Selma Lagerlöf
Eine Herrenhofsage
Selma Lagerlöf

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Viertes Kapitel.

Das ist ganz gewiß, die Sonne liebt die freien Plätze vor den kleinen Dorfkirchen. Ist es noch nie jemand aufgefallen, daß es nirgends so viel Sonnenschein gibt, als vor einem weiß angestrichenen Kirchlein während des Gottesdienstes? Nirgends sonst sieht man so strahlende Lichtgarben, nirgends sonst ist die Luft so andächtig stille. Die Sonne steht da förmlich auf der Wacht, daß die Leute nicht vor der Kirche stehen bleiben und den Dorfklatsch verhandeln. Alle sollen hübsch in der Kirche sitzen und der Predigt zuhören, deshalb sendet sie einen solchen Reichtum von Strahlen vor die Kirchenmauern.

Vielleicht ist es nicht ganz gewiß, daß die Sonne jeden Sonntag solchen Wachdienst vor den kleinen Dorfkirchen versieht, aber so viel ist sicher, an jenem Vormittag, wo die Scheintote auf dem Kirchhof von Raglanda ins Grab gelegt worden war, verbreitete sie eine glühende Hitze auf dem kleinen Platz vor der Kirche, ja es schien, als wollten die Kieselsteine Feuer sprühen, so funkelnd lagen sie in den Wagengeleisen.

Das zertretene kurze Gras schrumpfte zusammen und sah trockenem Moos ähnlich, während die gelben Blüten des Löwenzahns, die den Rasen zierten, sich auf ihren langen Stielen ausbreiteten, so daß sie so groß wurden wie Astern.

Da kam ein Mann in der Tracht der Bauern von Dalarne des Weges daher, einer von denen, die mit Messern und Scheren hausieren gingen. Er war in einen langen weißen Mantel aus Schafpelz gekleidet, und auf dem Rücken trug er einen großen schwarzen Ledersack. Mit dieser Ausrüstung war er schon mehrere Stunden lang gewandert, ohne daß es ihm zu warm geworden wäre; aber als er die Landstraße verließ und den Kirchplatz erreichte, dauerte es nicht eine Minute, bis er stille stehen und den Hut abnehmen mußte, um sich den Schweiß von der Stirne zu wischen.

Wie der Mann mit entblößtem Kopf dastand, sah er schön und klug aus. Seine Stirne war hoch und weiß mit einer tiefen Gedankenfülle zwischen den Augenbrauen und der Mund schön geformt mit schmalen Lippen. Sein Haar war in der Mitte gescheitelt; es war im Nacken kurz geschnitten und hing, an den Spitzen etwas gelockt, über die Ohren herab. Er war groß und kräftig, aber nicht grob, sondern in allen Teilen ebenmäßig gebaut. Aber es fiel auf, daß sein Blick unstät war, die Augäpfel rollten unruhig hin und her und zogen sich in die Höhlen zurück, wie um sich zu verbergen. Um den Mund hatte er einen verzerrten und irren Zug, etwas Albernes und Schlaffes, das nicht herpaßte, das nicht recht zu diesem Gesicht gehörte.

Er konnte auch nicht recht klug sein, wenn er sich am Sonntag mit dem schweren Sack abschleppte. Hätte er seinen vollen Verstand gehabt, würde er gewußt haben, daß es gar keinen Wert hatte, da er ja doch nichts verkaufen konnte. Von all den anderen Dalekarliern, die durch die Dörfer zogen, hätte auch nicht einer an einem Sonntag den Rücken unter dem Sack gekrümmt; da gingen sie wie andere Menschen frei und aufrecht ins Gotteshaus.

Aber dieser arme Mensch wußte wohl nicht einmal, daß es Sonntag war, bis er im Sonnenschein vor der Kirche stand und der Gesang zu ihm herausdrang. Aber so klug war er doch, um sofort zu verstehen, daß er an diesem Tage keinen Handel treiben könne. Und da bekam sein Gehirn eine beschwerliche Arbeit, denn es mußte überlegen, was er mit seinem freien Tag anfangen wolle.

Lange stand er da und starrte vor sich hin. Wenn alles im gewohnten Geleise ging, wurde es ihm nicht schwer, sich zurechtzufinden. Sein Zustand war nicht gar so schlimm; in der Woche konnte er ganz gut von Hof zu Hof ziehen, um seinen Handel zu treiben; aber er konnte sich nie an den Sonntag gewöhnen. Der kam über ihn wie ein großes, unvorhergesehenes Mißgeschick.

Seine Augen waren ganz starr, und die Muskeln auf der Stirne schwollen an.

Das erste, was drinnen in seinem Gehirn vorgeschlagen wurde, war, er solle in die Kirche gehen und dem Gesang zuhören. Aber der Vorschlag wurde nicht angenommen. Er hätte gerne den Gesang gehört, aber er wagte nicht, in die Kirche zu treten. Vor den Menschen fürchtete er sich zwar nicht, aber in manchen Kirchen waren so sonderbare, unheimliche Bilder, die Wesen vorstellten, an die er am liebsten nicht dachte.

Schließlich arbeitete er sich zu dem Gedanken durch, daß es, da dies eine Kirche war, doch wohl auch einen Kirchhof hier geben müsse. Und wenn er einen Kirchhof erreichen konnte, dann war er geborgen. Was es auch immer sein mochte, man konnte ihm nichts besseres bieten. So oft er auf seinen Wanderungen vom Wege aus einen Kirchhof erblickte, ging er hinein und setzte sich eine Weile dort nieder, mochte es auch mitten in der Arbeitswoche sein.

Als er nun in den Kirchhof hineingehen wollte, zeigte sich plötzlich eine neue Schwierigkeit. Der Begräbnisplatz von Raglanda liegt nämlich nicht dicht neben der Kirche, die auf einem Hügel steht, sondern auf einer Wiese, etwas hinter dem Gemeindehaus. Und er konnte die Kirchhofspforte nicht erreichen, ohne einen Weg entlang zu gehen, neben dem die Pferde der Kirchenbesucher angebunden standen.

Alle Pferde hatten die Köpfe tief in Heubündel und Futtersäcke vergraben und kauten, daß das Futter zwischen ihren Zähnen knirschte. Es war keine Rede davon, daß die Pferde dem jungen Mann ein Leid antun würden, aber er hatte seine eigenen Ansichten über die Gefahr, die ihm drohte, wenn er an solch einer langen Reihe von Tieren vorüberginge.

Zwei-, dreimal versuchte er vorwärts zu gehen, aber der Mut gebrach ihm, so daß er wieder umdrehen mußte. Er fürchtete sich nicht, die Pferde könnten ihn beißen oder nach ihm ausschlagen, es war mehr als genug, daß sie so nahe waren und ihn sehen konnten. Es war mehr als genug, daß sie mit ihren Halftern rasseln und mit den Hufen auf dem Boden scharren konnten.

Schließlich kam ein Augenblick, wo alle Pferde auf den Boden sahen und richtig um die Wette zu fressen schienen. Da begann er seine Wanderung an ihnen vorbei. Er zog den Pelz dicht um sich zusammen, damit er nicht flattern und ihn verraten könne, und ging auf den Zehen, so hübsch er vermochte. So oft ein Pferd die Augen aufschlug und ihn ansah, blieb er sogleich stehen und knickste. Er wollte in dieser großen Gefahr gern recht höflich sein; aber die Tiere würden doch wohl auch so vernünftig sein, zu verstehen, daß er sich nicht tief verbeugen konnte, da er doch einen Sack voll Eisen auf dem Rücken trug. Es blieb ihm nichts übrig, als zu knicksen.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, denn es war etwas recht schweres und beschwerliches im Leben, wenn man sich wie er vor allen vierfüßigen Tieren fürchtete. Eigentlich fürchtete er sich zwar bloß vor Geißen; vor Pferden, Hunden und Katzen hätte er gar keine Angst gehabt, wenn er nur ganz sicher gewesen wäre, daß sie nicht eine Art verwandelter Geißen gewesen wären. Aber darüber war er nie so ganz sicher, und so war es im Grunde genommen ebenso schlimm für ihn, wie wenn er sich vor allen Arten von vierfüßigen Tieren gefürchtet hätte.

Es nützte gar nichts, wenn er sich ins Gedächtnis rief, wie stark er sei, und daß diese kleinen Bauernpferde für gewöhnlich niemand etwas zu Leid taten. An dergleichen kann der nicht denken, dem die Angst in der Seele wohnt. Die Angst ist eine drückende Last, und es ist schwer für den, bei dem sie sich festgesetzt hat.

Es war merkwürdig, daß er doch an der ganzen Pferdereihe vorüberkam. Das letzte Stück Weg legte er mit zwei langen Sätzen zurück, und als er den Kirchhof erreicht hatte, zog er das Gittertor hinter sich zu und drohte mit geballter Faust nach den Pferden.

»Ihr schlechten, erbärmlichen, verfluchten Geißböcke!«

Das tat er bei allen Tieren; er konnte es nicht lassen, alle miteinander Geißböcke zu schimpfen. Und das war sehr dumm von ihm, denn dies hatte ihm selbst den Namen verschafft, den er nicht leiden konnte. Wer ihm begegnete, rief ihm Geißbock nach. Aber er wollte nicht auf diese Weise angeredet werden. Er wollte mit seinem rechten Namen genannt sein; der aber war offenbar keinem Menschen in dieser Gegend bekannt.

Er blieb eine Weile an der Pforte stehen und freute sich, daß er den Pferden entkommen war, bald aber wanderte er weiter in den Kirchhof hinein. Vor jedem Kreuz und jedem Stein hielt er an und knickste. Aber nun tat er es nicht aus Angst, sondern vor Freude über das Wiedersehen mit diesen lieben, alten Bekannten. Er sah auf einmal ganz mild und freundlich aus. Das waren ja genau dieselben Kreuze und Steine, die er früher schon so oft gesehen hatte! Wie unverändert sie waren! Wie gut er sie wiedererkannte! Er mußte sie begrüßen!

Wie schön es auf dem Kirchhof war! Keine Tiere weideten hier, und keine Menschen trieben hier Narrenpossen. Es war ihm am liebsten, wenn es ringsum ganz still war wie eben jetzt, aber selbst wenn sich Menschen da aufhielten, störten sie ihn nicht. Er kannte ja wohl noch manche schöne Auen und Haine, die ihm noch besser gefielen, aber dort ließ man ihn nie in Frieden, und sie konnten in keiner Weise mit dem Kirchhof verglichen werden. Der Kirchhof war sogar besser als der Wald, denn im Wald war die Einsamkeit so groß, daß er sich vor ihr fürchtete. Hier aber war es so still wie in der Tiefe des Waldes, nur war er nicht allein, hier lagen schlafende Menschen unter jedem Stein und unter jedem Rasenhügel, genau soviel Gesellschaft als er brauchte, um sich nicht einsam und verlassen zu fühlen.

Sofort schlug er die Richtung nach dem offenen Grabe ein.

Er ging dahin, teils weil dort ein paar Bäume standen, die Schatten spendeten, teils auch, weil er sich nach Gesellschaft sehnte. Er glaubte vielleicht, der Tote, der erst vor kurzem in das Grab gelegt worden war, könne ein besserer Schutz gegen die Einsamkeit sein als die längst Entschlafenen.

Den Rücken gegen den großen Erdhaufen am Grabesrand gestemmt, ließ er sich beinahe auf die Knie nieder, dadurch gelang es ihm, seinen Kramsack so hoch hinauszuschieben, daß er fest auf dem Haufen stand, sowie die schweren Lederriemen, die ihn festhielten, zu lösen. Es war ein großer Tag, ein Feiertag, und er warf auch den Pelz ab. Mit viel Behagen setzte er sich ins Gras, dem Grabe so nahe, daß seine langen Beine mit den Kniestrümpfen und den dicken Schnürstiefeln über den Grabesrand hinunterhingen.

Zuerst saß er, die Augen starr auf den Sarg gerichtet, ziemlich lange still da. Wenn man solche Angst in sich trug wie er, konnte man niemals vorsichtig genug sein. Aber der Sarg bewegte sich wirklich gar nicht. Er konnte ihn unmöglich im Verdacht haben, daß irgend eine Falle darin verborgen sei.

Erst als er seiner Sache ganz sicher war, fuhr er mit der Hand in ein Seitenfach seines Kramsacks und zog eine Geige und einen Fidelbogen heraus. Gleichzeitig nickte er dem Toten im Grabe zu. Da er sich so ruhig verhielt, sollte er etwas Schönes zu hören bekommen.

Dies war etwas ganz Besonderes; es gab nicht viele, die ihn spielen hören durften. Aus den Höfen, wo sie die Hunde auf ihn hetzten und ihn Geißbock schimpften, bekam ihn niemand zu hören. Aber es kam vor, daß er in einem Hause vorspielte, wo man leise sprach und stille umherging und ihn nicht fragte, ob er Ziegenfelle kaufen wolle. An solchen Orten nahm er oft die Geige hervor und gab etwas zu besten. Und dies war eine große Auszeichnung, die größte, die er jemand zuteil werden lassen konnte.

Wie er nun so auf dem Grabesrand saß und spielte, klang es gar nicht übel. Er spielte nicht einen einzigen falschen Ton, und er spielte so leise und so zart, daß es kaum am nächsten Grabe gehört werden konnte.

Aber das merkwürdige an der Sache war, daß er gar nicht der Mann selber war, der spielen konnte, sondern vielmehr seine Geige, die sich an einige kleine Melodien erinnerte. Diese drangen aus ihr heraus, sobald er mit dem Bogen über die Saiten strich. Dies wäre vielleicht für jemand anderes nicht von so großer Bedeutung gewesen, aber für ihn, der nicht fähig war, sich an irgendeine Melodie zu erinnern, war es die allerkostbarste Gabe, daß er eine Geige besaß, die von selbst spielen konnte.

Während er spielte, zog ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht, wie bei jemand, der ein Kind plaudern und erzählen hört.

Die Geige war es, die sprach und sprach, er hörte nur zu. Es war doch zu merkwürdig, daß diese schönen Dinge erklangen, sobald er den Bogen über die Saiten gleiten ließ. Die Geige besorgte das selbst; sie wußte, wie es klingen mußte, der junge Mann saß nur da und lauschte.

Aus der Geige wuchsen Melodien heraus, gerade wie Gras aus der Erde wächst. Niemand konnte verstehen, wie es zuging.

Der Dalekarlier hatte im Sinn, den ganzen Tag hier sitzen zu bleiben und die geliebten Töne aus der Geige herauswachsen zu lassen wie kleine weiße und bunte Blumen. Er wollte eine ganze Wiese voll Blumen spielen, ein ganzes langes Tal voll, eine große, weite Ebene.

Aber sie, die scheintot drunten im Sarg lag, hatte das Geigenspiel wohl gehört, und auf sie hatte es eine sonderbare Wirkung ausgeübt. Die Töne hatten sie zum Träumen gebracht, und von dem, was sie im Traum sah, wurde sie so erregt, daß ihr Herz zu klopfen, ihr Blut zu strömen begann – und sie erwachte.

Nun geschah es, daß sie alles, was sie erlebt hatte, solange sie scheintot war – die Gedanken, die sie da gehabt, und selbst den letzten Traum – daß dies alles in dem Augenblick vergessen und verschwunden war, wo sie ihr gewöhnliches Bewußtsein wiedererlangte. Sie wußte nicht einmal, daß sie im Sarge lag, sondern meinte, sie liege noch immer daheim krank in ihrem Bette. Sie dachte nur, es sei recht sonderbar, daß sie noch lebe. Vor ganz kurzem, ehe sie eingeschlafen war, war sie ja mitten im Todeskampf gewesen! Es müßte ja schon längst aus mit ihr sein! Sie hatte Abschied genommen von den Pflegeeltern, den Geschwistern und den Dienstleuten. Der Probst selbst war dagewesen und hatte ihr das Abendmahl gegeben, denn ihr Pflegevater meinte, er habe die Kraft nicht dazu. Und vor mehreren Tagen schon hatte sie ihre Gedanken von allem Irdischen abgewandt. Es war unbegreiflich, daß sie nicht tot war.

Sie wunderte sich, daß in dem Zimmer eine solche Dunkelheit herrschte. Seit sie krank war, hatte jede Nacht ein Licht gebrannt. Und dann hatte man ihre Decke vom Bett hinabgleiten lassen. Lag sie nicht da und war eiskalt?

Sie richtete sich ein wenig auf, um die Decke über sich zu ziehen. Da stieß sie mit der Stirn an den Sargdeckel, und mit einem Schmerzensschrei sank sie wieder zurück.

Der Stoß war ziemlich heftig gewesen, und sie versank sogleich wieder in ihren starren Zustand. Sie lag ebenso unbeweglich wie zuvor, und es war, als sei das Leben aufs neue entflohen. Der junge Mann, der den Stoß und auch den Schrei hörte, legte augenblicklich die Geige weg und begann zu lauschen. Aber er hörte nichts mehr, gar nichts.

Nun starrte er wieder ebenso unverwandt auf den Sarg wie zu Anfang. Er nickte vor sich hin, als wollte er »ja« sagen zu dem, was er selbst dachte, nämlich, daß es auf der Erde nichts gebe, worauf man sich verlassen könne. Hier habe er nun den besten, schweigsamsten Kameraden gehabt; aber sei er denn nun nicht auch von diesem betrogen worden? Immerfort betrachtete er den Sarg, als wollte er durch ihn hindurchsehen. Schließlich, als er sich fortgesetzt ruhig verhielt, nahm er wieder die Geige zur Hand und begann zu spielen.

Aber nun wollte die Geige nicht mehr. Wie weich und zärtlich er auch darüber hinstrich, es drangen keine Melodien mehr daraus hervor. Das war so traurig, daß er beinahe geweint hätte. Er hatte die Absicht gehabt, den ganzen Tag ruhig sitzen zu bleiben und seiner Geige zuzuhören, und nun wollte die nicht mehr.

Er konnte sich auch den Grund wohl denken. Die Geige war unruhig und fürchtete sich vor dem, was sich in dem Sarg da unten bewegte. Sie hatte all ihre Lieder vergessen und dachte nur noch darüber nach, was es wohl gewesen sein könnte, das an den Sargdeckel geklopft hatte. Denn so ist es ja, man vergißt alles, wenn man Angst hat.

Er fühlte, er mußte die Geige wieder beruhigen, wenn er noch mehr hören wollte.

Er hatte sich so glücklich gefühlt, glücklicher als seit Jahren. – Wenn wirklich etwas Böses in dem Sarg war, wäre es dann nicht am besten, er ließe es aus dem Sarge heraus? Dann würde die Geige wieder froh werden, und es würden wieder schöne Blumen aus ihr herauswachsen.

Entschlossen machte er seinen großen Sack auf und begann zwischen Messern, Sägen und Hämmern zu suchen, bis er einen Schraubenzieher fand. Im nächsten Augenblick war er drunten im Grabe, lag auf den Knien und begann den Sargdeckel loszuschrauben.

Er zog eine Schraube nach der anderen heraus, bis er schließlich den Deckel nach der einen Wand des Grabes zurückschlagen konnte. Zugleich glitt auch das Schweißtuch von dem Gesicht der Scheintoten weg.

Sobald die frische Luft bis zu Ingrid drang, schlug sie die Augen auf. Und nun war es ja licht um sie her. Man mußte sie fortgebracht haben. Nun lag sie in einer gelben Kammer, die eine grüne Decke hatte und einen großen Kronleuchter an der Decke.

Die Kammer war klein, aber das Bett war noch kleiner. Warum hatte sie denn das Gefühl, als ob ihre Anne und Beine gefesselt wären? War es, weil sie sich in dem kleinen, engen Bette ruhig verhalten sollte?

Wie merkwürdig, daß man ihr ein Gesangbuch unter das Kinn gelegt hatte! Das tat man ja sonst nur bei Toten!

Zwischen den Fingern hatte sie einen kleinen Blumenstrauß. Ihre Pflegemutter hatte ein paar Zweiglein von ihrem blühenden Myrtenstock abgeschnitten und ihr zwischen die Hände gelegt. Ingrid verwunderte sich sehr. Was war ihrer Pflegemutter nur eingefallen?

Sie sah, daß man ihr ein Kopfkissen mit breiten Spitzen gegeben hatte, sowie ein feines Leintuch, das sie in weichen Falten umgab. Sie freute sich sehr darüber; sie mochte gern etwas Feines. Aber noch lieber hätte sie eine warme Decke gehabt. Es konnte doch für eine Kranke nicht gut sein, wenn sie ohne Decke dalag!

Ingrid war im Begriff, die Hände vor's Gesicht zu schlagen und in Tränen auszubrechen; sie fror gar so bitterlich.

Da fühlte sie plötzlich etwas Hartes und Kühles an ihrer Wange. Sie mußte lächeln; das alte, rote Holzpferdchen, die dreibeinige Kamilla, lag neben ihr auf dem Kopfkissen. Das Brüderchen, das nie einschlafen wollte, wenn es das Pferdchen nicht neben sich im Bette hatte, mußte es ihr hingelegt haben. Das war recht lieb von dem Brüderchen gewesen. Ingrid war dem Weinen näher, als sie begriff, daß das Brüderchen sie mit dem Pferdchen hatte trösten wollen. Aber sie brachte es nicht bis zum Weinen. Plötzlich ging ihr die Wahrheit auf. Das Brüderchen hatte ihr das hölzerne Pferd und die Mutter ihre weißen Myrtenblüten gegeben, und das Gesangbuch hatte man ihr unter das Kinn gelegt, weil man geglaubt hatte, sie sei tot.

Mit beiden Händen erfaßte Ingrid den Rand des Sarges und richtete sich auf. Das kleine, schmale Bett war ein Sarg, und das gelbe Stübchen war ein Grab. Das war alles miteinander sehr schwer zu verstehen. Sie konnte gar nicht begreifen, daß dies sie selbst betraf, daß sie es war, die in ein Leintuch gehüllt und ins Grab gelegt worden war. Sie lag wahrscheinlich doch daheim in ihrem Bett und sah oder träumte dies alles. Es würde sich wohl bald zeigen, daß dies nicht die Wirklichkeit sei, sondern daß alles war wie gewöhnlich.

Plötzlich fand sie eine Erklärung für alles.

»Ich habe oft so sonderbare Träume,« dachte sie. »Dies ist gewiß nur ein Gesicht.«

Und sie seufzte froh und erleichtert auf. Sie legte sich sogar wieder in den Sarg zurück, fest überzeugt, daß es ihr eigenes Bett sei; das war doch auch nicht so sehr breit.

Während dieser ganzen Zeit stand der Mann im Grabe, gerade zu Ingrids Füßen. Er befand sich nur wenige Fuß von ihr entfernt, aber sie hatte ihn noch nicht gesehen.

Dies kam gewiß daher, daß er, sobald die Tote in dem Sarge die Augen aufschlug und sich zu rühren begann, in einer Ecke zusammenkauerte und sich zu verbergen suchte. Sie hätte ihn wahrscheinlich wohl gesehen, obgleich er den Sargdeckel wie einen Schild vor sich hielt, wenn nicht bis dahin gleichsam ein weißer Nebel vor ihren Augen gewesen wäre, so daß sie nur das allernächste ganz deutlich sehen konnte. Sie hatte ja nicht einmal sehen können, daß die Wände um sie her aus Sand waren; die Sonne hatte sie für einen großen Kronleuchter und das Laubdach der Linde für eine Zimmerdecke gehalten.

Der arme junge Mann wartete und wartete, daß das, was sich in dem Sarge bewegte, endlich seines Weges gehen würde. Er dachte nicht anders, als daß es dies von selbst tun werde. Es hatte ja geklopft, weil es heraus wollte. Lange stand er so, den Kopf hinter dem Sargdeckel, in der Erwartung, daß es gehen würde. Und als er glaubte, jetzt werde es fort sein, lugte er hervor. Aber da hatte es sich noch nicht gerührt, sondern lag noch immer auf seinem Lager aus Hobelspänen.

Das gefiel ihm gar nicht; er wollte, die Sache sollte bald ein Ende haben. Seine Geige hatte seit langer Zeit nicht mehr so schön gesprochen wie an diesem Tage; er sehnte sich danach, wieder in Ruhe bei ihr zu sitzen.

Ingrid, die beinahe wieder eingeschlummert war, hörte plötzlich, daß sie in der singenden Mundart von Dalarne angeredet wurde.

»Ich meine, nun wäre es Zeit, daß Du aufstehst!«

Sobald er dies gesagt hatte, verbarg er den Kopf wieder. Er zitterte so über seine Keckheit, daß er den Sargdeckel beinahe hätte fallen lassen.

Der weiße Nebel, den Ingrid vor den Augen gehabt hatte, verschwand vollständig, als sie einen Menschen sprechen hörte. Sie sah einen Mann, der sich am Fußende des Sarges in einem Winkel zusammendrückte und einen Sargdeckel vor sich hinhielt, und augenblicklich wurde sie sich bewußt, daß sie sich nicht hinlegen dürfe und denken, es sei ein Traumgesicht. Hier war gewiß eine Wirklichkeit, die sie sich klar machen mußte. Ganz unwiderleglich schien es sich so zu verhalten, daß der Sarg ein Sarg und das Grab ein Grab war, und daß sie selbst vor ein paar Minuten noch nichts anderes gewesen war, als eine eingekleidete und begrabene Leiche.

Zum erstenmal ergriff sie richtiges Entsetzen vor dem, was ihr widerfahren war. Ach, wie schrecklich, wenn sie bedachte, daß sie in diesem Augenblick wirklich tot sein könnte! Sie hätte eine häßliche, der Verwesung anheimgefallene Leiche sein können! Sie war ins Grab gelegt worden, damit man Erde auf sie würfe, sie war nicht mehr wert als das Gras auf dem Felde; sie war ganz weggeworfen, Speise für die Würmer! Niemand weinte um sie, niemand!

In diesem großen Entsetzen sehnte sich Ingrid mit aller Macht nach der Gegenwart eines Menschen. Sie hatte den Geißbock auf den ersten Blick erkannt, sobald er den Kopf hervorgestreckt hatte. Er war ein alter Bekannter auf dem Pfarrhof, und sie fürchtete sich nicht ein bißchen vor ihm. Nun wollte sie ihn bei sich haben. Es war ihr ganz einerlei, daß er nur ein Narr war. Es war doch jedenfalls ein lebendiger Mensch. Sie wollte ihn so dicht bei sich haben, daß sie fühlen konnte, sie gehöre zu den Lebendigen und nicht zu den Toten.

»Ach, um Gottes Willen, komm' her zu mir!« sagte sie mit Tränen in der Stimme. Sie richtete sich im Sarge auf und streckte die Arme nach ihm aus.

Aber der Dalekarlier dachte nur an sich. Da sie ihn zu sich hinlocken wollte, beschloß er, ihr Bedingungen zu stellen.

»Ich komme, wenn Du Deiner Wege gehen willst,« sagte er.

Ingrid versuchte sogleich, ihm zu gehorchen, und wollte den Sarg verlassen, aber sie war so dicht in Bettücher, eingehüllt, daß sie sich nur mit Mühe erheben konnte.

»Du mußt kommen und mir helfen,« sagte sie.

Einesteils war sie gezwungen, dies zu ihm zu sagen, anderenteils tat sie es auch, weil sie so große Angst hatte, sie sei dem Tode in Wahrheit noch nicht entronnen. Sie mußte in der Nähe eines lebendigen Menschen sein.

Er kam auch wirklich, indem er sich zwischen dem Sarg und der einen Seite des Grabes durchzwängte. Er neigte sich über sie, hob sie aus dem Grabe und setzte sie auf den grünen Rasen neben der offenen Grube.

Ingrid konnte nicht anders – sie schlang beide Arme um seinen Hals, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und schluchzte. Später begriff sie gar nicht, wie sie es hatte tun können und daß sie keine Angst vor ihm gefühlt hatte. Es geschah teils aus Freude darüber, daß er ein Mensch war, ein lebendiger Mensch, teils aber auch aus Dankbarkeit, daß er sie gerettet hatte.

Lieber Gott, was wäre aus ihr geworden, wenn er nicht gewesen wäre! Er war es gewesen, der den Sargdeckel abgenommen, der sie dem Leben zurückgegeben hatte. Sie wußte ja nicht, wie alles zugegangen war, aber so viel war doch sicher, daß er den Sarg aufgemacht hatte. Was wäre aus ihr geworden, wenn er es nicht getan hätte! Dann wäre sie erwacht, eingesperrt in den schwarzen Sarg. Sie würde geklopft haben, gerufen. Aber wer hätte sie hören können, wenn sie sechs Fuß tief in der Erde lag? Ingrid wagte nicht, daran zu denken, sie zerfloß ganz in Dankbarkeit darüber, daß er sie gerettet hatte. Sie mußte jemand haben, dem sie danken konnte. Sie mußte ihren Kopf an eine menschliche Brust legen und weinen vor lauter Dankbarkeit.

Das Merkwürdigste von allem, was an diesem Tage geschah, war wohl, daß der Dalekarlier sie nicht zurückstieß. Aber er war sich nicht so ganz klar darüber, daß sie lebte. Er glaubte, sie sei tot, und wußte, daß es nicht ratsam sei, sich einem Toten zu widersetzen. Aber sobald es anging, machte er sich von ihr los und sprang in das Grab hinein. Er legte den Deckel wieder auf den Sarg, setzte die Schrauben ein und schraubte sie so fest wie vorher. Jetzt würde der Sarg wohl ganz stille bleiben und die Geige ihre Ruhe und ihre Melodien wieder bekommen.

Mittlerweile saß Ingrid im Gras und versuchte zu überlegen. Sie schaute zur Kirche hinüber und gewahrte die Pferde und Wagen an dem Kirchberg. Nun begann ihr der Zusammenhang klar zu werden. Es war Sonntag, man hatte sie am Morgen begraben, und nun waren die Leute in der Kirche.

Ingrid erschrak heftig. Der Gottesdienst war vielleicht bald vorbei, und dann kamen die Leute heraus und sahen sie. Und sie hatte ja nichts, gar nichts anderes an als ein Leichentuch. Sie war ja beinahe nackend. Wie entsetzlich, wenn so viele Menschen aus der Kirche kamen und sie so sahen! Diesen Anblick würden sie nie wieder vergessen. Und sie müßte sich ihr ganzes Leben lang darüber schämen.

Wo sollte sie nur Kleider herbekommen? Einen Augenblick dachte sie daran, den Pelz des Dalekarliers überzuwerfen, aber es kam ihr vor, als würde sie dadurch anderen Menschen doch nicht viel ähnlicher.

Rasch wandte sie sich an den Verrückten, der noch mit dem Sargdeckel beschäftigt war.

Und in demselben Augenblick war sie schon neben dem großen ledernen Sack, der Waren für eine ganze Marktbude enthielt, und begann ihn zu öffnen.

»Ach, komm und hilf mir!« rief sie.

Sie brauchte nicht vergebens zu bitten. Als der Dalekarlier sah, daß sie sich an seinem Sack zu schaffen machte, kam er schnell aus dem Grabe heraus.

»Bist Du an meinem Sack, Du!« fragte er drohend.

Ingrid merkte gar nicht, daß er in einem harten Tone mit ihr sprach; sie betrachtete ihn fortgesetzt als ihren besten Freund.

»Ach, lieber, guter Mann,« sagte sie, »hilf mir, daß nicht die Leute hierher kommen und mich sehen! Nimm Deine Waren heraus und verstecke sie an irgend einem Orte, mich aber laß in Deinen Sack kriechen und dann trage mich heim. Ach, tue es, bitte, bitte! Ich bin aus dem Pfarrhaus, und es ist nur eine kurze Strecke bis dorthin. Du weißt doch, wo es steht!«

Der Mann betrachtete sie mit einem vollständig ausdruckslosen Blick. Sie wußte nicht, ob er von dem, was sie sagte, ein einziges Wort verstand.

Sie wiederholte es, aber er machte keine Miene, ihr zu gehorchen.

Wieder begann sie die Sachen aus dem Sack herauszunehmen. Da stampfte er auf den Boden und riß den Sack an sich.

Ach Gott, wie konnte Ingrid ihn nur dazu bringen, ihr zu gehorchen?

Neben ihr im Gras lag eine Geige und ein Fidelbogen. Sie hob sie auf, sie wußte selbst nicht warum. Sie war wahrscheinlich soviel mit Geigenspielern zusammengewesen, daß sie es nicht sehen konnte, wenn eine Geige auf dem Boden lag.

Sobald sie die Geige anrührte, ließ er den Sack los und entriß sie ihr.

Er war offenbar ganz außer sich, daß sie die Geige berührt hatte, und sah sehr böse aus.

Was in aller Welt konnte sie nur ausfindig machen, daß sie von hier wegkam, ehe die Leute die Kirche verließen?

Sie begann ihm alles mögliche zu versprechen, wie man es bei Kindern macht, wenn man sie artig haben möchte.

»Ich will Vater bitten, Dir ein ganzes Dutzend Sensen abzukaufen, und wenn Du auf den Pfarrhof kommst, will ich alle Hunde einsperren. Ich will Mutter bitten, Dir eine gute Mahlzeit zu geben.«

Aber es war kein Anzeichen da, daß er nachgeben würde.

Da fiel ihr die Geige ein, und in ihrer Verzweiflung rief sie:

»Wenn Du mich ins Pfarrhaus trägst, will ich Dir vorspielen!«

Da endlich flog ein Lächeln über sein Gesicht. Das war es wohl, was er haben wollte.

»Den ganzen Nachmittag werde ich Dir vorspielen; ich spiele Dir, so lange Du willst.«

»Willst Du die Geige neue Melodien lehren?« fragte er.

»Ja, das will ich sicherlich.«

Aber in demselben Augenblick wurde Ingrid überrascht und beschämt zugleich, denn er griff heftig nach dem Sack und zog ihn weg. Er schleppte ihn über die Gräber hin; und die Pfennigkräuter und Amberstöcke, die auf ihnen wuchsen, wurden unter ihm zerdrückt wie unter einer Walze.

Er zog ihn zu einem Haufen von dürrem Laub und Reisig und verwelkten Blumensträußen, der neben der Kirchhofmauer lag. Hier nahm er alles heraus, was in dem Sack war, und versteckte es gut unter dem Reisig.

Als der Sack leer war, kam er damit zu Ingrid zurück.

»Nun kannst Du hineinsteigen,« sagte er.

Ingrid stieg hinein und kauerte auf dem Holzboden nieder. Der Mann schnallte alle Riemen eben so sorgfältig zu, wie wenn er mit seinen gewohnten Waren umherzog, dann duckte er sich nieder, daß er beinahe auf die Knie fiel, steckte die Arme durch die Tragriemen, schnallte zwei Riemen kreuzweis über die Brust und stand auf. Als er ein paar Schritte gegangen war, fing er an zu lachen. Er trug einen Sack auf dem Rücken, der so leicht war, daß er damit tanzen konnte.

Es war nicht mehr als eine Viertelmeile von der Kirche bis zum Pfarrhaus. Der Dalekarlier konnte den Weg in zwanzig Minuten zurücklegen. Ingrid wünschte nichts weiter, als daß er so rasch wie möglich gehe, damit sie vor den Kirchgängern und dem Trauergeleite daheim ankomme. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß so viele Leute sie sehen würden. Es wäre am besten, wenn sie nach Hause käme, solange niemand anders auf dem Hof war, als ihre Pflegemutter und die Mägde.

Ingrid hatte das Sträußchen von dem Myrthenbäumchen ihrer Pflegemutter aus dem Sarg mitgenommen. Sie freute sich so über diese Gabe, daß sie sie einmal ums andere küßte. Es brachte sie dazu, freundlicher an die Pflegemutter zu denken als zuvor. Aber natürlich hätte sie ohnedies auch mit freundlichem Sinn an sie gedacht. Wer eben aus dem Grabe zurückkehrt, denkt mit freundlichem Sinn an alles, was lebt und sich auf der Oberfläche der Erde bewegt.

Nun begriff sie so gut, daß die Pfarrfrau ihre eigenen Kinder lieber hatte als die Pflegetochter. Und wenn die Pfarrleute arm waren und nicht einmal ein Kindermädchen halten konnten, kam es ihr jetzt ganz selbstverständlich vor, daß sie die kleinen Geschwister hüten mußte. Und wenn die Geschwister nicht gut gegen sie waren, so kam es daher, daß sie gewohnt waren, Ingrid für eine Magd zu halten. Es war nicht leicht für die Kleinen, immer daran zu denken, daß sie als ihre Schwester im Pfarrhaus aufgenommen worden war.

Und alles in allem genommen, kam alles miteinander von der Armut her. Wenn der Vater einmal ein anderes Amt bekäme, wenn er Propst würde, oder doch wenigstens Pfarrer in einem Kirchspiel, dann würde alles gut werden. Dann würde es wohl wieder werden wie in der ersten Zeit, wo sie von allen geliebt worden war. Ach, es würde gewiß alles wieder wie früher! Ingrid küßte ihre Blumen. Mutter hatte vielleicht gar nicht hart sein wollen. Die Armut nur war es, die sie so merkwürdig böse machte.

Aber nun sollte es ihr auch ganz einerlei sein, wie man künftig gegen sie sein würde. In Zukunft sollte sie nichts mehr betrüben, denn nun würde sie immer froh sein, daß sie noch lebte. Und wenn es ihr wieder einmal so recht schwer ums Herz wurde, dann wollte sie nur an die Myrthen der Mutter und an die Kamilla des Brüderchens denken.

Es war schon Freude genug, daß sie hier lebendig davongetragen wurde. Am Morgen hätte niemand geglaubt, daß sie jemals wieder über diese Wege und Hügel zurückkommen würde! Und der duftende Klee, und die Vöglein, die sangen, und die schönen schattigen Bäume, all dies war zur Freude der Lebendigen da; all dies war nicht für sie dagewesen.

Aber wie gesagt, sie hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn in zwanzig Minuten war der alte Dalekarlier am Pfarrhof.

Niemand war daheim als die Pfarrerin und die Mägde, gerade wie Ingrid es sich gewünscht hatte. Die Pfarrfrau hatte den ganzen Vormittag viel zu tun gehabt, das Essen zum Leichenschmaus zu kochen. Nun erwartete sie die Gäste in kurzem, und es war alles so gut wie fertig. Sie war eben im Schlafzimmer und hatte ihr schwarzes Kleid angezogen.

Sie warf einen Blick auf den Weg nach der Kirche, aber es waren noch keine Wagen zu sehen. Da benützte sie die Zeit und ging noch einmal in die Küche, um das Essen zu kosten.

Sie war ganz befriedigt, denn alles war wohl geraten, und darüber muß man sich freuen, selbst wenn man in Trauer ist. In der Küche war nur eine Magd, und diese hatte die Pfarrerin aus ihrer eigenen Heimat mitgebracht, so daß sie nun dachte, mit ihr könne sie wohl vertraulich reden.

»Du, Lisa,« begann sie, »ich meine, mit solch einem Leichenschmaus kann jedermann zufrieden sein, wer es auch sein mag.«

»Ach, wenn sie doch auf die Erde herunterschauen, und sehen könnte, welche Ehre Sie ihr antun!« sagte Lisa. »Das würde sie freuen.«

»O,« sagte die Pfarrerin, »über mich würde sie sich doch nie freuen.«

»Nun ist sie tot,« sagte das Mädchen, »und ich bin nicht die, die über jemand, der kaum begraben ist, etwas sagt.«

»Ich habe von meinem Mann ihretwegen oft harte Worte hören müssen,« sagte die Pflegemutter.

Die Pfarrerin hatte das Verlangen, mit jemand über die Verstorbene zu sprechen. Ihr Gewissen hatte ihr Vorwürfe gemacht, und deshalb hatte sie eine so großartige Leichenfeier veranstaltet. Sie meinte, die Gewissensbisse könnten wohl aufhören, da sie sich ja jetzt so viele Mühe mit dem Begräbnis gegeben habe, aber das geschah trotzdem nicht. Und ihrem Mann schlug sein Gewissen auch; er sagte, das junge Mädchen habe es nicht so gehabt, wie eines ihrer eigenen Kinder, was sie doch versprochen hätten, als sie es adoptierten. Und er sagte, es wäre besser gewesen, wenn sie Ingrid gar nicht genommen hätten, da sie es doch nicht hätten vermeiden können, sie fühlen zu lassen, daß sie ihre eigenen Kinder lieber hatten als sie. – Und nun mußte die Pflegemutter mit jemand über das Mädchen reden, um zu hören, ob die Leute dächten, sie habe es schlecht behandelt.

Sie sah, daß Lisa plötzlich sehr heftig in einem Kochtopf zu rühren begann, als werde es ihr schwer, ihren Zorn zu unterdrücken. Lisa war eine kluge Magd, die gut verstand, wie sie sich bei der Hausfrau wohl dran machen konnte.

»Man sollte doch meinen,« begann Lisa, »wenn man eine Mutter hat, die immer für einen sorgt und aufpaßt, daß man gesund und rein ist, so könnte man ihr wohl gehorsam sein und ihr Freude machen. Und wenn man in einem guten Pfarrhause sein darf und zu etwas Besserem herangezogen wird, so sollte man versuchen, sich nützlich zu machen und nicht nur törichtes Zeug treiben und träumen. Ich möchte wohl wissen, wie es gegangen wäre, wenn Sie sich nicht um das arme Ding angenommen hätten. Sie wäre wahrscheinlich mit den Seiltänzern umhergezogen und hätte wie ein Landstreicher am Wege sterben müssen.«

Da trat ein Dalekarlier in den Hof, einer, der den Kramsack auf dem Rücken trug, obgleich es Sonntag war. Ganz ruhig kam er zu der offenen Küchentür herein und knickste, als er eintrat, obgleich niemand seinen Gruß erwiderte.

Die Hausfrau und die Magd sahen ihn zwar, aber als sie ihn erkannten, fanden sie es nicht der Mühe wert, ihr Gespräch zu unterbrechen.

Die Pfarrerin war sehr darauf aus, es fortzusetzen; sie merkte, daß sie gerade das zu hören bekommen würde, was ihr zur Erleichterung ihres Gewissens not tat.

»Es ist vielleicht ganz gut, daß sie fort ist,« sagte sie.

»Wissen Sie was, Frau Pfarrer,« sagte das Mädchen eifrig, »ich glaube, der Herr Pfarrer meint das auch, jedenfalls wird er es bald genug merken. Sie werden sehen, nun gibt es Frieden hier im Hause, und danach sehnt er sich sehr.«

»Ach ja,« sagte die Pflegemutter, »ich war ja gezwungen, etwas zurückzuhalten. Immer sollten Kleider für sie angeschafft werden, es war ganz schrecklich. Er hatte solche Angst, sie könne nicht ebenso viel bekommen wie die anderen, daß sie manchmal sogar mehr bekam. Und man brauchte so viel Stoff für sie, jetzt, wo sie erwachsen war,«

»Nun gibt die Frau Pfarrer wohl der Grete das Musselinkleid?«

»Ja, entweder der Grete, oder vielleicht behalte ich es auch selbst.«

»Sie hinterläßt nicht viel, die Aermste.«

»Niemand verlangt eine Erbschaft von ihr,« sagte die Pflegemutter. »Ich wäre froh, wenn ich mich an ein einziges gutes Wort von ihr erinnern könnte.«

Dies war nur so eine Redensart, wie man sie führt, wenn einen das Gewissen schlägt und man sich verteidigen möchte. Die Pflegemutter meinte gar nicht, was sie sagte.

Der Dalekarlier betrug sich genau so, wie wenn er kam, um zu handeln. Zuerst sah er sich eine Weile in der Küche um, schob dann ganz langsam den Sack auf einen Tisch und schnallte die Trag- und Schnürriemen auf. Hierauf schaute er sich noch einmal um, ob nicht ein Hund oder eine Katze in der Nähe sei, richtete sich dann auf und öffnete die beiden Lederklappen, die mit unzähligen Schnallen und Knoten zugemacht waren.

»Er braucht sich heute keine Mühe zu machen, seinen Sack zu öffnen,« sagte Lisa. »Es ist Sonntag, und da weiß er wohl, daß wir nichts kaufen.«

Aber sie kümmerte sich nicht weiter darum, daß der Verrückte fortfuhr, die Riemen zu lösen. Sie wandte sich an die Pfarrerin. Das war eine gute Gelegenheit für sie, sich bei der Herrin in Gunst zu setzen.

»Ich weiß nicht einmal, ob sie gegen die Kinder gut war. Recht oft hörte ich die im Kinderzimmer weinen und jammern.«

»Wie sie gegen die Mutter war, so war sie wohl auch gegen die Kinder,« sagte die Pfarrerin, »aber nun weinen sie natürlich, daß sie tot ist.«

»Sie verstehen ihren eigenen Vorteil nicht,« sagte die Magd, »aber die Frau Pfarrer kann ganz sicher sein, in einem Monat weint keines von ihnen mehr um die Tote.«

In demselben Augenblick wandten sich beide vom Herde ab und dem Tische zu, wo der Dalekarlier stand und den großen Sack öffnete. Sie hatten einen sonderbaren Laut gehört, etwas, das einem Seufzer oder einem Schluchzen glich. Der Mann machte eben das innerste Fach auf, und aus dem Sack erhob sich die eben begrabene Pflegetochter, genau so, wie man sie in den Sarg gelegt hatte.

Und doch sah sie sich auch wieder nicht ähnlich. Sie sah jetzt gewissermaßen viel mehr wie tot aus, als da sie in den Sarg gebettet wurde. Da hatte sie noch fast dieselbe Farbe gehabt wie bei Lebzeiten, nun aber war das Gesicht aschfahl, die Lippen blauschwarz, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

Sie sagte nichts, aber ihr Gesicht drückte die größte Verzweiflung aus, und das Myrtensträußchen, das sie von der Pflegemutter bekommen hatte, streckte sie dieser entgegen, flehend und abwehrend zugleich.

Das war kein Anblick, den Menschen aushalten konnten.

Die Pflegemutter fiel ohnmächtig zu Boden, die Magd blieb einen Augenblick wie gebannt stehen, starrte die Tochter und die Mutter an, schlug die Hände vors Gesicht und sprang in die Magdkammer neben der Küche und riegelte sich ein.

»Nein,« sagte sie, »mit mir hat sie nichts zu schaffen, da brauche ich nicht dabei zu sein.«

Aber Ingrid wandte sich zu dem Dalekarlier.

»Schließ' mich wieder in Deinen Sack hinein und trag' mich fort von hier! Hörst Du! Hörst Du wohl! Trag' mich fort von hier! Trag' mich wieder dahin, wo Du mich geholt hast!«

Zufällig warf der Dalekarlier jetzt einen Blick zum Fenster hinaus. Eine lange Reihe Wagen und Karren fuhr auf der Straße daher und bog in den Hof ein. Ach so! Na ja, dann wollte er nicht dableiben. Das gefiel ihm gar nicht.

Ingrid kroch wieder in dem Sack zusammen; sie sprach kein Wort mehr, sie schluchzte nur.

Die Klappen und Deckel wurden geschlossen; sie wurde wieder auf den Rücken genommen und fortgetragen. Die Gäste, die zum Leichenschmaus kamen, lachten über den Geißbock, der davonlief und vor jedem Pferd, an dem er vorüberkam, knickste.

 


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