Selma Lagerlöf
Eine Herrenhofsage
Selma Lagerlöf

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Neuntes Kapitel.

Nun kam eine kurze, glückliche Zeit. Gunnar Hede war zwar keineswegs gesund, aber die Seinigen waren glücklich genug, zu glauben, er sei auf dem Wege, es zu werden. Er hatte das Gedächtnis zum großen Teil verloren, wußte von langen Zeitabschnitten in seinem Leben gar nichts, konnte nicht Geige spielen, seine Kenntnisse waren fast ganz entschwunden, und selbst sein Denkvermögen war so schwach, daß er weder gern las noch schrieb. Aber viel besser als vorher ging es ihm doch. Er war nicht mehr in beständiger Angst, er liebte seine Mutter, er hatte die Gewohnheiten und das Wesen eines gebildeten Mannes wieder angenommen. Da ist es begreiflich, daß die Bergrätin und ihr ganzes Haus glückselig waren.

Hede war in strahlender Laune, den ganzen Tag voller Jubel und Freude, er grübelte nie, glitt hinweg über alles, was er nicht begriff, sprach nie von etwas, was eine Gedankenarbeit erforderte, unterhielt sich aber munter und lebhaft. Am vergnügtesten war er, wenn sein Körper in Bewegung war. Er nahm Ingrid zum Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen mit; er sprach dann nicht viel mit ihr, aber sie freute sich, daß sie dabei sein durfte. Er war freundlich gegen Ingrid wie gegen alle anderen, aber er war nicht ein bißchen verliebt in sie.

Sehr oft dachte er an seine Braut und verwunderte sich, daß sie ihm weder schrieb noch sonst von sich hören ließ. Aber nach einer kleinen Weile glitt auch dieser Kummer von ihm ab; er verjagte immer schnell alle betrübten Gedanken.

Ingrid aber sah wohl ein, daß er auf diese Weise niemals gesund werden würde. Er müßte einmal zum Denken gezwungen werden, zum Hineinsehen in sich selbst, wozu er jetzt nicht den Mut hatte. Aber sie wagte es nicht, ihn dazu zu zwingen, weder sie noch sonst jemand. Wenn er sie ein wenig lieb gewänne, ja dann, dann würde sie es vielleicht wagen, dachte sie.

Es war ihr, als ob sie zunächst nur alle miteinander ein wenig Glück brauchten.

* * *

Gerade zu dieser Zeit starb im Pfarrhaus zu Raglanda, wo Ingrid erzogen worden war, ein kleines Kind; und da mußte der Totengräber ein Grab richten.

Der Mann grub dicht neben der Stelle, wo er im vorhergehenden Sommer das Grab für Ingrid aufgeworfen hatte. Und als er einige Fuß tief gegraben hatte, wurde eine Ecke ihres Sarges frei.

Der Totengräber konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er hatte natürlich auch gehört, daß die Tote, die in dem Sarge lag, wiedergekommen sei. Sie sollte schon am Begräbnistag den Sargdeckel abgeschraubt haben, aus dem Grabe herausgestiegen sein und sich im Pfarrhaus gezeigt haben. Nun, die Pfarrerin war nicht eben beliebt, und den Leuten in der Gemeinde mochte es schon gefallen haben, daß sie so etwas von ihr erzählen konnten.

Der Totengräber dachte, wenn die Leute nur wüßten, wie wohlverwahrt die Toten drunten in der Erde liegen, und wie fest die Sargdeckel – – –

Er mußte mitten in seinem Gedankengang abbrechen. An der Ecke des Sarges, die hervorsah, lag der Deckel ein wenig schief, und eine Schraube war nicht eingeschraubt.

Er sagte nichts, er dachte auch nicht, aber er hörte auf zu graben und pfiff die ganze Reveille des Wermländer Regiments durch; denn er war Soldat gewesen.

Dann aber dachte er, es wäre am besten, wenn er die Sache ordentlich untersuchte. Es ging nicht an für einen Totengräber, sich allerlei Gedanken über die Toten zu machen, die dann immer wiederkehren und in dunklen Herbstnächten Macht über ihn gewinnen könnten.

Er grub daher hastig weiter, dann schlug er mit der Schaufel auf den Sarg.

Und der Sarg antwortete ganz deutlich, er sei leer, leer, leer.

Eine halbe Stunde später stand der Totengräber im Pfarrhaus. Das blieb ein Staunen und ein Fragen! Soviel wurde nun allen klar, daß das Mädchen in dem Sack des Dalekarliers gewesen war. Aber was war seither aus ihr geworden?

Mutter Anna Stina stand am Backofen und besorgte das Kuchenbacken, denn es mußte ja nun zu dem neuen Leichenschmaus gebacken werden. Lange hörte sie dem Gerede zu, ohne ein Wort zu sagen. Sie gab nur acht, daß die Kuchen nicht verbrannten, zog die Backbleche alle Augenblicke heraus und schob sie wieder hinein, so daß es geradezu lebensgefährlich war, der langen Backschaufel zu nahe zu kommen. Plötzlich band sie die Küchenschürze ab, wischte sich den Ruß und Schweiß notdürftig vom Gesicht und stand in der Studierstube bei dem Pfarrer, fast ehe sie selbst wußte, wie es zuging.

Nach all diesem war es gerade nicht verwunderlich, daß eines Tages im März ein kleiner roter, mit grünen Tulipanen bemalter Pfarrschlitten mit einem roten Pferdchen bespannt vor Munkhyttan hielt.

Ingrid sollte nun natürlich mit nach Hause zur Mutter. Der Pfarrer war gekommen, um sie zu holen. Er sagte nicht viel darüber, wie glücklich sie seien, daß sie noch lebe oder ähnliches, aber man konnte ihm ansehen, wie überaus froh er war. Er hatte es sich nie verzeihen können, daß sie nicht gut genug gegen die Pflegetochter gewesen waren, und nun strahlte er vor Glück, noch einmal von vorn anfangen zu dürfen, und es diesmal besser zu machen.

Ueber Ingrids Flucht wurde kein Wort gesprochen. Es hat ja keinen Wert, solche Dinge wieder aufzurühren und sich so lange nachher noch damit zu quälen. Aber Ingrid merkte wohl, daß die Pfarrerin eine schwere Zeit gehabt hatte und von Gewissensbissen geplagt worden war, sowie daß man sie nun im Pfarrhaus gerne haben wollte, um das Geschehene wieder gut zu machen. Sie begriff, daß sie beinahe gezwungen war, mitzufahren, um zu zeigen, daß sie den Pflegeeltern nichts nachtrage.

Allen erschien es ganz natürlich, daß sie auf acht oder vierzehn Tage mitginge. Und warum sollte sie nicht? Sie konnte nicht vorschützen, man habe sie da, wo sie jetzt sei, durchaus nötig. Sie konnte wohl ein paar Wochen weg sein, ohne daß Hede darunter litt. Das war schwer für sie, aber es war doch wohl am besten, sie reiste, wenn alle es für das richtige hielten.

Vielleicht hatte sie im Stillen doch gehofft, man würde sie bitten, dazubleiben. Als sie sich in den Schlitten setzte, meinte sie, die Bergrätin oder Jungfer Stafva müßten sie herausheben und wieder hineintragen. Sie konnte es nicht fassen, daß sie nun wirklich durch die Allee fuhr, daß sie in den Wald einbog und daß Munkhyttan hinter ihr verschwand.

Wenn es nun aber so zusammenhing, daß man sie aus lauter Güte nicht zurückhalten wollte. Sie glaubten vielleicht, die Jugend und Lebenslust sehne sich fort von der Einsamkeit auf Munkhyttan. Sie dachten vielleicht, sie sei es müde, die Hüterin eines Irrsinnigen zu sein. Sie hob die Hand und hätte beinahe in die Zügel gegriffen, um das Pferd anzuhalten. Jetzt erst, wo sie schon eine Meile vom Hof entfernt war, fiel ihr ein, daß dies der Grund sein könnte, warum man sie fortgelassen hatte. Ach, sie wäre so gerne umgekehrt und hätte gefragt!

Es war ihr gerade, als irre sie im wilden Wald umher, wo nichts sie umgab, als das tiefe Schweigen. Kein Mensch gab ihr Antwort oder einen Rat. Ach, von den Tannen und Fichten, dem Eichhorn und der Bergeule erhielt sie ebensoviel Antwort als von den Menschen!

* * *

Es war ihr ganz gleichgültig, wie es ihr nun daheim im Pfarrhaus ging. Sie war überzeugt, daß es ihr gut gehen werde, aber es war ihr, wie gesagt, einerlei.

Es wäre ihr auch einerlei gewesen, wenn sie in ein Schloß mit einem verzauberten Garten gekommen wäre. Es ist kein Bett so weich, daß es den, der Heimweh hat, Ruhe finden läßt.

Im Anfang bat sie jeden Tag, so bescheiden wie sie konnte, man solle sie zurückreisen lassen, nachdem sie nun die große Freude gehabt habe, Mutter und Geschwister wiederzusehen. Aber da hieß es, die Wege seien nicht zum Durchkommen, sie müsse warten, bis der Frost aus der Erde heraus sei; ihr Leben hänge doch nicht davon ab, daß sie nach Munkhyttan zurückkomme.

Ingrid konnte nur schwer verstehen, warum es die Leute ärgerte, wenn sie sagte, sie wolle nach Munkhyttan zurückkehren. Dies war aber wirklich so bei Vater und Mutter und bei allen anderen im Dorf. Offenbar durfte man sich, wenn man in Raglanda war, nicht fortsehnen.

Sie sah bald ein, daß es am besten war, wenn sie gar nicht mehr von ihrer Abreise sprach, denn sobald sie davon anfing, gab es unendlich viel Hindernisse. Nicht genug, daß die Wege noch immer unergründlich waren, nein, man errichtete auch Zäune und Mauern und Wallgräben um sie her. Sie sollte stricken und weben und die Frühbeete anpflanzen. Und sie würde doch auch nicht vor der großen Geburtstagsfeier in der Probstei abreisen wollen? Und sie könne doch auch nicht fortwollen, ehe Karin Landberg Hochzeit gehabt habe.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Hände zum Frühlingshimmel aufzuheben und ihn anzuflehen, er möge sich mit seiner Arbeit beeilen. Nur um Sonnenschein und Wärme konnte sie bitten, nur die milde Sonne anflehen, den großen Grenzwald recht fleißig anzuscheinen, durchdringende kleine Strahlen zwischen die Fichten zu werfen und den Schnee unter ihnen zu schmelzen. Liebe, liebe Sonne! Es war ganz einerlei, ob der Schnee im Tal schmolz, wenn nur die Berge frei und die Waldwege gangbar wurden! Wenn nur die Sennerinnen in ihre Hütten hinaufzogen, wenn nur die Sümpfe austrockneten und der Weg benützt werden konnte, der halb so weit war als die Landstraße!

Ingrid wußte, wer nicht auf einen Wagen warten oder um Fahrgeld betteln würde, wenn nur erst die Waldwege gangbar waren! Sie wußte, wer dann in einer hellen Nacht aus dem Pfarrhaus weggehen würde, wußte, wer das tun würde, ohne einen einzigen Menschen um Erlaubnis zu bitten!

Ingrid glaubte, sie habe auch früher sehnsüchtig dem Frühjahr entgegengesehen. Das tun ja alle Menschen. Aber nun wußte sie, daß sie sich noch nie wirklich danach gesehnt hatte. Ach nein, ach nein, sie hatte nicht gewußt, was Sehnsucht ist!,

Früher hatte sie sich auf grüne Blätter und Anemonen und Drosselgesang und auf den Kuckucksruf gefreut. Aber das war nur Kinderei, nichts anderes. Wer nur an das dachte, was schön war, sehnt sich nicht nach dem Frühling. Die erste Erdscholle, die aus der Erde hervorschaut, müßte man aufheben und küssen! Das erste noch zusammengerollte Blatt der Brennnessel müßte man pflücken, nur, um sich damit in die Haut einzubrennen, daß der Frühling nun da sei.

Alle Menschen waren überaus herzlich gegen sie. Aber obgleich Ingrid nichts sagte, waren sie doch fest überzeugt, daß sie beständig an ihre Abreise denke.

»Ich kann nicht begreifen, warum Du wieder nach dem Herrenhof willst und den Verrückten hüten,« sagte Karin Landberg eines Tages. Es war, als habe sie Ingrids Gedanken gelesen.

»Ach, das hat sie sich nun aus dem Sinn geschlagen,« fiel die Pflegemutter ein, noch ehe das Mädchen antworten konnte.

Als Karin gegangen war, sagte die Pfarrfrau:

»Die Leute wundern sich darüber, daß Du wieder von uns fort willst.«

Ingrid schwieg,

»Die Leute sagen, Du habest Dich in Hede verliebt, seit es ihm besser gehe.«

»Ach nein, nicht erst seit es ihm besser geht,« erwiderte Ingrid, die beinahe lachen mußte.

»Jedenfalls kann er aber nicht so sein, daß man ihn heiraten könnte,« sagte die Pflegemutter. »Vater und ich haben schon darüber gesprochen, und wir sind der Ansicht, daß es besser für Dich ist, wenn Du hier bleibst,«

»Es ist sehr gut von Euch, daß Ihr mich behalten wollt,« sagte Ingrid; und sie war wirklich gerührt, daß die Pflegeeltern es so gut mit ihr meinten.

Aber sie trauten ihr doch nicht, wie gehorsam sie sich auch zeigte. Ingrid konnte nicht verstehen, welches Vöglein ihre Sehnsucht verriet. Nun hatte die Pflegemutter ihr ja mit klaren Worten gesagt, daß sie nicht mehr auf das Gut zurückkehren dürfe; aber selbst damit gab sie sich noch nicht zufrieden.

»Wenn sie Dich brauchten, könnten sie Dir ja schreiben,« sagte sie.

Wieder mußte Ingrid beinahe lachen. Das wäre das allerwunderbarste, wenn aus einem verzauberten Schloß ein Brief käme! Sie hätte gerne gewußt, ob die Pflegemutter glaube, der Bergkönig habe an das von ihm entführte Mädchen geschrieben, als es von dem Besuch bei seiner Mutter nicht zurückkehrte.

Hätte die Pflegemutter aber nur gewußt, wie viele Botschaften sie erhielt, da wäre sie ganz verwirrt geworden.

Es kamen Botschaften bei Nacht in Träumen, und es kamen Botschaften bei Tag als Erscheinungen. Er ließ Ingrid wissen, daß er sie brauche. Er sei so krank, ach, so krank!

Sie wußte, daß er auf dem Wege war, wieder wahnsinnig zu werden, und daß sie zu ihm kommen mußte. Wenn ihr jemand dies mitgeteilt hätte, würde sie nur geantwortet haben, daß sie es schon wisse.

Die großen Sternenaugen nahmen einen immer abwesenderen Ausdruck an. Wer diesen Blick beständig sah, konnte unmöglich glauben, daß Ingrid ruhig und sittsam zu Hause sitzen bleiben würde. Es ist ja auch nicht gerade schwer, einem Menschen anzusehen, ob er sich behaglich fühlt oder ob er sich fortsehnt. Es braucht nur ein kleiner Strahl des Glücks aus den Augen zu dringen, wenn er von der Arbeit kommt, oder sich am Feuer niederläßt. Aber aus Ingrids Augen drang kein Freudenstrahl, außer wenn sie den angeschwollenen Gebirgsbach sah, der überschäumend den Wald herunterkam; er war es ja, der den Weg für sie bahnte.

Eines Tages war Ingrid mit Karin Landberg allein, und da erzählte sie dieser von ihrem Leben auf Munkhyttan. Karin erschrak heftig. Wie hatte Ingrid das aushalten können?

Karin Landberg war, wie schon gesagt, im Begriff, sich zu verheiraten, und sie war nun auf dem Punkt angekommen, daß sie von nichts anderem reden konnte, als von ihrem Liebsten. Sie wußte nichts, was sie nicht von ihm gehört hatte, und sie konnte nichts tun, ohne ihn vorher zu fragen.

Da fiel ihr ein, daß Olof in Beziehung auf diese Geschichte eine Bemerkung gemacht hatte, die sie vielleicht benützen konnte, um Ingrid abzuschrecken, im Falle diese wirklich den Verrückten lieb gewonnen hätte.

Sie begann ihr daher vorzustellen, wie verrückt dieser Gunnar Hede in Wirklichkeit sei. Olof habe ihr erzählt, daß er, als er im Herbst auf dem Jahrmarkt gewesen sei, ein paar Herren getroffen habe, die gesagt hätten, der »Geißbock« sei gewiß nicht verrückt. Er tue bloß so, um die Käufer anzulocken. Olof aber habe behauptet, er sei wirklich geistig gestört. Und um es zu beweisen, sei er auf den Viehmarkt gegangen und habe eine elende kleine Ziege gekauft. Ja, da habe man es gleich sehen können! Olof hatte nichts weiter zu tun brauchen, als die Ziege vor sich auf den Tisch zu stellen, wo Hede seine Messer ausgelegt hatte, als dieser auch schon von seinem Sack und seinen Waren weg auf und davon lief. Und alle hätten furchtbar gelacht, als sie sahen, welche Angst ihn erfaßte. Und es sei daher ganz unmöglich, daß Ingrid einen lieb haben könne, der so verrückt sei.

Es war vielleicht unvorsichtig von Karin, daß sie Ingrid nicht ein einziges Mal anschaute, während sie diese Geschichte erzählte. Wenn sie gesehen hätte, wie die andere die Stirn runzelte, wäre es ihr vielleicht eine Warnung gewesen.

»Und Du willst einen Mann heiraten, der so etwas getan hat?« sagte Ingrid. »Ich glaube, da wäre es noch besser, den ›Geißbock‹ selbst zu heiraten.«

Dies wurde von Ingrid in vollem Ernst gesagt, und es war sehr sonderbar, daß sie, die sonst so mild war, etwas so hart sagen konnte, daß es Karin ordentlich ins Herz schnitt. Mehrere Tage nachher war sie noch ganz ängstlich, Olof sei am Ende doch nicht so, wie sie wünschte. Der Gedanke verbitterte Karin förmlich das Leben, bis sie sich entschloß, Olof alles zu erzählen, der dann so lieb und gut war, daß es sie ganz beruhigte.

Im Wermland auf den Frühling zu warten, ist nichts leichtes. Man kann einen sonnigen und warmen Abend haben und doch am nächsten Morgen die Felder weiß von Schnee finden. Stachelbeerbüsche und Rasenflächen können grün werden, aber der Birkenwald bleibt kahl und will einfach nicht ausschlagen.

Zu Pfingsten war es Frühling im Tal, aber Ingrids Gebete hatten doch nicht geholfen. Nicht eine einzige Sennerin war in den Wald hinaufgezogen, kein Sumpf war ausgetrocknet, es war unmöglich, auf den Waldwegen durchzukommen.

Am Pfingstfest war Ingrid mit ihrer Pflegemutter in der Kirche. Des hohen Festtages wegen waren sie im Wagen hinausgefahren.

Früher war es Ingrids größte Freude gewesen, in vollem Galopp auf dem Kirchplatz anzukommen, wo alle, die auf der Mauer und am Wege standen, den Hut abnahmen und grüßten, und die, so mitten auf der Straße waren, mit großen Sätzen zur Seite sprangen, als seien sie ganz entsetzt.

Jetzt aber freute sie sich über nichts mehr. Die Sehnsucht nimmt der Rose den Duft und dem Mond den Glanz, heißt es im Sprichwort.

Aber sie freute sich doch über das, was sie in der Kirche hörte. Es tat ihr wohl, als sie vernahm, wie die Jünger durch ein Wunder der Freude getröstet wurden. Sie fühlte sich beglückt, daß Jesus die trösten will, die sich in Sehnsucht nach ihm verzehren.

Während nun Ingrid und alle die anderen in der Kirche saßen, kam ein Mann in der Tracht der Bauern aus Dalarne des Weges daher. Er ging im Pelz und hatte den schweren Kramsack auf dem Rücken wie einer, der den Winter nicht vom Sommer, und den Sonntag nicht vom Werktag unterscheiden kann. Er ging nicht in die Kirche, sondern schlich in großer Angst an den Pferden, die an der Hecke angebunden standen, vorbei und in den Kirchhof hinein.

Hier setzte er sich auf ein Grab und dachte an all die Toten, die noch schliefen, sowie an seine Tote, die wieder zum Leben erwacht war. Er saß noch da, als die Leute aus der Kirche kamen.

Karin Landbergs Olof war einer der ersten, der heraustrat, und als er seinen Blick über den Kirchhof hinschweifen ließ, entdeckte er den Dalekarlier. Es wäre schwer zu entscheiden, ob es Neugierde oder etwas anderes war, was ihn trieb, aber er ging hin, um mit dem Manne zu reden. Er wollte sehen, ob es möglich sei, daß er, der geheilt sein sollte, wieder wahnsinnig geworden war.

Und es war möglich. Er erzählte dem jungen Bräutigam sogleich, daß er hier sitze, um auf eine zu warten, die Grablilie heiße. Sie werde kommen und ihm vorspielen. Sie könne so spielen, daß die Sonne tanze und die Sterne sich im Kreise drehten.

Da sagte Karin Landbergs Olof zu ihm, daß die, die er erwarte, drüben auf dem Kirchplatz stehe. Er brauche nur aufzustehen, dann könne er sie sehen. Sie werde sich gewiß freuen, wenn sie ihn wiederfinde.

Die Pfarrerin und Ingrid wollten eben einsteigen, als ein großer Bauer aus Dalarne auf sie zustürzte. Er lief in aller Eile trotz all der Pferde, vor denen er sich verneigen mußte, und er winkte dem jungen Mädchen eifrig mit der Hand.

Und sobald Ingrid ihn sah, blieb sie ganz still stehen. Sie hätte selbst nicht sagen können, ob die Freude, ihn wiederzusehen, größer sei, oder der Schmerz darüber, daß er von neuem wahnsinnig geworden war; sie vergaß nun alles andere auf der Welt.

Und ihre Augen fingen an zu strahlen. In diesem Augenblicke sah sie sicherlich nichts von dem armen, elenden Menschen, sie fühlte gewiß nichts anders als die Nähe der edlen Seele, nach der sie sich krank gesehnt hatte.

Der Platz um sie her war voller Kirchgänger, und alle sahen Ingrid unverwandt an. Keiner konnte seine Augen von ihrem Gesicht abwenden. Sie rührte sich nicht, um ihm entgegen zu gehen, sie blieb nur stehen und erwartete ihn. Aber alle, die sahen, wie sie vor Glück strahlte, hätten beinahe geglaubt, es sei ein großer, schöner Mensch, und nicht ein armer Verrückter, der auf sie zukam.

Die Leute sagten später, es habe beinahe ausgesehen, als sei ein Band vorhanden zwischen seiner und ihrer Seele, ein geheimes Band, das so tief unter dem Bewußtsein verborgen liegen müsse, daß kein Menschenverstand bis dahin dringen könne.

Aber als Hede nur noch ein paar Schritte von Ingrid entfernt war, umfaßte ihre Pflegemutter sie mit raschem Griff, hob sie auf und setzte sie in den Wagen. Sie wünschte hier auf dem Kirchplatz im Beisein so vieler Menschen kein Wiedersehen zwischen den beiden. Und sobald sie im Wagen saßen, trieb der Kutscher die Pferde an und fuhr im Galopp davon.

Ein paar gräßliche, wilde Schreie tönten ihnen nach.

Die Pfarrerin dankte Gott, daß sie das Mädchen neben sich im Wagen hatte.

Der Nachmittag war noch nicht weit vorgeschritten, als ein Bauer im Pfarrhaus erschien, der den Pfarrer zu sprechen verlangte. Er kam, um sich wegen des verrückten Dalekarliers Rat zu erholen; dieser sei wieder tobsüchtig geworden, so daß man ihn habe binden müssen. Was würde nun der Herr Pfarrer raten? Was sollte man mit ihm anfangen?

Der Pfarrer konnte ihnen nur raten, den Kranken nach Hause zu schaffen. Er sagte dem Bauer, wer er sei und wo er wohne.

Später am Abend erzählte er Ingrid, wie sich alles verhielt. Er hielt es für das beste, ihr die Wahrheit zu sagen, dann würde sie wohl zur Vernunft kommen.

Aber als die Nacht anbrach, sah Ingrid ein, daß sie keine Zeit mehr habe, noch länger auf den Frühling zu warten. Und so machte sich das arme Kind auf den Weg, um auf der Landstraße nach Munkhyttan zu wandern. Sie hoffte, auch auf diesem Wege ihr Ziel zu erreichen, obgleich es noch einmal so weit war, als der Pfad durch den Wald.

 


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