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IV

Als Frau Thomsen Vedel den Rücken gewandt hatte, ging sie langsam auf ihre Villa zu, die weiß und frisch gekalkt und blendend in dem grellen Sonnenschein dalag.

Sie war ärgerlich und verstimmt. Und weswegen? – Alles hier war wirklich viel zu neu: der Garten so langweilig kahl mit seinen dünnen Rasenplätzen, seinen kleinen blütenlosen Rosensträuchern, seinen Reihen schlanker Obstbäumchen, – und das Haus, wie das doch die Augen blendete! Sie selber war heiß und müde und außer Atem. Aber das alles war es im Grunde nicht, was sie ärgerte. Was war es denn?

Die Mädchen kamen jetzt gelaufen und befreiten sie von ihren Paketen.

»Schämt ihr euch denn gar nicht!« rief sie aus, »mich hier herumlaufen und mich halbtotschleppen zu lassen –«

»Gnädige Frau wollten doch selbst –«

»Ja, weil ihr zu nichts zu gebrauchen seid! Na, geht hinauf und macht alles fertig. Und wie sieht es mit der Wäsche aus? Seid ihr mit dem Tischzeug fertig?«

»Ja, die Frau hat dabei angefangen.«

»Angefangen? Sie muß heute abend mit der ganzen Geschichte fertig sein, – mit jedem Stück! Sonst kriegt sie ihre zwei Kronen nicht, laufe schnell hinunter und sage ihre das, Karen!«

Die Köchin lief in kurzem Galopp davon.

»Und Sie, Anna, – was wollte ich doch sagen, – ja, gehen Sie hinunter und sagen Sie Anton, daß er sich die Livrée anzieht, ich habe etwas für ihn zu thun! Und dann kommen Sie herauf und helfen mir beim Umkleiden, aber schnell, schnell!« Das Mädchen stürzte davon.

Frau Thomsen atmete erleichtert auf, herrlich zu kommandieren! Zu fühlen, daß einem gehorcht wird! Und im selben Augenblick wußte sie, warum sie vorhin so gereizt gewesen war. Es war diese Begegnung mit Hartwig. So stolz wie er da auf seinem Bock saß und auf sie herabsah, und der Baron und die Scholle. Da war er allerdings der Überlegene gewesen.

Sie hatte ein Gefühl, als stände sie jetzt auf einer Stufe mit ihm.

Warte du nur, mein guter Monsieur, dachte sie, – warte du nur, bis ich in Toilette bin!

Sie war jetzt in ihr Ankleidezimmer gekommen, das im ersten Stockwerke lag. Es war ein kleiner, elegant ausgestatteter Raum in modernem Empire, mit Möbeln in Weiß und Gold. Drei große Spiegel, ein Toilettentisch, der von Neuigkeit funkelte, ein Madame Récamier Ruhebett mit grünem Atlasbezug. Eine Glasthür führte zu einem kleinen Balkon mit Schmiedeeisengitter, von dem man den Strandweg und den Sund übersehen konnte.

Frau Thomsen trat sofort an einen der Spiegel. Ja, ich sehe wirklich reizend aus! dachte sie, – man sollte glauben, ich wäre fünfzig!

Schnell näherte sie ihr Gesicht dem Spiegel.

Sommersprossen! Sommersprossen! Wo kriege ich die her? – Das kommt, weil ich immer so herumrenne! Und das Haar in dem brandroten Tuch, – wie kleidsam das ist! Dünne wird es auch allmählich – –

Ich müßte Kinder haben, das ist das einzige, was hilft, sagte sie zu sich selber und warf den Spiegel hin. Aus verschiedenen Gründen müßte ich Kinder haben – –

Plötzlich beugte sie sich ganz nach dem Spiegel hinüber. Mit zwei Fingern zerrte sie die Haut unter dem einen Auge auseinander, kniff sie zusammen, zerrte sie wieder auseinander. Sie glaubte, den Schatten einer Falte gesehen zu haben. Nein, wenn sie genau hin sah, war es nur Müdigkeit, – nein, die Haut war jung, ganz jung, Gottlob, – das war ihre größte Angst – –

Aber dies Kleid! – Ganz entsetzt sah sie auf einmal wie zerknittert und vertragen es war, es hing ja wie ein Sack um ihre Glieder! Und damit ging sie am hellen, lichten Tage am Strandweg, nach dem Frühstück! Sie war wirklich zu gleichgültig gegen die Meinung der Leute! Wahrlich, es war wohl verdient, wenn Hartwig sie von oben herab ansah und seine kleine Frau den Kopf in den Nacken warf und nicht mit ihr sprechen wollte! – –

Wie heiß sie doch war! – Sie griff nach ihrer Puderdose und bedeckte ihr ganzes Gesicht mit einer dichten Puderschicht.

Herrlich kühlte das!

So, jetzt fing sie wieder an, sich als Mensch zu fühlen.

Dann ließ sie das Kleid fallen, hüllte sich in ihren langen Frisiermantel und legte sich auf das Sofa, um das Mädchen zu erwarten. –

Nach einer Weile klopfte es an die Thür.

»Wer ist da?« ertönte es schlaftrunken vom Sofa her.

»Anton!« antwortete es von draußen.

»Anton? Was wollen Sie?«

»Die gnädige Frau hatten ja etwas für mich zu besorgen.«

»So?« Sie riß die Augen auf, ahnte aber nicht, wozu sie ihn herbestellt hatte. »Nun ja, – gehen Sie hinunter und sagen Sie Anna, daß sie sofort zu mir heraufkommen soll,« sagte sie ärgerlich und schloß die Augen wieder. Ach, jetzt lag sie gerade so gut – –

Dann kam Anna. Sie war ein kleines, häßliches, brünettes Mädchen, blutjung, mit schnellen, affenartigen Bewegungen und einer ewigen, beinahe krampfhaften Unruhe im Gesicht.

Frau Thomsen streckte sich, gähnte, stand dann auf und setzte sich vor den Spiegel am Fenster. Anna machte sich sofort über das Haar her.

»Vorüber lachen Sie, Anna?« fragte Frau Thomsen, die ihr grinsendes Gesicht im Spiegel sah.

»Ach, bloß über Anton!« kicherte sie. »Der hat die Livrée bloß anziehen müssen, um mir zu sagen, daß ich zu der gnädigen Frau heraufkommen sollte.«

Frau Thomsen saß eine Weile schweigend da. »Na ja!« sagte sie, »wozu hat er sonst seine Livrée?« »Ich hab' so lachen müssen!« fuhr Anna fort, »er stellte sich so an, aber wütend war er –«

» Waswar er?« fragte Frau Thomsen scharf und runzelte die Stirn.

»Ach Gott, nein!« rief das Mädchen aus.

»Au! Wie Sie mich ziehen! Was haben Sie heute nur einmal?«

Anna schwieg und kämmte vorsichtig weiter.

»Ich kann den Burschen nicht leiden,« fuhr Frau Thomsen fort. »Er leistet hier draußen auch nicht das Geringste. Er treibt sich nur herum und wird träge und frech.«

»Der Herr schickt ihn doch oft zur Stadt!« wandte das Mädchen ein und riß unruhig das eine Auge auf.

»Das ist ganz überflüssig, wenn man ein Telephon hat. Ich glaube, ich will sehen, daß ich ihn los werde.«

Anna zuckte zusammen. »Ach nein!« rief sie unwillkürlich aus. Frau Thomsen sah sie an. »was soll das heißen?« fragte sie« »Bitten Sie für ihn? Sie sind wohl in ihn verliebt, Anna?« »Ach Gott, nein!« sagte Anna mit einer unglücklichen Grimasse, – »er sieht kaum nach der Seite hin, wo ich bin.«

»Na ja, dann haben Sie ja keinen Grund, ihn zu lieben.«

Aber Anna ließ nicht nach.

»Unten am Hafen, des Abends –« versuchte sie einschmeichelnd. – »Gnädige Frau sollten ihn nur hören, – er ist so amüsant, wenn er mit den Fischern plaudert.«

»Wer?«

»Anton!«

»Wie sie den Namen ausspricht! Sie sind scheinbar bis über die Ohren in ihn verliebt, mein Kind.«

»Nein! Aber er macht soviel Unsinn mit ihnen! Wir kommen alle beinahe um vor Lachen!«

»Ja das will ich mir für die Zukunft denn doch verbitten!« sagte Frau Thomsen ungeduldig. »Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, daß er sich über die braven Fischer lustig macht, bloß weil er nichts weiter zu thun hat. Und dann setzt er euch obendrein noch Grappen in den Kopf. Nein, er muß fort!«

Anna kämmte eine Weile schweigend weiter. Es arbeitete in ihr. Ihre Wangen färbten sich und von Zeit zu Zeit kam Leben in ihre Augen und sie blitzten im Spiegel Frau Thomsens Gesicht mit einem wunderlich hilflosen und boshaften Ausdruck an. Auf einmal krümmte ihr Mund sich nach unten, und sie fing an zu schluchzen.

»Na, was hast du denn jetzt?« fragte Frau Thomsen ärgerlich.

»Gnädige Frau könnten so viel Nutzen von ihm haben,« schluchzte sie.

Frau Thomsen stampfte mit dem Fuß auf die Erde: »Ich verbitte mir diesen Unsinn!« rief sie aus. »Wenn Sie nicht ohne ihn leben können, so können Sie ja gleich mit ihm gehen!«

Anna aber schlug die Hände vor die Augen und schluchzte laut: »Er weiß was von dem Herrn!« rief sie aus.

Langsam wandte Frau Thomsen den Kopf nach ihr um. »Was soll das heißen?« fragte sie.

Jetzt heulte Anna. »Der Herr hat –« sie hielt inne.

»Was hat er?« fragte Frau Thomsen ruhig.

»Der Herr hat eine Liebschaft in der Stadt!« rief das Mädchen laut brüllend und sank auf die Knie.

»St! So schweigen Sie doch! Wie können Sie nur so schreien!« Frau Thomsen war aufgesprungen und sah nach der Thür hinüber.

»Gnädige Frau müssen nicht böse sein,« schluchzte das Mädchen. »Es ist ja man bloß, weil ich so schrecklich viel von gnädige Frau halte!«

»Schweigen Sie! Hören Sie denn nicht!« flüsterte Frau Thomsen. »Kommen Sie doch zu sich!«

Während das Mädchen an der Erde lag und schluchzte und sich die Nase putzte, ging Frau Thomsen im Zimmer auf und nieder, – rückte die Möbel hin und her, sah vor sich hin, – trat auf den Balkon hinaus, kam gleich zurück.

Eine so dumme, plumpe Art und Weise, so etwas zu erfahren! – Dieses Pack von Dienstboten! – –

Wütend sah sie Anna an, die noch immer an der Erde lag und leise schluchzte, während sie über das Taschentuch hinweg zu ihrer Herrin hinüberschielte. Jetzt schlug sie die Augen nieder.

»Sind gnädige Frau schrecklich traurig darüber, daß –« begann das Mädchen.

»Schweig!« unterbrach sie Frau Thomsen heftig. Dann ging sie hin und setzte sich wieder vor den Spiegel.

»Machen Sie jetzt schnell, daß Sie mit meinem Haar fertig werden!« sagte sie. »Und sprechen Sie nicht mehr mit mir. Ich will Ihr Geschwätz nicht mehr anhören.«

Das Mädchen erhob sich und ging schnell und geschäftig wieder an die unterbrochene Arbeit.

Geschwätz! dachte Frau Thomsen bei sich, leider ist es wohl kein Geschwätz.

Einen Augenblick überlegte sie, ob sie das Mädchen ausfragen sollte, woher sie es wußten und was sie wußten, aber sie gab es gleich wieder auf; sie mochte sich nicht mit dem Pöbel gemein machen. Außerdem war die Sache an sich wohl nur leider ganz sicher. Der Herr hatte offenbar eine Liebschaft in der Stadt.

Der Gedanke war ihr ja nicht neu, – sie hatte in den letzten Jahren sogar bei Kleinem versucht, sich daran zu gewöhnen. Warum sie es geglaubt hatte, wußte sie offen gestanden nicht. Thomsen hatte nie die geringste Unregelmäßigkeit weder in seinen Gewohnheiten noch in seiner Laune gezeigt, er war Tag aus, Tag ein, das ganze Jahr hindurch, einfach und ruhig, und er kam immer zur Essensstunde nach Hause. Vielleicht war es grade dies unerschütterliche Gleichgewicht in allem, was sie zuerst mißtrauisch gemacht hatte: sie fand es unnatürlich bei einem Mann. Sie war sogar mehrmals kurz davor gewesen, mit ihm darüber zu sprechen, ihn geradeaus zu fragen, wie es in der Beziehung mit ihm stand. Aber sie hatte es nicht gethan, weil sie fürchtete, daß er sagen würde, es sei nichts derartiges vorhanden. Denn dann konnte es trotzdem wahr sein. Und dann hatte er ihr etwas vorgelogen. Vor dem Verdacht fürchtete sie sich.

Jetzt wußte sie es also. Es that ihr ein klein wenig leid.

Nicht daß er hin und wieder eine andere Frau besuchte. Ach Gott, nein, über Eifersucht und dergleichen Jugendlichkeiten war sie längst hinaus. Sie verstand sich außerdem so gut auf die Gefühle der Männer, daß sie wußte, er konnte sie deswegen doch ebenso lieb haben. Was sie aber quälte, war der Gedanke: warum hatte er es ihr nicht erzählt?

Mein Gott, jetzt lebten sie doch wirklich so nett friedlich und behaglich mit einander. Sie hatte ihn wirklich gern. Sie amüsierte sich über seinen trockenen Humor, und selbst wenn er für gewöhnlich ein wenig schweigsam und stumpfsinnig war, so fühlte sie sich doch in seiner Gesellschaft immer so sicher und geborgen. Sie wußte es auch sehr an ihm zu schätzen, daß er ihr niemals Schwierigkeiten in Bezug auf Geldangelegenheiten und dergleichen machte: sie erhielt immer, was sie für sich oder das Haus forderte, – obgleich es ihm wohl nicht immer gleich bequem war, es ihr zu schaffen. Das war doch eine große Annehmlichkeit. Er war ihr wirklich ein guter Kamerad gewesen, – so wie sie ihm. Warum hatte er ihr denn nicht so viel Zutrauen erwiesen? Sie fand, daß sie das verdient hatte. Er hätte ihr geradeaus erzählen sollen, daß er im Begriff stände, eine Dummheit zu begehen. Dann hätten sie doch zusammen darüber sprechen können, als nüchterne, praktische Menschen, die sie doch waren.

Jetzt mußte sie ihn also selber ausfragen.

Sie schauderte ein wenig; es war nicht angenehm.

Und dann war da ja immer diese Angst; den Fall gesetzt, daß er es leugnete, denn dann wollte sie nicht nur glauben, daß er log, – dann mußte sie es wissen. Und dann war es mit ihrer Kameradschaft aus, – das fühlte sie deutlich. Sie konnte nicht in Freundschaft mit einem Manne weiterleben, der sie in einem so wichtigen Punkt belog.

Nun, es war ja noch nicht alles verloren!

Das Mädchen hatte endlich ihr Haar aufgesteckt.

So, das hat geholfen! dachte Frau Thomsen und betrachtete die hübsche Frisur im Spiegel. Dann badete sie Gesicht, Hals und Schultern in dem kalten Seewasser, das förmlich biß, aber die Haut mit einem so jugendlichen Schimmer erröten machte. Und sie zog ihr mauvefarbenes Moiréekleid an; das ließ gerade so viel von Hals und Schultern sehen, wie das Seewasser gerötet hatte.

Anna war ihr behilflich, gewandt und ängstlich.

»Wie schön gnädige Frau doch sind!« murmelte sie und faltete die Hände, während Frau Thomsen vor dem Spiegel stand und ihre prachtvolle Erscheinung musterte.

Ja, dachte sie, – ich bin jedenfalls schöner als vorhin, als ich wie ein Fischweib auf dem Strandwege herumlief. Jetzt werden wir ja sehen, was der gute Thomas sagt.

Mit einem Seufzer wandte sie sich von dem Spiegel ab.

»Gehen Sie jetzt hinunter und sagen Sie Anton, daß ich mit ihm sprechen will!« sagte sie.

Das Mädchen stand einen Augenblick still und starrte ihre Herrin an, dann lief sie schnell hinab.

Jetzt muß ich ihn wohl kündigen, lachte Frau Thomsen und schritt ein wenig auf und nieder. Ich kann ihn doch nicht mit seinen Klatschereien hier herumlaufen lassen.

Einen Augenblick später klopfte es an die Thür.

»Herein!« sagte sie und ging auf die Thür zu.

Der Diener trat ein, als sie aber seinen frechen, neugierigen Blick begegnete, wandte sie ihm den Rücken und trat an das Fenster.

Was soll ich ihm nur sagen? dachte sie, ich kann mich doch nicht dazu hergeben, mit ihm darüber zu reden. Und wenn ich keinen Grund angebe, geht er zu Thomsen. Außerdem – wenn er hier weggejagt wird, klatscht er wohl dort, wohin er kommt, nur um so mehr.

»Gehen sie hinunter und holen Sie Anna,« sagte sie, ohne sich umzuwenden. Sie sah nicht die Grimasse, die er ihr machte, und die übertriebene tiefe Verbeugung, mit der er sich aus der Thür zurückzog.

Jetzt setzt das Mädchen ihren Willen also doch durch, dachte sie ein wenig ärgerlich, – ich habe ganz einfach nicht den Mut, ihn weg zu jagen. Aber sie sollen wenigstens nicht glauben, daß ich mich ihrer bedienen will. Und als Anna nach einer Weile hereinkam, ging sie ganz nahe auf sie zu.

»Hören Sie einmal, Anna!« sagte sie ruhig und bestimmt, »mit diesem Schlingel von Anton mag ich nicht reden. Sie können ihm aber von mir bestellen, sobald ich wieder das allergeringste von seinem lächerlichen Klatsch und dummen Gerede hörte, würde er augenblicklich zum Hause hinausgejagt werden. Ich kann euch nicht daran hindern, untereinander zu klatschen, und das ist mir übrigens auch gleichgültig, höre ich aber nur ein einziges Wort von diesem Blödsinn von anderer Seite, so wißt ihr beide, worauf ihr euch gefaßt zu machen habt. Denn es kann nur von euch ausgehen. Haben Sie mich verstanden?«

»Jawohl, gnädige Frau,« stammelte das Mädchen mit einem Gesicht, das vor Verlegenheit zuckte und zitterte.

»Nun, dann gehen Sie hinunter.«

Anna fing an zu schluchzen! »Gnädige Frau sind doch nicht böse?«

»Freilich bin ich böse! Machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen!«

Anna verschwand.

So, jetzt werde ich von der Seite wohl Ruhe haben, dachte Frau Thomsen, »dann werde ich mit der andern auch wohl fertig.«

Nach einer Weile ging sie hinunter.

Im Wohnzimmer roch es noch immer nach Lack und Farbe, und als sie in die Gartenstube kam, befühlte sie ganz mechanisch die Wand, ob sie noch feucht sei. Ob ich wohl auch in die Küche muß? dachte sie. Ach nein, mit dem einfachen Essen wird sie schon allein fertig werden. Und dann: sie wollte ihren Teint nicht verderben, indem sie zu lange über dem Feuer stand.

Der gute Thomas soll mich hübsch finden! – –

Dann setzte sie sich in einen Korbstuhl auf die Veranda, nahm ein Buch und erwartete Thomas. –

»Ja, jetzt trocknet es!«

Sie wandte sich um und sah ihren Mann im Gartenzimmer stehen, die Hand gegen die Wand gelegt. War die Uhr denn schon so viel? Ja, gleich halb sieben!

Sie sprang schnell auf, ging mit einem leichten Kopfnicken an ihm vorüber, in die Küche hinaus. Gleich darauf setzten sie sich zu Tische.

Das Essen verlief in fast völligem Schweigen. Thomsen sagte wie gewöhnlich nichts, und Frau Thomsen war gegen ihre Gewohnheit still und nachdenklich.

Von Zeit zu Zeit stützte sie das Kinn in die Hände und sah lange zu ihrem Mann hinüber, der so friedlich da saß und seine Fleischbrühe schlürfte.

Ja, ja, mein guter Thomas, dachte sie, da sitzt du nun und genießt dein Mittagessen. Du ahnst nicht, was mitten an diesem heitern Sommertag zu mir herabgeplumpst kam. Wenn du es wüßtest, bekämst du am Ende einen Kloß in den verkehrten Hals. – –

Aber jetzt, wo Anna aus und ein ging, wollte sie aber nicht darüber sprechen. Sie trank ein paar Gläser, um ein wenig in Stimmung zu kommen.

Plötzlich mußte sie lächeln.

Also Thomas ist verliebt! dachte sie, – Gott weiß, wie das aussieht? – – Und zum ersten Male erfaßte sie eine Art Neugier, zu erfahren, wer es war, der er huldigte. Wahrscheinlich eine kleine Schauspielerin, dachte sie, – oder eine »junge Witwe«, die durch ein Inserat in der Zeitung einem gebildeten, vorurteilsfreien Gentleman um ein Darlehn von 200 Kronen gebeten hat. Und sie sah ihn ruhig mit einem Blumenstrauß daherkommen und ihn der Auserwählten in seiner stumpfsinnigen, stillen Weise überreichen. Drollige Schäferstunden! dachte sie. Sie war keinen Augenblick darüber in Zweifel, daß sein Auftreten dort genau so bürgerlich und prosaisch und leidenschaftslos war wie daheim bei ihr.

Als sie bei den Erdbeeren angelangt waren, ließ Thomsen plötzlich seine Stimme erschallen.

»Ich finde, die Mühle ist heute stehen geblieben,« sagte er und blinzelte verschmitzt zu seiner Frau hinüber.

»Ja,« sagte sie mit einem leisen Lächeln. »Es ist ein Stein zwischen die Räder geraten.«

»Was für ein Stein ist denn das?«

»Das wirst du schon erfahren, Thomas, wenn die Zeit gekommen ist.« Er schüttelte den Kopf, und sie aßen schweigend weiter.

Als sie fertig waren, gingen sie auf die Veranda hinaus. Thomsen zündete seine kleine Shagpfeife an und stand da und sah über das Wasser hinaus und nach seinem Kutter hinüber, der gerade vor der Villa vor Anker lag, ein Stück vom Lande entfernt; ganz schwarz sah er heute abend aus, – der Rumpf wie auch die Takelage waren wie mit Pech beschmiert, denn rings umher lag der Sund blank und weißgelb, von dem Glanz der Abendwolken beleuchtet.

»Die See sieht heute abend, weiß Gott, wie Milch aus,« bemerkte der Großhändler.

»Warum nicht wie Bernstein,« entgegnete seine Frau.

»Hm, so poetisch bin ich nun einmal nicht veranlagt.«

Seine Frau sah ihn einen Augenblick an. »Der Teufel trau' dir!« sagte sie und versetzte ihm einen leichten Schlag auf die Backe, indem sie an ihm vorüber ging. »Du bist gewiß ein größerer Schwärmer als du scheinst.«

Sie ging hin und schenkte den Kaffee ein. Wie soll ich nur anfangen? dachte sie. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es einleiten soll. – – –

»Willst du nicht heute abend mit der Lydia hinaus?« fragte sie dann.

»Ja – a– wenn du mir Wind besorgen kannst!«

Nein, das konnte sie ja nicht, und es entstand ein Schweigen.

»Es ist der fünfte Abend, daß die See so träge daliegt,« bemerkte er. »Das ist nicht amüsant.«

»Dann bleibe morgen zu Hause!« schlug Frau Thomsen vor. »Des Vormittags haben wir ja immer mehr Wind. – – Aber du kannst dich wohl keinen einzigen Tag von der Stadt trennen?« fügte sie listig hinzu.

Er setzte sich gähnend hin. »Morgen ist ja Sonntag,« sagte er.

Wieder zurückgeschlagen! Langsam trat sie an ihn heran. »Aber du fährst morgen doch wohl zur Stadt?« fragte sie. »Nicht wahr?«

Er sah zu ihr auf. »Bewahre!« sagte er.

Sie schüttelte den Kopf leise. Nein, so ging es nicht. Er war ja nicht aus seiner Ruhe heraus zu bringen!

Ja, dann mußte sie wohl geradeswegs auf die Sache lossteuern.

Sie stellte sich hinter seinen Stuhl.

»Hör einmal, lieber Thomas!« fing sie an, hielt aber inne. Es war doch sonderbar, wie unruhig sie plötzlich geworden war. Sie war ganz kalt im Gesicht und fühlte ihr Herz pochen.

»Galant bist du nie gewesen, Thomas,« flüsterte sie leise und strich ihm über den Nacken, »aber ich hatte doch gehofft, daß du sehen würdest, wie hübsch ich mich heute gemacht habe.«

Er sah flüchtig auf. »Mein Kompliment,« sagte er und streichelte ihre Hand, die auf seiner Schulter lag.

»Man sollte glauben, du hättest keinen Sinn für Frauenschönheit,« fuhr sie leise fort.

»Das habe ich auch wirklich nicht!« sagte er ungeduldig und paffte heftig aus seiner Pfeife.

»Mein Gott, das habe ich dir ja gleich gesagt, als ich um dich anhielt!«

Ob er wohl nein sagt? dachte sie. – [[?]]»[?]Ob das Ganze wohl Unsinn ist? Am Ende hat er gar nichts gethan! – Ach, wenn er doch nichts gethan hätte! – – –

So, jetzt frage ich!

Sie setzte sich auf die Stuhllehne dicht an ihn heran, und indem sie ihn mit der einen Hand um den Nacken faßte, bog sie seinen Kopf zu sich hinauf.

»Sag' mir, Thomas, – hast du andere Götter neben mir?« fragte sie leise.

Er starrte sie an. »Was soll das heißen – Götter?« rief er ärgerlich aus.

Er sagt nein! Es ist nichts geschehen! – Eine plötzliche Freude flammte in ihr auf, – sie kam so unerwartet, – sie verwirrte sie, – machte sie ganz schwindlig – – –

»Na ja, oder Göttinnen?« fragte sie lächelnd und schüttelte leise seinen Kopf.

Thomsen befreite seinen Kopf und sprang auf.

Sie glitt in den Stuhl hinunter. Es ist doch wahr! flüsterte sie, als sie den Ausdruck seines Gesichts sah.

Er war blaß geworden, – so blaß, daß sein blonder Bart einen roten Schein in sein Gesicht warf. Langsam wandte er sich um, trat an den Kaffeetisch, – nahm einen Löffel, wiegte ihn auf den Fingern, ging auf die Verandathür zu und sah hinaus, immer den Löffel balancierend.

Es ist also wahr! dachte sie – –

Und langsam gewann sie ihre Ruhe wieder.

Das Ganze ist also gekommen, wie ich es erwartet hatte, sagte sie zu sich selbst, – offen gestanden, wie ich es gewünscht hatte. Es lag ihr ja nichts vor. Sie hatte wirklich keinen Grund, traurig zu sein.

Und doch empfand sie in ihrem innersten Innern einen kleinen, sonderbaren, roten Schmerz, ebenso heftig wie die plötzliche Freude vorhin, und beinahe ebenso unerwartet. Was war dies nur? Was das Herz getroffen? – –

Es entstand eine Stille.

Nun, reden wir darüber, dachte sie mit einem Seufzer, – dann geht es wohl vorüber. Hierin ist kein Sinn. Auf dieWeise können wir einen ganzen Abgrund zwischen uns zusammen schweigen. Retten wir, was gerettet werden kann. – – –

»Findest du eigentlich, daß das hübsch von dir ist, Thomas?« fragte sie mit leiser, trauriger Stimme.

Er wandte sich um.

»Nein, das ist es nicht,« sagte er. Er stand da und sah auf den balancierenden Theelöffel nieder.

Dann ging er hin und legte den Löffel dahin, wo er ihn hergenommen hatte.

»Von wem hast du es erfahren?« fragte er und sah sie von der Seite an.

»Das ist ja gleichgültig,« antwortete sie müde.

»Das ist es auch.«

Er nahm einen Stuhl und schob ihn an sie heran. »Ich hätte wohl Lust, dir das Ganze zu erzählen,« sagte er ruhig.

»Das hättest du früher thun sollen, Thomas.«

»Ja, da hast du recht,« räumte er ein, indem er sich setzte. »Es ist wenigstens gut, daß du es so vernünftig auffaßt.«

»Vernünftig!« wiederholte sie und machte eine Bewegung mit der Hand. – »Mein Gott, wir beiden alten Eheleute, die einander so gut kennen, – wir können uns doch nicht plötzlich hinstellen und Tragödie miteinander spielen. Natürlich schmeichelt es meiner Eitelkeit als – als Dame, oder Frau, – oder was du willst, nicht, daß ich dich nicht habe fesseln können. Aber ich habe ja so viel anderes wahrzunehmen gehabt. Ich habe dich wohl nicht hinreichend gepflegt.«

Er räusperte sich, um zu antworten, sie aber fuhr fort.

»Nein, natürlich liegt der Fehler fast immer auf seiten der Frau, das sehe ich sehr wohl ein. Es ist der Troubadour in euch, Thomas,« lächelte sie leicht, »und den zu erkennen, wird uns oft schwer, – bis es zu spät ist. Aber reden wir nicht mehr darüber. – – [[«]]

»Nur das eine thut mir ja ein wenig weh,« fuhr sie fort, »daß ich hier sitzen und dich so ausfragen muß, als wenn man einen Schuljungen beim Betrügen ertappt. Das thut mir ein wenig weh, Thomas.« Sie preßte die Hände fest zusammen und sah zu ihm auf.

»Natürlich ist es jetzt vorbei,« sagte er.

»So?« fragte sie schnell. – »Nun,« fuhr sie nach einer Weile fort und sah ihn prüfend an, – »übrigens kann ich nicht einsehen, warum es jetzt, wo ich das Ganze weiß, schlimmer ist, als bisher – wo ich es nicht wußte. Ich finde, es ist besser.«

Thomsen sah vor sich nieder. »Ich kann mich jetzt nicht gut dazu bequemen –«

»Na ja, darüber können wir ja noch immer reden,« sagte sie in erleichtertem Ton. »Aber jetzt erzähle mir. Wer ist es? Ist es eine Schauspielerin? Thomas, Thomas, du, der du viel ins Theater gehst!«

»Nein, eine Schauspielerin ist es auch nicht,« sagte er. »Auch nicht einmal eine Chansonette oder Balletteuse oder so eine. Es ist –«

Er schwieg und sah sie plötzlich an. »Du kennst sie übrigens!«

Sie runzelte die Brauen. »Ich kenne sie?«

»Ja! Erinnerst du dich nicht der Dame, die zu Hause bei uns wohnte, als wir uns verheirateten, – eine Art Freundin meiner Schwester, – Fräulein Fick?«

»Wie?« rief sie aus, – »die kleine, strenge Person?«

»Na, strenge,« sagte er, – »ich finde doch, sie sieht sehr freundlich aus.«

»Ich habe nie etwas so Mürrisches gesehen! Ist sie es denn wirklich?«

»Ja, sie ist es!« sagte er.

»Das ist doch nicht möglich! Aber liebster Freund, wie hast du es mit der aushalten können!« rief sie aus.

Er sah nieder und schwieg.

»Es ist wohl so eine alte Geschichte?«

»Ja,« sagte er. »Zehn Jahre alt!«

»Also genau so lange, wie wir verheiratet gewesen sind.«

»Ja!« murmelte er.

Sie strich sich über die Stirn und saß eine Weile da. »Es ist mir ganz unbegreiflich,« sagte sie dann. »Wäre es etwas unwiderstehlich Berückendes gewesen, – etwas märchenhaft Strahlendes, – etwas aus der andern Welt, so hätte ich es verstehen und mich auch wohl besser darein finden können. – – Aber diese kleine spitze, einfache Gouvernante, – sie beleidigt mich wirklich!«

»Ja, ja!« sagte er, »jetzt ist es ja auch vorbei.«

»Zehn Jahre! Was habt ihr eigentlich miteinander gemacht? Wie habt ihr die Zeit hingebracht?«

»Das weiß ich wirklich nicht,« sagte er, »aber vergangen ist sie ja!«

»Hat sie dich Weißstickerei gelehrt, – darin war sie ja groß.«

»Nein,« sagte er, – »das eigentlich nicht.«

Frau Thomsen erhob sich und ging ein wenig auf und nieder. Sie blieb vor ihrem Mann stehen.

»Du hast ihr also eine Wohnung gemietet? Erhältst du sie auch?«

»Ja,« sagte er und räusperte sich, – »das heißt, etwas hat sie ja selbst.«

»Und dann gehst du zu ihr? Jeden Tag?«

»Nein, höchstens zweimal die Woche,« sagte er. »In der Regel nur des Sonnabends.«

»Heute bist du also da gewesen?«

»Ja,« sagte er, und rückte ein wenig auf dem Stuhle hin und her.

Frau Thomsen sah ihn einen Augenblick an, – wandte sich dann um, – und ging in die Gartenstube, durch das Wohnzimmer und die Eßstube, – ging um den Tisch herum und kehrte zurück. Langsam ging sie und preßte die Hände gegen ihre Wangen, und von Zeit zu Zeit schüttelte sie heftig den Kopf, – wie für sich.

Jetzt stand sie wieder draußen auf der Veranda. Sie stand da und sah zu Thomsen hinüber, der still auf seinem Stuhl saß, aus seiner Pfeife paffend, geistesabwesend vor sich hinstarrend; er hatte sie nicht bemerkt.

Dann trat sie an ihn heran, stützte die Hände auf die Lehne des Stuhles und beugte sich über ihn.

»Hast du sie sehr lieb, Thomas?« fragte sie leise.

Er richtete sich im Stuhl auf.

»Ja!« sagte er mit einem wunderlich schwachen, verschämten, glückseligen Lächeln, das sie nicht an ihm kannte, – »wenn ich es also doch sagen muss –«

»Hast du sie lieber als mich?«

Nachdenklich that er einige Züge aus seiner Pfeife. »Das kommt wohl auf eins heraus,« sagte er dann. Und er legte seine Hand auf die ihre und streichelte sie leise.

Sie erhob sich mit einem Seufzer.

»Ja,« sagte sie ruhig, »das verstehe ich sehr wohl. Du paßt im Grunde viel besser zu ihr als zu mir. Mit ihr hättest du dich verheiraten sollen. Aber ich wurde es nun einmal, und da müssen wir denn die Dinge so nehmen, wie sie gekommen sind.«

Er sah sie aufmerksam an.

Sie stand da und betrachtete ihre Hände. »Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß mir dies angenehm wäre,« fuhr sie fort. »Aber auf der andern Seite, – Scheidung und dergleichen, – dafür bin ich nicht. Wir wollen das Leben nicht zu tragisch nehmen.«

»Nein!« sagte er mit Nachdruck.

»Jetzt weiß ich also, was du anfängst, wenn du Verlangen nach Ruhe und Langerweile hast und nach Weißstickerei und stiller bürgerlicher Gemütlichkeit, – nach einem Heim!« fuhr sie mit einem schwachen, bittern Lächeln fort, – »und ich finde, das solltest du ruhig fortsetzen. Hast du dann hin und wieder einmal Lust, ein wenig gepufft und geärgert zu werden, – dich mit einem Frauenzimmer zu amüsieren, das leider außer dir niemand hat, mit dem es sich amüsieren kann, – so komme nur getrost zu mir. Ich will mich schon bemühen, den Humor aufrecht zu halten, solange ich kann!«

Er erhob sich und ging auf sie zu.

»Du bist eigentlich eine gescheite Frau, Carla,« sagte er. »Du bist, weiß Gott, viel klüger als die andere.«

»Keine Vergleiche!« sagte sie und runzelte die Stirn. »Nun, dann sind wir uns ja einig.«

Er nickte. »Also wie du willst.«

Sie standen eine Weile da und sahen auf den Sund hinaus.

»Ich glaube, der Wind nimmt sich auf,« meinte Thomsen. »Wollen wir einen kleinen Spaziergang in der poetischen Abendröte machen?«

»Ich habe keine Zeit. Wir waschen heute. Aber geh du nur!«

Er nickte ihr zu und ging in den Garten hinab.

Wie dick er doch ist, dachte sie, während sie da stand und ihm nachsah – und wie häßlich er auf seinen Beinen geht.

Sie versuchte, sich einzureden, daß es eigentlich erst jetzt so war, wie es zwischen ihr und ihrem Mann sein sollte, jetzt wo alles aufgeklärt und geordnet war. Sie konnte selbst recht gut sehen, daß sie die Sache überlegen und klug behandelt hatte, wie es von ihrer Erfahrung und ihren ganz freien Lebensanschauungen zu erwarten war. Und Thomsen blieb ja derselbe gutmütige Spießbürger, der er immer gewesen war.

Aber trotzdem –

Ihr Leben, – es war, als sei sein ganzer Reiz verblaßt. Sie sah darauf zurück, – wie auf etwas, das schon in weiter Ferne lag; und es flimmerte vor ihrer Erinnerung von so vielen kleinen Schelmereien, von heiterer Ungewißheit von einem Tag zum andern, von fröhlicher Spannung, von Freude und Zorn über nichts in der Welt. Jetzt war das alles tot.

Nur weil Thomsen ein paarmal in der Woche dort in der Stadt saß und sich bei dieser gleichgültigen kleinen Dame langweilte; und weil sie selber Tag aus, Tag ein mit dieser Gewißheit weiter leben sollte, – illusionslos, allein – und alt.

Wie banal das Ganze doch war, wie gewöhnlich und dumm und leer es war.

Selbst den kleinen, roten Schmerz von vorhin empfand sie nicht mehr.

Das war vorbei.

Sie seufzte tief auf und sah eine Weile geistesabwesend auf den Strandweg hinab, wo die Leute ihre kleinen Eitelkeiten in der Abendbeleuchtung spazieren führten.

Plötzlich mußte sie an Hartwig und seine Frau denken. Die Begegnung mit ihnen am Vormittag und die vielen Male, wo sie sie Arm in Arm, eng aneinandergeschmiegt, hatte vorübergehen sehen.

Die mußten doch wohl glücklich sein, wie es hieß.

Wie sie diese kleine, übermütige Frau beneidete! So sicher saß sie auf ihrem Bock, als habe sie nichts vom Leben zu befürchten.

Wenn sie die doch nur treffen könnte!

Langsam erhob Frau Thomsen ihre Hand, und ließ sie über ihren Hals hinabgleiten, – wie in einer leisen verwunderten Liebkosung. Ihr fiel etwas ein, – war es nicht erst gestern abend gewesen, als sie in den dunklem Garten gesessen und Hartwigs Blick dort auf ihrem Halse gefühlt hatte, – so starrend, daß ihr die Haut fast davon kribbelte?

Ob da wohl was zu gewinnen war? – –

Sie ging hin und schellte. Im nächsten Augenblick stand Anna vor ihr.

»Wie sieht es mit der Tischwäsche aus?« fragte sie.

»Ja, gnädige Frau,« versicherte das Mädchen eifrig. »Sie wird heute abend noch mit allem fertig, mit jedem Stück!«

»Das ist gut,« sagte Frau Thomsen. »Denn wir werden Montag Gesellschaft haben.«


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