Artur Landsberger
Emil
Artur Landsberger

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Zehntes Kapitel,
in dem Emil beinahe ein Opfer des § 51 geworden wäre

Der Staatssekretär bat gleich nach dem diplomatischen Tee der Frau Minister seinen Freund, den ehemaligen Staatsanwalt Spicker zu sich. Der hatte schon frühzeitig seinen Abschied genommen, weil er es vorzog, den Kampf gegen die Verbrecher statt als Amt als Sport zu betreiben. In seiner Eigenschaft als Beamter war er durch tausenderlei Rücksichten und Paragraphen gehemmt. Er war bei sämtlichen Staatsanwaltschaften der Welt so angesehen, wie er in der Gilde des internationalen Verbrechertums gefürchtet war. Mit ungewöhnlichem Spürsinn und persönlichem Mut verband er einen eisernen Willen, der durchsetzte, was er sich vornahm, keine Schwierigkeit und keine Gefahr scheute, rücksichtslos und brutal auf sein Ziel losging, ohne viel zu fragen, ob sein Opfer lebend oder tot in seine Hände fiel.

Die Staatsanwaltschaft bediente sich dann auch noch nach seinem Weggang in besonders schwierigen Fällen seiner Dienste, die er unentgeltlich aus Liebe zum Metier, wie er es nannte, in Wahrheit aber wohl mehr aus Ehrgeiz und Abenteuerlust leistete. Ein bißchen Freude an Sensation war wohl auch dabei. Wie anders könnte man sich sonst erklären, daß ein Mann in seiner sozialen Stellung einen Preis in Höhe von zwanzigtausend Mark für den aussetzte, dem es gelang, ihn zu überlisten. Oder war es nichts weiter als Geschäftssinn? Jedenfalls verdoppelte sich die Auflage seiner Zeitschrift: »Jagd auf Verbrecher«, in der er dies Preisausschreiben bekanntgab und die in aufregender Form die Kampfszenen um diesen Preis mit Verbrechern und Laien schilderte.

Als sein Freund, der Staatssekretär, ihm Vorhaltungen machte und sagte, daß er durch diese laute Art seinem Prestige schade, antwortete er:

»Mein Vermögen gestattet es mir, auf mein Prestige zu pfeifen. Wem meine Art nicht paßt, soll mir vom Leibe bleiben. Vorläufig genieße ich das Vertrauen der Behörden noch in höherem Maße als mir lieb ist. Meine Schränke sind bis oben hinauf mit Strafakten gefüllt – alles Fälle, in denen die Behörden nicht weiterkommen.«

Der Staatssekretär trug ihm den Fall des Generaldirektors Aufrichtig und dessen beabsichtigte Übernahme in das Ministerium vor.

Der Oberstaatsanwalt äußerte Bedenken gegen die Besetzung eines so wichtigen Postens mit einem Beamten, von dem man nur wußte, daß er besondere Fähigkeiten besaß und aus guter Familie stammte.

»Hat er wenigstens seine Examina gemacht und als Beamter schon irgendwo gearbeitet?« fragte der Oberstaatsanwalt

»Ich glaube kaum,« erwiderte der Staatssekretär. »Er ist ein Selfmademan, wie viele heutzutage.«

»Ein gewagter Versuch, der aller Überlieferung ins Gesicht schlägt.«

»Ich sehe nicht ein, warum man von all den Talenten, die sich heute frei entwickeln, nicht auch mal eines der Beamtenschaft zuführen soll. Müssen sie denn alle in die Industrie?«

»Man sollte ihn sich dann doch mindestens erst einmal genau ansehen und seine Vergangenheit beklopfen.«

»Die Damen der Herren Minister haben ihn gesehen und sind entzückt.«

»Ich will gewiß nichts gegen den Geschmack dieser Damen sagen. Ich werde mich sogar hüten.«

»Sie sind stolz darauf, ihn entdeckt zu haben, und erklären, ihn auf ihren diplomatischen Tees und Empfängen nicht mehr entbehren zu können.«

»So soll man im Etat einen Posten für einen diplomatischen Maître de plaisir aufnehmen.«

»Sie irren, lieber Freund. Der Mann ist kein Scharlatan, ist durchaus ernst. Er besitzt außer seinen gesellschaftlichen Vorzügen sogar Geist.«

»Wie sieht er aus?«

»Wie guter alter Adel.«

»Besitzt er Phantasie?«

»Er hat Ideen! Ich will nicht sagen, daß sie gut oder auch nur originell sind. Aber die Art seines Vortrags wirkt faszinierend.«

»Was sind das für Ideen?«

»Über Strafgefangenen-Reform und über die Fürsorge Strafentlassener.«

»Großer Gott! Das ist ja furchtbar! Wenn in diese Bewegung ein Führer von Format kommt, dann werden die Zuchthäuser sehr bald beliebte Vergnügungsstätten. Bei Besetzung guter Stellen wird der Bewerber den Nachweis eines mehrjährigen Aufenthalts in einer Strafanstalt erbringen müssen.«

»Sie übertreiben.«

»Nein! Die Gefahr besteht. Die ganze Strafrechtspflege gerät durch diesen Humanitätsdusel ins Wanken. Wenn der Mann wirklich eine Kanone ist . . .«

»Die ist er. Das hat er in seiner geschäftlichen Tätigkeit bewiesen.«

»Dann müssen Sie ihn ins Ministerium übernehmen.«

»Also doch?«

»Aber ja! Wenn er frei herumläuft, kann er das größte Unheil anrichten. Wenn er aber Beamter ist, hat man die Möglichkeit ihn zu beschäftigen, wie man will. Bisher ist in der Atmosphäre eurer Ministerien noch in jedem Stürmer das Feuer erloschen und die Lust vergangen, zu reformieren. So wird es auch ihm ergehen. Also wo steckt der Mann?«

»Vorläufig hat ihn mal die Polizei mit Beschlag belegt.«

»Als was?«

»Als Kommissar.«

»Das ist unmöglich. Ein bißchen Reform ist ganz nett. Aber man kann nicht plötzlich alle Begriffe auf den Kopf stellen. Aus einem Kommissar kann kein Vortragender Rat im Ministerium werden. Dazu gehören Übergänge.«

»Denken Sie an Napoleon!«

»Gut! Machen Sie ihn zum Kaiser. Ich bin einverstanden.«

»Sie meinen also, vom Kommissar zum Kaiser« – er machte eine Pause und die entsprechende Handbewegung – »das ginge eher?«

»Es würde jedenfalls weniger Beunruhigung in der Beamtenschaft hervorrufen.«

»Wir wollen doch ernst bleiben.«

»Ich bitte sehr, mein Lieber, was ich sage, ist durchaus ernst. Den Scherz mit Napoleon erlaubte nicht ich mir zu machen. Ich bin mit Ihnen der Ansicht, daß dieser gefährliche Mensch auf einen Posten muß, von dem aus er der Strafrechtspflege und dem Strafvollzug nicht schaden kann. Das muß, damit er nicht ablehnt, ein gehobener Posten sein.«

»Schon aus gesellschaftlichen Rücksichten. Man kann den Damen der Herren Minister nicht zumuten, sich von einem Polizeikommissar unterhalten zu lassen.«

»Man kann aber auch den Herren Räten als Vorgesetzten nicht plötzlich einen Polizeikommissar vor die Nase setzen.«

»Reden wir mit dem Mann.«

»Das wird entschieden das beste sein.«

Der Staatssekretär ließ sich verbinden. Es kam zu folgendem Gespräch:

»Herr Generaldirektor?« fragte der Staatssekretär.

»Ich selbst.«

»Ich wundre mich, daß Sie des Abends zu Hause sind. Ein Junggeselle wie Sie . . .«

»Arbeit, Herr Sekretär. Wenn man nachmittags zum Tee so hochgestellte Damen unterhalten muß.«

»Hätten Sie nicht Lust, ein Glas Whisky bei mir zu trinken? Ich würde gern wegen – na, Sie wissen schon.«

»Ich bedaure – aber ich weiß wirklich nicht.«

»Der Herr Minister hat da heute nachmittag doch angeregt . . .«

»Ach so! Sie meinen . . .«

»Ihre Übernahme ins Ministerium.«

»Leider wird sich das nicht machen lassen.«

»Ja, warum denn nicht?«

»Ich habe heute nacht noch einen wichtigen Einbruch . . .«

»Was haben Sie?«

»Natürlich nicht ich. Aber mir ist zu Ohren gekommen, daß . . .«

»Sie werden doch damit nicht Ihre Zeit verbringen?«

»Manchmal ist das ganz lohnend.«

»Wir sind nämlich gerade dabei, Ihre Ernennung zum Polizeikommissar rückgängig zu machen.«

»Nein, nein, das dürfen Sie nicht!«

»Kein Posten für Sie, Verehrtester!«

»Er reizt mich aber.«

»Wir werden Ihnen Reizvolleres bieten.«

»Da bin ich begierig.«

»Ich darf Sie also erwarten?«

»In einer Viertelstunde.«

Emil hatte den Hörer eben angehängt, da trat, ohne daß er es merkte, Redlich ins Zimmer. Hinter ihm ein kleiner Herr mit Glatze, goldener Brille und grauem Spitzbart. In der offenen Tür standen zwei Männer, die wie Berufsboxer in Zivil aussahen. Der Herr mit dem grauen Spitzbart flüsterte ihnen etwas zu und machte ihnen die Tür vor der Nase zu, dann gab er Redlich, unter Hinweis auf Emil, der ihnen noch immer den Rücken zukehrte, ein Zeichen. Das schien so viel zu heißen, als daß er ihm den Vortritt überließ – eine Ehre, die Redlich nicht zu schätzen wußte. Jedenfalls hielt er sich ängstlich hinter dem älteren Herrn, der nun vorsichtig auf Emil zuschritt, in einer Entfernung von etwa zwei Schritten stehenblieb, sich räusperte und sagte:

»Bitte!«

Emil wandte sich um und fragte:

»Wie sind Sie denn hier hereingekommen?«

Der Herr wies auf Redlich, der in der Richtung auf die Tür hin ein paar Schritte zurückgegangen war, und sagte:

»Der Herr Kommissionsrat war so freundlich. – Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Wer?« fragte Emil. »Etwa ich?«

»Ja, Sie stehen ja.«

»Stört Sie das?«

»Für das, was ich mit Ihnen zu besprechen habe, ist es vorteilhafter, wenn Sie sitzen.«

»Wer sind Sie denn?«

»Dr. Ignaz Koch.«

»Der Irrenarzt?«

»Sie kennen mich?«

»Und wie! Sie sind doch der menschenfreundliche Herr, der auf liebenswürdiges Zureden für den Paragraph einundfünfzig plädiert.«

»Nur, wo die wissenschaftlichen Voraussetzungen dazu vorliegen.«

»Na ja! Die meisten Menschen sind ja wohl Grenzfälle.«

»Nur wo die Grenze überschritten wird, pflege ich einzugreifen.«

»Ich werde Sie für kommende Fälle vormerken,« erwiderte Emil. »Bei einem Leben, das reich an Zwischenfällen ist, wie mein's, kann man in Situationen kommen, wo man wünscht, – Sie verstehen?«

»Nein!«

»Diese Grenze überschritten zu haben und die Wohltat des Paragraph einundfünfzig für sich in Anspruch zu nehmen.«

»Darum bin ich hier.«

»Sie, das ist eine fabelhafte Idee! Wenn es soweit ist, daß man es braucht, und man kann nachweisen, daß man es schon war, bevor man es brauchte, dann glaubt es einem jeder.«

»Sie reden durcheinander.«

»Reden Sie mir nichts ein.«

»Ich stelle nur fest.«

»Richtig! Sie müssen ja daran glauben.«

»Suchen Sie mich nicht zu irritieren.«

»Wenn Sie wollen – und es Ihr Gewissen beruhigt, so spiel' ich verrückt!«

»Das haben Sie nicht nötig.«

»Bevor Sie Ihre Feststellungen machen, müssen wir uns über das Honorar einigen. Ich bin nicht kleinlich. Aber ich brauche ein Gutachten, das mich von jeder Verantwortung befreit, zugleich aber vor Internierung schützt.«

»Das wird sich in diesem Fall schwer machen lassen.«

»Dann verzicht' ich.«

»Ich aber nicht.«

»Herr! Sie wollen mich doch nicht etwa zwingen?«

»Ich hoffe sehr, es wird ohne Gewalt gehen.«

In diesem Augenblick riß Redlich die Tür auf, der Arzt gab ein Zeichen und die beiden Männer traten ins Zimmer.

Emil lachte laut auf.

»Das hast du arrangiert, Kurt! So dumm kannst nur du sein. Du hast dem Dr. Koch womöglich auch erzählt, daß ich mir einrede, ich sei gar nicht der Emil Aufrichtig aus Frankfurt am Main, sondern ein längst gesuchter Einbrecher . . .«

»Das . . . hat . . . er . . . mir . . . allerdings . . . erzählt,« sagte der Arzt mit einem Gesicht, das nicht gerade klug war, und fügte hinzu: »Sie reden sich das also gar nicht ein? Es war demnach nur ein Scherz von Ihnen? Ein sehr schlechter, muß ich sagen. Denn Sie werden zugeben, daß, wenn Sie das wirklich glauben würden, Sie unheilbar verrückt sein müßten.«

»Das will ich mit dieser Bestimmtheit nun gerade nicht behaupten,« erwiderte Emil.

»Jedenfalls würde kein Arzt der Welt Sie für zurechnungsfähig halten,« beteuerte Dr. Koch.

»Das freut mich zu hören,« erwiderte Emil. »Aber wie wäre es nun im umgekehrten Falle?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Das hieße doch . . .«

». . . daß ein Einbrecher plötzlich erklärte, er wäre der Generaldirektor Aufrichtig von der Gesellschaft für Wiederbeschaffung . . .«

»Das wäre natürlich ebenso verrückt.«

»Ich hätte also die doppelte Sicherheit,«, sagte Emil.

»Und weshalb haben Sie vor Herrn Redlich diese Komödie gespielt?«

»Damit er aus Ihrem Munde hört, daß wir nichts zu fürchten haben. – Er ist nämlich ein Angsthase, wittert hinter allem die Polizei.«

»Fürchtet er sie denn?«

»Er ist sehr nervös. Mit Rücksicht auf ihn habe ich bereits einen höheren Posten bei der Polizei übernommen. An sich liegt mir das gar nicht – aber ich sage mir, wenn er mich dort weiß, wird ihm das ein Gefühl der Sicherheit geben.«

»Sie . . . sind . . .?« fragte der Arzt.

»Ab heute Kommissar der Kriminalpolizei – aber es ist sehr leicht möglich, daß ich schon morgen Dezernent für Strafvollstreckung im Ministerium bin.«

Der Arzt wich ein paar Schritte zurück, wandte sich an Redlich und sagte unsicher:

»Es scheint doch, daß er etwas gestört ist.«

Emil tat, als hörte er es nicht und fuhr fort:

»Ich weiß noch nicht, ob ich annehme. Jedenfalls aber werde ich meinen Einfluß dahingehend geltend machen, daß die Menschheit gegen die Leichtfertigkeit geschützt wird, mit der Nervenärzte geistig gesunde Menschen für verrückt erklären.«

»Jetzt lasse ich Sie auf alle Fälle einsperren,« erwiderte der Arzt und wollte eben den beiden Gehilfen ein Zeichen geben, ihn zu ergreifen, als das Telephon läutete.

Emil nahm den Hörer ab und rief in den Apparat:

»Bitte, wer? – Ah so! – Einen Augenblick, Herr Staatssekretär!« – Dann wandte er sich an den Arzt, reichte ihm den Hörer und sagte: »Bitte, Herr Doktor, sagen Sie dem Staatssekretär, daß ich leider verhindert sei, seiner Einladung zu folgen, da Sie mich einsperren müßten.«

Der Arzt stand hilflos mit dem Hörer in der Hand. Die Stimme des Staatssekretärs war deutlich hörbar:

»Wo bleiben Sie denn? Wir warten auf Sie! Der Minister hofft . . .«

Bei diesem Wort entfiel dem Arzt der Hörer. Emil fing ihn auf und rief hinein:

»Ich komme!« – Dann wandte er sich an den Arzt und Redlich, winkte ihnen zu und sagte:

»Auf Wiedersehen, meine Herren! – Und auf Sie, Doktor, verlass' ich mich, wenn ich Sie brauche.« – Dann ging er eilig hinaus.

Die Gesichter, mit denen die anderen zurückblieben, kann man sich vorstellen.


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