte ich ihn gefordert und vielleicht getötet.

Ihn getötet – – –

Eine lange Weile nachher kam ihm der Gedanke:

Ob sie dann wohl froh und glücklich geworden wäre? – Ich weiß es nicht. Liebt sie ihn, oder macht sie sich nichts aus ihm? – Ich weiß es nicht.

Nach einer Weile fand er Trost in dem Satz, den er gestern abend, als er nach Hause kam, mit einer so großen Selbstüberwindung in sein Tagebuch gezirkelt hatte:

Ich glaube, ich hätte sie glücklicher machen können. – – »Ich glaube, ich hätte sie glücklicher machen können,« murmelte er, – »ich glaube, ich hätte sie glücklicher machen können.«

Es vergingen ein paar Stunden. Es kreuzte sich immer langsam vorwärts, und die Küste näherte sich. Die Sonne fing an, sein Gesicht warm zu bescheinen, und vom Wasser her sprühten vor ihm und hinter ihm Lichtfunken auf.

Wie ich sie doch liebe, dachte er plötzlich. Ob es mir nie vergönnt sein wird, ihr einen Dienst zu leisten? – Dazu werde ich wohl niemals kommen. Denn sie hat ja alles, – ausgenommen vielleicht das Eigentliche. Vielleicht! – Aber das kann ich ihr auf alle Fälle nicht geben. Denn mich will sie nicht haben.

Nein, mich will sie nicht.

Er sagte das ganz ruhig vor sich hin. Er hatte so oft hierüber nachgedacht, es stand für ihn so unerschütterlich fest.

Laß den Gedanken nur wieder fliegen!

Jetzt erkannte er den Hafen dort zur Rechten deutlich, und plötzlich fühlte er, daß er hungrig war. Er sah nach seiner Uhr. Es war ungefähr halb zwölf, – er war über acht Stunden draußen gewesen. Ach, wie das Frühstück munden sollte. Wenn Mamsell Paulsen heute nur etwas ordentlich Solides hat, dachte er, – ihre ewigen Omelettes habe ich wirklich bald satt! –

Er legte das Boot um, – er wollte jetzt eine tüchtige Wendung nach Norden machen, dann konnte er in zehn Minuten im Hafen sein. Einen Augenblick später befand er sich wieder vor der äußersten Hafenmole.

Plötzlich starrte er nach dem Ufer. Da stand ja jemand und winkte mit dem Tuch, – eine Dame! – –

Ob sie mir winkt? dachte er erstaunt und sah sich um. Ja, es war sonst niemand in der Nähe, also galt es ihm! Wer konnte das doch nur sein? – Wie sie winkte!–––

Er beugte sich vor und starrte nach dem Ufer. –

Ingeborg! – –

Ingeborg, – das ist ja unmöglich! Ingeborg. – – Ja! Er kannte ihre Gestalt unter Tausenden heraus! Sie war es! Und er griff nach seinem Taschentuch und wehte aus Leibeskräften.

Aber was war denn das? – Eine Stimme! – Angespannt lauschte er.

»Komm, Hans!« hörte er aus der Ferne.

Mit aller Macht riß er das Steuer nach rechts herum. Das Boot drehte sich, – und mit klatschenden Segeln steuerte es langsam auf sie zu.

Komm Hans! – – Aber du lieber Gott, – rief sie ihn denn? – Was wollte sie? – Was war nur geschehen? –

Du großer Gott, nun liege ich hier in direktem Gegenwind, – fast Windstille. – – Wie soll ich nur ans Ufer kommen? – –

Die Ruder her!

Er griff nach den Rudern, und pfeilschnell schoß das kleine Boot dem Hafen zu.

Ich will dir schon helfen, Ingeborg, dachte er, aufgefrischt durch die frische Fahrt, – ich will dir schon helfen. Jetzt komme ich, warte nur ein wenig, dann bin ich da! Er griff tüchtig zu, und bald glitt das Boot in den Hafen, – auf die Treppe zu.

Ingeborg stand schon auf der untersten Stufe.

»Was hast du nur, Ingeborg?« fragte er und streckte die Hand nach ihr aus.

Sie ergriff sie und sprang in das Boot.

»Laß uns hinaussegeln!« sagte sie nur.

Schweigend und schnell stängelte er sich aus dem Hafen heraus, griff zu den Rudern und ruderte, bis sie im Winde waren. Dann wandte er das Boot und im nächsten Augenblick flogen sie nach Süden.

Ingeborg war in das Boot gesprungen und hatte sich hingesetzt, wo sie stand. Jetzt saß sie unbeweglich da, ein weißes Tuch krampfhaft um die schmalen Schultern gestrammt. Das Haar umgab das Gesicht mit lockiger, lichter Fülle, sie zwinkerte unaufhaltsam mit den Augen, ihr Mund zitterte. Sie starrte ihn an, hatte ihn keinen Augenblick aus den Augen gelassen, während er ruhig mit dem Boot manövrierte.

Jetzt setzte er sich an das Steuer, dicht neben sie.

»Ach, Hans,« rief sie aus, – und hielt inne, überwältigt von ihrer Bewegung.

»Was hast du nur, Ingeborg?« fragte er leise.

»Hans!« brachte sie mühsam heraus. – »Mit Ernst und mir ist es vorbei!«

Er zuckte zusammen, aber er sagte nichts, – sah sogar weg in der plötzlichen Empfindung, daß sein Blick sie noch mehr beunruhigen könne. Das Große, das Allergrößte ist geschehen! – –

Sie saß eine Weile schweigend da. Sie kämpfet mit sich, um ruhig zu scheinen und gedämpft und verständig zu sprechen. »Siehst du, Hans,« sagte sie mit leiser, bebender Stimme, »was kann das alles nützen – – ich kann es ja an mir selber merken, daß ich ihn nicht mehr liebe. Ich bin so gut, so geduldig gegen ihn gewesen, wie ich nur konnte, – – jetzt ist es vorbei! Jetzt ist es vorbei!« rief sie unbeherrscht aus und riß das Taschentuch aus der Tasche.

»Ist er schlecht gegen dich gewesen?« fragte Vedel nach einer Weile.

»Ja, Hans!« rief sie aus.

»Hat er dich beleidigt?«

»Ja, Hans!«

Vedel schwieg ein wenig. Seine Augen wurden ganz finster.

»Wie denn, Ingeborg?« fragte er leise.

»Ach, ich hasse ihn!« rief sie aus und zerriß ihr Taschentuch, »was habe ich ihm denn gethan! Nein, ich willnicht mehr! Ich willnicht mehr!«

»Du mußt dich ein wenig beruhigen, Ingeborg,« sagte Vedel so beherrscht, wie es ihm nur möglich war. »Du mußt mir sagen, was er dir gethan hat.«

Sie brach in Thränen aus. »Ach, ich habe es ja selber gesehen, daß er vorhin mit ihr ausgegangen ist,« rief sie schluchzend aus.

»Mit wem, Ingeborg?« fragte er leise. »Mit Frau Thomsen?«

»Ja, ja, mit wem sonst!« weinte sie und fuhr in fliegender Eile fort: »Sie gingen wie ein Paar Brautleute zusammen, er trug ihren Korb! Aber das kann er gern thun, das ist es ja gar nicht! Ich bin fest überzeugt, daß sie über Liebe sprachen, – meinetwegen, meinetwegen! Aber ich mache mir keinen Deut mehr aus ihm, keinen Deut! Das ist ganz vorbei! Kannst du das verstehen, Hans? Ich will nicht länger mit ihm verheiratet sein! Ich habe ihn satt, ich habe das Ganze satt, ich hasse ihn, ich hasse ihn!« Sie weinte, zerrte an ihrem Taschentuch, putzte sich die Nase, trocknete die Thränen, kämpfte mit ihrem Haar, weinte, schluchzte, nickte fortwährend hin und her.

Vedel starrte sie verwirrt an. Nie hatte er sie so gesehen. Wie traurig sie doch war. – – Was sollte er nur einmal machen? Wie konnte er ihr helfen? Wenn sie ihn doch nur um etwas bitten wollte! –

Nur um einen Rat! – –

Er strich leise mit seiner Hand über die ihre.

»Kann ich dir nicht, irgendwie behilflich sein, Ingeborg?« flüsterte er und sah sie mit seinem dunklen Blick an, der vor Zärtlichkeit bebte.

Hastig sah sie zu ihm hinüber. »Hans!« rief sie leise aus, »ach, du bist ja hier!« sie preßte seine Hand und schmiegte sich fest an ihn. »Ich sah dich ja oben vom Fenster aus, – ich mußte zu dir hinab. – –« »Ach, Hans,« flüsterte sie plötzlich. Sie faßte ihn mit der einen Hand um den Kopf und preßte ihre feuchte Wange gegen die seine. »Ach, mein teurer, lieber Freund, – ach, Gott sei Dank, daß ich dich habe!« – –

Vedel wagte nicht, sich zu rühren, er atmete schnell, er ballte die Hände um das Steuer. »Was geschieht nur einmal?« flüsterte er – –

Ingeborg hielt seinen Nacken fest umschlungen. Dann wandte sie langsam das Gesicht nach ihm um. Ihr Mund war gerade vor dem seinen, sie starrte ihn mit Augen an, die durch die feuchten, zitternden Wimpern leuchteten.

»Hans!« flüsterte sie fast unhörbar, »willst du mich haben, Hans? – Willst du?«

Vedel ließ die Steuerpinne fahren. Das Boot drehte sich schnell herum – stand einen Augenblick still mit klatschenden Segeln, – und plötzlich füllten sie sich und schlugen mit lautem Knallen über Ingeborg herab. Das Boot legte sich ganz auf die Seite, und das Wasser schäumte herein.

»Gieb acht!« rief Vedel und packte das Steuer mit aller Gewalt. Das Boot drehte sich herum, bäumte sich auf und glitt langsam und friedlich weiter. Die Gefahr war vorüber.

»Wir müssen aber achtgeben, wo wir sind,« sagte Vedel. Er war ganz blaß geworden, und seine Stimme zitterte ein wenig. »Du mußt dich da hinübersetzen, Ingeborg,« fuhr er fort und hob das Segel in die Höhe, um sie hindurch zu lassen.

Sie sah ihn an – und setzte sich hinüber. Ihr einer Ärmel war ganz vom Wasser durchnäßt, aber sie merkte es nicht.

»Das war a narrow escape ,« erklärte Vedel und versuchte zu lächeln: »Aber es kam ja ein wenig unvorbereitet, und mit Booten wie das meine muß man vorsichtig sein. Sie wenden so schnell, und gerade in dem Augenblick ist ein wenig Gefahr dabei. Das ist auch wohl der Grund, weshalb die Fischer sie hier unheimlich nennen, – das kann man ihnen nicht austreiben. Aber sonst sind sie wirklich ganz sicher. Und sie gehen ja so leicht bei jeder See. – – Findest du das nicht auch, Ingeborg?« fragte er, als sie nichts sagte.

»Ja,« sagte sie – und sah ihn an.

Sie schwiegen eine Weile.

Es fehlte wirklich nicht viel daran, so wären wir gekentert, dachte Vedel. Wäre der Wind in dem Augenblick ein klein wenig stärker gewesen, so hätte das Boot mit dem Kiel nach oben gelegen, – und Ingeborg – –

Er schauderte. Er starrte sie an.

Sie saß da mit einem sonderbar erstaunten Ausdruck im Gesicht, sie zwinkerte mit den Augen, und von Zeit zu Zeit strich sie sich langsam mit der Hand über die Stirn.

Vedel schüttelte traurig den Kopf.

Was sagte sie doch vorhin, dachte er plötzlich, – das, was uns fast zum Untergang geworden wäre? – – Ja!

»Willst du mich haben?« – –

Ja, aber er mußte sich doch verhört haben – – Willst du mich haben? – Was sollte das nur bedeuten? So lange Hartwig sie hatte, konnte er sie doch nicht auch haben. Man kann sich doch nicht so selber verschenken, wenn man kein Recht dazu hat – –

Nein, ich habe mich verhört, dachte er bestimmt. So etwas kann sie nicht sagen, – Ingeborg! das ist wirklich unmöglich, – unmöglich! So etwas kann Ingeborg nicht sagen.

Unmöglich!

Oder, – dachte er auf einmal, – sollte es bedeuten, daß sie sich von Hartwig scheiden lassen und nachher mich heiraten will? – Sollte das möglich sein? dachte er mit einem plötzlichen Wonnebeben. So heftig erregte ihn der Gedanke, daß er die Steuerpinne abermals losließ. Aber er griff schnell wieder darnach. Um Gottes willen, – ruhig! dachte er. – – Ich muß sie ausforschen, – ich muß mich ganz vorsichtig vergewissern.

»Ingeborg,« sagte er und räusperte sich, – »bist du nun auch sicher, daß es etwas Besonderes bedeutet, daß dein Mann mit Frau Thomsen spazieren gegangen ist?«

Sie sah ihn an.

»Was?« sagte sie.

»Bist du dessen ganz sicher?« wiederholte er, an und für sich liegt ja nichts böses darin, daß dein Mann einen Spaziergang mit Frau Thomsen macht – – «

»Ach Hans!« rief sie aus und sah ihn erzürnt an.

»Was meinst du?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, seufzte und lehnte sich hinten über.

»Da stiegt eine Möve,« murmelte sie. – »Ach, daß ich das doch wäre!«

»Aber du antwortest nicht auf meine Frage,« sagte er sanft.

Sie sah ihn an. »Du bist dumm, Hans,« sagte sie, – »ja, du bist so schrecklich dumm, daß mir nie etwas Ähnliches vorgekommen ist! Du bist so dumm, wie das Wasser tief ist!«

»Ja,« sagte er ruhig, »ich bin nicht so klug wie du, das weiß ich sehr wohl. Aber das habe ich auch nie geglaubt. Ich wollte dir nur gern helfen, wenn ich es könnte.«

»Ach du lieber Gott!« sagte sie und sah wieder in die Höhe.

»Aber du könntest mir doch eigentlich auf meine Frage antworten,« fuhr er fort.

»Ich habe sie Gottlob vergessen,« sagte sie flüchtig.

»Ich fragte dich, ob du auch glaubtest, daß es etwas Unrechtes sei –«

»Ach, laß mich doch in Ruhe!« rief sie und hielt sich die Ohren zu. »Darauf kommt es ja gar nicht an, das hab ich dir doch gesagt! Laß ihn nur spazieren, laß ihn flirten und kokettieren, so viel er mag! Ich bin mit ihm fertig! Ich mache mir nichts mehr aus ihm! Kannst du das denn nicht verstehen?«

Er saß eine Weile da und sah vor sich hin. Sie ist zu aufgeregt, dachte er, man kann sich gewiß nicht auf das verlassen, was sie sagt.

»Ich kann es nicht recht glauben,« sagte er.

Sie antwortete nicht, starrte nur in die Luft und fing an, eine Melodie vor sich hinzusummen.

»Ich kann nicht begreifen, wie man so plötzlich mit einem Menschen fertig werden kann, den man doch lieb gehabt hat.«

Ihr Summen verstummte plötzlich, – aber sie saß unbeweglich da und starrte in die Luft empor.

»Ich kann es nicht begreifen,« wiederholte er hartnäckig.

Sie fing an, ihr Haar zu ordnen, schob die verwehten und zerzausten Locken wieder unter den Hut. »Nein, es giebt allerdings mancherlei, was du nicht verstehen kannst, lieber Hans,« sagte sie nachlässig, – »aber deshalb kann es am Ende doch richtig sein.«

»Hast du ihn denn gar nicht mehr lieb?« fragte er eindringlich.

»Nein!« sagte sie kurz.

» Jetztmeint sie es wirklich! dachte er erfreut, – jetztist es ganz sicher.

Er drehte das Steuer herum und sie nahmen den Kurs weiter in den Sund hinaus.

So weit wären wir also! dachte er und blinzelte selbstzufrieden mit den Augen, – jetzt wagen wir uns vorsichtig einen kleinen Schritt weiter vor.

»Findest du es nicht amüsant zu segeln?« fragte er.

Sie nickte kurz, antwortete aber nicht.

»Ja, –« begann er, – »jetzt werden wir vielleicht oft zusammen segeln, Ingeborg –«

»Warum meinst du das?« fragte sie.

Jetzt wagte er es! »Ja,« sagte er gedämpft, – »wenn du dir also nichts mehr aus deinem Mann machst, so mußt du also mit mir fürlieb nehmen, – zum Segeln, meine ich!« fügte er erschrocken hinzu.

»Und worüber sollten wir beide wohl reden?« fragte sie und sah ihn überlegen an.

»Ach, wir haben doch so vieles, worüber wir reden können! Unsere Kindheit!«

»Unsere Kindheit!«

»Ja, – weißt du noch, – gestern abend?«

Sie sah ihn einen Augenblick an. Plötzlich zog sie das Tuch fest zusammen und schauderte.

»Ja, all das, dessen wir uns zusammen erinnerten!« fuhr er fort, ganz glückselig über das Thema. »Aber Ingeborg!« sagte er eifrig und beugte sich über sie, – »da waren drei Dinge, von denen wir gar nicht gesprochen haben, – es fiel mir erst hinterher ein, und ich beschloß, dich daran zu erinnern, – Das erste war der Ball bei euch, wo du mich zwangest, den ganzen Abend mit dir zu tanzen, sie glaubten alle, wir wären verlobt, weißt du wohl noch, was deine Tante Charlotte sagte? – – Und dann den Morgen, als ich dich auf der Langen Linie zusammen mit dem großen, dicken Axel Jörgensen traf, – weißt du das noch? Deine erste Schwärmerei? Das war gleich nach deiner Konfirmation. – – Du warst einen ganzen Monat nachher wütend auf mich. – – Und dann drittens, als wir Französisch zusammen hatten, – die erste Stunde, als ich deklinierte: Je m'amuse, tu t'atuse, il s'asuse– – Wie du lachtest, Ingeborg!«

»Ach, das war schrecklich!« flüsterte Ingeborg und sah vor sich hin.

»Was?« fragte er verwundert: »daß ich verkehrt deklinierte?«

»Nein, gestern abend,« flüsterte sie, – »und über Nacht, – und heute morgen –«

Er starrte sie an, – und wurde plötzlich ebenso traurig wie sie.

Wie schlecht und brutal doch dieser Hartwig ist! dachte er, – wahrlich, er verdient, daß sie ihn nicht mehr liebt. – –

»Ingeborg!« sagte er leise und warm, – ich könnte nie schlecht gegen dich sein!«

»Nein, du,« – sagte sie – »aber kannst du begreifen, warum Ernst es ist? Glaubst du, daß er mich nicht mehr leiden kann?«

Was nun? dachte er verwundert. – Aber so sehr liebte er sie, daß seine Stimmung sofort und fast ohne Widerstand mit der ihren zusammenschmolz.

Er senkte den Kopf. »Er hat ja eigentlich keinen Grund dazu,« sagte er gedämpft.

»Nein, das hat er nicht, das hat er nicht!« rief sie aus.

»Aber, siehst du, Hans,« fuhr sie eifrig und eindringlich fort, »wir sind ja nur so kurze Zeit verheiratet gewesen, und das Ganze ist so schnell gekommen, – ich glaube, er kennt mich noch nicht so recht! Wir kamen ja aus so ganz verschiedenen Verhältnissen, nicht wahr? Und dann sind wir ja fast so lange, wie wir verheiratet sind, umhergereist, – haben gar keine Zeit gehabt, mit einander zu plaudern, nicht wahr? Ach nein, woher sollte er mich auch kennen, der Ärmste! – – Glaubst du nicht auch, daß darin der Fehler liegt, Hans?«

Er verstand sie jetzt ganz. Instinktmäßig erriet er, was er sagen mußte, um sie froh zu machen.

»Ja,« sagte er, – »und dann ist er vielleicht auch ein wenig eifersüchtig –«

»Meinst du?« sagte sie, – und ein Lächeln blitzte auf. »Ja, aber auf wen sollte er wohl eifersüchtig sein?«

»Wohl auf mich!« lächelte er.

Sie lachte ausgelassen. »Ja, du bist wirklich auch einer, auf den man eifersüchtig sein kann, du alter Esel!« rief sie aus und zauste ihn am Ohr.

»Aber ich bitte dich!« lächelte Vedel glückselig über ihre Freude, – »wir sind doch wirklich gute Freunde, nicht wahr?«

»Freilich, – wie der eine ungleiche Schuh zu dem andern sagte!« lachte sie, – wurde dann aber plötzlich ernsthaft.

»Ach Gott, ach Gott, wenn es das doch wäre?«

Ungleiche Schuhe, dachte Vedel. Ja, ja, ich habe es ja gewußt, – ich habe mich vorhin verhört. Sie will mich nicht haben, – das habe ich ja immer gesagt. – Jetzt wollen wir die Sache zum Abschluß bringen:

»Aber darum braucht dein Mann doch nicht schlecht gegen dich zu sein!« sagte er und sah sie fragend an.

»Ach, Unsinn!« sagte sie, – »wenn nichts weiter im Wege ist.«

Also! dachte Vedel, – sie liebt ihn. – –

Und all sein Zorn gegen Hartwig war plötzlich verschwunden.

Aber weshalb sagte sie denn, daß sie ihn haßte.

»Du sagtest ja vorhin, daß du ihn nicht leiden könntest?« fragte er. »Habe ich das gesagt?« rief sie aus, – »dessen entsinne ich mich wirklich nicht mehr!« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe. – –

»Ach! fuhr sie plötzlich ärgerlich fort, – »das war ja nur, weil ich so böse auf ihn war: Kannst du denn das auch nicht kapieren?«

»Ja, ja,« sagte Vedel.

»Ihr Männer seid nun einmal so unbegreiflich dumm!« eiferte sie, »wenn ich darüber nachdenke, so weiß ich kaum, wer dümmer ist, du oder Ernst.«

Er schüttelte den Kopf! »Ich glaube nicht, daß ich so klug bin wie Hartwig.«

»Ach, Gott weiß,« sagte sie, »das kommt vielleicht auf dasselbe heraus.«

Vedel war jetzt so freundlich gegen Hartwig gestimmt, daß er sich ganz froh und stolz über diese plötzliche Brüderschaft fühlte.

»Ja,« sagte er, »ich kann es wirklich so brillant verstehen, daß du deinen Mann liebst, Ingeborg!«

»So!« sagte sie, »das ist wirklich sonderbar!«

»Ja, und daß er eifersüchtig ist,« fuhr er fort, »das beweist ja nur, daß auch er dich liebt.« »Sonderbar!« rief sie aus und schlug die Hände zusammen, »wie gewitzt du auf einmal wirst, Hans!«

»Ja!« sagte er vergnügt. »Und an und für sich hat er ja auch so viele gute und liebenswürdige Eigenschaften.«

Sie änderte den Ton. »Ja, die hat er!« sagte sie.

»Er ist eine männliche Persönlichkeit,« fuhr Vedel fort. »Selbst wenn er auch nicht so besonders begabt ist –«

»Nicht begabt!« rief sie mit blitzenden Augen aus, – »und das sagst du, du kleiner Idiot!«

»Verzeih mir,« sagte er, »aber du sagtest doch selber vorhin, daß er nicht klüger sei als ich. – –«

»Aber das sagte ich wirklich nur, weil er auf so einen wie dich eifersüchtig ist.«

»Nun ja!« sagte Vedel sanft, »dann hat er also alle ausgezeichneten Eigenschaften.«

»Die hat er! Die hat er!«

Vedel schwieg. Er konnte nichts dabei machen, – er fand daß sie heute ein wenig launenhaft war. Aber das kommt wohl, weil sie in der letzten Zeit so viel erlebt hat, dachte er. Arme kleine Ingeborg! – Aber nun war ja alles wieder gut.

»Du bist schrecklich lieb und gut, Hans!« sagte sie plötzlich und strich ihm über die Wange, »aber jetzt müssen wir machen, daß wir nach Hause kommen. Ich bin auf einmal so hungrig geworden, ich habe ja noch gar kein Frühstück bekommen.«

Vedel wandte das Boot. »Ich bin übrigens auch hungrig!« sagte er lächelnd.

»Dann frühstücken wir zusammen nicht wahr?«

»Ja, gern!« sagte er erfreut.

»Alle drei!« rief sie aus, – »wir können ja, – ach Gott!« sagte sie plötzlich leise und schwieg.

Sie waren nördlich vor dem Hafen angelangt, mit gutem Wind direkt darauf zu gesegelt.

»Gott weiß, wo Ernst jetzt ist!« sagte Ingeborg plötzlich leise und sah vor sich hin.

Vedel räusperte sich und wollte antworten. –

»Sie gingen da zusammen, ganz dicht nebeneinander!« fuhr sie schnell fort, »ich bin fest überzeugt, sie sprachen von Liebe! Er trug ihren Korb, – gerade sowie du neulich!« rief sie erregt aus, »ja, sie hat euch gut am Bändel, die dicke Madame!«

»Ich muß dich darauf aufmerksam machen, Ingeborg,« sagte Vedel und wurde dunkelrot vor Zorn, – »daß ich nicht in Frau Thomsen verliebt bin – –«

»Ach, laß mich bitte in Ruhe!« rief sie aus. »Das schreckliche ist, daß die beiden jetzt allein zusammen sind!«

»Ist das denn so schrecklich?« sagte Vedel.

»Ja, das ist schrecklich!« rief sie aus und stampfte mit dem Fuß, – »es ist so schrecklich daß ich mich am liebsten hinlegen und auf der Stelle sterben möchte!«

»Ich meine doch,« sagte Vedel sehr ruhig, »daß du vorhin sagtest, das sei gar nicht das, worauf es ankäme!«

Sie starrte ihn an. »Ja, du bist brillant, Hans!« sagte sie dann. »Dich könnte man, so wie du bist, für Geld sehen lassen!«

»Das mag sein,« sagte er, »eine Thatsache aber ist es, daß du das vorhin sagtest. Und ich muß doch glauben, was du sagst.«

»Ach, ich weiß gar nicht, was ich sage,« rief sie aus. »Ich weiß nur, daß ich ihn liebe, ihn liebe, ihn liebe!«

Nun, ja, dachte Vedel, jetzt habe ich sie gestraft, wenn sie sagt, daß ich in Frau Thomsen verliebt bin, werde ich böse. Und jetzt habe ich ihr das gezeigt. Dann ist alles wieder gut.

Schweigend saß er da und steuerte. Der Hafen war ihnen jetzt ganz nahe gerückt, – in weniger als fünf Minuten konnten sie drinnen sein.

Ingeborg wurde immer unruhiger. Sie strich unaufhörlich das Haar aus der Stirn, – preßte die Hände gegen ihre Wangen, – rückte hin und her, zitterte, starrte nach dem Ufer.

»Hans!« flüsterte sie plötzlich, »jetzt sollst du hören, was ich thun will. – – Jetzt gehe ich nach Hause, und wenn er dann nicht da ist, so erwarte ich ihn. Und wenn er dann hereinkommt, werfe ich mich platt vor ihm an die Erde und bitte und flehe und flehe, ob er nicht bei mir bleiben will! – Dann sagt er, das will er nicht – – Aber dann sage ich, er könnte alles thun, was er will, – mit Frau Thomsen und mit wem er will in der ganzen Welt, wenn er bloß nicht von mir geht! Und dann nimmt er mich und hebt mich zu sich empor und sagt, daß er bei mir bleiben will um meiner großen Liebe willen – –

Glaubst du nicht auch, daß es so zugehen wird, Hans?« flüsterte sie, als sie sich ein wenig von ihrer Erregung erholt hatte.

»Nein, nicht ganz so, Ingeborg,« sagte Vedel gedämpft, mit sanfter, ruhiger Stimme. »Denn da steht dein Mann!«

Und er zeigte auf die Hafenmole.

Blitzschnell wandte sie den Kopf. – Ein erstickter Schrei, – ja, da stand er!

Sie wurde leichenblaß. Unbeweglich saß sie da und starrte ihn an, – bis sie langsam in den Hafen hineinglitten.

Dann erhob sie sich zitternd, – und stand, an den Mast gestützt. Sie sah seine hohe Gestalt, ihr zugewandt, sein braunes Gesicht unter dem weißen Strohhut. Er rührte sich nicht, grüßte nicht.

Vedel stängelte langsam das Boot an die Treppe hinan, wo er stand.

Sie sah ihn die Stufen hinabgehen, bis er auf der untersten stehen blieb. Sie sah seine Augen, seinen Mund. – Es war, als sollte sie vergehen! – –

Sie legten an, – er breitete die Arme nach ihr aus, – und mit einem Schrei lag sie an ihn geschmiegt –

»Ingeborg! Du bist also doch gekommen!«

Er hielt sie in den Armen und trug sie hinauf.

Aber sie wollte ihn nicht lassen. Sie suchte sein Gesicht mit ihrem Munde, sie schluchzte, lachte, und unter strömenden Thränen, mit gebrochenen Lauten preßte sie ihn an sich.

»Ach, mein Schatz, mein teurer, geliebter Schatz!«

»Du süße Ingeborg,« flüsterte er tief bewegt, »wie ich dich liebe!«

Sie sahen nichts um sich her. Ihr Kopf lag an seine Brust gepreßt, in halb bewußtlosem Glück bei ihm geborgen. Er stand über sie gebeugt, mit zitterndem Gesicht, sprachlos vor Wonne. »Wollen wir nach Hause gehen?« fragte er endlich.

Und langsam, schwankend, mit großen Pausen gingen sie dem Ufer zu.

Im Boot aber stand Vedel aufrecht und fein, mit entblößtem Haupte und sah ihnen nach.


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