Selma Lagerlöf
Eine Herrenhofsage
Selma Lagerlöf

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Siebentes Kapitel.

An einem Tag in der Woche nach Weihnachten saß Ingrid mit ihrem Stickrahmen am Fenster des kleinen Salons. Die gnädige Frau hatte auf dem Sofa Platz genommen und strickte, wie jetzt alle Tage. Tiefe Stille herrschte im Zimmer.

Der junge Hede war nun schon eine Woche zu Hause; aber während dieser ganzen Zeit war Ingrid nicht ein einziges Mal mit ihm zusammengetroffen. Auch daheim lebte er wie ein Bauer, schlief in der Knechtstube und aß in der Küche. Zu seiner Mutter kam er nie.

Ingrid fühlte wohl, daß sowohl die Bergrätin als auch Jungfer Stafva von ihr erwarteten, sie werde etwas für Hede tun oder ihn wenigstens bewegen, daheim auf Munkhyttan zu bleiben. Und sie grämte sich, daß es ihr nicht möglich war, diese Wünsche zu erfüllen. Sie war ganz verzweifelt über sich selbst und über die Machtlosigkeit, die sich ihrer bemächtigt hatte, seit ihre Hoffnungen zerstört worden waren.

Heute Morgen nun war Jungfer Stafva hereingekommen und hatte erzählt, daß der junge Herr packe und wieder fort wolle. Nun bleibe er nicht einmal so lange wie sonst bei seinen Weihnachtsbesuchen, hatte sie mit einem verzweifelten Blick auf Ingrid hinzugefügt.

Ingrid begriff sehr gut, was die beiden von ihr erwarteten, aber sie war nicht fähig, etwas zu tun. Sie stickte und stickte, ohne ein Wort zu sagen.

Jungfer Stafva ging, und die vorige Stille herrschte wieder im Zimmer. Ingrid vergaß ganz, daß sie nicht allein war, und plötzlich überkam sie eine Art Traumzustand, in dem sich alle ihre traurigen Gedanken zu einem Phantasiebild gestalteten.

Im Geiste sah sie sich durch das ganze große Wohnhaus wandern. Sie kam durch eine Menge Säle und Zimmer. Ueberall waren die Möbel mit grauleinenen Ueberzügen bedeckt, die Bilder und Kronleuchter mit Flor behängt, und auf den Fußböden lag dicker Staub, der aufwirbelte, wenn sie durch die Zimmer schritt. Zuletzt aber kam sie in ein Gemach, wo sie noch nie gewesen war; es war ein ganz kleines Stübchen, dessen Wände und Decke schwarz waren. Als sie jedoch genauer hinsah, entdeckte sie, daß es nicht schwarz gemalt und auch nicht mit schwarzem Stoff ausgeschlagen war, sondern daß es so dunkel aussah, weil an der Decke und an den Wänden eine Fledermaus neben der anderen hing; das ganze Zimmer war nichts anderes als ein riesiges Fledermausnest. An einem Fenster fehlte eine Scheibe, so daß man verstehen konnte, wie die Tiere in einer so unglaublichen Menge hereingekommen waren, daß sie das ganze Zimmer bedeckten. Im starren Winterschlaf hingen sie da; nicht eine rührte sich, als Ingrid eintrat.

Sie selbst aber wurde von furchtbarem Entsetzen erfaßt; sie zitterte und bebte am ganzen Körper. Diese Masse von Tieren, die sie so deutlich da hängen sah, war fürchterlich. Alle hatten die schwarzen Flügel wie Mäntel um sich geschlagen, alle hingen, nur mit einer langen Kralle festgehakt, in bleiernem Schlaf an den Wänden.

Sie sah es so deutlich, daß sie sich fragte, ob denn Jungfer Stafva auch wisse, daß ein ganzes Zimmer von den Fledermäusen in Beschlag genommen war.

Und im Geiste ging sie nun zu Jungfer Stafva und fragte diese, ob sie auch schon in dem kleinen Zimmer gewesen sei und alle die Tiere gesehen habe.

»Natürlich habe ich sie gesehen,« antwortete Jungfer Stafva, »das ist ihre Stube. Sie wissen doch wohl, Fräulein Ingrid, daß es hier zu Lande nicht einen Herrenhof gibt, wo nicht ein Zimmer den Fledermäusen überlassen wird?«

»Das habe ich noch nie gehört,« sagte Ingrid.

»Ja, wenn Sie einmal so lange auf der Welt sind wie ich, dann werden Sie einsehen, daß ich die Wahrheit gesprochen habe,« sagte Jungfer Stafva.

»Ich begreife nicht, wie man so etwas erträgt,« sagte Ingrid.

»Wir müssen es ertragen,« sagte Jungfer Stafva, »diese Fledermäuse sind die Vögel der Frau Sorge, und sie hat uns befohlen, sie bei uns aufzunehmen.«

Ingrid sah, daß Jungfer Stafva nicht weiter über die Sache reden wollte und setzte sich wieder an ihre Stickerei; immerfort aber mußte sie darüber nachdenken, wer diese Frau Sorge sein könne, die eine so große Macht hier hatte, daß sie Jungfer Stafva zwang, den Fledermäusen ein ganzes Zimmer zu überlassen.

Wie sie nun so tief in diese Gedanken versunken war, sah sie einen schwarzen, von schwarzen Pferden gezogenen Schlitten vor der Freitreppe anfahren.

Sie sah Jungfer Stafva heraustreten und sich tief verneigen. Aus den: Schlitten stieg eine alte Dame in einem langen, schwarzen Samtmantel mit vielen kurzen Kragen übereinander. Sie war buckelig und das Gehen wurde ihr schwer; kaum konnte sie die Füße so hoch heben, um die Stufen emporzusteigen.

»Ingrid,« sagte nun die Frau Bergrätin und sah von ihrem Strickzeug auf. »Ich glaube, ich höre Frau Sorge kommen. Es muß ihre Glocke sein, die klingelte. Hast Du bemerkt, daß ihre Pferde nie ein Schellengeläute haben, sondern nur eine kleine Glocke? Aber man hört sie, man hört sie. Geh nun auf den Flur hinaus und begrüße Frau Sorge.«

Als Ingrid in den Flur hinaus kam, stand Frau Sorge auf der Veranda und sprach mit Jungfer Stafva; keines von ihnen hörte sie kommen.

Mit Verwunderung sah Ingrid, daß die buckelige, alte Dame unter ihren vielen Kragen etwas versteckt hatte, das einem Trauerflor ähnlich sah. Es war sehr gut zusammengerafft und verdeckt, und erst nach längerem Hinschauen entdeckte das junge Mädchen, daß es zwei große Fledermausflügel waren, die sie auf diese Weise zu verstecken suchte. Da wurde Ingrid noch neugieriger auf Frau Sorge als vorher, und sie versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, aber es war ihr nicht möglich, weil Frau Sorge in den Hof hinausschaute. Als sie jedoch gleich darauf die Hand nach Jungfer Stafva ausstreckte, sah Ingrid doch, daß der eine Finger daran viel länger war als die anderen, und daß er an der Spitze eine große, gebogene Kralle hatte.

»Auf dem Hofe ist alles unverändert?« fragte sie.

»Ja, gnädige Frau Sorge,« antwortete Jungfer Stafva.

»Ihr habt keine Blumen gepflanzt und keine Bäume versetzt? Ihr habt die Brücke nicht hergestellt und das Unkraut in der Allee nicht entfernt?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Es ist ganz so, wie es sein soll,« sagte die gnädige Frau. »Ihr habt doch auch nicht gewagt, nach neuen Erzadern zu suchen oder den Wald umzuhauen, der in die Aecker hineinwächst?«

»Nein, gnädige Frau!«

»Und nicht die Brunnen gereinigt?«

»Nein, nicht die Brunnen gereinigt.«

»Das ist ein guter Platz,« sagte Frau Sorge, »hier geht es mir gut. In einigen Jahren wird es hier so aussehen, daß meine Vögel im ganzen Hause wohnen können. Ihr seid recht gut gegen meine Vögel, Jungfer Stafva.«

Jungfer Stafva knickste untertänig bei diesem Lob.

»Wie steht es sonst auf dem Hof?« fragte Frau Sorge. »Wie habt Ihr Weihnachten gefeiert?«

»Wir haben Weihnachten gefeiert wie sonst,« sagte Jungfer Stafva. »Die gnädige Frau sitzt drin und strickt tagaus, tagein, denkt an nichts als an ihren Sohn und weiß nicht, daß es Festzeit ist. Den heiligen Abend haben wir vorbeigehen lassen wie jeden anderen Tag; keine Geschenke, keine Lichter.«

»Keinen Baum, kein Weihnachtsmahl?«

»Und auch keinen Kirchgang, gnädige Frau, nicht einmal Kerzen an den Fenstern am Weihnachtsmorgen.«

»Warum sollte die Frau Bergrat Gottes Sohn feiern, wenn Gott ihren Sohn nicht gesund machen will?« sagte Frau Sorge.

»Nein, warum sollte sie?«

»Ich denke, Ihr habt ihn jetzt wieder zu Hause. Vielleicht geht es ihm besser?«

»Nein, es geht ihm nicht besser; er ist noch ebenso verschüchtert.«

»Lebt er noch immer wie ein Bauer? Geht er nicht in die Zimmer hinein?«

»Wir können ihn nicht dazu bewegen, die Zimmer zu betreten; wie die gnädige Frau weiß, fürchtet er sich vor der Frau Bergrat.«

»Er ißt in der Küche und schläft in der Knechtstube?«

»Ja, gnädige Frau Sorge.«

»Und Ihr wißt nichts, gar nichts, was ihn gesund machen könnte?«

»Wir wissen nichts, wir verstehen nichts.«

Frau Sorge schwieg einen Augenblick; als sie wieder zu sprechen begann, hatte ihre Stimme einen scharfen und harten Ton.

»Das alles mag ja recht schön und gut sein, Jungfer Stafva, aber ich bin doch nicht recht zufrieden mit Euch.«

Zugleich wandte sie sich um und sah Ingrid scharf an.

Ingrid zuckte zusammen. Frau Sorge hatte ein kleines, runzliges Gesicht, das unten so zusammengedrückt war, daß der Unterkiefer kaum sichtbar wurde. Ihre Zähne glichen den Spitzen einer Säge, und auf der Oberlippe hatte sie dichtes Haar. Die Augenbrauen bestanden aus einem einzigen Haarbüschel. Ihre Haut war ganz braun.

Ingrid fragte sich, ob denn Jungfer Stafva nicht sehen könne, was sie sah. Frau Sorge war kein Mensch, sie war nur ein Tier!

Als Frau Sorge Ingrid sah, öffnete sie die Lippen, so daß die Zähne hervorschimmerten,

»Als dieses Mädchen hierherkam,« sagte sie zu Jungfer Stafva, »da glaubtet Ihr, sie sei Euch von Gott gesandt. Ihr glaubtet, in ihren Augen lesen zu können, daß Gott sie gesandt habe, um ihn zu retten. Sie hatte die Gabe, mit Irrsinnigen umzugehen. Nun, wie ist es gegangen?«

»Gar nicht ist es gegangen. Sie hat nichts getan.«

»Nein, dafür habe ich gesorgt,« sagte Frau Sorge. »Mein Verdienst ist es, daß ihr nicht gesagt wurde, warum sie hier bleiben durfte. Hätte sie es gewußt, dann hätte sie sich nicht mit so rosigen Hoffnungen getragen, den hier zu sehen, den sie liebt. Hätte sie sich keine Hoffnungen gemacht, wäre sie nicht so entsetzlich enttäuscht worden. Hätte die Enttäuschung sie nicht gelähmt, dann hätte sie vielleicht doch etwas für den Verrückten tun können. Aber nun hat sie ihn gar nicht angesehen. Sie haßt ihn, weil er nicht der ist, der er sein sollte. Das ist mein Werk, Jungfer Stafva, mein Werk.«

»Die gnädige Frau versteht ihre Sache,« sagte Jungfer Stafva.

Frau Sorge zog ihr Spitzentaschentuch hervor und wischte sich die rot umränderten Augen. Dies schien eine Bewegung der Freude zu sein.

»O, sie braucht sich gar nicht zu verstellen, Jungfer Stafva,« sagte Frau Sorge. »Es gefällt ihr ja doch nicht, daß ich das Zimmer für meine Vögel genommen habe, und es gefällt ihr auch nicht, daß bald das ganze Haus mir gehören wird. Das weiß ich recht gut; Sie und Ihre Frau hatten die Absicht, mich zu betrügen. Aber das ist nun vorbei!«

»Ja,« sagte Jungfer Stafva, »die gnädige Frau kann ganz ruhig sein. Das ist vorbei. Der junge Herr geht heute fort. Er hat schon gepackt, und dann wissen wir, daß er nicht länger bleiben wird. Alles, was die gnädige Frau und ich den ganzen Herbst über geträumt haben, ist vorbei. Nichts ist geschehen. Wir glaubten, sie würde ihn wenigstens so weit bringen, daß er daheim bliebe, aber trotz allem Guten, daß wir ihr erwiesen haben, hat sie nichts für uns getan.«

»Ja, sie ist eine schlechte Hülfe gewesen,« sagte Frau Sorge. »Aber jedenfalls muß sie jetzt fort. Und darüber will ich selbst mit der gnädigen Frau sprechen.«

Frau Sorge begann sich auf ihren wackelnden Beinen die Treppe nach dem oberen Stockwerk hinaufzuschleppen. Bei jeder Stufe hob sie die Flügel ein wenig, als ob ihr das eine Hülfe wäre. Sie wäre offenbar viel lieber geflogen.

Ingrid folgte ihr. Auf ganz merkwürdige Weise fühlte sie sich angezogen und bedrückt. Und wenn es das schönste Weib der Erde gewesen wäre, so hätte sie keine solch unwiderstehliche Lust verspüren können, ihr zu folgen.

Als Ingrid in den kleinen Salon trat, saß Frau Sorge schon neben der Bergrätin auf dem Sofa und flüsterte vertraulich mit ihr, als ob sie ganz gute Freunde wären.

»Du wirst wohl selbst einsehen, daß Du sie nicht länger hier behalten kannst,« sagte Frau Sorge eindringlich, »Du, die nicht eine einzige Blume in ihrem Garten blühen sehen kann, wirst auch kein junges Mädchen hier im Hause haben mögen. Etwas Freude und Munterkeit bringt es doch immer mit sich, aber das ist doch nichts für Dich!«

»Nein, ich habe gerade auch darüber nachgedacht.«

»Verschaffe ihr eine Stelle als Gesellschafterin, aber behalte sie nicht hier.«

Hierauf stand Frau Sorge auf, um sich zu verabschieden.

»Also das war es, was ich mit Dir besprechen wollte,« sagte sie. »Wie geht es Dir sonst?«

»Messer und scharfe Klingen wühlen den ganzen Tag in meinem Herzen,« antwortete die Bergrätin. »Ich lebe nur in ihm, so lange er zu Hause ist. Es ist schlimmer als gewöhnlich, viel schlimmer diesmal. Lange kann ich es nicht mehr so aushalten – – –«

Ingrid sprang auf, die Glocke der Bergrätin klingelte. Sie hatte so lebhaft phantasiert, daß sie ganz verwundert war, als sie die gnädige Frau allein fand und den schwarzen Schlitten nicht unten vor der Türe sah.

Die gnädige Frau hatte Jungfer Stafva geklingelt, aber diese kam nicht. Da bat sie Ingrid, hinunter in deren Zimmer zu gehen und sie zu rufen.

Ingrid ging, aber das blaue Stübchen war leer. Nun wollte das junge Mädchen in die Küche gehen, um zu fragen, wo Jungfer Stafva sei, aber noch ehe sie die Türe öffnete, hörte sie Hede sprechen. Sie blieb stehen, sie konnte sich nicht überwinden, ihn zu sehen.

Sie versuchte aber doch, sich zu überwinden. Er konnte doch nichts dafür, daß er nicht der war, den sie erwartet hatte. Sie müßte versuchen, etwas für ihn zu tun. Sie müßte ihn überreden, zu Hause zu bleiben. Früher hatte sie doch keinen solchen Widerwillen gegen ihn empfunden. Er war ja gar nicht so gefährlich.

Sie bückte sich und schaute durchs Schlüsselloch.

Hede saß am Tisch und aß. Es war hier wie überall. Die Mägde trieben allerlei Kurzweil mit ihm, um sich an seinen sonderbaren Reden zu ergötzen.

Sie fragten ihn, wen er heiraten wolle.

Hede lächelte, er liebte es sehr, nach dergleichen gefragt zu werden.

»Sie heißt Grablilie, weißt Du das nicht?« sagte er.

Nein, die Magd wußte nicht, daß die Braut einen so schönen Namen hatte.

»Na, wo ist sie denn zu Hause?«

»Sie hat kein Heim, und sie hat auch keinen Hof« sagte Hede. »Sie ist in meinem Sack zu Hause.«

Die Magd sagte, das sei ja ein gutes Heim, und fragte dann nach ihren Eltern.

»Sie hat nicht Vater und hat nicht Mutter,« versicherte Hede. »Sie ist so schön wie eine Blume, sie ist in einem Garten aufgewachsen.«

All dies sagte er mit annähernder Klarheit; aber dann versuchte er zu beschreiben, wie hold seine Braut sei, und da wollte es nicht mehr gehen. Er sagte eine Menge Worte; diese waren aber sonderbar durcheinander gemischt, daß man seinem Gedankengang nicht mehr folgen konnte, obgleich ihm selbst dieses Sprechen offenbar großes Vergnügen machte; er saß strahlend da und sah ganz vergnügt aus.

Ingrid stürzte fort. Sie konnte das nicht mit ansehen, und sie konnte auch nichts für ihn tun. Sie fürchtete sich vor ihm, er war ihr widerwärtig.

Aber sie war kaum auf der Treppe, da fühlte sie auch schon Gewissensbisse. Hier hatte sie so viel Gutes genossen, und sie selbst wollte nichts dafür tun.

Um ihren Widerwillen zu überwinden, versuchte sie in Gedanken, Hede in einen vornehmen Herrn zu verwandeln. Wie hatte er wohl früher in feinen Kleidern mit zurückgestrichenem Haar ausgesehen? Sie schloß einen Augenblick die Augen und dachte nach. Nein, es war nicht möglich. Sie konnte sich ihn nicht anders vorstellen, als er war.

Plötzlich sah sie die Umrisse eines geliebten Gesichts neben sich. Wunderbar deutlich tauchte es an ihrer linken Seite auf.

Aber diesmal lächelte das Gesicht nicht. Die Lippen bebten wie im Schmerz, und ein unaussprechliches Leid drückte sich in den scharfen Linien um den Mund aus.

Ingrid blieb mitten auf der Treppe stehen und starrte auf die Erscheinung. Sie war da, schwebend und leicht, ebensowenig zu fassen und festzuhalten wie ein. Sonnenstrahl, der durch das geschliffene Glas eines Kronleuchters fällt, aber ebenso sichtbar, ebenso wirklich. Sie dachte an das Phantasiebild, das sie vorhin gehabt hatte; aber dies war anders. Dies war Wirklichkeit.

Als sie das Gesicht eine Weile betrachtet hatte, begannen die Lippen sich zu bewegen; sie sprachen, aber sie hörte keinen Laut. Da versuchte Ingrid, zu sehen, was sie sagten, sie versuchte, die Worte von den Lippen abzulesen, wie die Taubstummen es machen, und es gelang ihr.

»Laß mich nicht gehen!« sagten die Lippen. »Laß mich nicht gehen!«

Und mit welcher Angst dies gesagt wurde! Wäre ihr jemand zu Füßen gefallen und hätte um sein Leben gefleht, es hätte sie nicht tiefer erschüttern können! Sie zitterte vor Aufregung. Das war herzzerreißender als alles, was sie je in ihrem Leben gehört hatte. Sie hätte nie geglaubt, daß jemand mit solch entsetzlicher Angst bitten könne.

Wieder und wieder flehten die Lippen: »Laß mich nicht gehen!« Und jedesmal wurde die Angst größer und größer.

Ingrid verstand es nicht, blieb aber von unbeschreiblichem Mitleid ergriffen auf der Treppe stehen.

Sie fühlte, daß es sich für den, der so bat, um mehr handeln müsse als um das Leben; der Rettung der Seele mußte es gelten.

Jetzt bewegten sich die Lippen nicht mehr; sie standen halb offen in schlaffer Verzweiflung.

Als sie diesen Ausdruck von Schlaffheit annahmen, stieß Ingrid einen Schrei aus und taumelte ein paar Stufen hinunter. Sie hatte das Gesicht des Verrückten erkannt, so wie sie es eben gesehen hatte.

»Nein, nein, nein!« rief sie. »Das kann nicht sein! Es darf nicht, es kann nicht sein! Es ist unmöglich, daß er es ist!«

Da war das Gesicht verschwunden.

Wohl eine Stunde lang saß Ingrid auf der kalten Treppe und weinte in hülfloser Verzweiflung. Aber schließlich erwachte doch die Hoffnung wieder in ihr, helle, trostbringende Hoffnung. Sie bekam wieder Mut, den Kopf aufzurichten.

Alles, was geschehen war, schien darauf hinzudeuten, daß es in ihrer Macht liege, ihn zu retten. Um seinetwillen war sie hierher geführt worden, ihr sollte das große, große Glück zu teil werden, ihn zu retten.

– – – Drinnen im kleinen Salon sprach die gnädige Frau mit Jungfer Stafva. Es klang zum Herzbrechen, wie sie die Haushälterin anflehte, doch den Sohn zu überreden, noch einige Tage dazubleiben.

Aber Jungfer Stafva sträubte sich.

»Bitten kann man ihn, soviel man will,« sagte sie, »aber die gnädige Frau weiß doch, daß ihn niemand zum Bleiben bewegen kann, wenn er nicht will.«

»Wir haben ja Geld genug. Er braucht ja gar nicht mehr fortzugehen. Können Sie ihm das nicht sagen, Jungfer Stafva?«

Da trat Ingrid ein; lautlos hatte sie die Türe geöffnet, und mit leichtem, schwebendem Gang glitt sie leise durchs Zimmer. Ihre Augen strahlten, als sähen sie etwas Herrliches, weit in der Ferne.

Als die Frau Bergrat sie sah, runzelte sie ein wenig die Stirne. Die Lust, nun auch ihrerseits grausam zu sein und auch Schmerz zu bereiten, ergriff sie.

»Ingrid,« sagte sie, »komm her, ich muß wegen Deiner Zukunft mit Dir sprechen.«

»Wegen meiner Zukunft,« erwiderte Ingrid und strich sich über die Stirne. »Meine Zukunft ist ja schon bestimmt,« fuhr sie mit einem leichten Märtyrerlächeln fort.

Und ohne noch ein Wort hinzuzufügen, verließ sie das Zimmer.

Die Bergrätin und Jungfer Stafva sahen sich erstaunt an. Sie begannen zu beratschlagen, wohin das Mädchen geschickt werden könnte.

Als aber Jungfer Stafva in ihr Zimmer hinunterkam, saß Ingrid darin. Sie sang kleine Lieder und klimperte dabei auf der Guitarre. Und ihr gegenüber saß Hede und hörte zu, das ganze Gesicht wie vom Sonnenschein verklärt.

 


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