Selma Lagerlöf
Eine Herrenhofsage
Selma Lagerlöf

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Zehntes Kapitel.

Es war am Nachmittag des Pfingstmontags. Ingrid wanderte auf der Landstraße dahin. Die Gegend war anmutig; niedrige Berge und kleine Birkengehölze fanden sich zwischen den Aeckern oder auch mitten darin. Ebereschen und Ahlkirschen waren in voller Blüte, an den Espen schimmerten zarte, klebrige Blättchen, in den Gräben an der Landstraße rieselte klares Wasser, und die frisch gewaschenen Steine auf dem Boden glitzerten und glänzten.

Ingrid dachte mit tiefem Leid an den, der von neuem wahnsinnig geworden war. Sie grübelte darüber nach, ob sie etwas für ihn tun könne, fragte sich, ob es wohl nützen würde, daß sie auf diese Weise von Hause weggegangen war.

Sie war hungrig und müde, ihre Schuhe fingen an zu zerreißen. Sie dachte, es wäre wohl am besten, wenn sie wieder umkehrte, sie würde ja doch nie ihr Ziel erreichen.

Je länger sie ging, desto betrübter wurde sie. Unwillkürlich drängte sich ihr der Gedanke immer wieder auf, daß es nicht viel helfen würde, wenn sie jetzt käme, jetzt, wo er den Verstand wieder ganz verloren hatte. Jetzt war es sicher zu spät und vollständig hoffnungslos, noch etwas zu versuchen.

Aber sobald sie ans Umkehren dachte, tauchte Hedes Gesicht dicht neben ihrer Wange auf, wie sie es so oft schon gesehen hatte. Da regte sich die Hoffnung wieder in ihr; sie glaubte, er rufe ihr, und eine große Zuversicht und Gewißheit, daß sie ihm doch noch helfen könne, stieg in ihrem Herzen auf.

Gerade als Ingrid den Kopf aufrichtete und etwas weniger betrübt aussah, kam ihr ein sonderbarer Aufzug entgegen.

Ein kleines Pferd zog einen Karren, auf dem Karren saß eine dicke Madame, und daneben ging ein magerer alter Mann mit einem langen Schnurrbart.

Hier draußen auf dem Laude, wo sich niemand auf Kunst verstand, legten Herr und Frau Blomgren es immer darauf an, wie einfache Bürgersleute auszusehen. Der Karren, mit dem, sie umherzogen, war sorgfältig überspannt, niemand konnte ahnen, daß er nichts anderes enthielt als Feuerwerkskörper, Zauberapparate und Marionettenpuppen.

Niemand konnte wissen, daß die dicke Alte, die hoch oben auf der Ladung saß und wie eine behäbige Bürgersfrau aussah, die frühere Miß Viola war, die einst durch die Lüfte flog, oder daß der Mann, der daneben herging und den Eindruck eines verabschiedeten Soldaten machte, derselbe Herr Blomgren war, der die Einförmigkeit des Wanderns manchmal dadurch unterbrach, daß er eine Volte über das Pferd weg schlug, oder die Zeisige und Drosseln, die in den Bäumen am Wege sangen, durch Bauchrednerkünste so neckte, daß sie ganz rasend wurden.

Das Pferd war ein ganz kleines Geschöpf, das früher ein Karussel gedreht hatte und nun nie weiter gehen wollte, wenn es keine Musik hörte. Deshalb saß Frau Blomgren meistens auf dem Karren und blies auf der Mundharmonika. Sobald sie aber jemand begegneten, steckte sie sie in die Tasche, damit niemand auf den Gedanken käme, sie gehörten zu der Sorte von Künstlern, vor denen niemand im Dorfe Respekt hat. Auf diese Weise kamen sie nicht besonders rasch vorwärts, sie hatten aber auch keine Eile.

Ihr blinder Geigenspieler mußte ein Stück hinter ihnen wandern, damit er nicht verrate, daß er auch zur Gesellschaft gehöre. Dieser Blinde hatte als Führer einen kleinen Hund; es war ihm verboten worden, sich von einem Kinde führen zu lassen. Dies hatte Herr und Frau Blomgren beständig an ein kleines Mädchen erinnert, das Ingrid hieß, und das wäre ihnen zu schmerzlich gewesen.

Jetzt, wo es Frühling wurde, zogen sie alle aufs Land hinaus. Denn, mochten auch Herrn und Frau Blomgrens Verdienste in den Städten noch so gut sein, um diese Jahreszeit mußten sie hinaus aufs Land. Sie waren eben Künstler, Herr und Frau Blomgren!

Sie erkannten Ingrid nicht wieder, und diese ging zuerst an ihnen vorüber, ohne zu grüßen, denn sie hatte Eile und fürchtete, aufgehalten zu werden. Aber sogleich schlug ihr das Gewissen, daß dies häßlich und herzlos von ihr sei, und sie wandte wieder um.

Wenn Ingrid imstande gewesen wäre, sich über irgendetwas zu freuen, so hätte sie es beim Anblick der Freude dieser beiden alten Leute über das Zusammentreffen tun müssen. Und dann entspann sich eine lange Unterhaltung im schrecklichsten Rotwälsch. Einmal ums andere wandte das Pferdchen den Kopf, um zu sehen, ob an dem Karussel etwas zerbrochen sei.

Merkwürdigerweise war Ingrid die, die am meisten sprach. Die Alten sahen natürlich sogleich, daß sie geweint hatte, und sie wurden so betrübt darüber, daß sie ihnen notgedrungen alles, was sie erlebt hatte, erzählen mußte.

Aber es war ihr eine Linderung, diesen Leuten alles erzählen zu dürfen, denn sie hatten ihre eigene Art, alles aufzufassen. Sie klatschten in die Hände, als sie hörten, wie Ingrid aus dem Grabe herauskam, und als sie erzählte, wie furchtbar sie die Pfarrerin durch ihr Erscheinen erschreckt hatte.

Sie liebkosten und lobten sie, daß sie aus dem Pfarrhaus entflohen war. Nichts erschien ihnen schwer und traurig, alles war leicht und hoffnungsvoll.

Es fehlte ihnen geradezu jeglicher Maßstab für die Wirklichkeit, und deshalb empfanden sie deren Härte in keiner Weise. Alles, was sie hörten, verglichen sie mit Puppentheaterstücken und Pantomimen. Etwas Kummer und Elend kam ja auch in den Pantomimen vor; aber das geschah nur, um die Wirkung zu erhöhen. Und selbstverständlich mußte alles gut ausgehen; in den Pantomimen ging immer alles gut aus.

Es lag etwas Ansteckendes in dieser Hoffnungsfreudigkeit. Ingrid wußte zwar, daß Herr und Frau Blomgren durchaus nicht verstanden, wie unglücklich sie sich fühlte, aber es war doch eine Aufmunterung, sie so sprechen zu hören.

Und sie bekam auch wirkliche Hülfe von ihnen. Sie erzählten ihr, sie hätten erst vorhin in einem Wirtshaus in Torsaker zu Mittag gegessen, und als sie eben vom Tisch aufstanden, seien ein paar Bauern mit einem Verrückten angefahren gekommen. Frau Blomgren könne keinen Wahnsinnigen sehen, deshalb habe sie gleich abreisen wollen, und Herr Blomgren habe ihrem Wunsche willfahrt. Aber am Ende sei dieser arme Mensch wirklich Ingrids Verrückter gewesen!

Und kaum hatten sie dies gesagt, als auch Ingrid sagte, dies sei sehr wahrscheinlich, und sie wollte die alten Leute nun schnell verlassen. Aber da fragte Herr Blomgren seine Gattin in seiner feierlichen Weise, ob sie denn nicht einzig und allein des Frühlings wegen draußen seien, und ob es nicht ganz gleichgültig für sie sei, wohin sie führen. Und Frau Blomgren fragte ihrerseits nicht minder pathetisch, ob er glaube, sie werde ihre geliebte Ingrid verlassen, ehe diese den Hafen ihres Glückes erreicht habe?

Also mußte das Karusselpferd umdrehen, und die Unterhaltung wurde nun viel schwieriger, weil die Mundharmonika wieder gespielt werden mußte. Sobald Frau Blomgren etwas sagen wollte, mußte sie das Instrument Herrn Blomgren übergeben, und wenn Herr Blomgren sprechen wollte, reichte er es wieder seiner Frau. Und das kleine Pferd hielt jedesmal an, so oft die Harmonika von Mund zu Mund ging.

Aber während der ganzen Zeit versuchten die guten Leute nur, Ingrid zu trösten. Sie kramten alle Märchen aus, die je auf ihrem Puppentheater aufgeführt worden waren. Sie trösteten sie mit dem Dornröschen, sie trösteten sie mit dem Aschenbrödel. Sie trösteten sie mit allen Märchen der Welt.

Herr und Frau Blomgren betrachteten Ingrid unverwandt, als sie sahen, daß ihre Augen allmählich zu glänzen begannen.

»Künstleraugen!« sagten sie und nickten einander vergnügt zu. »Was haben wir gesagt? Künstleraugen!«

Auf unerklärliche Weise hatten sie es so aufgefaßt, als sei Ingrid eine der Ihrigen geworden, eine, die zu der Kunst gehöre, und die nun in einem Drama mitspiele. Und das war ein Triumph auf ihre alten Tage.

Weiter ging es, so schnell als möglich. Das alte Paar hatte nur die eine Sorge, daß Ingrids Verrückter nicht mehr in dem Wirtshaus sein könnte.

Die beiden Bauern aus Raglanda, die mit dem Tobsüchtigen gekommen waren, hatten ihn in eines der Gastzimmer geführt und eingeschlossen, während sie auf frische Pferde warteten. Als sie ihn verließen, waren ihm die Hände fest auf den Rücken gebunden; aber wie er es nun auch angefangen haben mochte, jedenfalls war es ihm geglückt, seine Hände aus der Fessel zu ziehen, und als die Männer wieder hineinkamen, um ihn zu holen, stand er frei und ledig da, hatte in heller Tobsucht einen Stuhl als Waffe ergriffen, um auf jeden loszuschlagen, der ihm nahe käme. Die Bauern hatten nichts anderes tun können, als zu flüchten und die Tür wieder hinter sich zu verriegeln.

Nun warteten sie, daß der Wirt und seine Knechte nach Hause kommen sollten, damit sie stark genug wären, um ihn wieder zu fesseln.

Trotz alledem erlosch die Hoffnung, die die alten Freunde in Ingrid erweckt hatten, doch nicht ganz. Sie begriff zwar wohl, daß Gunnar Hede schlimmer war als je zuvor, aber sie hatte es nicht anders erwartet. Sie hoffte noch immer. Nicht die Märchen der alten Leute waren es, sondern ihre große Liebe, die ihr neuen Mut einflößte.

Sie bat die Bauern, sie zu Hede hineinzulassen, indem sie ihnen sagte, daß sie ihn kenne und daß er ihr nichts zu Leide tun werde. Aber die Bauern erwiderten, daß sie nicht auch verrückt seien. Der da drinnen würde jeden sofort totschlagen, der zu ihm hineinkäme, ohne sich verteidigen zu können.

Lange saß Ingrid schweigend und nachdenklich da. Sie dachte daran, wie wunderbar es doch sei, daß sie gerade heute mit Herrn und Frau Blomgren zusammengetroffen war. Das mußte doch gewiß eine besondere Bedeutung haben. Sie wäre ihnen sicherlich nicht begegnet, wenn es nicht etwas Besonderes zu bedeuten hätte.

Und Ingrid sann darüber nach, auf welche Weise Hede das erstemal gesund geworden war. Konnte sie ihn jetzt nicht vielleicht auch dazu bringen, etwas zu tun, das ihn an frühere Tage erinnern und von seinen Wahnvorstellungen abziehen könnte? Sie grübelte und grübelte – – – –

* * *

Herr und Frau Blomgren saßen auf einer Bank vor dem Wirtshaus und sahen unglücklicher aus, als man hätte für möglich halten sollen. Sie waren dem Weinen nahe.

Da kam Ingrid, ihr »Kind«, lächelte sie an, wie nur sie lächeln konnte, streichelte ihnen die alten runzeligen Wangen und bat sie, ihr doch die große Freude zu machen und sie eine von den Vorstellungen sehen zu lassen, bei denen sie früher jeden Tag selbst dabei gewesen war. Das würde ihr ein gar großer Trost sein.

Zuerst schlugen sie es ihr ab, denn sie waren ja gar nicht in ihrer richtigen Künstlerlaune, aber nachdem Ingrid sie noch ein paarmal angelächelt hatte, konnten sie nicht länger widerstehen. Sie gingen zu ihrer Ladung und packten die Trikotanzüge aus.

Als sie fertig waren und den Blinden herbeigerufen hatten, wählte Ingrid den Ort zu der Vorstellung aus. Sie wollte nicht, daß sie auf dem Platz vor dem Wirtshaus auftraten, sondern führte sie in den Garten des Wirtes, denn bei dem Wirtshaus war ein Garten. Allerdings bestand er hauptsächlich aus Gemüsebeeten, wo noch nichts aufgegangen war, aber da und dort stand ein blühender Apfelbaum. Und Ingrid sagte zu Herrn und Frau Blomgren, sie möchte sie am liebsten unter einem blühenden Apfelbaum auftreten sehen.

Ein paar Knechte und Mägde liefen eilends herbei, als sie die Geige hörten, so daß sogar ein kleiner Zuschauerkreis da war. Aber es widerstrebte Herrn und Frau Blomgren doch, aufzutreten. Ingrid begehre zu viel von ihnen, sagten sie. Sie seien wirklich zu betrübt.

Auch sei es ein Unglück, daß Ingrid sie auf die Gartenseite geführt habe. Sie habe gewiß nicht daran gedacht, daß die Gastzimmer auf dieser Seite seien. Frau Blomgren wäre beinahe davongelaufen, als sie hörte, wie in einem der Gastzimmer ein Fenster heftig aufgerissen wurde. Wenn nun der Verrückte die Musik hörte, und wenn er zum Fenster heraussprang und zu ihnen herkam!

Aber Frau Blomgren beruhigte sich, als sie sah, wer am Fenster stand. Es war ein junger Mann von angenehmem Aeußeren. Er war in Hemdärmeln, sonst aber ganz ordentlich gekleidet. Sein Blick war ruhig, die Lippen lächelten, und mit der Hand strich er sich das Haar aus der Stirn.

Herr Blomgren arbeitete und war von der Vorstellung so hingenommen, daß er nichts bemerkte; Frau Blomgren aber, die nichts zu tun hatte, als nach allen Seiten Kußhände zu werfen, konnte auf alles acht geben.

Es war doch merkwürdig, wie das Kind plötzlich strahlte. Ihre Augen glänzten wie nie zuvor, und ihr Gesicht war so weiß geworden, daß es förmlich leuchtete. Und all dieser Strahlenglanz war auf den gerichtet, der dort drüben am Fenster stand.

Er besann sich auch nicht lange; er stieg auf das Fensterbrett und sprang zu ihnen heraus. Und er trat zu dem Blinden und bat ihn um seine Geige.

Und Ingrid nahm rasch die Geige aus der Hand des Blinden und reichte sie dem Fremden.

»Spielen Sie den Walzer aus dem Freischütz,« sagte sie.

Da begann der Fremde zu spielen, und Ingrid lächelte, aber sie sah dabei so überirdisch aus, daß Frau Blomgren glaubte, das Mädchen könne sich in einen Sonnenstrahl auflösen und davonfliegen.

Sobald jedoch Frau Blomgren den Fremden spielen hörte, erkannte sie ihn wieder.

»Ach so,« sagte sie zu sich selbst, »hängt es so zusammen? Ist er es? Deshalb also wollte sie uns alte Menschen auftreten sehen!«

Gunnar Hede, der in seinem Zimmer so tobsüchtig war, daß er am liebsten jemand totgeschlagen hätte, hörte plötzlich Geigenspiel. Und dies führte ihn in eine Begebenheit seines früheren Lebens zurück.

Zuerst konnte er nicht verstehen, wo seine eigene Geige sein könnte, aber dann fiel ihm ein, daß Alin sie mitgenommen hatte; es blieb ihm also nichts anderes übrig, als zu versuchen, ob ihm der Blinde draußen die seinige leihen würde, damit er sich zur Ruhe spielen könnte. Er fühlte sich furchtbar aufgeregt.

Und sobald er die Geige des Blinden in der Hand hatte, begann er zu spielen. Es fiel ihm gar nicht ein, daß er nicht spielen könne, er hatte keine Ahnung davon, daß er seit mehreren Jahren nichts mehr als ein paar kleine, armselige Melodien hatte spielen können.

Er dachte nicht anders, als daß er in Upsala vor dem mit wildem Wein bewachsenen Hause stehe. Und er erwartete, daß die Kunstreiter anfangen würden zu tanzen, gerade wie damals.

Er gab sich Mühe, feuriger zu spielen, um sie zum Tanzen zu zwingen, aber seine Finger waren steif und unbeholfen, und der Bogen wollte ihm nicht recht gehorchen. Er strengte sich so an, daß ihm die Schweißtropfen auf die Stirne traten. Schließlich fand er doch die richtige Melodie, die, nach der sie das letztenmal getanzt hatten. Er spielte sie so rührend, so verlockend, wahrhaft hinreißend.

Aber die alten Akrobaten fingen nicht an zu tanzen. Es war lange her, seitdem sie mit dem Studenten in Upsala zusammengetroffen waren. Sie erinnerten sich nicht mehr, wie begeistert sie damals gewesen waren. Sie hatten keine Ahnung, was er von ihnen erwartete.

Gunnar Hede sah Ingrid an, um eine Erklärung zu bekommen, warum die Kunstreiter nicht tanzten; als er aber ihre Augen so überirdisch strahlen sah, war er so überrascht, daß er aufhörte zu spielen.

Einen Augenblick sah er sich im Kreise um, alle sahen ihn mit solch verwunderten, unruhigen Blicken an.

Es war ihm unmöglich, zu spielen, während die Leute ihn so anstarrten. Da ging er einfach weg. Weiter drin im Garten sah er einige blühende Apfelbäume; dorthin ging er.

Er sah wohl ein, daß nichts mit der Vorstellung, die er eben gehabt hatte, übereinstimmte. Alin hatte ihn nicht eingeschlossen, und er war nicht in Upsala. Der Garten hier war größer, und das Haus war nicht mit rotem Weinlaub bedeckt. Nein, dies konnte nicht Upsala sein.

Aber er kümmerte sich nicht weiter darum, wo er sei. Es war ihm, als habe er seit Jahrhunderten nicht mehr gespielt, und nun habe er endlich wieder eine Geige bekommen. Nun wollte er spielen.

Er legte die Geige an die Wange und fing an. Aber wieder wurde er durch die steifen Bewegungen der Finger gehindert. Er konnte nur die allereinfachsten Melodien spielen.

»Es wird mir nichts weiter übrig bleiben, als wieder ganz von vorne anzufangen,« sagte er.

Und er lächelte und spielte ein kleines Menuett. Das war das erste Stück, das er gelernt hatte. Sein Vater hatte es ihm vorgespielt, und er hatte es nach dem Gehör nachgespielt. Plötzlich sah er den ganzen Vorgang vor sich. Und er hörte auch die Worte: »Der kleine Prinz wollt' tanzen, doch er brach den kleinen Fuß.«

Hierauf versuchte er es mit mehreren leichten Tänzen. Diese hatte er als Schuljunge gespielt, als er aufgefordert worden war, in ein Mädchenpensionat zu kommen und die Tanzübungen der Schülerinnen zu begleiten. Er sah die kleinen Mädchen hüpfen und sich im Kreise drehen und hörte die Tanzlehrerin den Takt dazu mit dem Fuß treten.

Dann wurde er kühner. Er spielte die erste Stimme eines Violinquartetts von Mozart. Er hatte es als Gymnasiast in Falun gelernt. – Und das war so zugegangen: einige alte Herren hatten das Quartett zu einem Konzert eingeübt. Aber die erste Violine war krank geworden, und man hatte ihm die Stimme übertragen, trotz seiner Jugend. Er war nicht wenig stolz darauf gewesen.

Während er so diese kindlichen Uebungen spielte, dachte Gunnar Hede eigentlich an nichts weiter, als seine Finger gelenkig zu machen. Bald jedoch fühlte er, daß etwas Merkwürdiges mit ihm vorging.

Er hatte das deutliche Gefühl, daß in seinem Gehirn eine große Dunkelheit herrschte, die seine Vergangenheit verbarg. Sobald er sich an eine Sache zu erinnern versuchte, war es ihm, als mache er den Versuch, etwas in einem dunklen Zimmer zu finden. Aber wenn er spielte, wich die Dunkelheit teilweise zurück. Ohne daß er daran gedacht hatte, war die Dunkelheit nun so weit zurückgewichen, daß er sich an seine Kinderjahre und Schulzeit erinnern konnte.

Da beschloß er, sich von der Geige leiten zu lassen; vielleicht konnte sie alles Dunkel vertreiben.

Und so geschah es; mit jedem Stück, das er spielte, wich die dunkle Decke etwas weiter zurück.

Die Geige führte ihn vorwärts von einem Jahre zum anderen; sie weckte Erinnerungen an Studien, an Freunde und an Vergnügungen.

Wie eine Mauer stand die Dunkelheit vor ihm; aber wenn er, mit der Geige bewaffnet, auf sie zuging, wich sie Schritt für Schritt zurück. Bisweilen sah er rückwärts, wie um zu sehen, ob sie sich nicht hinter ihm wieder schlösse. Aber hinter ihm war heller Tag.

Jetzt kam die Geige an eine Reihe Duette für Klavier und Violine. Von jedem spielte er nur ein paar Takte. Aber die Dunkelheit wich ein großes Stück zurück; er erinnerte sich seiner Braut, und an die Zeit, wo er verlobt war.

Gerne hätte er hier verweilt, aber es mußte noch viel Dunkelheit weggespielt werden; er hatte keine Zeit zum Verweilen.

Er glitt in ein geistliches Lied hinein; dies hatte er einmal gehört, als er betrübt gewesen war. Er entsann sich, daß er in einer Dorfkirche saß, als er es hörte; aber warum war er betrübt gewesen? Weil er als armer Hausierer durchs Land zog. Das war ein hartes Leben, und es war eine bittere Erinnerung.

Wie ein Wirbelwind flog der Bogen über die Saiten und riß wieder ein großes Stück Dunkelheit hinweg. Nun sah er den Zehnmeilenwald, die verschneiten Tiere, die sonderbaren Figuren, die das Schneetreiben aus ihnen gemacht hatte. Er erinnerte sich an die Reise zu seiner Braut, erinnerte sich, wie sie die Verlobung aufhob. Alles tauchte klar vor ihm auf.

Eigentlich fühlte er weder Schmerz noch Freude bei dem, was vor ihm auftauchte. Das wichtigste war, daß er sich überhaupt an etwas erinnern konnte. Das allein war eine unendliche Befriedigung.

Dann aber hörte der Bogen von selbst auf zu spielen; er wollte Hede nicht weiterführen. Und doch war da noch mehr, viel mehr, an das er sich erinnern mußte. Noch immer stand das Dunkel wie eine undurchdringliche Mauer vor ihm.

Er zwang den Bogen zum Weiterspielen. Da spielte dieses zwei kleine unbedeutende Melodien, die allerärmlichsten, die Hede je gehört hatte.

Wie hatte sein Bogen so etwas lernen können?

Vor diesen Melodien wich das Dunkel nicht einen Schritt zurück, sie lehrten ihn so viel wie nichts. Aber von ihnen ging eine Angst aus, wie er seines Wissens nach noch nie eine empfunden hatte. Eine unbegreifliche, fürchterliche Angst, das wahnsinnige Grauen der Verdammten.

Er hörte auf zu spielen, er konnte es nicht mehr ertragen. Was war doch in diesen Melodien? Was war es?

Vor ihnen wich das Dunkel nicht zurück, und das schrecklichste war, daß es ihm vorkam, als ob die Dunkelheit wieder auf ihn zuschwebe und ihn zu verschlingen drohe, sobald er sie nicht mit der Geige zurückdrängte.

Bisher hatte er mit halbgeschlossenen Augen gespielt, jetzt schlug er sie auf und sah hinein in die wirkliche Welt. Da fiel sein Blick auf Ingrid, die während der ganzen Zeit neben ihm gestanden und ihm zugehört hatte.

Und er fragte sie – nicht in der Hoffnung auf eine Antwort, sondern nur um das Dunkel einen Augenblick zurückhalten zu können –:

»Wann habe ich das zuletzt gespielt?«

Ingrid zitterte. Ihr Entschluß war gefaßt. Wie es auch gehen mochte, er sollte die Wahrheit erfahren. Wie es auch gehen mochte, sie würde sie ihm sagen.

Sie war bange, aber mutig war sie auch und sich vollständig klar darüber, was sie wollte. Jetzt sollte er ihr nicht ausweichen, jetzt durfte er nicht von ihr weggleiten.

Aber trotz all ihres Mutes wagte sie es doch nicht, ihm gerade heraus zu sagen, daß dies die Melodien seien, die er gespielt hatte, solange er irrsinnig gewesen war; sie umging also die Frage.

»Du hast sie im Winter daheim auf Munkhyttan gespielt,« sagte sie.

Hede war es, als sei er ganz von Geheimnissen umgeben. Warum sagte das junge Mädchen »du« zu ihm? Sie war kein Bauernmädchen; ihr Haar war nach Art der vornehmen Damen hoch aufgesteckt, mit kleinen Löckchen an den Schläfen. Ihr Kleid war zwar aus selbstgewebtem Stoff, aber sie trug ein feines Spitzentuch um den Hals. Sie hatte eine weiße Haut und kleine Hände. Dies feine Gesicht mit den großen träumerischen Augen konnte keinem Bauernmädchen gehören. Hedes Erinnerung konnte ihm durchaus keinen Aufschluß über sie geben. Warum sagte sie »du« zu ihm? Woher wußte sie, daß er dies zu Hause gespielt hatte?

»Wie heißt Du?« fragte er. »Wer bist Du?«

»Ich bin Ingrid, die Du vor vielen Jahren in Upsala gesehen und getröstet hast, weil sie nicht seiltanzen lernen konnte.«

Dies ging zurück zu der Vergangenheit, die sich für Hede schon gelichtet hatte. Er erinnerte sich ihrer wohl.

»Wie groß und schön Du geworden bist, Ingrid!« sagte er. »Und wie vornehm Du aussiehst! Welch eine prächtige Brosche Du hast!«

Er hatte die Brosche schon eine ganze Weile angesehen. Es war ihm, als müsse er sie kennen; sie war einer Brosche aus Perlen und Emaille, die seiner Mutter gehörte, zum Verwechseln ähnlich.

Das Mädchen erwiderte auch sogleich:

»Die Brosche habe ich von Deiner Mutter bekommen. Du hast sie gewiß früher schon gesehen.«

Jetzt legte Gunnar Hede die Geige weg; er trat auf Ingrid zu und fragte sie in heftiger Erregung:

»Wie kommst Du dazu, ihre Brosche zu tragen? Warum weiß ich nicht, daß Du meine Mutter kennst?«

Ingrid erschrak und wurde todesblaß vor Entsetzen. Sie wußte schon, wie die nächste Frage lauten würde.

»Ich weiß nichts, Ingrid. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, warum Du hier bist. Warum weiß ich es nicht?«

»Ach, frag' mich nicht!«

Sie wich ein paar Schritte zurück und streckte die Hände aus, wie um sich zu schützen,

»Willst Du es nicht sagen?«

»Frag' mich nicht, frag' mich nicht!«

Er erfaßte ihr Handgelenk mit hartem Griff, wie um die Wahrheit herauszupressen.

»Sag' es nur. Ich bin doch völlig bei Sinnen! Warum kann ich mich an so Vieles nicht erinnern?«

Sie bemerkte etwas Drohendes und Wildes in seinen Augen. Er wußte nun schon, was sie ihm zu sagen hatte. Aber jetzt kam es ihr ganz unmöglich vor, einem Menschen zu sagen, daß er wahnsinnig gewesen sei. Es war schwerer, als sie geglaubt hatte. Unmöglich war es, unmöglich!

»Sag' es!« herrschte er sie an.

Aber sie hörte seiner Stimme an, daß er es nicht hören wollte. Er wäre imstande gewesen, sie tot zu schlagen, wenn sie es sagte.

Da nahm sie ihre ganze Liebe zusammen, sah Gunnar Hede gerade in die Augen und sagte:

»Du bist nicht ganz bei Verstand gewesen!«

»Wirklich? Wie lange denn?«

»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht drei, vier Jahre – – – –«

»Bin ich ganz verrückt gewesen?«

»Nein, nein. Du hast eingekauft und verkauft und bist auf den Jahrmärkten gewesen,«

»In welcher Weise war ich denn verrückt?«

»Du hast Dich gefürchtet.«

»Vor wem habe ich mich gefürchtet?«

»Vor Tieren – – – –«

»Vor Geißen vielleicht?«

»Ja, am meisten vor Geißen.«

Noch immer hielt Hede Ingrids Handgelenk fest umspannt. Nun schleuderte er ihre Hand weg, er schleuderte sie förmlich weg. In rasendem Zorn wandte er sich von ihr ab, als hätte sie ihm auf hinterlistige Weise eine böswillige Verleumdung mitgeteilt.

Aber dies Gefühl wich einem anderen, das ihn noch mehr erregte. Vor seinen Augen sah er, so deutlich als wäre es ein gemaltes Bild, einen großen Bauern aus Dalarne, gebeugt unter der Last eines ungeheueren Sackes. Er ist im Begriff, in ein Bauernhaus einzutreten, aber ein elender kleiner Hund fährt auf ihn los. Der Mann bleibt stehen, knickst und knickst und wagt nicht hineinzugehen, bis der Bauer lachend aus dem Haus herauskommt und den Hund fortjagt.

Als Gunnar Hede all dies sah, ergriff ihn die entsetzliche Angst aufs neue.

Vor dieser Angst verschwand das Bild, aber nun kamen Stimmen. Sie schreien und rufen um ihn her. Sie lachen und Schimpfworte regnen auf ihn herab. Am lautesten und häßlichsten schreien schrille Kinderstimmen. Ein Wort ist es, ein Name, der immer wiederkehrt, der gebrüllt, gerufen, geflüstert wird und ihm in den Ohren gellt.

»Geißbock, Geißbock!«

Und all dies galt ihm, ihm, Gunnar Hede! So hatte er gelebt! Mit vollem Bewußtsein fühlte er jetzt dieselbe unsägliche Angst, unter der er gelitten hatte, solange er wahnsinnig war. Aber nun war es nicht die Angst vor etwas von außen her; nun hatte er Angst vor sich selbst.

»Das war ich! Das war ich!« stöhnte er und rang die Hände.

Im nächsten Augenblick lag er vor einer kleinen Bank auf den Knien, legte den Kopf darauf und weinte, weinte – – – –

»Das war ich,« klagte er schluchzend. »Das war ich!«

Woher sollte er den Mut nehmen, das zu ertragen?

Ein verlachter, verspotteter Verrückter!

»Ach, laß mich wieder wahnsinnig werden!« rief er und schlug mit der Faust auf die Bank. »Das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann!«

Er hielt einen Augenblick den Atem an. Das Dunkel kam wieder heran wie ein herbeigerufener Retter. Wie ein Nebel wallte es ihm entgegen. Seine Lippen verzerrten sich zu einem Lächeln. Er fühlte, wie seine Züge schlaff wurden und sein Blick wieder den Ausdruck des Irrsinns annahm.

Aber dies war besser; das andere war nicht zu ertragen. Ein verlachter, verspotteter Verrückter, auf den man mit Fingern deutete! Nein, da war es besser, es wirklich zu sein, ohne es zu wissen. Warum sollte er zurück ins Leben? Jedermann würde ihn verabscheuen!

Die ersten leichten, flatternden Nebelschleier des Dunkels legten sich um ihn.

Ingrid stand neben ihm, hörte und sah seine Angst und dachte nicht anders, als daß bald alles aufs neue verloren sein würde.

Sie sah deutlich, daß der Wahnsinn ihn wieder zu ergreifen drohte.

Und ihr war so angst, so angst, ihr ganzer Mut war dahin.

Aber ehe er seinen Verstand wieder verlor und so verschüchtert wurde, daß auch sie ihm nicht mehr nahe kommen durfte, wollte sie wenigstens Abschied von ihm nehmen, von ihm und all ihrem Glück.

Gunnar Hede fühlte, wie Ingrid sich neben ihm auf die Knie niederließ, den Arm um seinen Hals legte, ihre Wange an die seine drückte und ihn küßte.

Sie hielt sich nicht für zu gut, ihm nahe zu kommen, ihm, dem Verrückten! Sie hielt sich nicht für zu gut, ihn zu küssen!

Ein schwaches Zischen erklang aus dem Dunkel heraus; die leichten Nebelschleier wichen zurück, und da schienen es Schlangenhäupter zu sein, die auf ihn gerichtet waren und die nun vor Wut zischten, daß sie ihn nicht hatten beißen können.

»Nimm es nicht so schwer,« sagte Ingrid. »Nimm es nicht so schwer. Niemand denkt mehr an das Vergangene, wenn Du nur gesund bist.«

»Ich will wieder wahnsinnig werden!« stöhnte er. »Ich kann es nicht aushalten! Ich kann den Gedanken, wie ich gewesen bin, nicht ertragen!«

»Doch, Du kannst es,« sagte Ingrid.

»Nein, niemand kann das vergessen,« jammerte er. »Ich war zu schrecklich. Niemand kann mich lieb haben.«

»Ich habe Dich lieb,« sagte sie.

Zweifelnd schaute er auf.

»Du hast mich geküßt, damit ich nicht wieder wahnsinnig werden sollte. Du hast Mitleid mit mir.«

»Ich will Dich gerne noch einmal küssen,« sagte sie.

»Ja, das sagst Du nur, weil Du weißt, daß ich es hören will.«

»Willst Du hören, daß Dich jemand lieb hat?«

»Ob ich es hören will? Lieber Gott, ob ich es hören will? Ach, Du Kind!« sagte er und riß sich von ihr los. »Wie soll ich das Leben ertragen, da ich doch weiß, daß jeder Mensch, der mich sieht, sogleich denken wird: Der ist verrückt gewesen. Er hat sich vor Hunden und Katzen verbeugt.«

Und dann brach es von neuem los; er lag wieder am Boden, das Gesicht in die Hände vergraben und weinte laut.

»Es wäre besser, ich würde wieder wahnsinnig. Ich höre, wie sie hinter mir herschreien, und ich sehe mich selbst. Und dies ist Angst, Angst, Angst – –«

Nun aber riß Ingrid die Geduld.

»Ja, das ist recht, werde nur wieder verrückt!« rief sie. »Es ist ja so echt männlich, wieder verrückt werden zu wollen, um von einem bißchen Angst befreit zu werden!«

Sie biß sich auf die Lippen und kämpfte mit dem Weinen, und da sie die Worte nicht schnell genug herausbrachte, ergriff sie ihn an den Armen und schüttelte ihn.

Sie war erbittert, außer sich vor Zorn, weil er ihr aufs neue entfliehen, weil er nicht ringen und kämpfen wollte.

»Was kümmerst Du Dich um mich, was kümmerst Du Dich um Deine Mutter! Werde nur wieder verrückt, dann bekommst Du Ruhe!«

Sie schüttelte ihn noch einmal.

»Um der Angst zu entgehen, sagst Du. Aber hat sie nicht auch Angst gehabt, sie, die ihr ganzes Leben lang auf Dich gewartet hat, ohne daß Du kamst! Wenn Du außer für Dich selbst, auch noch für jemand anders ein Herz hättest, könntest Du den Kampf mit Deiner Krankheit wohl aufnehmen und gesund werden. Aber Du hast kein Herz für andere!

In Gesichten und Träumen kannst Du so schön und rührend um Hülfe flehen, in Wirklichkeit aber willst Du keine Hülfe haben. Da bildest Du Dir ein, Dein Leiden sei das schwerste auf Erden. Aber es gibt noch andere, die es schwerer gehabt haben als Du.«

Endlich schlug Gunnar die Augen auf und sah ihr voll und aufmerksam ins Gesicht. Sie war in diesem Augenblick nichts weniger als schön. Die Tränen strömten ihr die Wangen herab, und ihr Mund bebte, während sie sich Mühe gab, vor Schluchzen die Worte herauszubringen.

Ihn aber deuchte es schön, als er sie so aufgeregt sah. Eine merkwürdige Ruhe überkam ihn und eine große, demütige Dankbarkeit. Etwas Großes und Herrliches hatte sich ihm genaht, gerade in seiner tiefsten Erniedrigung. Das mußte eine große Liebe sein, eine große Liebe!

Er klagte über sein Elend, und da stand auch schon die Liebe vor seiner Tür und klopfte an. Und es war nicht nur so, daß er bloß geduldet werden sollte, wenn er wieder zum Leben zurückkehrte, nicht nur so, daß die Leute es zur Not lassen konnten, ihn auszulachen.

Hier war wirklich ein Mädchen, das ihn liebte, das sich nach ihm sehnte. Sie sprach harte Worte zu ihm, aber er hörte die Liebe in einzelnen Worte beben. Ihm war, als biete sie ihm Throne und Königreiche.

Dieses Mädchen erzählte ihm, daß er ihr, während er wahnsinnig gewesen war, das Leben gerettet habe. Er habe sie vom Tode erweckt, habe sie geführt, sie beschützt. Aber das genüge ihr nicht. Sie wolle ihn selbst besitzen.

Als sie ihn küßte, hatte sie gefühlt, wie sich ein lindernder Balsam auf seine kranke Seele legte, aber er wagte noch immer nicht zu glauben, daß es die Liebe sei, die sie dazu getrieben hatte. Als er jedoch ihren Zorn und ihre Tränen sah, konnte er nicht länger zweifeln. Er wurde geliebt, er, der arme, elende Mensch, er, der jedermann zum Spott gewesen war!

Und vor der großen, innigen Glückseligkeit, die dieses Bewußtsein in Hede erweckte, entwich das letzte Dunkel in seiner Seele. Es glitt zur Seite wie ein schwerer Vorhang, und deutlich sah er das Reich des Entsetzens vor sich, das er durchwandert hatte. Aber mitten drin fand er auch Ingrid, da hob er sie aus dem Grabe, da spielte er ihr vor der Waldhütte, da arbeitete sie mit ihm, um ihn zu heilen.

Aber nicht nur die Erinnerung an sie kehrte zurück; gleichzeitig erwachten auch die Gefühle, die sie ihm früher eingeflößt hatte. Er fühlte sich durchströmt von Liebe, und er fühlte dieselbe brennende Sehnsucht, die sich seiner auf dem Kirchplatz von Raglanda bemächtigt hatte, als sie ihm da entrissen worden war.

In dem Reich des Schreckens, in der großen Wüste war ihm doch eine Blume erblüht, die ihn mit ihrem Duft und mit ihrer Schönheit getröstet hatte. Und nun erkannte er, daß die Liebe beständig in ihm lebendig geblieben war. Die wilde Pflanze der Wüste hatte sich in den Garten des Lebens versetzen lassen, sie hatte Wurzel geschlagen und wuchs und gedieh. Und als er dies fühlte, wußte er, daß er gerettet sei, daß das Dunkel von einem Stärkeren überwunden worden war.

Ingrid war verstummt. Sie fühlte sich müde wie nach einer schweren Arbeit, aber sie war auch ruhig, denn sie fühlte, daß sie das Rechte getroffen hatte. Sie wußte, daß sie gesiegt hatte.

Endlich brach Hede das Schweigen.

»Ich verspreche Dir, daß ich aushalten werde,« sagte er.

»Ich danke Dir,« erwiderte sie.

Sonst wurde nichts gesprochen.

Hede war es, als könne er ihr niemals sagen, wie sehr er sie liebe. Worte konnten es nicht sagen, aber er konnte es beweisen mit Taten an jedem Tag und zu jeder Stunde, das ganze, lange Leben hindurch.

 


 


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