Isolde Kurz
Vanadis
Isolde Kurz

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Fünftes Kapitel. Peregrina und Perdita

In den Ausstellungsräumen des Pariser Salons fiel eine schlanke blonde Dame in erlesener Halbtrauer auf, die mit großer Ausdauer Saal um Saal musterte, viele Bilder rasch übergehend, bei anderen lange und gründlich verweilend. Sie konnte nicht mehr sehr jung sein, aber ein ganz persönliches Etwas, das ihrer verblaßten Schönheit eigen war und das sich bis in den gewählten Geschmack der Kleidung fortsetzte, zog auch die verwöhntesten Augen auf sich. Sie ging ruhig vor sich hin, die Blicke weder suchend noch scheuend, und man sah ihr an, daß sie auch mitten im Gewühl mit sich allein war. Ihre tiefste Aufmerksamkeit widmete sie den Werken eines noch neuen Künstlers, die über verschiedene Säle verstreut hingen, teils Bildnisköpfe von rücksichtsloser Wahrheitsliebe, teils freie Schöpfungen einer überströmenden Einbildungskraft: Jagd- und Piratenszenen, nackte Männer mit Tieren kämpfend und dergleichen, alles mächtig in der Bewegung bei gelegentlichen Verzeichnungen, mit denen ein alle Teile durchströmender Ausdruckswille versöhnte. Diese Bilder trugen sämtlich die Unterschrift »R. Solm«, ein Name, der seit einiger Zeit etwas zu bedeuten begann und der von der öffentlichen Meinung mit dem jüngeren Künstlerkreis um Rodin in Beziehung gebracht wurde, obgleich sein Träger sich persönlich ganz im Dunkel hielt. Ein wortkarger Sonderling sollte er sein mit einer abenteuerlichen Vergangenheit und tätowiert wie ein Wilder. Aus den Bildern, die mit seinem Namen gezeichnet waren und die durch herbe Kraft fesselten, fiel eines sowohl durch den zarteren Gegenstand wie durch eine besondere Feinheit der Empfindung heraus: eine zu Tod verwundete Amazone, die ein junger Krieger leidvoll in den Armen aufrichtet. Im Katalog trug diese Nummer in deutscher Sprache die Bezeichnung »Der trauernde Sieger«, die auch noch in lateinischer Umschreibung wiedergegeben war: »Victoria victori amara«. Vor diesem Bild stand die Frau in Trauer am längsten und gab damit andern Beschauern Gelegenheit, zwischen dem gemalten Gesicht und dem lebendigen eine gewisse Ähnlichkeit zu entdecken, soweit ein jugendlich schöner Mädchenkopf dem einer gereiften, durch viele Schicksale gegangenen Frau noch gleichen kann. Niemand wußte besser als die Frau selber, wie ähnlich er einst gewesen, nachdem sein Urheber ihn dieser seiner geliebtesten Schöpfung zum zweitenmal eingefügt, deren ersten Entwurf er in der Wut verstümmelt hatte. Das Bild selbst, das in seiner frühsten noch rohen Gestalt schon des alten Böcklin Wohlgefallen erregt hatte, war mit dem wachsenden Können des Künstlers wiederholt vernichtet und immer neugeschaffen worden, bis es jetzt weit über die erste Anlage hinaus in die Sphäre der großen Kunst emporgewachsen war, doch der Kopf war der gleiche geblieben. Seine lebende Trägerin aber fühlte es tief und stark, daß sie nicht die gleiche geblieben war. Beim Eintritt in die Halle hatte sie im Flug erhascht, was ein junger Mann zu einem anderen sagte: »Regarde cette femme, elle est belle«, und die Antwort: »Elle l'a été.« Jawohl, sie war es gewesen. Es fiel ihr ein, wie sie des öfteren in ihrer strahlenden Jugend den Tag herbeigewünscht hatte, wo sie sich würde unauffälliger und freier bewegen können, nicht mehr belästigt von der zudringlichen Aufmerksamkeit der Männerwelt. Jetzt bedurfte sie keines Beschützers mehr, sie konnte in Paris umhergehen, ohne Gefahr, verschleppt zu werden. Sie war eine verblühte Frau. Ein schmaler weißer Streif zog sich durch ihre dunkler gewordenen Haare, nicht wie bei Corinna über den Scheitel hin, sondern seitlich am linken Ohr vorbei. Er legte sich mit schönem Schwung und stand ihr gut, aber er sprach von Tagen, die gewesen. Ja, eine verblühte Frau, die nichts hinterließ, kein Kind, keine Schöpfung. Und der Mann, der ihr nie hätte gehören dürfen, gehörte einer anderen.

Dieses Bild barg noch eine verhängnisvolle Erinnerung. Es war in seinem zweiten Entwurf Zeuge gewesen, wie Roderichs ungestümer Empfang ihr mit der scharfen metallenen Kante seiner Zigarrendose den schmerzhaften Stoß beibrachte, wovon sie längere Zeit das Mal an der Brust trug. Durch Monde war es die empfindliche Stelle geblieben, woran sie sich am leichtesten stieß. Später bildete sich da, wo es gewesen, ein Knötchen, das ihren Freund Bonanno zu dem Rat veranlaßte, das fremde Wachstum zu größerer Sicherheit durch einen mäßigen Eingriff entfernen zu lassen und damit jeder Besorgnis vorzubeugen. Aber sie schauderte davor zurück, das köstliche Kleinod ihrer Weibesschönheit, das schon Corinnas Auge begeistert hatte und vor dem ihr Liebender und Schaffender immer aufs neue in Andacht auf den Knien lag, auch nur in einer Linie entstellt zu wissen. Unberührt, wie es sich unter dem Schnee ihres reinen Lebens erhalten hatte, wollte sie es für seinen Pinsel, seinen Griffel bewahren. Zu ihrer und Bonannos Erleichterung verschwand die Geschwulst nach einiger Zeit von selber. Aber nach Jahren, ganz unerwartet, trat sie an der gleichen Stelle und in viel bedrohlicherer Form aufs neue hervor, ob noch in Zusammenhang mit jenem Stoß, war ungewiß. Jetzt hinderte kein Glücksverlangen und kein Künstlerbedürfnis das gründliche Eingreifen des Messers, wohl aber der trostlose Zustand ihres Gatten, an dessen Seite auszuharren ihr Gefühl sie trieb. Trotz allem Dringen der Ärzte konnte sie sich nicht entschließen, ihn unter einem Vorwand auf Wochen zu verlassen oder seiner zärtlichen Angst den wahren Anlaß zu verraten, denn sie mußte ja fast mit Sicherheit darauf rechnen, bei der Heimkehr ein Grab zu finden. Sie hielt aus, bis sein langsames Sterben, das weit über die von den Ärzten ihm gesetzte Frist hinaus dauerte, vollbracht war. Unmittelbar von seiner Bahre weg begab sie sich in die Klinik und unterwarf sich der damals noch gefährlichen Operation. Sie erholte sich aber rasch, eine längere Seereise stellte die gesunkenen Kräfte wieder her. Niemand sah dem wohlgeformten, biegsamen Wuchs die Beraubung an. Aber vor sich selbst war sie eine Gezeichnete. Zu lange gewohnt, das Ebenmaß ihrer Formen als Teil und Ausdruck ihres Ichs zu empfinden, war ihr die Vorstellung unerträglich, mit solchem Makel jemals noch vor dem Aug eines Liebenden, geschweige eines Künstlers, zu stehen. Zur Zeit ihrer ersten Befürchtungen hatte sie einmal angesichts der sterbenden Amazone deren Urheber prüfend ausgehorcht, warum die kriegerischen Frauen von der alten Kunst niemals mit dem Mangel dargestellt worden seien, den Poesie und Mythe ihnen zuschrieben, und er hatte geantwortet, daß was im Wort erträglich, dem Auge unerträglich sein würde, es hätten ja sogar die christlichen Maler an ihren Märtyrerinnen die grausame Entstellung nur im Symbol zu zeigen gewagt. Dieses Wort gewann einen Einfluß auf ihr ganzes Leben. Im Schmerz um das zerstörte Wunderwerk ihres Leibes wies sie alle Bewerber, die sich nähern wollten, von Anfang an von sich, indem sie vorgab, Witwe bleiben zu wollen. Um diese Absicht auch äußerlich kundzutun, behielt sie die Trauerkleidung, wenn schon mit lichteren Zutaten, auch über die Trauerzeit hinaus bei und trug die zusammengeschmiedeten Eheringe an der Hand. Die reiche Witwe, für die sie galt, war sie freilich nicht. Casteldimonte war verkauft, der Erlös zum größten Teil unter dem Anstrich eines väterlichen Erbes an Roderich überwiesen, der nie erfuhr, wie es in Wirklichkeit um dieses Vermächtnis bestellt war. Als danach alle Rückstände beglichen und alle Legate ausbezahlt waren, blieb ihr gerade so viel, um unabhängig und sorgenfrei, aber nicht glänzend zu leben. Und nun mußte sie sich einen Lebenszweck suchen. Sie bereiste mit einer Gesellschafterin, die gute Kenntnisse hatte und unerschrocken war, fremde Länder, nicht nur wie zu Egons Zeiten als ästhetische Genießerin und Zuschauerin, sondern um Lichtbilder aufzunehmen, Sagen und Volkslieder zu sammeln, auch in fremde Sitten und Anschauungen tiefer einzudringen. Diese Studien dachte sie später einmal der Öffentlichkeit zu übergeben. Da machte sie plötzlich die unliebsame Entdeckung, daß das alte Leiden sich wieder regte. Auf diese Möglichkeit hatte man sie schon seinerzeit in der Klinik aufmerksam gemacht und ihr sorgsame Überwachung anbefohlen. Sie befand sich eben auf einer der Balearen, als dieser Schreck sie anfiel. Mit dem nächsten Dampfer reiste sie nach Europa. Aber in Florenz erfuhr sie, daß der verdiente und tüchtige Mann, dessen Händen sie sich damals anvertraut hatte und zu dem sie wieder ihre Zuflucht zu nehmen dachte, unterdessen gestorben, seine Privatklinik geschlossen sei. Jetzt riet ihr der ehemalige Hausarzt von Casteldimonte, sich an den ersten Pariser Kliniker, einen Mann von Weltruf, zu wenden. So war sie in die Hauptstadt Frankreichs gekommen. Aber der große Diagnostiker war eben zu einer Konsultation nach auswärts berufen und wurde erst in zwei Tagen zurückerwartet. Diese Frist benutzte sie, um noch einmal im Louvre die Augen voll zu nehmen, einer Vorstellung im théâtre français beizuwohnen und die diesjährige Kunstausstellung zu besuchen. Dem Drang, Roderich wiederzusehen, hatte sie widerstanden, um nicht bei sich und ihm alte Wunden aufzureißen. Denn daß er sie nicht vergessen hatte, wußte sie ohne äußere Mitteilung durch innerste Gewißheit. Und hier das stumme Bild bestätigte die Aussage ihres eigenen Herzens.

Ein feingekleideter Herr redete sie an. Die gnädige Frau müsse eine tiefe Kennerin sein, daß sie, wie er bemerkt habe, gerade die Werke dieses Künstlers bevorzuge, der in der Tat alle anderen Aussteller an Naturkraft und an Größe des Wollens übertreffe und der allein von allen die Anwartschaft zu haben scheine, daß seine Bilder in das kommende Jahrhundert hinüber dauern würden. Das schnelle Aufleuchten ihres Gesichts mochte dem Sprecher Anlaß sein, daß er fortfuhr, sich noch weiter über die Eigenheiten dieses ihm so hochstehenden Künstlers zu verbreiten. Er setzte der Hörerin auseinander, was sie sich schon selber sagte: daß die von manchem Beschauer gerügten gelegentlichen Unrichtigkeiten wie ein zu langer Oberschenkel oder dergleichen nicht etwa Ungeschick seien, das man einem so vorzüglichen Aktzeichner nicht zutrauen könne, sondern aus der echt künstlerischen Überzeugung entsprungen, daß man unter Umständen den Mut haben müsse, im einzelnen zu fehlen um der richtigen Wirkung des Ganzen willen. Schade sei nur, daß man diesem begabten jungen Mann nicht ein eigenes Kabinett eingeräumt habe. Verzaubert hörte sie das Lob des ihr noch immer teuren Mannes aus dem fremden Munde, ohne freilich zu ahnen, daß sie mit einem Kunsthändler sprach, der verschiedene Solmsche Werke angekauft hatte und, in ihr nicht nur eine Kennerin, sondern auch eine Käuferin vermutend, sie durch seine Reden zu einem Besuch in seinem Kunsthaus anzuregen hoffte. Plötzlich sah sie bestürzt auf die Uhr, sie war zu dem Professor auf elf Uhr bestellt, und es fehlten nur wenige Minuten, weshalb sie sich mit einer schnellen Entschuldigung von dem gesprächigen Herrn trennte und davoneilte.

Das Wartezimmer des Professors saß voll Menschen. Um sich abzulenken, griff sie nach allerlei Heften, die herumlagen, und geriet zuletzt an eine deutsche medizinische Zeitschrift. Zerstreut schlug sie auch diese auf; da sprang ihr gleich auf der ersten Seite der Name Wittich entgegen als der eines hervorragenden Wissenschaftlers, mit dessen Forschungen der Referent sich eingehend beschäftigte; da er sich jedoch ganz in Fachausdrücken bewegte, die ihr neu waren, konnte sie der Darstellung nicht folgen. Sie zweifelte aber keinen Augenblick, daß der Gemeinte ihr alter Freund Oskar Wittich sei. An ihn hätte sie zuletzt gedacht, so fern war ihr das tiefe und zarte Erleben mit ihm versunken, weil er von ihren Jugendfreunden der einzige war, der all die Zeit aus ihrem Gesichtskreis geblieben. Auch geschrieben hatte er niemals, sie wußte schon lange nichts von ihm, als daß und wo er eine größere Anstalt leitete; mit welchem Erfolg und welcher Auszeichnung, sollte sie nun erst durch das zufällig gefundene Blatt in Paris erfahren. Die Entdeckung beglückte sie wie ein gutes Omen, dessen sie an diesem Orte wohl bedürftig war.

»Ich sehe keine Gegebenheit zu einem eingreifenden Vorgehen«, sagte der Professor, »auch sind meine beiden Häuser überfüllt. Die Überwachung, auf die es ankommt, kann überall anderswo ebensogut stattfinden.« – Dann erkundigte er sich nach ihren Lebensabsichten, und als sie äußerte, daß sie an einen Besuch ihrer deutschen Heimat denke, bestärkte er sie lebhaft in diesem Vorhaben. Er könne ihr dort einen jüngeren Kollegen empfehlen, der sich neuerlich in Fachkreisen hervorgetan habe und dem ganz merkwürdige Heilwirkungen auch ohne Messer gelungen seien. Und zu ihrer freudigen Überraschung nannte er den Namen Wittich. Dieser Name, in einer Stunde zum zweitenmal vor sie getreten, löste eine augenblickliche Entschließung aus: »Er ist mein Jugendfreund, ich fahre noch heute.«

»Grüßen Sie ihn von mir, ich bin ihm einen Brief schuldig und werde ihm in den nächsten Tagen schreiben.«

Sie kaufte sich einen Fahrplan und sah, daß am Abend ein bequemer Zug nach Straßburg ging; wenn sie den benutzte, konnte sie schon in vierundzwanzig Stunden an ihrem Bestimmungsort sein. Helle Freude war in ihr. Wie leuchtete ihr das Vaterland auf. Und der Freund, der sich solche Auszeichnungen erworben hatte. Wie heilig bleiben uns doch die Gestalten unserer Jugend. Sie sind mehr als bloß Fleisch und Bein, sie sind Symbol. Immer war ihr Oskar Wittich das Urbild überlegener Verstandes- und Willenskraft und tiefster, letzter Zuverlässigkeit geblieben. Wo konnte sie sich geborgener fühlen als bei ihm? Ob er sie wohl gleich erkannte? Es waren mehr als sechzehn Jahre seit ihrem Abschied in Esthers Sterbezimmer vergangen. Ob sie noch in seiner Erinnerung lebendig war? – Eine leise Stimme sagte: Warum nicht? Es hat dich keiner je vergessen, der dich geliebt hat.

 

Noch blieb ihr ein Nachmittag in Paris. Es war schön, noch einmal unterzutauchen im Gewimmel der Weltstadt, die immerzu von elektrischen Schwingungen durchlebt war. Den schnellen Rhythmus ihrer Massenbewegung in den eigenen Gliedern, dem eigenen Blute zu spüren, ihren erregenden Atem um die Wangen. Sollte sie jetzt ins Bois de Boulogne fahren? Oder noch einmal im Louvre die Mona Lisa sehen? Da war etwas, das stärker zog, die Ausstellung im Salon. Noch einen letzten Blick in die Ausstellung, dann gute Nacht, Seinestadt!

Der Tag stand unter einem glücklichen Zeichen. Im Salon war die Beleuchtung noch besser als in den Frühstunden. Roderichs Bilder, in der Verzettelung schon jetzt von weitem erkannt, sprachen stärker zu ihr. Sie sagten: Sieh uns an, ohne dich wären wir nie geworden. Und werdend, wären wir ohne dich nicht geworden, was wir sind. Etwas von dir ist in uns allen. Auch in dem Wilden, Unbändigen ist noch ein feinerer Hauch von dir. Ringsum in den Sälen war viel Häßliches der jüngeren Künstlergeneration, wahre Triumphe des gewollt Häßlichen. Roderich, dem man ehedem nachgesagt hatte, er suche das Häßliche um des Häßlichen willen, war nur häßlich, wo der Gegenstand es erforderte, wo er Schönheit darstellen durfte, schwelgte sein Pinsel, ohne doch jemals weichlich zu werden. Ein Adel der künstlerischen und menschlichen Gesinnung lag über allem, was er machte. Sie wußte, sie hatte ihren Teil daran, denn sie hatte sein Wesen ins Gleichgewicht gebracht: ihr Leben war doch kein vergebliches gewesen.

»Solm, ich habe das Urbild Ihrer Penthesilea gesehen.«

»Wann? Wo?« fragte der Angeredete atemlos.

»Wann? Soeben. Vor nicht fünf Minuten. Wo? Hier in der Ausstellung. Bild und Urbild nebeneinander. Da konnte es keinen Zweifel geben. Dieses Gesicht ist gewiß auf der Welt nur einmal da. Ich verlor sie nur eben aus den Augen.«

»Lieber Freund, ich bitte Sie, gehen Sie ihr nach. Suchen Sie durch alle Säle und machen Sie mir dann Mitteilung, ob sie noch hier ist. Ich stelle mich am Ausgang auf, damit sie mir nicht entkommt. Ich will und muß sie sehen.«

Da kam sie schon dem Ausgang zu. Im Vorübergehen fühlte sie eine leise Berührung am Arm, von der sie ein Schauer überlief. Umschauend blickte sie in Roderichs Augen. Schweigend sahen sie sich an, keines fand ein Wort.

»Du bist es, Vanadis?« sagte er endlich leise wie träumend.

»Ja, so viel das Leid und die Jahre von mir übriggelassen haben«, antwortete sie ebenso leise.

»O nein, du bist es noch ganz.«

»Siehst du nicht den weißen Streifen über meinem Ohr?«

»Der geht mich nichts an, ich sehe dich in mir. Da kannst du dich niemals verändern. Was hat dich hierher geführt?«

»Dieses«, antwortete sie auf die Flucht der Säle zurückdeutend. »Und ein Geschäft, das erledigt ist.« – Dann sprach sie von seinen Bildern: »Ich habe einige unserer alten Freunde wiedergesehen in verbesserter Gestalt.«

»Sie hatten es nötig«, warf er ein.

»Ich sehe selbst, daß du recht hast, obgleich ich sie auch in der ersten Fassung liebte. – Eines habe ich vermißt«, setzte sie leiser hinzu.

»Ich weiß, wovon du sprichst. Es war gut, soweit es deine Eingebung war. Aber mehr ein poetischer als ein künstlerischer Gedanke, und in der Ausführung stümperhaft. Nur deine Güte konnte etwas Gutes darin finden. Ich hätte es um und um werfen und völlig neu machen müssen; aber das wollte ich nicht, es war mir lieb mit seinen Fehlern, weil es dir gefallen hatte. So bleibt es mein stilles, von niemand gesehenes Eigentum. Komm in meine Werkstatt, da wirst du es wiederfinden.«

Sie wurden von der Menge der Aus- und Eingehenden hin und her geschoben, denn sie standen allen im Wege. – »Laß uns ein paar Schritte zusammen gehen«, sagte sie.

Außen im Freien fragte er: »Hast du meine Briefe nicht erhalten, die ich dir nach dem Tode des alten Mannes schrieb?«

»Du schriebst mir? Ich habe nichts erhalten. Ich war nach deines Vaters Tod eine Zeitlang leidend und befand mich in einer Heilanstalt. Gleichzeitig wurde Casteldimonte verkauft und aufgelöst. Danach begab ich mich für lange Zeit auf Reisen, so ist es kein Wunder, wenn Post verlorenging.«

»So reißt das Schicksal die Menschen auseinander. Ich glaubte, du schwiegest absichtlich. Da schwieg zuletzt auch ich. Warum habt ihr denn Casteldimonte verkauft?«

»Wer hätte dort wohnen mögen nach dem Tod seines Schöpfers? Die Kunstsachen gingen an die Galerien, denen sie seit langer Zeit vermacht waren. Was mein war, nahm ich in meine neue Stadtwohnung mit herunter.«

»Aber die Giojosa ist doch noch dein?«

»Ich habe sie zum Erholungsort für bedürftige Künstler eingerichtet.«

»Und du selber?« – »Ich sagte dir ja, ich habe immer auf Reisen gelebt.«

Befangen begann er wieder: »Ich habe die große Summe, die der alte Mann mir vermachte, niemals angerührt.«

»Du tatest unrecht. Er hatte keine Ruhe im Sterben, bevor er das geregelt wußte. Er meinte es gut mit dir, du hast ihn immer verkannt.«

»Es war das Werk höherer Mächte«, antwortete er, »ich sehe es jetzt. Er und ich, wir konnten nichts dazu. Es war von Anbeginn so. Unsere Geister stritten gegeneinander auf einer unbekannten Ebene.«

Sie lächelte ein wenig: »Du bist in die Mystik geraten? Das lag sonst nicht in deiner Art.«

»Wenn man todallein ist auf der Welt, kommt man am Ende dahin.«

»Aber du hast eine Familie jetzt?«

»Ich habe zwei Kinder.«

»Und deine Frau?«

»Ich habe keine Frau.«

»Wenn du mit ihr lebst und sie dir zwei Kinder geschenkt hat, so kann ich sie nicht anders nennen.«

»Ich konnte nicht Jahr um Jahr als Wüstenheiliger leben.«

»Du warst frei. Niemand hat es von dir erwartet«, sagte sie sanft. Und setzte hinzu: »Wenn nur die Frau gut ist.«

»Sie ist gut«, antwortete er seufzend.

»Warum gabst du ihr dann nicht die gesetzliche Stellung und deinen Kindern den Namen, an den sie ein Recht haben?«

Er antwortete nicht. – »Tu es, Roderich. Denk an deine eigene Jugend und wie es verbittert, das einfachste Menschenrecht zu entbehren, das auch der Ärmste hat: den Familienstand.«

»Sie sind noch klein, sie vermissen nichts.«

»Aber sie werden wachsen und es zu fühlen bekommen.«

Er sah sie nur immer wie träumend an und antwortete nichts weiter. Nach einer Weile fragte er: »Du bleibst einige Zeit in Paris?«

»Ich reise – morgen.«

Er schrak wie aus einem Traum empor.

»Darf ich fragen, wie du über den Tag verfügt hast?«

»Ich habe noch eine Verabredung mit Freunden, von der ich spät zurückkommen werde. Dann muß ich packen.«

»Darf ich dich morgen noch einmal sehen?«

Sie besann sich. Mit jedem Wort wurde ihr das Scheiden schwerer. Dann sagte sie: »Triff mich morgen um neun Uhr am Bahnhof Saint Lazare. Da können wir noch ein Viertelstündchen zusammen sein. Ich fahre nach Le Havre und von dort nach England.«

Er hielt noch ihre Hand. »Darf ich eine Strecke weit mitfahren?«

Sie zögerte und hatte eine Träne im Auge, weil sie ihn hinterging: »Nimm eine Fahrkarte bis Manthes, so weit magst du mich begleiten.«

Dann trennten sie sich mit einem kräftigen Händedruck, der das Unausgesprochene verwehte. Er hatte ihr sagen wollen: »Du hast mich von dir getrieben, du suchst mich einer anderen Frau zu verknüpfen, aber du kannst nicht hindern, daß meine besten Werke dein' und meine Kinder sind.« Doch er fand nicht den Ausdruck für seine Gedanken und verstummte. Vielleicht, daß es ihm morgen eher gelang. Aber als er sich eine halbe Stunde vor Abgang des Zuges am Treffpunkt einfand, fuhr sie schon längst auf deutschem Boden.

Die Anstalt stand auf freier Anhöhe und schaute auf die Windungen eines Flüßchens und die bescheidene Schönheit eines grünen Wiesentals hinab. Gartenanlagen im Frühlingslaub mit einer Fülle von Blumen umgaben sie, darin gingen Genesende, auf junge Schwestern gestützt, spazieren, Kranke lagen auf Liegestühlen umher. Ein Wagen hielt vor der flachen Freitreppe, dem eine Frau in Schwarz entstieg. Zufällig stand der Leiter der Anstalt gerade am Fenster, als die Räder anrasselten, er beugte sich hinaus, ein Blitz des Erkennens, und gleich darauf stand er vor der Angekommenen und begrüßte sie einfach und herzlich, als wären sie nicht durch Jahre getrennt gewesen. Vanadis staunte, so schnell erkannt zu sein.

»Ich erkannte dich schon, ehe ich dein Gesicht sah. An der Bewegung. Wie du dich umschautest, dann die Hand an den Kutschenschlag legtest und heraussprangst, das war gleich die ganze Vanadis. An deinen Bewegungen würde ich dich unter Hunderten kennen. Aber komm, wir stehen in der Sonne.«

Er führte sie in einen mit Blumen bewachsenen Vorbau und ließ sie dort niedersitzen.

»Vor Jahren erfuhr ich durch Zufall, daß dein Gatte gestorben sei und du auf eine lange Reise gegangen.«

»Von der ich eben erst zurückkehre«, ergänzte sie.

»So weißt du am Ende noch gar nicht, daß auch dein Vater die Augen geschlossen hat?«

»Mein Vater? Wann?«

»Vergangene Woche, ich war beim Begräbnis. Ich habe ihn in den letzten Jahren mehrmals besuchen dürfen. Du weißt ja, er wollte mir immer wohl, so wurde ich – als große Ausnahme – vorgelassen. Das letztemal schenkte er mir ein paar geschriebene Blättchen von seiner Hand, die ich als Andenken bewahre.«

»Hielt er sich noch immer für verstorben?«

»Wohl mehr im geistigen als im leiblichen Sinn. Er war nur des Lebens und aller seiner Verstrickungen so furchtbar müde.«

Sie senkte das Haupt und hing ein paar Minuten lang diesem Schicksal nach. Eine Frage Oskars weckte sie aus dem Sinnen: »Ich hoffe, daß es nur die alte Freundschaft ist, die dich zu mir führt –?«

»Die alte Freundschaft und ein großes Vertrauen. Ich brauche deine Hilfe.«

»Das höre ich ungern, so stolz es mich machen könnte.«

Nun erzählte sie ihm offen, wie sie in Paris auf ihn aufmerksam gemacht worden sei: »Du bist selber schuld, daß es dieses Umwegs bedurfte, du bist der einzige unserer alten Freunde, der mich nie besucht hat.«

»Ich war einmal in all den Jahren mit Johanna in Florenz. Wir sahen dich im Wagen vorüberfahren und hörten Wunderdinge über dich und deinen Wohnsitz. Während wir noch schwankten, ob wir in unsern Reisekleidern in solchen Glanz passen würden, rief mich ein Telegramm zurück. Unsereiner hat kein Recht an sich selber. – Aber du siehst müde aus und mußt nun vor allem ruhen nach der langen Fahrt. Ich bringe dich zu Johanna. Im großen Haus sind alle Zimmer belegt. Du bleibst jetzt vorerst bei uns als unser Gast, das ist das erste, was ich dir verordnen muß. Da findest du Stille, Blumenduft und ein schwesterliches Herz.«

Es tat der Einsamen, Aufsichselbstgewiesenen wohl, sich unter einem fremden, liebevoll entschiedenen Willen zu fühlen.

In dem Eigenhaus, das durch ein paar große Kastanien verdeckt stand, empfing sie eine schlanke Frau mit gutem, klugem Gesicht und vollen braunen Haaren.

»Das ist Johanna. Wer sie ist, sage ich nicht. Du kennst sie und hast lange auf diese Begegnung gewartet.«

»Es ist Vanadis«, sagte die Frau einfach, aber mit sichtlicher Erschütterung.

»Sie hat viel durchgemacht und wollte sich gern in unserer Anstalt erholen. Aber ich sehe sie lieber in deiner Pflege.«

»O tausendmal willkommen!« sagte die Frau, beide Hände der Angekommenen drückend, und plötzlich liefen ihr die Tränen über das Gesicht.

»Ich lasse sie dir jetzt. Liebt euch, seid Schwestern. Und sorge vor allem, daß sie sich ausruht. Ich muß zu meinen Kranken, werde mich aber sputen, daß ich bald frei bin. Zu Tisch sehen wir uns wieder. Das Ärztliche verschieben wir auf morgen. So große Eile hat das nicht.«

Ein großes, luftiges Zimmer, zu dem die Glyzinien durchs Fenster hereinwuchsen, nahm die Eisenbahnmüde auf, die ihren dunklen Reiseanzug ablegte und sich halb entkleidet auf das große elastische Bett warf, während Johanna leise die Läden schloß und sie allein ließ. – Hier ist gut sein, dachte der abgespannte Gast und sank alsbald in Schlummer.

Als sie nach mehreren Stunden erfrischt, in leichtem schwarz und weißem Sommerkleid, mit vom Schlummer wieder ausgefüllten Wangen in die Laube trat, wo Johanna bei einer Handarbeit saß, sagte diese:

»Nun sind Sie so, wie ich mir Sie immer dachte. Der kurze Schlaf hat Wunder getan.«

»Sollten wir nicht Schwestern sein, Johanna? Willst du nicht?«

»Gern, wenn ich darf. Als du zuerst hereintratst, schienst du so fremd und fern, daß ich mich scheute. Jetzt erst wage ich mich so recht an dich heran.«

»Das machte das finstere Schwarz, ich werde es trotz des neuen Trauerfalls nicht mehr anlegen, solange ich bei euch bin. Feinsinnigere Völker als wir trauern in Weiß.«

Ein junger Mensch, zwischen dem Knaben und dem Jüngling stehend, erschien im Garten und näherte sich zögernd der Laube. Johanna rief ihn heran.

»Dies ist Stefan, unser Einziger. Er weiß schon, welchen Gast wir im Hause haben, und brennt danach, dir seine Verehrung zu bezeigen.«

Der Knabe machte schnell eine tiefe, etwas ungeschickte Verbeugung, wobei ihm der Haarschopf mit einem Ruck über die Stirn fiel, daß er ihn wieder hinausschütteln mußte, um die dargereichte Hand zu küssen.

»Wie er seinem Vater gleicht. So sah Oskar aus in diesem Alter, er hat gewiß dieselben Neigungen und Anlagen.«

»Nein, er hat gar keinen Hang zur Naturwissenschaft«, antwortete die Mutter statt seiner. »Es zieht ihn nur zur Musik und Poesie. Er möchte Künstler werden. Oskar läßt ihm alle Freiheit. Er hat es an sich selbst erfahren, wie ein Mensch leidet, dem der Weg zu seinem natürlichen Beruf versperrt wird.«

»Auch die Musik ist ein Erbstück im Hause Wittich«, sagte Vanadis. »Welche vorzügliche Pianistin war seine Großmutter, sie hätte das Zeug zu einer Virtuosin gehabt, wäre ihr Talent nicht durch die Verhältnisse erdrückt worden.«

»Es lebte noch einmal auf, als wir dieses Haus gebaut hatten und sie uns holen konnten. Sie war noch sehr glücklich hier, bis sie plötzlich hinweg mußte. Ihr Enkel war die Freude ihrer alten Tage. Sie hat ihm einen unvergänglichen Schatz hinterlassen: die Begeisterung für die Kunst. Abends spielen wir vierhändig zusammen, Oskar hört zu, es erfrischt ihn wunderbar, auch er hat das Gehör geerbt, nur fehlte ihm von je die Zeit zur Ausübung.«

Der Knabe hing wie verzaubert an dem Gesicht des Gastes. Seine Mutter bemerkte es und sagte lächelnd:

»Großmutter hat ihm viel von dir erzählt und davon, wie Großvater beglückt war, dich zur Schülerin zu haben, auch von der kleinen Esther, die ihr so rührend im Haushalt zur Hand ging und den alten Friedhofgärtner betreute. Man könnte meinen, auch er sei im Park van der Mühlen aufgewachsen. Um den Falada hat er geweint, als wäre das Rößlein sein gewesen.«

»Sie müssen nicht glauben, daß es mir leicht wurde, ihn zu töten«, sagte Vanadis zu dem Knaben. »Es war die einzige Liebe, die ich ihm noch tun konnte.«

»Ich weiß«, sagte Stefan. »Aber Sie sollen nicht Sie zu mir sagen, ich bin ja noch so jung und dumm.«

Ein plötzlicher Ausdruck von Mutwillen ging über ihr Gesicht, der es ganz merkwürdig verjüngte: »Auch ich bin jung und dumm, ich bin von denen, die nie gescheit werden, wir wollen beide Du sagen.«

In diesem Augenblick trat Oskar herzu: »Diesen kannst du als deinen eigenen Sohn betrachten. Zu seinen frühesten und tiefsten Eindrücken gehörte dein Bild über meinem Schreibtisch. In der Verehrung deiner ist er groß geworden. Laß ihn dir dienen, wie du ehedem seinen Vater dienen ließest. Je mehr du ihm aufträgst, desto glücklicher machst du ihn.«

»Tat ich das, Oskar? Ich wußte es nicht.«

»Wir dienten dir alle, du wußtest es nicht, denn es war dein Recht. Selbst der schlimme Roderich wurde geschmeidig, wenn es etwas für dich zu tun gab, nur durftest du es nicht wissen, denn er schämte sich. Wie geht es ihm? Ist es wahr, daß er sich so bedeutend entwickelt hat?«

»Sehr wahr. Wenn du nach Paris kommst, mußt du ihn aufsuchen.«

Sie war blaß geworden bei der Nennung des Namens, dann kehrte das Blut ganz schnell wieder in ihr Gesicht zurück. Niemand bemerkte es als Stefan, der kein Auge von ihr ließ, und es machte ihn seltsam traurig, er wußte nicht warum. Er wußte nur, daß er auch hätte mögen einer sein, von dem man sagte, daß er sich bedeutend entwickelt habe. Stefan hatte viel vom Wesen seines Vaters an sich, aber er war freier und freudiger, weil ihn nicht beim ersten Blick ins Leben die Armut angeschaut hatte, darum kannte er auch nicht die Hemmungen, die jenen gefesselt hatten. Ungescheut bekannte er sich zu seinem Kult und umgab die Frau, die er verehrte, mit so ausgesuchten und zarten Huldigungen, wie sie nur eine reine, mit Idealen genährte Jugend eingibt. Wenn Vanadis abwehren wollte, damit er ihr nicht allzuviel von seiner Zeit widme, sagten beide Eltern: »Laß ihn machen. Diese Tage werden ihm eine Weihe sein für sein Leben.«

 

Als die Krankengeschichte erzählt und die Untersuchung beendet war, wurde Oskar sehr guter Dinge. Sein Gesicht war zwar um eine Tönung blässer und seine Heiterkeit für seine ernste Natur fast ein wenig zu heiter, aber er sagte: »Nun, ich habe es mir schlimmer vorgestellt.« – Auf ihre Frage, ob er zu schneiden gedenke, antwortete er ausweichend, das habe keine Eile. Es gebe jetzt andere Wege, dem Übel beizukommen, und er sprach ihr von einer Art Impfstoff, womit er in ähnlichen Fällen schon gute Erfolge erzielt habe. »Aber du mußt dich mit Geduld waffnen«, setzte er hinzu, »das Verfahren, das ich anzuwenden gedenke, ist langwierig. Zunächst ist die Hauptsache, daß du dich einmal gründlich ausruhst und stärkst.«

Es wurde ihr bei seiner Sicherheit leicht und froh zu Sinn, und sie freute sich innig, daß sie in seine Hände gekommen war. Erst nachträglich erinnerte sie sich, daß, während seine ganze Aufmerksamkeit auf die Untersuchung gespannt war, sich auf seiner schönen, ernsten Stirn eine ganz kleine Schweißperle gebildet hatte. Sie kannte diese Schweißperle von Jugend an, sie war bei dem beherrschten Knaben und Jüngling immer das Anzeichen einer starken inneren Erregung gewesen. Damit stand jetzt sein heiterer Ton im Widerspruch. Aber der Tag war warm, und gewiß hatte der mit Arbeit überlastete gewissenhafte Mann schon seit der frühsten Morgenfrühe seine Kraft den Kranken gewidmet, so daß er wohl ein wenig müde war. Johanna hatte ihr schon erzählt, was alles von dem Leiter einer solchen Anstalt gefordert wurde und welch schwere Verantwortungen er Tag für Tag auf sich zu nehmen hatte, fast über Menschenkraft hinaus, und wie auch die Nachtstunden nicht immer ihm gehörten. Darum war auch seine Stirn so tief gefurcht und das bräunliche Haar, das Esther geliebt hatte, schon stark gelichtet. Niemand hätte ihm jetzt angesehen, daß er in dieser Ehe der so viel Jüngere war. Johanna dagegen gehörte augenscheinlich zu den Frauen, die sich mit den Jahren ins Vorteilhafte verändern; man konnte sich denken, daß diesem ruhigen, geschlossenen Gesicht zu seiner Zeit der Reiz der Jugend gemangelt hatte, den man jetzt nicht mehr vermißte. Wenn sie von Oskar sprach, fand Johanna kein Ende:

»Daß du nun als Kranke gekommen bist! Immer erwartete ich, du würdest einmal plötzlich erscheinen, dein altes Eigentum zurückzufordern. Jahrelang hab' ich es nur als geliehen betrachtet – ich hätte es dir nicht verweigert.«

»Arme liebe Johanna, wie mochtest du dich so quälen?«

»Ja, nicht wahr, es war töricht von mir. Ein so begrenztes Dasein wie das unsrige hätte dich auf die Dauer nicht froh gemacht. Er verstand es früher als ich, denn ich sah nur die Größe meines Glücks und daß eine andre es mir geschenkt hatte. Daß er mit mir von dir reden konnte, ohne mich zu kränken, brachte mich ihm näher. Ich liebte dich ja auch, sonst hätte ich es nicht ertragen können. Ich sah den Gedanken an dich, fast körperlich in seinen Zügen eingegraben. Und sieh, in Stefan ist er Fleisch geworden. Er liebt dich, soweit er zurückdenken kann, und dein Kommen war ihm etwas lange Erwartetes. Aber nimm ihn mir nicht ganz. Er war sonst mein kleiner Ritter; wohin ich ging, trug er mir Schirm oder Stühlchen nach. Jetzt hat er nur noch Augen für dich.«

»Gönn es mir. Es ist ja nur ein Spiel, aber es verjüngt mich.«

»Für dich ist es ein Spiel, in sein Leben wird es eine tiefe Spur graben, aber eine wohltätige.«

Oskar war in diesen Tagen noch sorgenvoller als sonst. »Er hat wieder sehr schwere Fälle«, sagte Johanna, »ich weiß es, wenn er auch nicht darüber spricht.«

»Ich wollte, er nähme mich zur Gehilfin an, ich glaube, ich bin noch immer zu gebrauchen.«

»Nein, du sollst viel Ruhe haben und frohe Eindrücke, hat er mir aufgetragen.«

Um den ernsten Gatten zu erheitern, sagte Johanna zu diesem: »Sieh sie an, wie sie stündlich jünger wird. Und jetzt will sie gar unsere Schwiegertochter werden.«

»Ja, wenn du nichts dagegen hast«, scherzte der Gast.

Ich war darauf gefaßt, lächelte dieser zurück.

Fortan war Stefan ihr ständiger Begleiter und ihr kleiner Page, aus dessen Jugendfrische schon ganz zart und leise der aufblühende Zauber des Geschlechts wirkte und sie in ein holdes Märchen einspann. In seinem Gesicht sah sie mehr und mehr das einst so vertraute Jugendgesicht des Vaters, verschönt durch die Eindrücke einer glücklicheren Kindheit. Zuweilen mußte sie sich aus dem Wahn wecken, als hätten sie eine gemeinsame Jugend hinter sich oder als stünden sie zusammen auf der Schwelle des Lebens. Er hatte eine ähnliche Geistesrichtung, wie sie im Hause Folkwang geherrscht hatte, und da er so viel von ihrer Frühzeit wußte, konnte er mit ihr auch von dieser sprechen. Dagegen erzählte sie ihm von ihren Reisen und vom Meer, das er nur aus der Sehnsucht kannte, und sie versprach ihm, wenn sie gesund sein würde, ihn mit sich ans Meer zu nehmen.

»Hat dir denn nie das Herz gebrannt nach einem eigenen Kinde?« fragte Johanna, als sie die wachsende Vertrautheit mit ihrem Knaben sah.

»Nur als mir Bertie ins Haus kam. Was hätte ich darum gegeben, wäre er mein gewesen. Aber auch er durfte mir nicht bleiben; weißt du, unser Geschlecht ist zum Aussterben bestimmt. Bruno und Enzio haben keine Kinder. Auch Onkel James hat vergebens auf den männlichen Erben gewartet, und jetzt hat er auch keinen Enkel mehr.«

»Welch seltsamen Sprung die Natur gemacht hat mit diesem Feenknaben über Märchen weg zurück zu euch«, warf Oskar ein, denn Vanadis hatte den Gastfreunden Berties Bild gezeigt und ihnen viel von dem geliebten Kind erzählt. Aber seit sie Stefan hatte, begannen ihr die beiden Jugendgestalten ineinanderzufließen; Bertie war ihr nicht mehr verloren, denn Züge von ihm tauchten auch in Stefan auf. Oft mußte sie sich's vorhalten, daß Stefan schon fast ein junger Mann und sie noch keine alte Frau war, um, wenn sie ihn von weitem kommen sah, nicht zärtlich die Arme zu öffnen, daß er sich hineinstürze.

 

Wie das Jahr seinen Höhepunkt erstieg, wurde ihr immer höher und freudiger zumute. Rings um die Anstalt her blühte und duftete es; Farben und Wohlgerüche folgten sich in immer neuen Abstufungen, denn auf Oskar war die Blumenliebe des alten Friedhofgärtners übergegangen, und das festliche Blühen durfte ihm den ganzen Sommer nicht fehlen. Um ihren Zustand sorgte sie sich nicht, der war jetzt Oskars Sache. Und das Leid um Roderich sänftigte sich. Was fehlte ihm denn? Er hatte zwei Kinder! Sie wurde frei und schicksallos wie ihr junger Gefährte. Um sie her flatterten Meisen und Stare, Stefan fütterte sie aus der Hand, sie suchte es ihm nachzutun. Wieviel vom Schönsten hat man erst zu lernen. Casteldimonte mit seinen unendlichen Kulturschätzen verblaßte wie ein Traum in diesem Sommerparadies.

Frau Johanna aber fühlte, daß ihr Geliebter litt, und frauenhaft kam sie auf den Gedanken, er leide, weil mit der alten Zeit die alte Liebe wieder erwacht sei. Er legte sich nachts nicht mehr an ihrer Seite zur Ruhe, sondern wanderte noch spät im Garten umher oder blieb unter einem Vorwand drüben im großen Hause. Und eines Nachts, als er sich im Glauben, sie schliefe, leise einen Schlaftrunk mischte, begann sie flüsternd zu sprechen:

»Du hast mich in den Jahren unserer Ehe sehr sehr glücklich gemacht, ich brauche es dir nicht zu sagen. Aber ich weiß auch immer, daß ich den zweiten Platz in deinem Herzen einnahm. Denn man liebt nur einmal wahrhaft im Leben, und ein Herz wie das deine kann von der ersten Liebe nicht lassen. Ich hatte zu Anfang schwer mit mir zu ringen, bis jeder Rest von Eifersucht aus meiner Seele getilgt war, und glaub mir, es geschah aus aufrichtiger Seele, wenn ich täglich vor ihr Bild auf deinem Schreibtisch frische Blumen stellte und es Stefan zeigte, daß auch er es liebe. Aber erst seit sie hier ist, fühle ich ganz, was sie dir sein muß. Ich hatte mir gleich im Beginn unserer Ehe geschworen, wenn sie jemals kommen würde, um ihre alten Rechte geltend zu machen, und ich sähe, daß sie dir ein noch höheres Glück schenken könnte, daß ich dann freiwillig zurücktreten wolle. Nun ist sie gekommen, und ich sehe, wie es in dir wühlt, und ich kann ja auch nicht anders als sie mitlieben. Also halte ich mein selbst gegebenes Wort und lasse dich frei. Und wir wollen . . .«

Sie konnte vor Schluchzen den Satz nicht zu Ende sprechen.

Gerührt setzte er sich auf den Rand ihres Bettes. »Du liebes, treues Weib, mit was für Hirngespinsten quälst du dich? Es ist wahr, ich leide um Vanadis. Ich leide unaussprechlich. Aber nicht, weil ich sie besitzen möchte. Ich wollte es dir verbergen, solange wie möglich, weil ich euch so schwesterlich beisammen sah. Aber jetzt sollst du die Wahrheit hören.«

Sie reckte angstvoll den Kopf vom Kissen. Aber statt weiterzusprechen, sprang er auf und trat ans Fenster. Sie folgte und legte flehend den Arm um seinen Nacken: »Oskar, sprich zu mir!« Da wandte er ihr im Kerzenlicht ein ganz entstelltes Gesicht zu und flüsterte so leis in ihr Ohr, als ob die Wände nicht hören dürften.

Johanna schrie auf: »Bist du wahnsinnig? Du?« – Und flüsternd: »Du willst ihr den Tod geben?«

»Ja, weil sie verloren ist. Weil es kein Mittel gibt, sie zu retten. Und weil ich sie nicht Unwürdiges leiden lassen will.«

»Warum hast du nicht gleich, als sie kam, gehandelt?«

»Weil es zu spät war. Es war längst zu spät. Schon damals in Florenz. Sie hat die Zeit verpaßt, um ihren kranken Gatten nicht zu verlassen. Was dann geschah, war vergeblich. Die bösartige Wucherung ging innerlich weiter und verwuchs mit den lebenswichtigen Organen.«

Er drückte den Kopf an die Scheibe und stöhnte tief.

»Haben denn die anderen Ärzte das nicht gewußt?«

»Sie müssen es gewußt haben, aber sie schickten sie von einem zum anderen.«

»Und so liebst du sie, daß du um ihretwillen den ganzen Rest deines Lebens durch diese Tat vergiften willst?«

»Das tue ich nicht, wenn ich nach meinem Gewissen handle.«

»Kann ihr denn Gott nicht selber helfen, wenn er ihr helfen will?«

»Das ist seine Hilfe, daß er sie zu mir schickt!«

»Hat sie dich darum ersucht? Ist es ihr eigener Wille?«

»Ich kenne sie doch und weiß, daß er es ist, auch wenn sie es nicht mit Worten ausspricht. Sie hat übrigens deutlich genug gesprochen.«

In der Tat hatte sie bei einem seiner letzten Krankenbesuche ihn still und lange angeblickt und am Ende gesagt: »Du wirst mich nicht länger leiden lassen, als du Hoffnung hast«, und er hatte nichts erwidert als: »Vertraue mir!« Das war die Art, wie sie sich verständigt hatten.

»Ich verstehe Gott nicht mehr«, sagte Johanna verzweiflungsvoll.

»Ich habe ihn nie verstanden«, antwortete Oskar düster.

Jetzt gab es noch eine andere Sorge für die Eltern: Stefan zu entfernen für die Zeit, wo das Trauerspiel zu Ende gehen mußte. Oskar verschaffte ihm für die bevorstehenden Ferien eine Einladung in ein Freundeshaus. Aber Stefan wollte nicht fort, das Zusammensein mit dieser Frau war ihm ein tägliches süßes Wunder. Wenn sie mit Johannas Erlaubnis ihn ihren Sohn nannte, so antwortete er in seiner Seele: Nicht Sohn, Liebender, von Urbeginn, über Zeit und Raum hinaus. Wer fragt eine Göttin, wann sie auf die Erde niederstieg. Genug, daß sie da ist.

 

Vanadis, auf dem Liegestuhl ausgestreckt, weil sie einen schlechten Tag hatte, ließ sich in Gegenwart der Freunde einen Handspiegel reichen: »Man kann nicht häßlicher sein«, seufzte sie nach gründlicher Prüfung. Sie dachte an das strahlende Lächeln, mit dem ihre sterbende Großmutter die gleiche Tatsache festgestellt hatte. Sie konnte lächeln, sie ließ ihr Angesicht verjüngt zurück.

Oskar tröstete: »Deine Schönheit kann dich nicht verlassen, denn sie ist du selber. Sie hat sich nur abgelöst und schwebt als Aura über dir, alle, die dich gekannt haben, können sie noch sehen.« – »Ich sehe sie nicht abgelöst, sondern da, wo sie immer war«, sagte mit großem Ernst der Sohn.

»O du Schmeichler«, lachte die Gepriesene.

»Jetzt muß ich mich seiner annehmen«, sagte die Mutter. »Er kann nicht schmeicheln, er wüßte gar nicht, wie man das anstellt.«

»Er ist ein Visionär und sieht von jedem Menschen das Urbild«, ergänzte der Vater. »Es war ja auch gar nicht deine Schönheit, was uns alle so an dich fesselte, es gab vielleicht Schöneres, es war auch keine einzelne deiner Gaben. Es war diese einmalige Mischung und Prägung, Vanadis genannt, die uns vorschwebte, wenn wir uns ein höheres Leben denken wollten.«

»Oh, ihr verwöhnt mich zu sehr.«

»Laß es dir gefallen. Ich hörte einmal die Großmutter van der Mühlen sagen: ›Sie ist wie ich unter dem Venusgestirn geboren, solche werden mehr geliebt als andere, sogar auch vom eigenen Geschlecht.‹«

»Vom eigenen?« sagte Vanadis zweifelnd, denn sie dachte zuerst an Märchen und ihren lange getragenen Haß. Dann aber fielen ihr Esther und Corinna und Alma ein, und sie nickte.

»Jawohl, vom eigenen«, rief Johanna und schlang leidenschaftlich die Arme um sie. »Sie hat es verdient. Sie hat niemals ihre Macht zum Nachteil ihrer Schwestern gebraucht.«

»Dieses Zeugnis darf ich unterschreiben«, lächelte Vanadis. Dann aber wendete sie das Gespräch, damit es an keine schmerzhafte Stelle der Gastfreundin rühre.

Endlich ließ sich Stefan doch zur Abreise bewegen, weil die Frau seiner Seele versprach, ihn selber über ihr Befinden auf dem laufenden zu halten. Aber nach zwei Tagen stand er schon wieder vor der Tür des Elternhauses:

»Schickt mich nicht fort. Ich muß kommen. Ich vergehe, wenn ich nicht hier sein darf. Ich weiß, ich finde sie nicht wieder, wenn ich gehe.«

»Steht es so«, sagte sein Vater, »so magst du bleiben. Wir wollten dir den Schmerz ersparen. Aber du willst ihn selbst. Also fasse dich und wisse, daß unser Gast verloren ist. Ich kann sie nicht retten.«

Stefan erwiderte gehalten und dringlich: »Das war's, was mir der Geist heute nacht gesagt hat. Geh nicht von ihr, sie stirbt. Und darum bin ich gekommen.«

»Nun mußt du es auch tragen wie ein Mann und dich mit keiner Miene verraten, wenn es zur Neige geht.«

»Ich werde mich verstellen. Aber sei gewiß, sie weiß die Wahrheit ohne mich.«

»Sie weiß und weiß nicht, das ist immer so.«

Er hatte recht, es war ein Wissendes in ihr und zugleich ein anderes, das ihr dieses Wissen fernhielt. Sie aber genoß das Nichtwissen, sie lebte noch einmal glücklich ihren langen Sommertag, der kein Ende nahm. Und als ein zartes Idyll umblühte sie die Liebe des jungen Stefan, der seine ganze Ferienzeit in ihrem Dienst verbrachte. Es war ihm still und unwahrscheinlich zumute, als erlebte er das schönste traurigste Gedicht. Zuweilen zweifelte er auch, so fest er sonst an seines Vaters Wissen und Können glaubte, ob dieser nicht doch zu schwarz gesehen habe. Denn Vanadis blühte wieder auf, ihre Wangen färbten sich leise, ihre Augen glänzten, und eine große Freude war in ihr wie eine neue Jugend. Weder sie noch Stefan wußte, daß Oskar sie durch Spritzen seines angeblichen Impfstoffs in einem leichten Rausch von Opiaten hielt, in dem sie alle Dinge verschönert sah wie durch ein farbiges Glas, so daß ein Beet einfacher Gartenblumen ihr wie etwas Zauberisches erschien. Auch Geselligkeit gebrach ihr nicht in Stunden, wo ihr ein anregendes Gespräch erwünscht war. In der Anstalt befanden sich Persönlichkeiten von Belang im Stadium der Rekonvaleszenz, die sich um eine Vorstellung bemühten und mit in der Laube saßen, wenn Johanna den Tee einschenkte. Und es war ein allgemeines Werben um die wenn auch nicht mehr schöne so doch noch immer fesselnde Frau. Oskar, der sich gut zu verstellen wußte, fragte einmal: »Hältst du wieder Liebeshof wie im Park van der Mühlen?«

Sie lächelte schelmisch: »Ich will nicht hoffen, daß du eifersüchtig bist.«

»Ehemals war ich es oft«, antwortete er scherzend, »aber jetzt habe ich mich bescheiden gelernt.«

 

Die ersten Blätter fielen. Da erschien ihr eines Nachts im Traume Esther, von einem zarten Schimmer umgeben, und die große Schwester fragte die kleine: »Hast du gefunden, was du glaubtest?« – »Das Herz täuscht sich nicht, auch du wirst finden«, antwortete das Phantom und verschwand.

Danach sprach sie oft mit Johanna, der einfach Gläubigen, über die letzten Dinge.

»Sehnst du dich nach deinen Lieben, die geschieden sind?« fragte diese.

»Ich sehne mich nicht«, antwortete sie. »Die irdischen Bezüge haben sich ausgelebt. Ich sehne mich einer höheren Stufe zu, die jene schon erreicht haben müssen. Was wäre das für eine Ordnung, die nur Hiesiges wiederholen und fortsetzen würde? Könnte Gunthers sterbender Geist noch derselbe sein, der hier den Revolver abgedrückt hat? Er muß Milchstraßen seitdem durchwandert haben.«

»Und deinen Jugendgeliebten, möchtest du auch den nicht wiedersehen?«

»Ihn am wenigsten. Was wir einander waren, war süß, aber vergänglich. Welche Bahn er seitdem gegangen, ich muß die meine gehen. – Nein, ich darf es aussprechen, ohne meinen Lieben zu nahe zu treten: Ich begehre keines von allen wiederzusehen. Ich will nicht wieder ins Gefühl gerissen sein, das den Fortschritt hemmt. Ich will frei sein und das Höhere schauen, dem auch sie jetzt zugekehrt sind.«

Ein andermal sagte sie: »Ich möchte auch keine geschenkte Seligkeit, wie sie sich die frommen Seelen denken, die gleich, wenn sie das Diesseits verlassen, in eine himmlische Sinekure einzutreten glauben. O nein, uns Menschenkindern taugt Geschenktes nicht. Und keine Gottheit wird uns das Geringste schenken wollen. Wir werden um jeden Fortschritt kämpfen und leiden müssen, und das wird für uns das Richtige sein.« Zuweilen gingen ihr auch die Lehren der östlichen Weisheit durch den Kopf, denen Egon sein ganzes Leben gewidmet hatte und die ihm dann in seinen Sterbewochen so seltsam entfallen waren, als hätte er sie nie gekannt. Und was wohl jene zornigen Lehrer damals von ihr gewollt hatten auf dem Berge der Entrückung, als sie so grausam wie mit Eisnadeln der Erkenntnis nach ihrem Herzen stachen? Konnten das reine Geister sein, die sie erst von sich stießen, als sie ihr Nein im Namen der Liebe rief? Freilich einer irdischen Liebe, aber einer warmen, lebendigen!

Johanna suchte, wenn Oskar ferne war, die Freundin immer zart und leise in ihre eigene lutherische Glaubenswelt hereinzuziehen, aber sie entwand sich ihrer sacht wie seinerzeit dem Reverendo: »Der Menschengeist spricht täglich in so vielen Sprachen und Formen zu seinem Schöpfer, daß keine die einzig richtige sein kann.«

Und sie fuhr fort:

»Ich verstehe jetzt aus immer größerer Nähe, was mein armer kranker Vater an seinen längstverstorbenen Sohn schrieb. Ich sehe ein, daß es blasphemisch ist zu sagen: Gott ist groß, er ist gerecht und gut. Es sind Prädikate am Gegenteil gemessen, auf die Endlichkeit eingestellt. Können ja nicht einmal wir armen Menschenkinder ohne Schamröte anhören, wenn man uns um Eigenschaften lobt, deren Fehlen ein schwächlicher Mangel wäre. Könnte er denn auch ungerecht und klein und böse sein? So begreife ich auch, wie der Gläubigste, der im tiefsten Abgrund nach ihm geschürft hat, dazu kommen konnte zu sagen: ›Gott ist die große Stille‹ und schließlich in immer höherer Verzückung: ›Er ist das Nichts‹, denn er kann ja kein für uns faßbares Etwas sein. Mit dem leisesten Atemzug haucht er jede Form, in die man ihn schlagen will, um. – Nein, mein Glaube kann sich keiner vergänglichen Form verpflichten. Gäbe es eine allgemeine, ewiggültige, so müßte sie dem Menschen eingeboren sein. Aber nichts ist ihm eingeboren als die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren und der Drang, sich ihm hinzugeben. Die Gottheit verhüllt ihr Gesicht, damit wir sie an immer höherer Stelle suchen.«

Johanna fand hierauf nichts zu erwidern. Sie lebte geborgen in einer festumgrenzten Glaubensform, die ihr Sicherheit gab; aber sie konnte sie der Freundin nicht beibringen, die an das Niezubegrenzende glaubte.

Doch die Glaubensgespräche, einmal angeregt, entspannen sich immer aufs neue zwischen beiden.

»Wart ihr im Kloster von San Marco in Florenz?« fragte Vanadis. »Dort an einer der Mauern befindet sich ein Bild von Fra Angelico, über dem man endlos sinnen könnte. Es heißt Cristo in Pretorio und stellt den verspotteten Gottessohn dar, nicht mehr in Knechtsgestalt und nicht mehr als den Sohn, sondern ganz Gott selbst geworden, auf seinem Weltenthron sitzend. Noch mit der Binde um die Augen aber den Erdball in der Hand, als der einzig Seiende der Zeitlichkeit entrückt. Um ihn im Leeren sind Münder, die nach ihm spucken, sind Hände, die nach ihm schlagen, nach ihm stechen, Hände ohne Körper, sie erreichen ihn nicht, sie hängen klein und kraftlos im Raum, der keiner ist, und sie sind selber nicht. Das ist ein wie aus indischer Gedankentiefe geborenes Gleichnis des Zeitlosen in seinem Verhältnis zur Zeitlichkeit, die es nicht berühren kann.«

»Und doch, so ferne er dir scheint, du trägst ihn in dir«, sagte Johanna, »und hättest ohne ihn nicht eine Stunde leben können.«

»Ich trage ihn in mir und hätte ohne ihn nicht eine Stunde leben können. Er hat mich ausgeatmet und wird mich wieder einatmen. Und daß ich nicht weiß, mit welchem Namen ihn nennen, wird er mich nicht entgelten lassen. Weiß ich ja nicht einmal, wie die Gestirne, die doch sichtbar über uns wandeln, sich mit ihren eigenen leuchtenden Namen untereinander nennen. Und ebensowenig weiß ich, mit welchem Namen mich die Gottheit nennt. Vielleicht wenn sie mich ruft, werde ich ihn in meiner letzten Stunde hören, denn auch ich bin ein ungelöstes Rätsel wie du und wir alle.«

Oskar, der zum Glück für ihn stark in Anspruch genommen war, kam, sooft es seine Pflicht gestattete, und saß ein halbes Stündchen neben ihr, ihre Hand in seiner haltend, heimlich die Pulsschläge zählend. Sie sprachen von ihrer gemeinsamen Jugend, von Esther und vom Falada, denn da ihm von ihrem dazwischenliegenden Leben wenig bekannt war und es ihr ebenso ging mit ihm, hatten sie keinen Gegenstand, der ihnen näher lag.

»Viel war dir auferlegt von jungen Jahren an«, sagte er. »Aber du trugst es nicht auf Schultern, du trugst es auf Schwingen. Und sieh, keine deiner Schwungfedern fiel dir aus.« Dann erzählte er ihr von der guten, wunderlichen Tante Fanny, an der er nie vorüberging, wenn er die Heimat besuchte, wie sie jetzt rührend sei in ihrer Sanftmut und ihrem Silberhaar. Die Nichte hatte ihr, solange sie in Italien lebte, jedes Jahr eine Einladung samt Reisegeld geschickt. Fanny hatte jedesmal geantwortet: »Später!« und hatte das Geld an die Gräber gewandt. Die Gräber hatten es ihr angetan, die Gräber waren ihre Welt, sie betreute sogar das des Falada. Jetzt hatte sie noch eines, das teuerste von allen, zu hüten, jetzt nahm sie keinen Teil am Leben mehr und hatte schon ihr eigenes dazu gekauft.

Als die Schule für Stefan wieder begann und gleichzeitig auch an der Anstalt die Arbeit sich mehrte, durch die Johanna mit in Anspruch genommen war, blieb Vanadis mehr als zu Anfang auf sich selber angewiesen und fand im Alleinsein einen neuen Reiz und eine neue Befriedigung. Sie hielt lange Zwiegespräche mit sich selber, wovon sie zuweilen etwas dem Papier mitteilte. Sie spaltete sich dabei in zwei Personen und sah sich wie mit fremden Augen an, was ihr nie zuvor geschah. Damit rückte sie, was noch bedrängend war, weiter von sich.

»Viel war dir auferlegt von frühesten Tagen«, sagte der Freund, »und er hat recht. Aber dennoch warst du eine Begünstigte, Vanadis. Du trugst es nicht auf Schultern, du trugst es auf Schwingen, das war deine Vergünstigung. Unglück hat dich getroffen wie wenige, es hätte ausgereicht, mehr als nur ein Menschenleben mit Leid zu füllen. Aber immer war es ein adliges, ein erlesenes Unglück. Den Schmutz der langen, staubigen Straße hast du nicht gekannt, der Alltag durfte dich nicht verschlucken. Ist das nicht Grund genug, dein Los zu preisen?«

Und weiter sprach sie zu sich, als ob es eine andere wäre:

»Sie loben dich, daß du in guten und bösen Tagen bescheiden geblieben seiest. Sie wissen nicht, was sie reden. Du warst bescheiden aus Stolz, denn du hast dich nie nach unten verglichen, nur nach oben. Und nach oben blickend wurdest du, nein, bliebst du bescheiden.« –

»Talente waren dir gegeben, aber kein Talent, kein starkes, führendes, oder du wagtest nicht, dich seiner Führung anzuvertrauen. Gestalten trugst du in dir, die ins Leben wollten, du riefst sie nicht. Nun schweben sie traurig zwischen Sein und Nichtsein, bis ein anderer sie erlöst.«

»Was an dir Gutes ist, das ist nicht dein, es ist Familiengut und wurde von langer Hand her für dich gesammelt. Ein jedes deiner Vorangegangenen war an seinem Platz ein Beispiel. Im Hause Folkwang stirbt man nicht stückweise, man geht mit seinen Idealen wie ein Schiff mit seiner ganzen Fracht unter.«

So ahnungsschwer diese Zeilen lauteten, war sie sich ihrer Lage doch nicht voll bewußt. Sie fühlte, daß sie der Vollendung zuging, aber das Wann und Wie blieb ihr ferne wie in ihren besten Tagen. Tod und Leben spielten ihr durcheinander wie Tag und Traum. Es gab keine feste Grenze mehr, und sie sah immer noch Raum vor sich. Zuweilen schien sie irre zu reden, nur Stefan verstand sie noch, denn auch er lebte, fühlte, dachte ohne Grenzen. Sie machte die Erfahrung, daß niemand der gereiften Frauenseele näher ist als der reifende Jüngling. Wundersamer Kreuzungspunkt, wo die zwei Geschlechter sich einmal geistig tiefer zu erfassen vermögen als in irgendeiner normalen Bindung. Wenn er zu ihren Füßen saß und ihre Hände hielt, die im Schoße lagen, so sprach sie zu ihm, nicht als zu dem Knaben, der er war, sondern zu dem Mann, der sich später dessen erinnern würde. Und Stefan wuchs in diesen Wochen so rasch, daß er das Später vorausnahm und gleichen Schritt mit ihr hielt. »Holdes Gaukelspiel, umgaukelst du mich auch jetzt?« schrieb sie in ihr Gedenkbuch. »Ich glaube, ich hätte mich in den lieben Jungen wirklich verlieben können und mir einbilden, daß er der einzige wäre, und Torheiten begehen, die mich in die Nähe der unglücklichen Corinna gebracht hätten.«

Zuweilen suchte sie in Oskars Gesicht zu lesen. Er erwiderte den Blick mit heiterer Sicherheit. Dann wandte sie sich wieder Stefan zu. Als ihr dieser gestand, daß er sich zuweilen dichterisch versuche, weihte sie ihn in ihre eigenen, nie ausgeführten Anläufe ein. Und eines Morgens las sie ihm eine Strophe, die ihr über Nacht gekommen war:

»Wo, in welchem seligen Raume,
Ihr Kinder meiner ersehnten Müh'n,
In welchen von mir nie zu betretender Gärten
Werdet ihr Schönen aus fremdem Traume,
Eines andern Frühlings Gefährten,
Ohne mich blühn?«

»Wer sind sie, die Schönen?« fragte er erwartungsvoll.

»Es sind Gestalten, die ich in mir trug, sie gingen durch mein ganzes Leben mit, aber ich hatte nicht Kraft genug, um ihnen Blut zu geben. Und doch wollen sie immer noch herauf in den Sonnenschein. Oft in der schönen glühendheißen Sommerzeit waren sie wieder ganz nahe, ich meinte ihren Atem am Gesicht zu spüren. Aber ich habe sie zu lange warten lassen, sie folgen mir nicht mehr. Und seit es herbstet, sind sie versunken.«

»Sie werden wiederkommen«, sagte er mit leuchtenden Augen.

»Nein, ich habe heute nacht Abschied von ihnen genommen, und ich lasse sie dir. Du sollst sie einmal, wenn du die Kraft hast, zum Leben rufen.«

»Wie heißen sie?«

»Es ist ein Schwesternpaar, sie heißen Peregrina und Perdita.«

»Welch schöne Namen«, sagte er.

»Ja, aus den Namen wächst das Schicksal. Ich erzähl' es dir ein andermal, heut bin ich müde.«

Aber Stefan kam immer wieder auf Perdita und Peregrina zurück. Da machte sie in halbem Traumentgleiten ein Kindermärchen daraus, in dem sich Elemente des Lebens mit solchen des Traums und der Dichtung mischten, und wenn sie stockte, hieß sie ihn fortfahren.

»Die beiden Schwestern waren Königstöchter von Zypern. Ihr Vater war in seiner Jugend ein großer Kriegsheld gewesen, aber als er seine wunderschöne Königin verlor, fiel er in Schwermut. Die Räte lagen ihm an, wieder zu heiraten, er aber wollte nur eine Königin, die ebenso schön wäre wie die verstorbene. Doch nirgends fand sich eine solche Königin. Unterdessen wuchs Peregrina heran, sie glich der Mutter.« – »Oh«, rief Stefan ahnungsvoll. – »Der König bemerkte es und wurde unruhig: wenn er die Tochter ansah, meinte er ihre Mutter zu sehen, und seine Schwermut wurde noch größer, daß er keinen Menschen mehr vor sich ließ. Jetzt erzähle du weiter, Stefan.« – »Er hatte einen bösen Ratgeber«, nahm dieser den Faden auf, »der ihm seinen Wunsch aus der Seele las und sich bei ihm Einlaß zu verschaffen wußte. Der lag ihm an, sich nicht zu verzehren, sondern nach seinem Herzen zu tun und die Prinzessin zu heiraten.«

»Kann denn ein christlicher König seine Tochter heiraten, Stefan?«

»Nein, das kann er nicht, eben darum war er ja so traurig. Der schlimme Ratgeber riet ihm zu einer Tat, die, wenn sie geschehen wäre, eine Empörung zur Folge gehabt hätte, und das eben wollte der Treulose. – Jetzt ist aber die Reihe wieder an dir, Vanadis.«

So flog der Ball zwischen ihnen hin und her. Ein holder Spieltrieb war in ihr wie in der sterbenden Großmutter. »Ich muß also jetzt den Weg gehen, den du willst«, sagte sie, seinen Märchenfaden fortspinnend, und hub wieder an: »Es war bei Hofe ein Narr, den alle zum besten hatten und der auch selbst die andern zum besten hielt. Dieser konnte mit seiner Narrenfreiheit eindringen, wo er wollte, und war so der einzige, der von den Anschlägen des bösen Ratgebers erfuhr. Er ging und warnte die Prinzessin, die er liebte, und beschwor sie zu fliehen, er wollte sie selbst in einem Boot über das Meer rudern. Da fiel die kleine Perdita der Schwester um den Hals und bat, sie auch mitzunehmen, weil sie nicht ohneeinander leben konnten. So flohen sie zusammen auf das Meer. Was geschieht jetzt, Stefan?« – »Jetzt fallen sie natürlich in die Hände der Piraten.« – »Ja, richtig, der Piraten. Aber ein junger Seeheld rettet sie.« – »Ein Seeheld? Wie heißt er?« – »Er heißt – warte, ja – er heißt Rodrigo.« – »Ist er ein Spanier?« – »Niemand kennt seinen Ursprung, er selber nicht.« Sie stockte, und Stefan half weiter: »Ich denke, er verliebt sich in eine der Schwestern.« – »Jawohl, und beide in ihn.« – Jetzt wurde Stefan ein wenig eifersüchtig: »Gleich beide? Ich meine, daß das zuviel ist.« – »Nein, nein, es ist nicht zuviel, er verdient es. Er liebt Peregrina, denn die arme kleine Perdita ist noch ein Kind. Diese will die beiden Großen glücklich sehen, aber sie liebt den jungen Helden so sehr, daß sie vor Liebe hinsiecht und stirbt.« – »Das ist schön«, sagte Stefan. – »Sie fuhren eben an Frankreich hin«, sprach sie weiter. »Bei der Rhônemündung, weißt du, steht eine uralte Kirche, gewaltig wie eine Festung, dort stiegen sie an Land und begruben die kleine Perdita. Der Ort ist so einsam und so eigen, ein schmaler Weg führt zwischen dem Meer und dem Friedhöfchen hart über dem Wasser hin, das braun von den vielen Rhônemündern anbrandet.« – »Warst du auch dort?« fragte Stefan. – »Ja, ich war dort«, murmelte sie halb entschlummert, »ich legte einen Kranz auf Alberts Grab.« – »Alberts?« – »Ach«, ermunterte sie sich, »ich wollte sagen, Perditas.« – »Und die zwei andern, was wird aus ihnen?« – »Ich glaube, sie fuhren zusammen nach Italien. Auch dort ist eine heilige Stromesmündung. Da saßen sie auf einer Düne unter dem Schirmdach der Pinien, und dort ist ihnen das Herz zersprungen.« – »Warum zersprungen, Vanadis?« – »Es war da ein Geheimnis, nur der Narr wußte es, weshalb sie nicht zusammenkommen durften.« – »Waren sie vielleicht Bruder und Schwester?« – »Etwas Ähnliches muß es gewesen sein.«

Oskar trat herein: »Darf ich dir noch eine Spritze geben, oder stört es dich?«

»Was von dir kommt, stört mich niemals«, antwortete sie innig. Des andern Tags sagte Stefan: »Du hast mich zum besten gehabt mit deinem Märchen. Das ist nicht die wahre Geschichte von Peregrina und Perdita. Ich hab' es gefunden: die beiden sind kein Schwesternpaar. Sie sind beide du, du hast dich in zwei Hälften geteilt, und eine spricht zur anderen.«

»Was er nicht alles weiß«, sagte sie und fuhr ihm zärtlich durchs Haar.

So friedlich heiter klangen ihre Tage aus. Sie bat die Schwalben, die ihre Brocken holten: »Bleibt noch ein Weilchen hier, es ist ja noch nicht Herbst.« Sie schlief jetzt viel und pflegte zu sagen: »Ich schlafe mich gesund.« Sie war reife Frau und Kind, Blüte und fallende Frucht zugleich.

Noch einmal warf ihr Geist eine höhere Welle auf, als sie sich in einer ruhelosen Nacht ihr eigenes Sterbelied dichtete. Das tat nicht ihr unbewußt lebendes, dem Leben unverbrüchlich zugewandtes Tages-Ich, sondern jenes Wissende, Höhere, das immer in Träumen und Gesichten zu ihr gesprochen hatte:

»Und näher, näher kommt die dunkle Stunde,
Nachtfalter schon von Lethes Strome schwirren
Herauf und klagende Schatten seh' ich irren
Im Traum der Nacht als Bringer ernster Kunde.

So laß die Scheiter in der Glut verglosten
Und sei nicht zärtlich mit dir selbst, die Pein
Der letzten Stunde muß der Stärkste kosten,
Und auch der Reichste liegt im Grab allein.

Du hoher Geist, vor den ich hoffend trete,
Du weißt von mir, was niemals ich gewußt.
Verlornes Kind, entatmend im Gebete,
Leg' ich mein Haupt an deine Gottesbrust.«

Eine heftige Erregung wurde durch diese Welle aufgestürmt und kam nicht mehr zur Ruhe. Ihr Körper litt, und der Geist begann mit Schatten zu ringen. – Es ist Zeit dachte Oskar. Da war es, als hätte ihr Geist seinen Geist verstanden. Ohne der Bedeutung bewußt zu sein, streckte sie ihm den Arm hin und sagte: »Es ist Zeit!«

Oskar hatte alle die Wochen her Unbeschreibliches gelitten, jetzt war er vollkommen ruhig. Er reichte ihr in seiner Spritze die letzte und stärkste Schlummergabe, von der es kein Erwachen gab. Dann saß er bei ihr und hielt ihre Hand, bis nach Stunden der Puls verebbte. Bevor sie erkaltete, küßte er die Schöne, Edel geformte, und legte sie auf die Decke zurück. Johanna, die zu ihm trat, führte er still hinaus und schloß sie draußen weinend in die Arme. Auch Stefan ließ er nicht mehr ins Zimmer. »Gedulde dich«, sagte er, »morgen früh wirst du ihr Jugendbild sehen.«

Stefan, so frühreif er war, verstand noch nichts vom Tod, er fühlte nur ein Heiliges, Unbegreifliches um sich her. Seine Tränen waren ohne Bitternis, und er lag schon in tiefer Ruhe, als sein Vater noch lang mit feuchten Tüchern um die Entschlafene beschäftigt war. Aber in der ersten Helle erhob er sich und schlich auf Zehen zu seiner Freundin hinüber. Er nahm die Tücher von ihrem Gesicht, da lag die junge Vanadis und lächelte. Es war aber nicht der selige Leichtsinn der Großmutter, der ihr Angesicht verklärte, um den stillgewordenen Mund schwebte das unergründliche Lächeln anderer Welten.

»Ewige Geliebte«, sagte der junge Stefan und sank in die Knie.

 

Ende


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