Isolde Kurz
Vanadis
Isolde Kurz

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Viertes Kapitel. Schwester Eugenie

Kein Fernstehender hätte in dem abgezehrten Gesicht der jungen Krankenschwester, die selber todkrank aus dem Typhusspital in eine kleinere Privatklinik außerhalb Hannovers gebracht wurde und dort noch wochenlang bewußtlos lag, die blühende junge Folkwangstochter erkannt. Sie schien um Jahre gealtert, die Haare, bis zur Kopfhaut abgeschoren, fingen nur eben wieder zu sprossen an. So hatte sie einer gefunden, der sie durch halb Deutschland suchte, und aus dem Haus des Todes mit sich genommen. Daß er sie finden konnte, geschah durch eine Fügung, die an Wunder grenzte.

Vanadis hatte sich seinerzeit unter falschem Namen vorgestellt und hieß in der Anstalt Schwester Eugenie. Anfangs hatte man ihr nur die niederen Verrichtungen übertragen, aber bald zeigte sich die Brauchbarkeit, die stets aus einem überlegenen Verstand und einer höheren Bildung fließt, und sie wurde eine bevorzugte Stütze der Helfer. Die Wut der Seuche war auf ihrem Höhepunkt, mehrere Schwestern, ein junger Assistenzarzt waren ihr schon mit erlegen. Da war jede Hilfskraft willkommen, wenn sie durch guten Willen und rasches Erfassen die Schulung ersetzte. Zuerst war es nur das Würfelspiel um Tod und Leben, das sie dem Schicksal anbot, aber beim Anblick der Kranken erwachte das Mütterliche in ihr und die Stimme, die gesagt hatte: Wo ein Mensch leidet und stirbt, immer ist es Edwin Leo. Jetzt sah sie leiden und sterben und lernte an den Tod glauben, der jederzeit auch nach ihr greifen konnte. Sie verachtete jetzt ihr früheres tatenloses Hindämmern im Hause der Generalin und tat mehr, als ihres Amtes war. Den Schwerkranken und Sterbenden stand sie am liebsten bei, diese fühlten Schwester Eugeniens Nähe wohltätig, auch ohne sie in die Erkenntnis aufzunehmen, und manchen drückte sie im Lauf der Monde die Augen zu. Aber eines Morgens, als sie sich nach schwerem Nachtdienst zur Ruhe legen wollte, verlor sie das Bewußtsein, und die Krankheit, deren Nahen sie verheimlicht hatte, brach an ihr selber aus.

Niemand wußte, wer Schwester Eugenie war und wohin die Nachricht von ihrer Erkrankung senden. Briefe hatte sie niemals empfangen. Aber beim Durchblättern ihrer schriftlichen Sachen fand sich ein zufällig dahin verirrtes ärztliches Rezept, auf dem der Chefarzt die Unterschrift seines eigenen Bruders erkannte. So wurde eine unerwartete Verbindung mit den Angehörigen hergestellt. Die Generalin wollte sogleich reisen, aber da war jetzt einer, der als Vertreter des Vaters das nähere Recht zu haben schien – Egon!

Vor Wochen war er plötzlich an der Tür der Großmutter gestanden, tief erschüttert von den Veränderungen, die er traf. Sein Freund Folkwang unheilbar in der Anstalt, Gunther tot, das Kind, das er anbetete, verschwunden! Und er war ferne gewesen, hatte nichts von allem erfahren als den Verkauf des Hauses und den Umzug in die verhängnisvolle Straße! Er suchte die Generalin auf, ihren Hausarzt, alle, die brieflich oder persönlich mit der Verschwundenen in Beziehung gestanden. Da war kein Fingerzeig, kein Trost als ihr Versprechen, sich kein Leid zu tun, bis jene Anzeige kam, auf die er noch in derselben Nacht nach Hannover gefahren war. Dort bereitete er mit aller Weisheit vor, was nach schweren Krankheitswochen zur Wahrheit wurde: als sein Liebling zum ersten Male zu sich kam, saß der Freund neben ihr und hielt ihre Hand. Sie lächelte ein wenig und schloß die Augen wieder, wandte sich aber mit dem ganzen Gesicht nach ihm herüber wie die Blume nach der Sonne. Sie wußte nichts von den letzten Vorgängen ihres Lebens, nur daß eine ungeheure zentnerschwere Last auf ihrem Hirn gewuchert hatte und jetzt herabgeglitten war, aber noch immer neben ihr lag, da auf der anderen Seite des Kissens. Doch von der Stelle, wo Egon saß, strömte etwas Licht-, Heilbringendes herüber. Und von nun an ging es mit Riesenschritten der Genesung zu. In der noch warmen Spätherbstluft, unter goldenen Blättern, die sich leise lösten, machte sie die ersten Schritte an seinem Arm. Sie fragte nichts, und er fragte nichts, er erzählte ihr von ihren Kinderspielen, von der Lumbell und dem Brautschleier der Großmutter. Doch schnell erkannte er den Mißgriff, der auf hochzeitliche Vorstellungen führen konnte, und erkundigte sich nach dem Falada, über dessen Tod ihr die Tränen strömten. Er lobte ihr tapferes Verhalten und sprach von den Leiden, denen das arme Pony unter der Peitsche des Zirkusdirektors entgegengegangen wäre.

»Ja, das sagte Oskar auch«, antwortete sie nachsinnend, denn immer mehr tauchten ihr jetzt die Bilder der vorletzten Vergangenheit auf, während die der letzten noch versunken blieben. – »Der treue Oskar! Weißt du, er hat mir das Leben gerettet. Vater – ach, es ist zu traurig, um es auszusprechen.«

»Ich weiß, mein Liebling, ich weiß.«

»Egon, du hättest uns nicht verlassen sollen.«

»Ich werde es mir ewig zum Vorwurf machen, liebes Kind.«

Er hatte sie in ihr Zimmer zurückgeführt und im Liegestuhl gebettet. Da öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle erschien Esther. Mit einem Freudenruf wollte die Schwester ihr entgegeneilen, vermochte es nicht und klammerte sich schwindelnd an der Lehne fest. Esther kniete neben ihr und umschlang sie mit beiden Armen. Egon glitt aus der Tür und zündete sich im Freien eine Zigarre an.

Die beiden Schwestern saßen beisammen in dem luftigen Gemach, das von immer frischen roten Rosen, der täglichen Aufmerksamkeit Egons, durchduftet war und zu dem die herbstliche Sonnenluft einströmte. Die Genesende wunderte sich nicht über Esthers plötzliches Erscheinen, sowenig sie sich über die noch unerwartetere Anwesenheit Egons Gedanken gemacht hatte. Die beiden vertrauten Gesichter waren jetzt da, weil sie ihrer bedurfte. In Wirklichkeit hatte Esther schon all die Zeit auf den Augenblick gewartet, wo es ihr erlaubt sein würde, in Erscheinung zu treten, denn nun mußte sich's zeigen, wieviel das geschwächte Hirn fähig war, von der Wirklichkeit aufzunehmen. Esther begann damit, ihr die Grüße der Großmutter zu überbringen. Die Schwester nickte dankbar und murmelte: »Es ist genug.« – Mehr des Neuen vermochte sie noch nicht zu fassen. Es brauchte noch einige Tage, bevor sie Esthers Erscheinung mit einem fragenden Blick umfing. Die kleine Schwester schien ihr gewachsen, ihre festen blonden Flechten, in Muscheln um die Ohren gelegt, gaben ihrem ernsten Gesichtchen mit den kornblumenblauen Augen den Ausdruck früher Einsicht und Reife, der sie älter machte als ihre Jahre.

»Du trägst dich jetzt ganz schwarz, Esther?« fragte Vanadis zögernd und mit sichtlichem Widerstreben.

Esther nahm ihr Herz in beide Hände, denn dies war der Augenblick der Entscheidung.

»Gunther ist von uns gegangen«, sagte sie leise.

»Ach, Gunther!« sagte die Schwester und legte ihr Haupt trostlos in die Kissen. »Ich wußte es schon einmal, aber ich hab' es wieder vergessen. Ich vergesse jetzt alles.«

»Wer hat es dir gesagt?«

»Niemand sagte mir's. Er selber – er stand des Nachts an meinem Bett und sah mich an, als wollte er Abschied nehmen. Ach Gunther, mein armer Bruder! Warum tat er das?«

»Wir wissen es nicht.«

Diese Hellsichtigkeit, die vielleicht aus den heimlich gefühlten Gefahren in Gunthers Wesen geflossen war, verlor sich wieder im weiteren Verlauf der Genesung, wonach sie eine Zeitlang glaubte, daß er an einer Krankheit gestorben sei. Aber noch hatte sie nicht die Kraft, weiterzuforschen.

Egon, der nicht allzulange stillsitzen konnte, reiste ab und zu. Er wußte seinen Liebling in der Obhut der kleinen Schwester wohl geborgen. Die Vierzehnjährige mit dem Frauenherzen war jetzt die Ältere von beiden geworden, denn Vanadis lebte in einer Art zweiter Kindheit, bis ihr die Körperkräfte zurückkehrten und damit auch das Gedächtnis wieder erstarkte. Nun hieß es endlich die traurige Heimkehr vorbereiten.

»Du wirst von Fanny nichts mehr zu leiden haben. Gunthers Tod hat sie ganz verändert. Sie will nicht mehr herrschen, sie hat die Schlüssel mir gegeben. Sie will nur noch bei uns leben, um in Vaters Nähe zu sein.«

Es war richtig. Als Vanadis nach Wochen, von Egon geführt und von Esther begleitet, das düstere Haus an der Fehlhalde wieder betrat, kam ihr Fanny entgegengerannt, um sie zu umarmen, was sie sonst niemals tat, und war voll wohlgemeinter, wenn auch nicht wohltuender Geschäftigkeit. Auch sie hatte schwer gelitten, ihre Augen brannten in einem geröteten, abgezehrten Gesicht.

»Nicht weinen! Nicht weinen«, beschwichtigte sie eifrig, als die Angekommene beim Betreten der alten Räume in Tränen ausbrach. Egon aber, der bessere Herzenskenner, sagte: »Weine, weine Kind! Ungeweinte Tränen sind fürchterlich!« Und er legte ihren geschorenen Kopf, der nur wie ein Mäuseköpfchen behaart war, an seine Brust. Ihr Schluchzen ging in Herzstöße über, Fanny lief nach Wasser, aber Egon sagte: »Lassen Sie! Alles muß herunter!« und bettete sie, als der Krampf nachließ, mit Esthers Hilfe auf dem alten Sofa. Sie drückte dankbar seine Hand. Aber sie hätte nicht hören dürfen, wie er eine halbe Stunde später zu der Großmutter sagte:

»Sie hat sich ausgeweint. Endlich wird sie diesen Menschen vergessen, der ihr nie hätte begegnen dürfen.«

»Ich fürchte, Sie irren sich, lieber Egon«, sagte diese. »So wie sie ihn sah, war er kein Wesen der Wirklichkeit. Er ist eine Geburt ihrer Seele, also ein Stück von ihr selbst; ein solches vergißt man nie.«

Auch die Generalin, die sich bald danach einfand, stimmte dieser Auffassung zu: »Wenn Edwin wiederkäme«, sagte sie zu ihrer alten Freundin, »er fände seinen Platz von einem andern Edwin besetzt, mit dem er sich nicht vergleichen könnte.«

Mit ihrem schwarzen Kleid war sie in den Kreis schwarzer Kleider getreten, wo bei ihrem Anblick alle Tränen frisch flossen. Aber ihre Gegenwart hatte etwas Aufrichtendes und Starkes, von dem ihre Zärtlichkeit für die verwitwete Braut sich wehmütig abhob.

»Seid mir vorsichtig mit ihr«, empfahl sie den Angehörigen. »Das Leben ist noch nicht wieder ganz festgewurzelt in dem Kinde.«

Vanadis war immer sehr sanft und still. Sie gab sich gerne mit Tieren und Blumen ab und mochte nur stille und sanfte Menschen um sich haben, am liebsten ihr Schwesterlein. Corinna, der männlichen, ging sie aus dem Wege. Man sah wohl, daß ihr Kopf gelitten hatte, denn geistig war sie nicht mehr dieselbe. Um so mehr staunte die Umgebung (Egon war schon wieder abgereist), als sie eines Tages ganz bestimmt und sachlich erklärte, nunmehr ihren Beruf als Krankenschwester wieder aufzunehmen und zu diesem Zweck noch einen nachträglichen Kursus mit anschließender Prüfung durchmachen zu wollen.

Die alte Frau van der Mühlen, von allen Seiten um ein Verbot bedrängt, antwortete in ihrer Verständigkeit: »Ich habe es längst verlernt, den Kindern in ihrer Lebensführung dreinzureden. Sie wissen besser als wir Alten, was sie bedürfen.«

 

Gunthers Todestag jährte sich zum zweitenmal, da ersuchte ein Telegramm der Großmutter, dem schon ein Brief vorausgelaufen war, die Rotekreuzschwester Eugenie Folkwang, baldmöglichst nach Hause zu kommen, wo ihre Hilfe nötig sei. »Nach Hause« hieß jetzt wieder in das alte van der Mühlensche Haus, denn das Unglücksheim an der Fehlhalde war aufgelöst. Fanny war mit dem Rest des verkauften Hausrats in ein paar Stübchen in der inneren Stadt gezogen, die sie ganz vollstapelte mit den Bücherschätzen Heinrich Folkwangs, obwohl der Anstaltsleiter ihr versichert hatte, der Eigentümer würde schwerlich zurückkehren, um noch einmal davon Gebrauch zu machen. Esther wohnte in dem Zimmer, das vormals dem Großvater gehört hatte und das über den Garten ihrer Kindheit weg nach dem Flusse sah. Dort kam die Nachmittagssonne herein, deren Übermacht ein grüner Rollvorhang abwehrte, und Topfblumen standen auf einem Stufengerüst freudig lachend aufgebaut. Aber die Rückkehr aus der langen, sonnenlosen Verbannung in dieses paradiesische Heim kam zu spät, um Esthers gesunkene Kraft zu heben. Der alte Kreisarzt, der das Kind von klein auf kannte, machte der Großmutter gegenüber kein Hehl daraus, daß Esthers Lunge angegriffen sei und besondere Schonung benötige. Jedoch das Kind wollte weder die geliebten häuslichen Pflichten, die es sogleich übernommen hatte, wieder abgeben, noch auf den Schulbesuch, der ihm gleichfalls am Herzen lag, verzichten. So strengte sie sich fortwährend trotz allem ärztlichen und großmütterlichen Einspruch über ihre Kräfte an, und daneben zehrte noch ein stiller, unaufhörlicher Gram an ihr, den kein Sonnenschein wegküssen konnte: das Heimweh nach der abwesenden Schwester. Frau van der Mühlen hatte ihr versprechen müssen, der Entfernten kein Wort von ihrem Zustand zu schreiben. Aber jetzt erschien auf einmal zu Esthers unaussprechlicher Freude Oskar Wittich auf dem Plan und machte schnell allen Halbheiten ein Ende. Sein erster Gang war in das Haus van der Mühlen, er untersuchte Esthers Lunge und erklärte der erschrockenen Großmutter unumwunden, daß Esthers Leben in Gefahr sei, wenn nicht ein sofortiger Umschwung aller ihrer Gewohnheiten eintrete. Sie brauche völlige Ruhe, sorgfältigste Pflege und womöglich Hochgebirgsluft. Da flog der Brief der Großmutter an die ältere Enkelin hinaus und legte dieser den Widersinn nahe, fremde Menschen pflegen zu wollen, während es den Nächsten und Liebsten an Hilfe und Pflege gebrach. Der Brief tat seine Wirkung. Schwester Eugenie nahm einen langen Urlaub, und das nachfolgende Telegramm gab ihr Flügel, so daß sie schon nach wenigen Tagen ihre kranke Schwester im Arme hielt. Estherchen, so unvermutet von zwei Sonnen bestrahlt und von allen Beschäftigungen entbunden, nur ihrem Glücke lebend, blühte wieder auf, sang und sprang durch den Garten. Nur von Davos wollte sie nichts hören, so schön wie an ihrem geliebten Flüßchen, in dem geliebten Garten, beim Grab des Falada sei es doch nirgends auf der Welt. Die Schwester begriff und die Großmutter ahnte es, daß ihr Oskars Nähe wohler tat als Höhenluft und aller Ozon der Wälder; und jetzt war Aussicht, diese Nähe lange zu genießen, denn er wohnte bei seiner Mutter und arbeitete seine Doktorschrift aus. So einigte man sich auf einen späteren Herbst- und Winterkuraufenthalt im Süden, für den Frau van der Mühlen ihren letzten Schmuck, die kostbaren Ringe, die an ihren schönen Händen funkelten, opfern wollte.

Schwester Eugenie, wie sie auch von den Ihrigen genannt sein wollte, und Oskar Wittich fanden sich in der gemeinschaftlichen Sorge wieder zusammen. Aber sehr anders als ehedem waren jetzt ihre Gespräche. Sie redeten wie zwei erfahrene, gesetzte Kollegen von ungewöhnlichen Krankheitsfällen, von neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und dergleichen. Unmerklich waren sie dabei in das Du ihrer Kindertage zurückgeglitten; nur mit ihrem Namen durfte auch er sie nicht nennen: er verstand, daß sie mit diesem Namen ihre Jugend dem Geliebten als Opfer ins Grab legte. Esther trank begierig ihre Reden, ganz durchdrungen vom Glück, zwischen den zwei Menschen, die sie am meisten liebte, Band und Brücke zu sein. Vanadis war auch äußerlich stark verändert, oberflächliches Anschauen mußte sie in der dunklen Tracht mit dem schmucklosen kurzen Haar, über das sie beim Ausgehen die Haube band, gealtert finden, durchdringenderen Blicken war sie mit dem ernsten und tiefen Glanz der Augen vielleicht schöner. Von Edwin sprach sie niemals mehr, auch nicht gegen Frau von Leo, die gelegentlich herüberfuhr, um einen Sonntag bei der alten Jugendfreundin zu verbringen, und die das blasse Mädchen wie ein Glied ihrer eigenen Familie, das sie hätte werden sollen, behandelte. Dieses Schweigen schien den andern ein Zeichen von Heilung, aber es beunruhigte die seelenkundige Frau van der Mühlen, die sagte: »Jetzt macht sie ihn vollends ganz zum Heiligen!«

Seit Gunthers Begräbnis hatte die alte Frau Oskar an seiner Stelle zum Enkel angenommen und besprach, wenn er anwesend war, alle ihre Sorgen mit ihm. Esthers Wiederaufblühen seit seinem Hiersein erfüllte sie mit innigem Troste. Aber daß die strahlende Gestalt der Ältesten Tag für Tag im dunklen Schwesternkleide ging, daß sie ihren phantastischen Namen abgelegt hatte und auch für die Nächsten und Liebsten Schwester Eugenie sein wollte, das zerbrach ihren Ehrgeiz und wühlte mit tausend Nadeln in ihrer Seele. Oskar schüttelte den Kopf: »Es wird nicht ihre letzte Wandlung sein. Aber glauben Sie mir, sie bleibt unter allen Wandlungen die gleiche.«

»O lieber Oskar, du kennst dieses Kind noch nicht, wenn es sich etwas in den Kopf setzt«, antwortete die alte Frau. – »Ich kenne es wohl«, entgegnete er leise.

Jeden zweiten Tag, solange das Wetter noch schön war, besuchten die Schwestern Gunthers Grab und brachten ihm die letzten Astern und Dahlien aus seinem Jugendgarten. Aber fast immer fanden sie die Stelle schon geschmückt, denn diese Aufmerksamkeit ließ sich der alte Wittich nicht nehmen. Esther betete immer leise mit tiefster Inbrunst, die Schwester schwieg und blickte zerstreut über die Gräberreihen hin; zuweilen ertappte sie sich dabei, daß sie auf Oskar wartete, ob er sich nicht wie in alter Zeit dazu finde. Einmal fragte Esther beklommen: »Denkst du schlecht von Gunther wegen seiner Tat?«

»Ich schlecht von ihm denken!« rief die andere entsetzt. »Ich bewundere die tapfere Hand, die das vermocht hat! – Was auch der Grund gewesen sei! Sie hat ganze Arbeit gemacht, Männerarbeit! – Weißt du«, bekannte sie leise, »daß ich mit dem gleichen Gedanken umging? Aber ich war feige, ich wollte mich fortstehlen, mich an der Verantwortung vorüberschleichen und sie der Vorsehung aufbürden. Aber die Vorsehung ging nicht auf den feigen Handel ein.«

Esthers ahnende Seele erfuhr dabei nichts Neues. Dies war ja die Sorge, die ihr Leben unterwühlt hatte. Sie erhob keinen Vorwurf gegen die Schwester. Ihre Lippen zitterten nur leise, als sie sagte: »Es war nicht Feigheit, es war dein Schutzgeist, der dich hielt. Er weiß es, daß dein Weg nicht zu Ende ist.«

Eines Tages stand ganz unvermutet wie in alter Zeit Baron Solmar mit einem Strauß dunkelroter Rosen an der Tür. Im Frühling hatte er die beiden Schwestern für ein paar Wochen nach Meran geführt, danach war er wieder so gut wie verschollen. Er wohnte jetzt ständig in Florenz, wo er eine herrliche Villa gekauft hatte, die er nach und nach mit Kunstwerken füllte.

»Unserem Hause ist Heil widerfahren«, sagte Frau van der Mühlen, denn von seinem Erscheinen erhoffte sie wie immer einen Wechsel zum Guten, und über die blassen Wangen seines Lieblings ging es wie ein leiser Widerschein von seinen Rosen, in die sie ihr Antlitz tauchte. Aber er war nicht mit ihr zufrieden:

»Noch immer diese Quäkertracht! Sie ist abscheulich, Kind. Laß mich offen reden. Die Jahre gehen hin. Ich möchte dich endlich im Brautkleid sehen, es ist an der Zeit.«

Sie sah ihn eine Weile mit ernsten Augen an, dann lächelte sie schwach: »Da müßtest du dich selbst entschließen, mich zu holen, wie du mir als Kind versprachst.«

Es überlief ihn plötzlich, daß er ihren zärtlich emporgerichteten Kopf wegschob: »Warum denn gerade ich altes Beingerüst?«

»Du kannst dir doch denken, daß ich gerne Baronin würde«, versuchte sie zu scherzen, aber es klang fast wie ein Weinen.

»Du Baronin? Eine solche Mißheirat müßte ich dir als dein Pate ernstlich verbieten. Einen König suche ich für dich, einen Kaiser.«

Bei dem letzten Wort brach ein Blitz der alten Laune durch ihre Schwermut:

»Ein Kaiser von Mexiko wäre schon da. Er hat mich aufgespürt und geht mir seitdem auf allen meinen Berufsgängen nach. Er ist im Kopf nicht ganz richtig und findet, wir würden trefflich zusammenpassen. Wenn sie ihn mir nur nicht eines Tages wegnehmen und ins Irrenhaus stecken.«

Egon lächelte nicht, er hatte den Scherz überhört. »Edles Kind«, sagte er, sie lange und tief anblickend. »Du wärest wert, zu den Befreiten zu gehören. Aber dafür ist es noch zu frühe.«

Sie verstand ihn nicht, und Esther, die zugegen war, verstand ihn noch weniger. Aber sie ging zur Großmutter und flüsterte ihr freudig zu:

»Sie kann wieder lachen, sie wird noch einmal die alte.«

Egon trat bei Frau van der Mühlen ein, die eben mit Fanny zusammensaß, und stellte sich mit scherzhafter Selbstgefälligkeit vor die erstaunten Frauen:

»Vanadis hat mir soeben einen Heiratsantrag gemacht.«

»Ich weiß schon«, antwortete die Großmutter. »Es ist gut, daß Sie ihn nicht angenommen haben.«

»Finden Sie?« fragte er. »Mir scheint, ich wäre im Grunde gar nicht übel, und wenn sich kein Besserer zeigt . . .«

»O tun Sie es«, rief Fanny, »dann hat das Leid ein Ende!«

»Tun Sie es nicht, lieber Egon«, warnte die alte Dame, die diesen Wunsch des öfteren im Ernst gehegt, aber immer wieder verworfen hatte.

Er wanderte nachdenklich durch das Zimmer, blieb dann plötzlich vor der Großmutter stehen und sagte:

»Vielleicht lachen Sie mich aus, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich mitunter schon ernsthaft daran gedacht habe, denn Krankenschwester darf sie mir nicht bleiben. Ich könnte sie ja immer als Vater lieben und ihr alle Freiheit lassen.«

»Sie würde von dieser Freiheit keinen Gebrauch machen«, war die Antwort. »Die Folkwangs sind ein sehr gewissenhaftes Geschlecht. Aber in schwere Wirrungen könnte sie stürzen.«

 

Egon nahm einen Wagen und fuhr in die Heilanstalt hinaus, von wo er tief niedergeschlagen zurückkam. Am Abend saß er lange über einem Bündel Schriften, die ihm der Direktor übergeben hatte. Es waren Betrachtungen und Gedankengänge des unglücklichen Kranken in Gestalt langer Briefe an seinen Sohn Gunther, dessen Tod ihm verborgen geblieben war. Er schrieb oft nächtelang daran, dann steckte er die Blätter morgens in einen Umschlag, den er niemand zur Besorgung anvertraute als dem Oberarzt selbst. Dieser machte sich mit ihrem Inhalt vertraut und sammelte sie als Andenken für die Familie. Daß er keine Antwort empfing, fiel dem Kranken nicht auf. Er knüpfte immer an Fragen an, die mündlich zwischen ihm und Gunther erörtert worden waren, so glaubte er in einem dauernden Austausch mit dem Lieblingssohne zu stehen, der seit zwei Jahren in der Erde schlief. Die niedergelegten Gedanken waren völlig helle, ohne eine Spur von geistiger Zerrüttung oder auch nur Überreizung, und es ging immer um die höchsten Gegenstände. Dem Leser flossen die Tränen über das Gesicht, denn mitunter meinte er geradezu die Stimme des Freundes zu hören, so unmittelbar und ungesucht strömten seine Betrachtungen dem kranken Manne in die Feder. Das Religiöse, das sonst nur einen Einschlag seines geistigen Lebens gebildet hatte, füllte jetzt den größten Raum aus.

»Ich soll mich freuen?« hieß es einmal. »Freuen soll ich mich, weil er für mich gestorben sei? Wenn irgendein Mensch – es brauchte gar kein Edler zu sein – eines qualvollen Todes gestorben wäre, um mich zu retten, könnte ich jemals wieder froh werden? Und ich sollte in Paradiesen schwelgen und vergessen können, was sie gekostet haben? Daß meine Aufnahme mit dem Blute des Gottmenschen bezahlt werden mußte, der sterbend in Leibes- und Seelenqual dem Vater zurief: ›Warum hast Du mich verlassen?‹! Ich soll jubeln, will der Fromme, der Augenblick sei ja vorüber. Kein Augenblick ist vorüber, Gewesenes hört nicht auf zu sein.«

In einem anderen Brief hieß es:

»Die evangelische Theologie ist jetzt so weit gegangen, zu leugnen, daß Christus leibhaft gelebt habe. Das war vorübergehend eine Wohltat: der Reinste war gerettet. Vom Geist gezeugt, aus der Sehnsucht geboren, erlöst von Körperqual, die in dem feinnervigen, edler und zarter geschaffenen Leibe viel gräßlicher gewütet haben muß als in dem rohen der Schacher. Aber da ist eine Stelle in Kleinasien, wo ein unauslöschliches Feuer brennt, das sein Licht und mehr noch seine Wärme durch Länder und Zeiten strahlt. Dieses Feuer wärmt uns, auch wenn wir es gar nicht wissen, wie es unsere Vorvorderen gewärmt hat; alle unsere Frühlinge sprossen von seinem Licht. Nur aus menschlich-magnetischer Wärme vermag ein solches Feuer so lange zu brennen. Da, wo es brennt, kann nur ein lebendiger Mensch gestanden haben, aber einer von übermenschlicher Seelenkraft und Innigkeit. Aus den Evangelien, so wenig sie von seiner äußeren Geschichte wissen, weht das ganze Innenleben einer einmaligen Persönlichkeit.

Und dann sind da zwei Stellen in den Evangelien, in denen die menschlich-geschichtliche Wirklichkeit sichtbar verankert liegt. Nach Einsetzung des Abendmahls, vor dem Eintritt in Gethsemane der erschütternde Rückfall in menschliche Schwäche und Todesfurcht: ›Wer keinen Beutel hat, verkaufe sein Kleid und kaufe ein Schwert.‹ Darauf die Jünger blind gehorsam: ›Siehe, hier sind zwei Schwerter.‹ Und Er, sich selber wiederfindend: ›Es ist genug!‹ Man sieht ihn, wie er wieder zu sich kommt, Schweiß bricht an ihm aus, der Widerstand des Fleisches gegen das furchtbare Herannahende ist gebrochen. Jetzt kann er sich zum Gebete niederlassen und mit der eigenen Todesangst ringen, bis der Blutschweiß von ihm zur Erde fällt. Und dann kann er den Gebrauch des Schwertes verbieten. Gesetzt, der größte Dichter hätte das Gebet am Ölberg erfunden, die vorangegangene Menschenschwäche, sein Rufen nach dem Schwert, die ist Naturlaut, unwiderlegliches ›document humain‹.

Dies die eine Stelle. Die andere ist die Begegnung in Emmaus, gleichfalls ein tiefstes Erlebnis. So sieht nach dem frischen, unersetzlichen Verlust die trauernde Liebe im vorübergehenden Fremden das geliebte Angesicht, ja, wenn er dem Verlorenen nicht einmal gleicht, ahnt sie hinter Zufallsworten einen Bezug und tiefes Geheimnis. – So sah ich Dich, Eugenie!«

Hier verlor sich der Brief an den toten Sohn in ein verwirrtes Selbstgespräch, worin Gattin und Tochter zusammenflossen. Aber immer wieder umirrten die suchenden Gedanken den Gottessohn:

»Wer überstrahlt sein will von der Erkenntnis, was durch Christus in die Welt gekommen ist, der lese in einem Zug das Leben der zwei gewaltigen Menschen, Alexanders und Cäsars, und gleich darauf die Evangelien: der vollkommenste Umsturz, den es je gegeben, kein Stein mehr auf dem andern, eine völlig neugeschaffene Welt.«

Gleich aber wendete sich der Weg und wurde rückläufig:

»Der ungeheure, übermenschliche Widersinn, daß einmal in geschichtlich festgelegten Tagen, nicht allzu ferne von den unsrigen, die Gottheit in den gebrechlichen Rahmen von Raum und Zeit getreten, selber Mensch geworden sei! Wer, der ihn nicht mechanisch überkommen hat, kann ihn ins Bewußtsein fassen? Wie kann das Überzeitliche Zeit werden, wenn Zeit nur eine Form des menschlichen Anschauens ist?

Und warum gerade damals? Warum nur für uns? Warum sollten die großen Seelen, die früher waren als wir, keinen Teil daran haben?«

Auch der Gedanke der Gottesfurcht, über den er sich schon einmal mit den Seinigen auseinandergesetzt, beschäftigte ihn aufs neue:

»Christus sagt: ›Ich habe die Welt überwunden.‹ Er hätte sagen sollen: ›Ich habe Gott überwunden, den bösen Gott eures Zähneklapperns. – Wahrlich, ihr Frommen, der Gott, den ihr euch zusammenfürchtet, ist nur ein mächtigerer Teufel.‹ – Niemals, o mein Erschaffer und Erhalter und Vernichter oder Umformer, wenn es der Weltplan so fordert, der auch mich Kleinsten einbezieht, werde ich so niedrig von dir denken, daß ich dich fürchten sollte wie einen Feind.«

Egon las und blätterte und sah ergriffen, daß kein geistiges Gebiet von dem ruhelosen Geiste ungestreift geblieben war. Eine Reihe von Zusätzen zu seinem ungedruckten Werk »Mythos und Religion« mit Anweisungen für Gunther lag besonders geheftet bei. Aus diesem fiel noch ein zerknitterter Zettel, der nur zufällig hineingekommen sein konnte: »In der Geisterwelt gibt es nicht Väter und Kinder. Die irdische Zeugung schafft nur den Leib. Ein Vater, der in Gedanken seine Tochter begehren muß, ist hier ein Unseliger, aber kein Verworfener dort.« Dieses Blättchen zerpflückte der bestürzte Freund in kleine Stücke, die er sorgfältig vernichtete. Dann ordnete er die Blätter wieder in den Umschlag. Sie waren der Familie zugedacht, aber wem sie geben? Die berufene Erbin nach Gunthers Tode war Vanadis, aber sie schien jetzt dem Leben des Geistes entfremdet. Für Esther, für die Frauen waren die Flüge zu hoch. Bruno war von je kein starker Denker gewesen und lebte nur noch für den Kasernenhof. Enzio, das Häslein von ehedem, hatte das Fahrwasser der hanseatischen Voreltern wiedergefunden und war Kaufmann mit Leib und Seele, Stolz und Stütze seines Oheims James, aber ohne geistiges Bedürfnis wie dieser. Egon kannte sie alle aus ihren Briefen, die ihm vorgelegt wurden. Er siegelte die Blätter als Vermächtnis ein für die Zeit, wo aus der Hülle der Schwester Eugenie vielleicht noch einmal eine Vanadis ausgeschlüpft wäre.

 

Nach langen Frösten und einer Reifnacht schien die Sonne noch einmal mit fast sommerlicher Gewalt auf den alten Park, daß die entkräfteten Blätter, so kühnen Liebkosungen nicht mehr gewachsen, haltlos von den Zweigen sanken. Die letzten Astern und Chrysanthemen standen erfroren auf ihren Stielen. Oskar, der in Eile den Kiesweg durchschritt, wußte, daß auch die allerzarteste Blume dieses Gartens, die oben auf seinen Fußtritt horchte, vom Froste geschlagen war, um nicht mehr aufzublühen. Ein Zettel, worauf nichts weiter stand als: »Esther verschlechtert. Schwester Eugenie«, hatte ihn in Eile gerufen. Nach wochenlangem Wohlbefinden, nach einem scheinbaren Stillstand des Leidens, dem der scharfblickende Oskar nur halb zu trauen wagte, war plötzlich ein Blutsturz eingetreten, der auf das Schlimmste vorbereitete. Und jetzt zerriß der Hoffnungsschleier auch vor den entsetzten Augen der Schwester, deren Tätigkeit von zwei Seiten gefordert wurde, weil die Unverwüstlichkeit der Großmutter dem immer erneuten Ansturm des Unglücks zu erliegen begann, daß sie manchen Tag das Bett nicht verlassen konnte. Esther selber war am wenigsten bestürzt; es schien, daß sie es nicht anders erwartet hatte. Sie sagte mit blassen Lippen jeden Morgen ihr Kindergebet her: »Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich bald zu Dir komm'.« Vanadis sagte erschrocken: »Liebes, liebes Schwesterchen, was betest du da? Willst du uns denn verlassen?«

Das Kind wiederholte innig in sich hinein: ». . . daß ich bald zu Dir komm'.«

»Als wir Großen klein waren«, erzählte Vanadis, »da kam unsere schöne Mutter jeden Abend an unser Bett und betete mit uns Gebete, die sie selbst gedichtet hatte. Ich habe keins behalten, aber sie waren schön – oh, so schön! Nie durfte eins der Kindermädchen mit uns beten, wir wollten Mutter dazu. Du Arme hast keine Mutter gehabt, da haben dir die Mädchen ihre eingelernten Reime beigebracht, die du nach deiner Art zu tief nimmst.«

»Auch Vater hatte ein Gebet«, antwortete die Kranke. »Ich hab's einmal gehört und behalten:

Schaff das Tagwerk meiner Hände,
Hoher Geist, daß ich's vollende.«

»Hohes Glück«, berichtigte die Schwester, »es ist von Goethe!«

»Das tut nichts«, entschied Estherchen. »Es ist schön. Aber es paßt nur für die Großen, Schaffenden. Ich habe kein Tagewerk. Laß du mir meine Kindersprüche; der Heiland versteht sie.«

Während des Redens hatte sie schon immer nach der weit abgelegenen Vorderseite des Gartens hinausgehorcht, wo jetzt, auch für das Ohr der anderen vernehmlich, Tritte erschollen. »Er ist es«, sagte die Kranke mit aufblühendem Gesicht; die Schwester nickte, und gleich darauf trat Oskar ein. Es war der gleiche Vorgang, der sich jetzt täglich wiederholte, denn Esthers Ohr war so feinhörig geworden, daß sie sein Kommen schon von der Straße her vernahm. Er setzte sich auf den Bettrand, während die ältere Schwester unter dem Einspruch der Kleinen im Nebenzimmer verschwand, um nach der Großmutter zu sehen. Bei ihrem Zurückkommen war dann immer ein Stück Arbeit geleistet, entweder eine widrige Medizin verschluckt oder ein Teller Kraftsuppe ausgelöffelt. Aber das gewissenhafte Kind machte sich gleich Vorwürfe, daß ihr diese Minuten ganz allein mit ihm so süß waren, die ihr die Schwester einräumte, und sie suchte sie zum Besten beider zu nützen. Denn daß die zwei Menschen, die sie am meisten liebte, sich nach langer Entfremdung wieder zu verstehen begannen und daß sie selber der Anlaß war, verklärte ihr das Scheiden.

»Ich habe eine große Schuld in mir getragen«, sagte sie eines Tages zu der älteren Schwester.

»Du, eine Schuld?« – »Ja, gegen dich. Ich habe einen geliebt, der dir gehört. Du weißt, daß ich von Oskar spreche.« – »Kind, was sind das für Reden? Oskar gehört mir ganz und gar nicht. Wenn ihr zusammenkommen könntet, würde es für mich Freude und Glück sein.«

»Nein, nein, das ist ganz anders. Glaub mir, ich habe jahrelang gegen das Selbstsüchtige in mir gerungen, ich habe es niedergedrückt, immer wollte es wieder aufstehen. Oh, ich wollte Gott allein lieben, aber meine Gedanken gingen einen andern Weg! Der Pfarrer sagte, ich solle Gott nur um ein reines Herz bitten und ihm alles Weitere überlassen.«

Ein andermal sagte sie: »Es wäre doch schön gewesen, wenn ich hätte bei euch sein dürfen. Ich hatte mir alles ausgedacht, ich wäre euch in gar nichts hinderlich gewesen. Ich wollte dir nur alle die Dinge abnehmen, die dir lästig sind, wollte wie ein Heinzelmännchen für dein Behagen sorgen – und für das seinige«, setzte sie zärtlich hinzu. »Ich hätte deine Kinder gewaschen und gewickelt und zu Bett gebracht wie vordem deine Puppen, die dich langweilten. – Aber der Heiland will mich bei sich haben, das ist noch schöner.« Sie zog die Schwester mit der Hand zu sich heran und sagte leiser: »Ich weiß, du glaubst nicht an ihn, das ist nicht recht!« – »Freilich glaube ich, mein Liebling«, tröstete diese. »Weißt du nicht mehr, was der Vater sagte, daß er sich in jedem Namen erkennt, mit dem man ihn anruft? Und ohne Namen, nur mit dem Herzen gerufen, hört er ebenso.«

»O Liebste, das ist nicht das gleiche! Und wie sollte der andere beschaffen sein, der nach ihm kommen wird, wie der Vater sagt? Kann denn ein Besserer jemals kommen? Beim Eintritt ins Leben steht er da und nimmt uns an der Hand und macht sich für uns zum kleinen Kinde, zum Jesuskind, das mit uns spielt. Alljährlich sitzt er ganz oben auf der Spitze des Christbaums, zu dem wir entzückt hinaufschauen, und lächelt uns entgegen. Er steht mit der Braut beim Altar und hängt über jedem Krankenbett, er geht noch mit dem Verbrecher zur Hinrichtung. Es gibt kein Unglück, wo er nicht nahe wäre, denn er will mit uns sein bis an der Welt Ende. Dafür hat er sich arm und schwach und klein gemacht, dafür hat er gelitten und ist er gestorben. Und wenn das Leben erlischt, dann steht er wieder am Bett und nimmt unseren letzten Hauch entgegen, wie er unseren ersten empfangen hat. Und an einem solchen unermeßlichen Gut willst du keinen Teil haben? Du und Oskar? Auch er geht ihm aus dem Weg, ich weiß es, wenn er auch nicht davon spricht. Er wollte nicht Geistlicher werden.«

»Er wollte nicht lehren, was ihm nicht aufgegangen ist«, sagte die Schwester. »Er kann auf anderem Wege mehr Gutes tun. Dem natürlichen Drang, den ihm Gott ins Herz gelegt hat, wollte er folgen und nicht eine Gelegenheit zu unentgeltlichen Studien ausnutzen. War das nicht besser und edler?«

»Alles, was er tut, ist gut und edel. Und ihr werdet glücklich sein. Dann vergeßt die kleine Esther nicht, die es so gern mit angesehen hätte.«

Von diesem Gedanken war sie nicht abzubringen, und man sah, wie tief er sie beglückte. Die Schwester widersprach nicht mehr. Sie sah mit Verzweiflung das Leben des Kindes hinrinnen, und es schien ihr, daß dies die Strafe dafür sei, daß sie das ihrige hatte wegwerfen wollen um den Verlust Edwins. Sooft eine Verschlimmerung eintrat, warf sie sich vor ihrem Bett auf die Knie und schrie lautlos zu den Unsichtbaren: »Nur heute nicht! Nicht heute! Seid doch barmherzig, ihr hohen Mächte! Ich bin ja so arm geworden, ich habe nichts als dieses Kind. Ich kann sie nicht hingeben, ihr wißt es. Schenkt sie mir noch für diesen einen Tag, für die eine Nacht!« – Es war auch, als ob der Tod ein Einsehen hätte, sie besserte sich noch einmal vorübergehend, aber in jener Frostnacht, die das Laub des Jahres tötete, kam ein Rückfall, und nun ging es schnell zu Ende.

Als der Geistliche an ihrem Bette saß und ihre beiden Hände in den seinen hielt, sah ihn das Kind tiefernst an und sagte: »Herr Stadtpfarrer, Sie haben mir einmal in früheren Jahren gesagt, daß ich einen Platz erhalten solle ganz nahe bei der Kapelle, unter dem ausgestreckten Arm des Heilands. Ich wünsche es nicht mehr. Lassen Sie mich bei der Mauer liegen, da wo mein lieber Bruder liegt, es ist des Heilands Erde dort so gut wie anderswo, und der Platz neben Gunther ist für mich eine Ehre, denn er war besser und größer als ich. Auf meinem Stein soll der Spruch des Heilands stehen, den ich am meisten geliebt habe, Sie wissen, welcher.«

Als der Pfarrer gegangen war, fragte die Schwester, welchen Spruch sie meine.

Esther hob die Augen zum Himmel, ihr Gesicht strahlte: »In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.«

»Hattest du Angst, Esther?« – »Oh, so große und schwere – für Vater, für Gunther, für dich! Jahrelang! Ich sah es ja alles, wie es kam, ich war nicht das Kind, für das ihr mich hieltet. Aber jetzt ist Friede. Vater ist in guten Händen, Gunther in besseren. Du hast dich zu Oskar zurückgefunden. Jetzt kann ich den Ort verlassen, an den ich nicht hätte kommen sollen.«

Das Schluchzen schüttelte die Zurückbleibende; aus den Augen, die so schwer weinten, stürzten die Tränen stromweise. – »Weine nicht«, bat die Kranke und suchte sie ihr abzutrocknen. »Ich werde droben deinen Schutzengel von Angesicht zu Angesicht sehen und ihm alles sagen, was du brauchst.«

»Sag ihm, daß ich dich brauche, nichts weiter als dich. Ich rufe stündlich die Unsichtbaren an, daß sie dich mir lassen.«

»Oh, das ist nicht recht! Den Willen Gottes soll man nicht mit Wünschen durchkreuzen.«

Als es zu Ende ging, nahm Esthers Sprache mehr und mehr eine biblische Färbung an; sie sprach von zwei Tauben, die sie auf dem Dache sitzen zu sehen glaubte, wie sie sich mit den Schnäbeln liebkosten. Dann verlangte sie, daß Vanadis die Schwesterntracht ablege und ein weißes Kleid anziehe, das noch von den gemeinsamen Jungmädchentagen her im Schranke der Großmutter hing und das ihr trotz der Schmerzentstellung wieder etwas von dem abgestreiften Jugendschmelz zurückgab. In diesem Kleide stürzte sie am Morgen nach der Frostnacht dem erwarteten Oskar auf der Treppe entgegen: »Rette sie, rette sie! Wozu studierst du die Natur?«

Er drückte ihr die Hand verzweiflungsvoll. »Mein Leben gäbe ich, wenn ich sie dir erhalten könnte. Aber du weißt genug von unserer Wissenschaft, um dir klar zu sein, daß wir nichts vermögen.« – Dann traten sie zusammen ein, und Esther hielt beider Hände lange Zeit vereinigt in den ihren, ohne mehr zu sprechen. Nur ihre Blicke gingen noch einmal liebkosend von einem zum andern. Nicht lange danach schloß Oskar mit zartem und festem Druck die Lider über den kornblumenblauen Augen.

Gemeinsam brachten sie die Nachricht der Großmutter, die mit erhöhten Füßen auf ihrem Ruhebett lag. Eine schon vor Monden eingetretene Wassersucht hinderte sie, sich zu erheben. Sie tat, was die sterbende Esther getan hatte: sie hielt bedeutungsvoll die Hände der beiden Trauernden in den ihren. Aber Oskar ertrug es nicht, er machte sich los und ging eilig von dannen.

*

Am Tag nach dem Begräbnis, als die Schwester dabei war, die kleine Hinterlassenschaft zu ordnen und die Andenken, die sich von der vorahnenden Hand der Besitzerin schon bezeichnet fanden, auszusondern, erhielt sie einen Zettel von Oskar:

»Ich muß dich durchaus allein sprechen. Bitte, richte es ein, daß ich dich nächster Tage ungestört sehen kann, und bestimme selber Tag und Stunde.«

So schnell in das frische Leid hinein? dachte die Empfängerin, und es war ihr unbehaglich zumute. Sie hatte Esthers Herzenswunsch nicht von sich gewiesen, um die letzten Stunden des Kindes nicht zu trüben. Und die stete Wiederholung wirkte doch leise und ihr selber unbewußt richtunggebend und wunschbestimmend, um so mehr, als Oskar ihr ja immer innerlich der Nächste gewesen war, bevor es einen Edwin Leo gab. Sie dachte mit inniger Dankbarkeit und einer zarten dauernden Sehnsucht an ihn, die von Esthers Krankenlager herrührte, wohin sein Erscheinen jedesmal die Sonne brachte. Aber daß er mit solcher Eile zur Entscheidung drängte, das konnte sie mit seinem sonstigen Feingefühl nicht reimen. Und in ihrem Innersten bäumte sich etwas auf, als wollte er ihr das letzte Recht an Edwin, das Recht ihrer Trauer, nehmen. Sie verlegte die Aussprache auf die nächste Woche, denn diese gehörte noch den Beileidsbesuchen aus der Nachbarschaft und dem Eifer Fannys, die mit ihrem Trösten und Helfenwollen jeden Winkel unsicher machte. Noch lakonischer als er schrieb sie unter die Zeitbestimmung nur drei Worte: »Ich erwarte dich.«

Was sie ihm sagen wollte, wußte sie noch nicht. Aber wie die Tage hingingen, begann ihr das vertraute Angesicht zu fehlen. Da war niemand, mit dem sie reden konnte wie mit ihm, niemand, der auch ihre unausgesprochenen Worte verstand, wie Oskar es von je getan hatte. Mehr und mehr sank die Schale zu seinen Gunsten. Sie fühlte nun, wie jung und lebensstark sie noch war. Edwins Liebe, jetzt schon so ferne, war wie eine zauberschöne Dichtung, in der sie einmal gelesen hatte und worin man sie zu früh unterbrach. Es fehlte der Schluß; das schaurige Ende, das sie nicht denken konnte, war keiner. Ihre Jugend, in sein Grab gelegt, war mehr ein gewolltes als ein innerlich gebotenes Opfer. War es Untreue, wenn sie wieder auferstand?

In einer der nächsten Nächte träumte sie von Edwin, zum ersten, allerersten Male seit seinem Tod. Aber die Freude war nicht rein, etwas Beklommenes war dabei, ein heimliches Wissen vom Ende. Sie wollte ihn fester halten, damit er nicht zerrinne, da gingen seine Züge auf eine ganz natürliche Weise, als ob es gar nicht anders sein könnte, in die Oskars über. – So war es gemeint? fragte sie sich selber, erstaunt und zugleich beruhigt, ohne Enttäuschung. Die Wandlung schien von dem Toten selber gewollt. – Freudig bewegt erwachte sie und dachte: Das ist doch Liebe! Wie konnte ich mich selber so mißverstehen? – Und sie nahm sich vor, ihn, wenn er komme, keinen Augenblick im ungewissen zu lassen. Auch die äußeren Umstände waren nicht mehr ganz ungünstig, worüber der Großmutter jüngst ein Wort entfahren war, so daß sie hoffen konnte, dem Treuen das Haus der Zukunft bauen zu helfen. Als die Klingel sein Kommen ankündigte, stand ihr Herz einen Augenblick vor Bewegung still. – Gleich wird er sprechen und ich werde ja sagen. Und es kann noch ein Glück werden, kein strahlendes, flammendes wie mit Edwin, aber ein inniges und tiefes.

Er kam und sprach. Mit Augen, die den ihrigen auswichen und das schöne ernste Gesicht tief verschlossen, begann er: »Nach dem, was wir hier erlebt haben, bin ich Ihnen eine Rechenschaft schuldig« – er stockte.

»Sprich, Oskar«, sagte sie todesblaß, schon den Ausgang ahnend. »Aber verwirre nicht durch falsche Förmlichkeiten das gegenseitige Verstehen.«

»Du hast recht«, sagte er und zog ihre Hand, die sich ihm mit kräftigem Druck hingestreckt hatte, an die Lippen. – »Ein Freund von mir befindet sich in einer unglückselig schiefen Lage, aus der er keinen Ausweg sieht. Er hat sich mir anvertraut und bittet um Rat. Ich vermag ihm nicht zu raten. Darum kamen wir überein, dir die Frage vorzulegen; die Frauen sind ja in solchen Dingen die besseren Richter.

Mein Freund hat seit frühester Jugend eine Neigung zu einem jungen Mädchen, von dem er wußte, daß er es nie erringen, aber auch nie vergessen konnte. Äußere Umstände, die stärker waren als er, zwangen ihn zu einem Beruf, den er haßte, weil er ihm eine täglich erneute Unwahrheit auferlegte. Sein eigener Hang und die natürliche Anlage zogen ihn auf einen anderen Weg, der ihm wegen Mangels an Mitteln verschlossen war. Da lernte er auf der Universität ein Mädchen kennen, das älter war als er, durchaus nicht hübsch, aber gut und klug und dabei wohlhabend und unabhängig. Sie faßte ein starkes Gefühl für ihn und wies um seinetwillen verschiedene Freier ab, denn wenn auch ohne Jugendreiz, ist sie wohl imstande, einen Mann zu fesseln. Es kam zur Auseinandersetzung, er vertraute sich ihr an, und sie erbot sich, ihm die Mittel für das Fachstudium, das sein Wunschziel war, zu geben. Er bot ihr dagegen eine Zukunft an seiner Seite. Durch ihre Hilfe hat er jetzt seine Studien beendet und mehr, er hat seine Kenntnisse noch auf ausländischen Hochschulen erweitert und ein Stück Welt gesehen. Er kann seine Laufbahn beginnen und sein Wort einlösen. Da tritt ihm seine erste Liebe wieder in den Weg, er sieht sie täglich, kann der Begegnung, die er fliehen müßte, nicht ausweichen. Er sieht sie schöner und verehrungswerter als je. Schmerzliche Schicksale haben sie geweiht und ihrem früheren Standpunkt enthoben. Sie versteht jetzt aus ihrer Fülle heraus sein ernstes und einfacheres Wesen. Sie weiß, daß sie vielleicht noch Glück empfangen und unendliches Glück gewähren könnte. Er aber ist gebunden durch jenes heilige Band der Dankbarkeit und des Gewissens. Was soll der Unglückliche tun? Sag du es ihm, Vanadis.«

Eine lange Stille entstand. Ihr war, während er sprach, der Boden unter den Füßen gewichen, und sie stand wieder, wie sie nach Edwins Tod gestanden hatte, schaurig allein, mit den Füßen im Leeren, denn die Lage, wie sie sich ihr augenblicks darstellte, ließ keine rettende Lösung zu.

»Ist denn da eine Wahl?« fragte sie. Aber ihre Stimme hatte nicht die Festigkeit ihrer Meinung; so konnte er über den Sinn der Worte im Zweifel sein.

»Nur du kannst wählen«, antwortete er. »Johanna ist gut und edel. Sie weiß von dir, sie weiß auch von diesem Zwiespalt. Sie gibt mir die Freiheit zurück, indem sie wie ich die Entscheidung in deine Hand legt.«

Jedes Wort war ein Stoß ins Herz der Hörerin, denn es rief alle Stimmen der Großmut und der Gerechtigkeit in ihr auf. Sie suchte zu sprechen, aber das Wort, das ihr eigenes Glück zum Tod verdammte, wollte nicht heraus.

Er fuhr fort: »Johanna würde sich entehrt fühlen, sollte sie materielle Rechte gegen die Rechte des Herzens in die Waagschale werfen. Auch wäre ich bald in der Lage, die Vorschüsse zurückzugeben. Aber sie hat auch Rechte des Herzens. Sie hat ja nicht allein ihr Geld gegeben, sondern auch ihre Liebe, ihren Glauben an mich und den Rest ihrer Jugend in jahrelangem Warten.«

Vanadis bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und weinte heftig. Immer schöner und erstrebenswerter erschien ihr unter seinen Reden, was da hoffnungslos, selbst dem Wunsch entzogen, vor ihr versank.

»Es gibt keine Wahl, Oskar, du mußt zu ihr zurückkehren«, sagte sie leise. Sie saß auf dem hohen Schemel, auf dem sie nächtelang Esthers Schlaf bewacht hatte, und Oskar kniete vor ihr im Saum ihres am Boden gebreiteten Gewandes. Sie fühlte wohl, daß es edler wäre, ihren Schmerz nicht zu zeigen und damit den seinigen zu vermindern, aber so viel vermochte sie nicht mehr über sich. Er hielt ihre Hände, die er fort und fort küßte.

»Aber sei auch nicht zu grausam gegen dich und mich. Denke alles durch, ehe du entscheidest. Johanna liebt dich: – Du glaubst es nicht? Aber es ist doch so, sie sieht dich mit meinen Augen; ich habe ihr viel von dir erzählt, und ich habe ihr nie einen Zweifel darüber gelassen, daß du für mich immer das Höchste bleiben wirst. Könnte sie nicht auch als unsere Schwester mit uns leben und selbstlos, wie sie ist, in unserem Glücke glücklich sein?«

»Das ist die männliche Verblendung, die sich aus dem Wunsch die Möglichkeit zurechtmacht!« sagte Vanadis beinahe streng, indem sie ihrer Erschütterung Herr wurde. »Kann denn geschwisterliche Liebe ihr den Mann, den Geliebten ersetzen? Müßte nicht unser Glück ihr täglich das Herz in Fetzen reißen? Sie demütigen bis zum Verlust ihres innersten Selbst? Dann wäre es besser, sie könnte uns hassen.«

»Das ist ein Todesurteil«, sagte Oskar, nun seinerseits unter Herzstößen aufschluchzend, und drückte seinen Kopf in ihren Schoß. Sie legte den ihren darüber, und beide weinten. Es war, als ob Esthers letzte Hoffnungen noch in dem Raume schwebten und mit ihnen trauerten.

»Ist dies nun das Ende?« fragte er, völlig hilflos geworden.

Seine so unerwartete Schwäche gab ihr die Stärke zurück. »Ich kenne Frauen«, sagte sie, »die über zertrümmertes Leben weggegangen sind, um sich ihr Glück zu erobern. Das ist eine Seelenkraft, die ich bewundern kann, aber ich besitze sie nicht. Ich könnte nie auf einem zertretenen Menschenschicksal mein eigenes aufbauen, ich würde mit zertreten sein. Glaub mir, Oskar, es gibt keinen Ausweg, hier heißt es tapfer sein und sich trennen.«

»Du hast gesprochen«, sagte er und stand auf. Sie reichten sich die eiskalt gewordenen Hände zum Abschied. »Verzeih mir«, sagte er leise. – »Was ist zu verzeihen?« antwortete sie ebenso. Er wollte sich losmachen, da fiel ihm noch etwas ein, um den Abschied zu verlängern: »Verzeih mir auch, daß ich mich so lange hinter knabenhaftem Trotz vor dir verbarg. Du hast ja doch gewußt, was du mir warst.«

»Ich nicht. Aber diese hier.«

Als nun beider Blicke die leere Bettstatt trafen, wo das Kind noch wenige Tage zuvor ihre Hände zusammengelegt hatte wie der Priester am Altar, da wurde das Widernatürliche des Voneinandermüssens zum allesverschüttenden Einsturz, dessen Stoß die beiden Menschen gegeneinanderwarf, daß sie sich ein erstes und letztes Mal für die Länge eines Atemzuges in die Arme fielen, ehe er die Treppe hinuntereilte und sie entkräftet vom zwiefachen Leid auf das ausgeräumte Bettgestell sank. »Gibt es noch etwas, das ich verlieren kann?« fragte ihr trostlos verwaistes Herz.

 

Seit Baron Solmar von allen Seiten zu seinem begabten Sohn beglückwünscht wurde, war doch so etwas wie ein väterlicher Ehrgeiz in ihm erwacht, und er dachte nun ernstlich daran, ihm den Weg zu ebnen. Da er ihm bei der Geburt nichts weiter gegeben hatte als den Namen Solmar – denn einen Namen mußte er doch haben, und einen fremden zu erfinden, widerstrebte seinem Wahrheitsgefühl –, hatte der Knabe keinerlei rechtliche Ansprüche an ihn. Dieser Zustand war nur haltbar gewesen, solange er mit den »Folkwangsbuben« als Sohn des nahe befreundeten Witwers in die Schule ging und die wenigen Eingeweihten schwiegen. Aber schon damals war es ja der bohrenden Neugier Märchens aufgefallen, daß seine Schulhefte nur den Namen Solmar ohne das »von« trugen, was ihr die taktvolle Großmutter als eine erzieherische Maßregel auslegte. Roderich selbst pflegte den Namen Solmar, gegen den er eine instinktmäßige Abneigung hatte, gar nicht voll auszuschreiben, und unter seine Bilder malte er breit und trotzig »Roderich Solm«. Bei seinem Eintritt in die Akademie der bildenden Künste in München, der ihn mit der äußeren Welt in Berührung brachte, war es nun aber doch notwendig erschienen, seine gesellschaftliche Stellung irgendwie zu verankern. Die gesetzliche wäre nur durch Adoption richtig zu regeln gewesen. Aber so eng wollte Egon das ihm fremde Reis doch seinem Leben nicht einpflanzen. Auch hätte solch ein öffentlicher Schritt die Aufmerksamkeit gerade auf den Punkt gelenkt, den er zu verhüllen wünschte, und würde auch eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn erfordert haben, der er gleichfalls auswich. So tat er abermals einen halben Schritt, indem er ihm unter Aufbietung einflußreicher Beziehungen mit Mühe und Kosten auch noch das Adelsprädikat verschaffte, wonach er als Baron Solmar immatrikuliert wurde. Vor seinem Abgang weihte ihn die Großmutter van der Mühlen in seine ihm bis dahin unbekannten bürgerlichen Verhältnisse ein, woraus er ersah, daß er den Namen seines Vaters, an den jeder Lebende ein Naturrecht hat, nur als Almosen empfangen hatte, und daß ihm jetzt, lediglich zur Behebung gesellschaftlicher Verlegenheiten, ein zweites glänzenderes Geschenk, der Adelstitel, zugefallen war, der jedoch die Entfernung zwischen seinem Erzeuger und ihm nicht verminderte. Daß er von diesem Geschenk keinen Gebrauch machen, sondern sich nach wie vor Roderich Solm schreiben würde, stand für ihn ohne weiteres fest. Über seine Mutter war die wohlwollende alte Frau mit wenigen andeutenden Worten, die er sich nach Belieben ergänzen konnte, weggeglitten. Ihre Ermahnung, einem so gütigen Vater zu vertrauen und ihn zu erfreuen, fand keinen Boden in seinem Gemüt und kam auch nicht aus innerer Überzeugung, denn daß wirkliche Vaterliebe sich anders geäußert hätte, konnte sie sich selber nicht verhehlen. Unter diesen Eindrücken war Roderich zur Akademie abgegangen und hatte den von ihm gehegten Erwartungen, soweit es die künstlerische Entwicklung anging, vollauf entsprochen. Er gewann Jahr um Jahr Preise und hatte als Meisterschüler schon sein eigenes Atelier. Doch blieb des Vaters inneres Mißgefühl gegen ihn immer das gleiche. Es verdroß ihn auch, daß der Junge mit seinen Mitteln nicht auskam, die er ihm doch reichlich bemaß, schon um dereinst nicht vor der Kunstgeschichte als der verständnislose Vater dazustehen, der das junge Genie kümmern ließ. Zwar erbat Roderich in seinen seltenen ungelenken Briefen niemals einen Zuschuß, eher verkaufte er Uhr und was er eben besaß und ging in schäbigen Kleidern. Aber die Hauswirtin wußte mit unbezahlten Forderungen das Ohr des Erzeugers zu finden. Ein liebender Vater hätte dem Sohn den Kopf gewaschen, ehe er die Rechnungen beglich, Egon zahlte, ärgerte sich und schwieg. Er schrieb an sich nicht gern Briefe, und Roderich gegenüber fürchtete er immer den Ton zu verfehlen. Auch sein lucchesischer Schützling, der jetzt an derselben Anstalt studierte, machte ihm Ehre, er hatte Aufträge und war im Vorjahr mit dem Rompreis ausgezeichnet worden. Seine anziehende, etwas weiche Kunst lag ihm näher als Roderichs unsicher tastende Kraft. Goffredi hatte seinen Gönner auf der Durchreise besucht, ihm eine kleine Marmorgruppe verehrt und den Auftrag erhalten, für das eben angelegte Wasserbecken im Park einen muschelblasenden Triton in Stein zu arbeiten, wozu in Rom die beste Anregung zu haben war. Egon suchte aus seinem Gast den Grund von Roderichs starkem Verbrauch herauszufragen, erfuhr aber nur, daß sein täglicher Umgang nicht der beste sei und ihn wahrscheinlich ziemlich viel Geld koste. Goffredi vergaß jedoch zu erwähnen, daß Roderich in seiner unbegrenzten Gutmütigkeit allen Mitschülern, auch ihm selbst, in ihren Verlegenheiten mit Darlehen aushalf, die ihm als dem Sohn eines reichen Mannes nicht zurückgezahlt zu werden pflegten. Dabei kamen auch gewisse Verschrobenheiten des jungen Menschen zur Sprache, wie, daß er seine Herkunft aus vornehmem Hause gern verschleiere und lieber als der Sohn seines Talentes gelte; daß er sich nicht nur den Titel Baron gänzlich verbeten habe, sondern die Abkürzung »Roderich Solm«, womit er seine Bilder zeichne, auch im bürgerlichen Leben durchzuführen suche. Über diese Dinge streifte Goffredi mit der lächelnden Nachsicht hin, die man genialen Schrullen zollt, erregte aber damit doch den Mißmut Egons, der sein Entgegenkommen verschmäht sah. Als Goffredi sich mit der natürlichen Eleganz des Romanen verabschiedete, sah Egon der schlanken, federnden Gestalt die Zypressenallee hinunter nach, dachte sich seinen klobigen Erzeugten daneben und seufzte wieder einmal in seiner Seele: Konnte Gott mir nicht einen solchen Sohn geben!

Das war im Vorjahr gewesen. Inzwischen hatte Roderichs Stellung an der Akademie einen Stoß erlitten. Die gelegentlichen Klagen wegen Raufhändeln und nächtlichem Straßenunfug waren es nicht, und sein fragwürdiger Umgang erregte wohl Kopfschütteln und Lächeln, brauchte aber niemand zu kümmern. Allein er stand in offenbarer Widersetzlichkeit gegen den Klassenlehrer, einen Mann von anerkanntem Namen, dessen Korrekturen er nur mit Sträuben hinnahm und an dessen gefeierten, dem theatralischen Zeitgeschmack huldigenden Bildern er anderen Schülern gegenüber schneidende Kritik übte. Solche Worte kamen dem reizbaren Mann zu Ohren, und er nahm sie sich um so mehr zu Herzen, als ihm uneingestandenermaßen an Roderichs Meinung mehr lag als an der seiner gesamten Klasse. Er sah sein ganzes Ansehen wanken und sogar seinen Ruhm in Gefahr, wenn die ihm anvertraute Jugend innerlich gegen ihn aufstand. Er erklärte also, den Schädling im nächsten Semester nicht mehr bei sich dulden zu wollen, und hatte diesen schon aufgefordert, sich einen anderen Lehrer zu wählen; heimlich aber bemühte er sich, ihn gänzlich von der Anstalt zu entfernen. Der Direktor, der Roderich wohlwollte, aber doch keine Lockerung der Zucht dulden konnte, suchte, von den übertreibenden Vorstellungen des Kollegen bedrängt, nach einem Ausweg. Er schrieb an den Vater, mit dem ihn frühere Beziehungen verbanden, denn er hatte in seinen Anfängen selber Baron Solmars Mäzenatentum erfahren. Unter warmer Anerkennung der hervorragenden Begabung Roderichs stellte er ihm vor, daß es Talente von so eigenwilliger Anlage gebe, daß sie in keine Schule paßten und auch in keiner Schule etwas gewinnen könnten; von dieser Art sei Roderich, der ganz aus inneren Gesichten heraus arbeite und bei dem die Fehler so mit den Vorzügen verwachsen seien, daß man das eine nur mit dem andern ausmerzen könnte. Der junge Mann scheine das gefühlsmäßig selbst erkannt zu haben, denn er halte sich mehr und mehr vom Unterricht fern, ohne übrigens in seinem Eifer, der immer groß gewesen sei, nachzulassen. Es sei deshalb sein weiterer Verbleib an der Anstalt beiden Seiten nachteilig; und nun legte der Schreiber dem Empfänger mit guter Art nahe, das ungebärdige Talent zu sich nach Florenz zu nehmen und dort unter seinen Augen weiterstudieren zu lassen. Der Anblick der großen Kunst und der Einfluß der italienischen Luft sowie die formgebende väterliche Nähe würden die Auswüchse seiner feurigen Natur und die jugendliche Ungebundenheit von selber mäßigen.

Dieses Schreiben tat auf Egon ungefähr die Wirkung, als hätte man ihm zugemutet, sein stilisiertes Dasein mit einem jungen Nilpferd zu teilen. Von seinem Einfluß versprach er sich nicht das geringste, und es fiel ihm nicht ein, den Vorschlag auch nur in Erwägung zu ziehen. Da er nicht einmal wußte, welche Verfehlungen eigentlich Roderich zur Last gelegt wurden, außer dem künstlerischen Eigensinn, war er unschlüssig, wie sich zu dem empfangenen Winke stellen. Das beste wäre ja wohl gewesen, gleich selbst an Ort und Stelle nach dem Rechten zu sehen. Aber er begann seit einiger Zeit das Reisen umständlicher zu nehmen. Auch wehrte sich sein Inneres gegen eine persönliche Begegnung mit Roderich, denn Vater und Sohn, für die es keine gemeinsame Ebene gab, standen sich immer befangen gegenüber. An Goffredi zu schreiben widerstrebte ihm, er wollte doch über sein eigen Fleisch und Blut keinen Mitschüler zum Aufpasser und Richter setzen. In dieser Verlegenheit dachte er seines Patenkindes, der »Schwester Eugenie«, wie er sie, von der holden Erinnerung des Namens verführt, nicht ungern nannte. An sie, die zur Zeit auf einem Landgut bei München die kranke Gattin eines Schriftstellers pflegte, wandte er sich mit der Bitte, den Fall Roderich in die Hand zu nehmen und persönlich mit dem Direktor zu sprechen, um womöglich durch den Übertritt des Schülers in eine andere Malklasse einen Ausgleich herbeizuführen. Denn ihn ganz frei sich selber zu überlassen, dünke ihm gefährlich, und noch weniger denke er daran, den Unausgereiften schon jetzt wieder in eine ganz neue Luft zu verpflanzen.

Fast umgehend antwortete die Empfängerin auf dieses Schreiben:

»Glaube Du nichts, was sie Dir zu Roderichs Nachteil zutragen. Ich sah ihn schon auf der Durchreise in München, wo er mir gesetzt und verständig zur Hand ging. Heute suchte ich gleich nach Deinem Wunsch den Direktor auf. Er sagt, über Roderichs Begabung sei nur eine Stimme in der Anstalt. Aber seinem Verbleiben ist er abgeneigt: er habe kein Recht, ihn auszuschließen, doch sein freiwilliges Ausscheiden wäre die beste Lösung. Man sei im Lehrerkollegium damit umgegangen, ihm den diesjährigen Rompreis zu verleihen; das wäre wohlverdient und der ehrenvollste Weg zu seiner Entfernung gewesen. Aber der zweitbegabteste und dabei beliebtere Schüler sei armer Leute Kind und habe die Förderung nötig, während Roderichs Lebenslage eine begünstigte sei und ihm ja durch einen in Italien lebenden Vater von selbst der Zugang zu den Wundern der Kunst offenstehe. So seien sie gezwungen gewesen, nach den Statuten zu handeln. Den Schluß, der sich daraus ergab, hast Du schon selber von ihm vernommen.

Nachdem ich entlassen war, klopfte ich auch an Roderichs Atelier, das ich verschlossen fand. Dagegen kam mir beim Ausgang der Halle ein fein aussehender junger Mann von tadellosem Zuschnitt entgegen, der mit abgezogenem Hut vor mir stehenblieb und halb fragend meinen Namen nannte. Es war unser ehemaliger Gipsfigurenhändler aus Lucca, Dein Schützling, den ich gleich erkannte; ich wunderte mich nur, auch meinerseits unter dem Schwesternschleier erkannt zu sein. Und da ich ihm sagte, daß ich Roderichs wegen gekommen sei, erbot er sich, mich in seine Wohnung zu begleiten.

Unterwegs erfuhr ich, was es mit dem sogenannten schlechten Umgang Roderichs auf sich hat. Im vorigen Winter hielt sich draußen vor der Stadt ein Zirkus mit schönen Pferden auf, den Roderich fleißig besuchte, um die Tiere zu studieren. Eine hübsche Kunstreiterin und Reifenspringerin war das Zugstück für die Menge; sie hatte einen armen Teufel von Clown zum Mann, der bei den Zuschauern kein Glück machte und nur um ihretwillen geduldet wurde. Die Frau ging mit einem Bereiter durch, und der Clown wurde sogleich von dem Direktor als unbrauchbar auf die Straße gesetzt. In seiner doppelten Verzweiflung warf er sich im Englischen Garten in den vom Hochwasser geschwollenen Bach. Roderich, der eben vorbeiging, sah ihn treiben, sprang nach und zog ihn aus den wildgehenden Wellen. Aber nicht zur Freude des Clowns, der mit Gewalt sterben wollte. Der Retter hielt ihn fest, und in seiner Gutherzigkeit nahm er ihn triefend mit nach Hause. Seither teilt er mit ihm alles, was er hat. Der Ärmste versteht rein gar kein Geschäft und ist so unwissend, daß er kaum seinen Namen schreiben kann. Aber er hat ein reges Ehrgefühl und will nicht als tote Last auf Roderichs Schultern liegen. Deshalb hat ihm dieser beigebracht, daß er ihm als Modell und nebenher für kleine häusliche Verrichtungen unentbehrlich sei.«

Dann folgte eine heitere Schilderung ihres Besuchs in Roderichs besonderem Arbeitsraum. Weit außerhalb des Siegestors in dem damals noch abgelegenen Dörflein Schwabing stand ein altes, poesievolles Kirchlein mitten im Grünen, in dessen Nähe sich der Eigenbrötler angesiedelt hatte. Er bewohnte ein Zimmer bei anständigen Leuten, und einen gedeckten Hofraum zwischen zwei Häusern benutzte er als Bildhauerwerkstatt, weil er in seinen Freistunden auch das Modellieren auf eigene Hand betrieb. Ein roher Bretterverschlag trennte den Raum von der Umwelt. Da auf Klopfen keine Antwort kam, steckte Goffredi seine Hand durch ein Loch und schob einen innen befindlichen Riegel weg. Beim Öffnen sprang ihnen ein wunderliches Geschöpf in einem weißen Malerkittel, der ihm zu weit war, entgegen. Es war der bewußte Clown, den sie bei der lächerlichsten Beschäftigung trafen. Er zeichnete mit Kohle sechs Herrenhemden, eins neben das andere, an die Mauer. Das war die Art, wie er Roderichs Wäsche für die Wäscherin aufschrieb, denn er konnte nicht rechnen noch Zahlen schreiben. Er sprach österreichischen Dialekt mit slawischem Anklang bei sehr beschränktem Wörtervorrat und gab zu verstehen, daß sein Herr ausgegangen und nicht so bald zurückzuerwarten sei. Brennend gern hätten die zwei die feuchten Tücher von der Tonfigur gewickelt, die mitten in der schuppenartigen Werkstatt stand, aber das sonderbare Wesen ließ es nicht zu. Er stellte sich knurrend und murrend davor und verfolgte Goffredi mit so mißtrauischen Blicken, daß den Besuchern nichts übrigblieb, als wieder abzuziehen. Vanadis hinterließ die Bitte an Roderich, sie nächsten Sonntag auf dem Lande aufzusuchen. Die Villa »Waldlust«, wo sie als Schwester Eugenie pflegte, lag weit draußen in dem damals noch wenig besiedelten Isartal in der Nähe von Irschenhausen. Ihre zuckerkranke Patientin, Frau Lindgren, war eine ursprünglich gute und kluge, jetzt aber tief verbitterte Frau, die sich mit ihrer Schönheit und ihrem Vermögen in der Ehewahl vergriffen hatte. Ihre Wirtschaftlichkeit und ihr strenger Ordnungssinn wären das Glück eines Gutsbesitzers geworden, nicht aber eines Dichters, wofür Herr Lindgren sich hielt und von der Umgebung gehalten wurde. Daß er die mangelnde geistige Ansprache bei einer Sekretärin fand, der er seine Werke diktierte und mit der er alle Tage der Woche in der Stadt verbrachte, um nur über den Sonntag aufs Land hinauszukommen, zehrte an dem Leben der Gattin und machte alle Pflege hinfällig. In Schwester Eugenie hatte er sogleich die Herkunft aus einer geistigen Luft gewittert und suchte sie, wiewohl vergeblich, für seine Schöpfungen zu erwärmen. Die peinliche Stellung zwischen dem ungleichen Ehepaar wurde ihr nur durch beider Töchterlein Alma vergütet, ein stilles, sinniges Geschöpf, das nichts von der herb nüchternen Art der Mutter, aber auch nichts von der geistreichelnden des Vaters an sich hatte. Sie war in einem Internat untergebracht und kam gleichfalls über die Feiertage heraus. Die Fünfzehnjährige war von tiefer Liebe für Schwester Eugenie durchglüht. Jeden Sonntag stand der schönste Waldstrauß, den das Kind in aller Frühe an den waldigen Hügeln pflückte, noch tauig auf dem Tisch der Verehrten, und wenn die neue Hausgenossin sie ansprach, errötete sie vor Freude. Nie sagte das edle Kind ein Wort über das Zerwürfnis der Eltern, aber an der Art, wie sie ihre Nähe suchte, erkannte die Schwesterseele, was das junge Wesen litt.

Bald nach dem ersten Schreiben erhielt Egon das erwartete zweite. »Roderich ist bei mir gewesen, wir wanderten zusammen den schönen Waldweg nach dem See hinüber; im Gehen wurde ihm das Reden leichter. Es tat ihm wohl, daß ich die Sache mit dem Clown verstand und auch nicht über seinen wunderlichen Freund lachte. In der Tat, wenn man es durchdenkt, konnte er nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Wer, der ein so vorzüglicher Schwimmer ist, wird einem Ertrinkenden nicht nachspringen? Aber hat er ihn gegen seinen Willen gerettet, so darf er ihn doch nicht dem Hungertod preisgeben, der noch weher tut. Auf diesem Punkt waren wir also einig. Wegen der Schlägerei, die man ihm vorwirft, sagte er: ›Wenn du einen treuen Hund hättest, würdest du ihn gewiß gegen Steinwürfe verteidigen. Soll ich mitansehen, daß man meinen Freund, den einzigen, den ich habe, beschimpft?‹ – Du siehst, Egon, daß auch die Schlägereien begreiflich sind.

Er denkt über seinen Werdegang wie der Akademiedirektor. Er möchte frei vom Schulzwang seinen eigenen Weg gehen. Dafür reichen seine bisherigen Mittel nicht aus, denn er braucht jetzt eine gute eigene Werkstatt samt allem Malbedarf. Den Clown füttert er mit durch, er kann ihn zum Modellstehen verwenden, denn der närrische Mensch soll gut gewachsen sein. Du weißt, Roderich kann nicht bitten, und ich gestehe Dir, daß ich es an seiner Stelle auch nicht könnte. Laß also meine Bitte statt der seinen gelten; sein Lebenswerk wird Dir einmal dafür danken.«

Als Egon diesen Brief empfing, hätte er sich freuen müssen, seinen Sohn in günstigerem Lichte zusehen. Aber seltsamerweise freute er sich nicht. Die Wärme der Schreiberin für den Tunichtgut befremdete ihn nur, und ihre Fürsprache blieb wirkungslos. Daß der Junge sich einen Clown zum Lebensfreund gewählt hatte, erinnerte ihn peinlich an die Herkunft seiner Mutter aus dem Zirkus und wurde von ihm als ein vererbter Hang im Blute ausgelegt. An Roderich erging der Befehl, seinen unpassenden Gefährten mit einem Geldgeschenk, das die Bank auszahlen werde, zu entlassen und seine Studien in einer anderen Malklasse fortzusetzen. Der Sohn antwortete nicht, behielt seinen Freund und tat fernerhin, was er wollte.

Am Morgen nach ihrem Gang mit Roderich saß Schwester Eugenie mit Alma auf ihrer Lieblingsbank. Das Kind strickte trotz des hohen Feiertags eifrig an einem glitzernden Perlentäschchen, das der Freundin zum Andenken bestimmt war. »Sie werden uns ja doch bald verlassen«, sagte sie traurig, »wenigstens sollen Sie hie und da noch an mich denken.« – Alma war vertraut mit den Witterungserscheinungen des Hauses: in einem winzig aufsteigenden Wölkchen hatte sie das drohende Sturmzeichen erkannt. Schon in der Frühe des Vortags war ihr aufgefallen, daß ihre Mutter – zum erstenmal – in gereiztem Ton von Schwester Eugenie sprach, und als diese von ihrem Ausflug um eine Viertelstunde zu spät beim Abendbrot erschien, hatte das Kind um die gekniffenen Lippen der übergenauen Hausfrau einen Verweis schweben sehen, der unter einem Warnungsblick des Vaters verschluckt wurde. Durch die oberflächliche Verstimmung hindurch fühlte Alma die tiefere, gefährlichere, die aus anderen Quellen floß.

Schwester Eugenie hatte nichts bemerkt. Sie glaubte sich von Frau Lindgren noch ebenso geliebt wie in der Zeit, wo sie von ihrer Oberin die Erlaubnis erbitten mußte, die Kranke, die sich in der Klinik mit Leidenschaft an sie angeschlossen hatte, in deren eigenem Heim weiterzupflegen. Ihre Gedanken waren auch nicht bei Almas Worten. Sie hingen dem abwesenden Ziehbruder nach, dessen Bild ihr immer bedeutsamer heraufwuchs. Es machte sie stolz, ihm, wie sie glaubte, eine Hilfe zu sein. Und um des Guten willen, das sie ihm tat, wurde er ihr lieber. Ihr gefiel die Großmut, womit er sich den närrischen Schützling aufgeladen hatte. Daß er noch immer mit der Sprache nicht recht vorwärtskam und sich ungeschickt anließ, wo er liebenswürdig sein wollte, gab ihm eine rührende Hilflosigkeit in ihren Augen. Als sie sich in einer Waldwirtschaft zum Mittagbrot niederließen, hatte das ungeleckte Genie von einem Kind flottweg ein Sträußchen Maienblumen gekauft. Dann aber kam die Hemmung über ihn, er drehte es bestürzt und ratlos in der Hand. Sie war so boshaft, dem eine Weile zuzusehen und dann mit ihrer freundlichsten Stimme zu fragen, ob sie ihm das Sträußchen anstecken solle. Da knurrte er verlegen, legte die Blumen vor sich auf den Tisch und schnellte sie mit zwei Fingern zu ihr hinüber. Sie lachte, nahm sie auf und befestigte sie an ihrem dunklen Schwesternkleid. »O du Bär«, sagte sie, »wie willst du dich anstellen, wenn einmal die Könige zu dir kommen?« – »Gar nicht will ich mich anstellen«, antwortete er. »Ich will verschwinden und den Clown statt meiner schicken, der hat die Kratzfüße gelernt.«

Danach erzählte er ihr Züge aus der Lehrzeit seines Freundes, worüber ihr die Lachtränen kamen trotz der Tragik, die unter der Lächerlichkeit eines solchen Gauklerdaseins durchschien. Jener Unglückliche, sagte Roderich, habe das dummtraurige Gesicht, das andere sich anschminken, mit zur Welt gebracht, und dieses Gesicht habe ihn in einen Beruf geführt, zu dem er keine Spur von Geschick besitze. »Am Tag, wo ich den Janek fallen lasse«, sagte er, »ist er fertig und kann nur noch ein Ende machen, wie er schon wollte. Da begreifst du . . .«

Sie begriff und drückte seine Hand mit dem stummen Versprechen, seine Sache zu führen, nicht erwartend, daß ihre Macht über Egon gerade auf diesem Punkt versagen würde. Dann sprachen sie von Esther, deren kindliche Briefe und kleine selbstverfertigte Geburtstagsgaben dem Jugendkameraden auf die Akademie nachgefolgt waren. Dabei liefen ihm mit einem Male die dicken Tränen über die Wangen. Sie nahm ihr Tüchlein, um sie ihm abzutrocknen. Da drückte er ihre Hand mit seinen beiden Händen fest gegen sein Gesicht und schluchzte. Doch nun schämte er sich, und auf dem Heimweg redete er laut und lustig allerlei närrisches, clownisches Zeug. So konnte sie nicht ahnen, daß er, als die Haustür hinter ihr zugefallen war, wie verwirrt und verwandelt durch die Wälder stadtwärts rannte und sich den weiten Heimweg noch verlängerte, indem er nach einer halben Stunde wieder umkehrte, um dann lange Zeit vor der Lindgrenschen Villa zu stehen und sich zu fragen, welches von den nächtlichen Lichtern, die oben brannten, das ihre sei. –

Der Tag war schwül mit Wolkenbildung, die nicht zum Gewitter führte. Bei Tisch wurde die Spannung zwischen den Ehegatten um so peinlicher, als die ablenkende Gegenwart Almas fehlte, die in ein Freundeshaus geladen war. Nach der Mahlzeit zog sich Frau Lindgren sogleich zurück, und Schwester Eugenie benützte den Nachmittag, um ihren Brief an Egon fertigzuschreiben und dann eigenhändig in den zwanzig Minuten entfernten Postkasten zu legen. Zum Rückweg wählte sie einen hochgeschwungenen Waldpfad, den sie gerne zu gehen pflegte. Da erhob sich bei ihrem Näherkommen auf halber Höhe eine Gestalt, die auf sie gewartet hatte.

»Verzeihen Sie, Schwester Eugenie, daß ich Ihnen auflaure wie ein Strolch. Man kann zu Hause so schwer ein ungestörtes Wort reden. Ich weiß, daß ich in einem falschen Licht vor Ihnen stehe, und wenn ich auch sonst wenig danach frage, was die lieben Mitmenschen von mir denken, vor Ihnen möchte ich mich reinigen.«

»Es ist Ihnen niemand zu nahe getreten, Herr Lindgren«, war ihre kühle Antwort. – Aber er ließ die Versicherung nicht gelten: »Glauben Sie mir, ich habe im Geist jedes Wort gehört, das Ihnen über mich gesagt wurde. Die Vorwürfe sind mir ja nicht neu, die gegen meine Selbstsucht und Lieblosigkeit erhoben werden.«

Die Pflegerin erinnerte an das peinvolle Leiden, unter dem die unglückliche Frau hinsiechte, und an ihre verbitternde Einsamkeit.

»Sie reden, wie es Ihre Berufspflicht ist, Schwester, und ich beuge mich jedem Ihrer Worte. Aber hören Sie auch einmal die Gegenseite.«

Er begann von seinem Leben zu erzählen: »Denken Sie sich einen jungen Mann von einfacher Herkunft, aber begabt und feurig und mit der inneren Anwartschaft auf Erfolg und Glück, daneben aber auch mit allen Qualen und Zweifeln des Schaffenden behaftet. Der junge Mensch hat eben sein Erstlingswerk veröffentlicht, das ihm einige Aufmerksamkeit in der Presse erworben hat. Zum erstenmal wird er in ein feines Haus geladen, wo man von seinem Talent gehört hat und ihn mit Auszeichnungen empfängt. Er sieht schöne, elegante Frauen, Herren in Frack und Uniform, Diener in Livree und was dazu gehört. Nach Tisch wird er aufgefordert, etwas vorzulesen, er holt ein unvollendetes Manuskript hervor, er liest. Aber er fühlt gleich, daß da keine Welle ist, die ihn trägt, er wird befangen, sein Atem wird kurz, seine Zunge klebt. Obgleich kein ungeübter Vorleser, liest er spottschlecht an jenem Abend. Am Schluß regen sich nur schüchtern ein paar Hände, deren Beifall sofort wieder verstummt, und gleich will eine Pianistin am Flügel über ihn hingehen und den Unglücklichen samt seinem Werk begraben, da erhebt sich aus der Sofaecke eine schöne, große Blondine, die Tochter des Hauses, drückte ihm über das Tischchen herüber kräftig die Hand und sagt: ›Es war prachtvoll. Ich danke Ihnen.‹ –

Damit war eine andere Luft geschaffen. Ein paar Damen traten heran, um den Vorleser zu beglückwünschen, ein Herr, der etwas tiefer schürfte, verwickelte ihn in der Fensternische in ein Gespräch, während der Flügel aufrauschte, und der Neuling ging jenes Abends nach Hause wie ein Trunkener. Immer hörte er in seinem Innern die sechs Worte: ›Es war prachtvoll. Ich danke Ihnen.‹ Aber mitten im Glücksrausch wurmte es ihn, daß er schlecht gelesen hatte und die Vorzüge seines Werkes, wirkliche oder vermeintliche, gar nicht zur Geltung gebracht. Der Wunsch verbrannte ihn fast, dem schönen Mädchen, das auch durch die Mängel hindurch den Geist der Dichtung gefühlt hatte, seine Arbeit noch einmal zu lesen, unter vier Augen, sich von ihr für den Fortgang begeistern zu lassen. Als er seine Karte abgab, war die Herrschaft ausgefahren, und er war zu schüchtern, den Besuch zu wiederholen. Nach Wochen voll Unruhe sah er sie auf einem Ball, den er, der niemals tanzte, nur zu diesem Zweck besuchte. Da ging sie am Arm eines Tänzers durch das Gewühl, und als sie ihn sah, blieb sie stehen, streckte ihm wieder die Hand hin und sagte warm: ›Warum lassen Sie sich nicht mehr sehen? Es war prachtvoll!‹ –

Des anderen Tages stand er vor ihr. Ich weiß nicht, war es seine Erscheinung, die sie anzog, oder dauerte sie nur der arme Teufel, der seine Begeisterung ins Leere geworfen hatte. Jedenfalls war ihr Entgegenkommen für den armen Teufel berauschend. Von einer Einführung in die Werkstatt seines Geistes jedoch war keine Rede, denn sie sprach gleich von anderem, dagegen forderte sie ihn auf, sooft er Zeit und Lust habe, sich wieder zu zeigen. Sie war mündig und unabhängig, und daß sie statt eines Großindustriellen einen mittellosen Literaten wählte, konnte ihre Familie nur bedauern, aber nicht hindern. So begann der Irrtum meiner Ehe.

Wenn sie versichert, ihre ganze Kraft meiner persönlichen Bequemlichkeit geopfert zu haben, so sagt sie nur die Wahrheit. Sie sorgte für meine Lieblingsspeisen, kannte alle meine Wünsche früher als ich selbst, veranstaltete in unserm Hause, was nur immer meiner Laufbahn dienlich sein konnte. Es gab keinerlei Reibung zwischen uns, außer durch die verwünschte – verzeihen Sie, ich wollte sagen, durch die unzeitige Pünktlichkeit, mit der sie meine Eingebungen unterbrach. Sie wäre imstande, einen Beethoven mit der Uhr in der Hand zum Einhalten der Tischzeit zu zwingen. Aber der junge Ehemann war verliebt, er konnte nicht fassen, daß es ihm nicht gelang, die Seelen zu verstricken, wie sich die Arme verstricken. Immer wieder pochte er an die Mauer ohne Pforte. Er suchte sie heranzuziehen, indem er ihr die Bücher seiner literarischen Lieblinge gab. Sie las gehorsam, langsam, Zeile für Zeile bis zum Schluß. Dann sagte sie: ›Es ist prachtvoll‹, und die Sache war abgetan: sie ging wieder an ihre Geschäfte. Nie sprach sie mehr über das Buch, es war in einen Brunnen gefallen, so tief, daß kein Eimer hinabreichte, es wiederzuholen. Ebenso ging es mit allem, was ich selber schrieb. Unmöglich, ihr mehr zu entlocken als das stehende, immer gleiche Lobeswort. Aber sie selbst war prachtvoll, und es dauerte noch lange, bis ich einsah, daß ich niemals an ihr die miterlebende Gefährtin haben konnte. Wohl stellten sich Freunde ein, mit denen sich ein fertiges Werk durchsprechen ließ, und sie tat, was sie konnte, um diese ans Haus zu fesseln. Aber das entstehende Werk sehnt sich nach Frauenhänden, es ist wie das Kindlein, das gehoben und gewickelt sein soll. Das fehlte von Anfang an unserer Ehe. Daß ich nun eine Schreibhilfe gefunden habe, die mir mehr ist als nur die kritzelnde Hand, weil ich mich auch künstlerisch mit ihr beraten kann, das hat eine ganz unberechtigte Eifersucht erweckt. Fräulein Martin ist weder jung noch hübsch, und wenn Sie sie sehen könnten, so wüßten Sie sogleich über die Untadeligkeit unserer Beziehungen Bescheid. Sie ist mir in gewissem Sinne unentbehrlich geworden, und doch würde ich auf sie verzichten – ich könnte mich sogar entschließen, dauernd auf Villa Waldlust zu leben, wenn es gelänge, eine geistigere Luft im Hause herzustellen. Aber es wäre wohl zu kühn gehofft, daß Schwester Eugenie . . .«

Diese hatte die Erzählung mit verstehendem Bedauern angehört, das sich doch nicht bis zum Mitgefühl steigerte, weil ihr der Sprecher selbst mißfiel. Die Schlußanwendung kam ihr überraschend, denn sie hatte nie über ihren etwaigen Eindruck auf den Herrn des Hauses nachgedacht. Unachtsam stieß sie mit dem Fuß an eine Baumwurzel und streckte im Straucheln den Arm aus. Er mochte die Bewegung als stumme Antwort deuten, denn er stützte sie fester, als ihr nötig schien. Sie machte sich sogleich los, konnte auch den nur leicht verstauchten Fuß wieder aufsetzen, obschon langsam und mit Vorsicht. Im Augenblick, da er sie berührte, hatte sie einen begehrlichen Blick aufgefangen, gegen den sich jeder Blutstropfen in ihr empörte. – Häßlich, häßlich, dachte sie. Also darum die lange Geschichte. Arme Alma, du hast recht geahnt, daß hier meines Bleibens nicht sein kann. – Nur um keine Befangenheit aufkommen zu lassen, machte sie ein paar kühle Bemerkungen über die Länge des Wegs und die Schwärze des Himmels, der sich tiefer bewölkte. Sie tat es mit so hochmütiger Miene, daß ihr Begleiter seine Antwort hatte und keine Möglichkeit mehr fand, sein Herz weiterhin zu erleichtern. Als sie das Haus erreichten, fielen eben die ersten Tropfen; der Gong hatte schon zum zweitenmal gerufen.

Alma, die erhitzt vom Spielen gekommen war, lag bereits zu Bette, sie sollte in den Pfingsttagen gut ausschlafen. So saßen sich die drei wieder wie am Mittag ohne Wetterableiter gegenüber. Der Regen hatte das Wort, der draußen niederprasselte, innen fielen nur halbe Reden, bis Frau Lindgren eine kleine Bemerkung gegen ihre Pflegerin machte, die man als leisen Vorhalt wegen der gestrigen Verspätung deuten konnte. Von dem heutigen kleinen Fehl, bei dem der Gatte die Mitschuld hatte, war gar nicht die Rede. Auch war der Stich so leise, daß ihn die Empfängerin gar nicht gespürt zu haben brauchte, was diese auch als den weisesten Ausweg wählte. Da warf sich zu ihrem Verdruß und ganz ohne Not Herr Lindgren zu ihrem Verteidiger auf. Ein Wortwechsel entspann sich zwischen den Gatten, der sogleich in giftige Gehässigkeit überging, und während draußen das Gewitter ganz schnell aufhörte, fielen innen die Donnerschläge. Der Diener stellte die Schüsseln weg und entfernte sich leise. Die unschuldige Ursache des Zwists überlegte noch bei sich, ob sie das gleiche tun oder zugunsten der unglücklichen Frau eine Vermittlung versuchen solle, da hatte schon der um alle Haltung gekommene Mann der kranken Frau den höhnischen Vorwurf hingestrudelt, daß sie jetzt auf ihre schöne Pflegerin eifersüchtig sei, und daran schlossen sich rohe Ausfälle auf die verblühte Gestalt und das reizlose Temperament der Gattin. Schwester Eugenie sprang auf und wollte die schwergekränkte, nach Atem ringende Frau mit sich ziehen, diese stieß sie von sich und stürzte allein in ihr Zimmer. Die Helferin eilte ihr nach, da stellte sich der Gatte vor die Tür. »Herrliches Mädchen«, sagte der Sinnlose mit ausgebreiteten Armen. Sie blickte ihn an, wie um ihn zu vernichten, aber sie fand kein Wort für ihren Abscheu und sagte nur: »Weg von hier! Ich bin in meinem Amt!«

Sie erzwang sich den Eingang in das Schlafzimmer, fand aber bei der Kranken, die sich weinend auf dem Diwan wälzte, wenig Dank. »Gehen Sie, gehen Sie!« rief sie außer sich. »Sie haben durch Ihr Hiersein mein Elend noch größer gemacht. Er sieht und denkt ja nur noch Sie.«

»Gewiß werde ich gehen«, antwortete die Pflegerin. »Nach dem, was geschehen ist, werde ich keinen weiteren Tag unter diesem Dach wohnen. Aber für heute gehorchen Sie mir noch und lassen sich zu Bette bringen, nehmen auch die Tropfen, die der Arzt verordnet hat, damit ich Sie mit ruhigem Gewissen verlassen kann.« – Als sie ihres Amtes gewaltet hatte, schritt sie verächtlich im Vorraum an dem Manne vorüber, der sie vergeblich mit Beteuerungen aufzuhalten suchte, und verschloß sich in ihrem Zimmer. Am frühen Morgen, bevor das Haus erwachte, wanderte dann eine junge, ernste Rotekreuzschwester, die einen kleinen Handkoffer trug, allein durch die noch feuchten Waldwiesen zur Poststation, wo sie den nächsten Stellwagen nach der Stadt bestieg. Vor dem Weggang hatte sie unter Almas Tür einen Umschlag geschoben, der ihr Lichtbild mit einem zärtlichen Abschiedsgruß enthielt. So endete Schwester Eugeniens letzter Dienst im Roten Kreuze.

 

Als die Enkelin in die ausgestreckten Arme der Großmutter flog, sagte ihr ein Aufschrei des Herzens, daß sich jetzt der Zusammenbruch ihres Hauses vollendete. Ganz klein und schmal und seltsam jung war das Gesicht der alten Frau geworden, und ihre Augen hatten einen diamantenen Glanz. Überschwenglich, aber doch gehalten, war ihre Freude beim Anblick der Langentbehrten. Seit Wochen rang Fanny mit ihr um die Erlaubnis, diese zu rufen, aber Frau van der Mühlen hatte es strengstens verboten: »Den Kindern ihre Freiheit, und keine Kette von uns Alten an den Fuß!« Jetzt kamen noch köstliche Tage für die Leidende, deren Lebenslicht wieder aufflammte, daß man die Erschöpfung ihrer körperlichen Kräfte darüber vergessen konnte und daß auch die Enkelin Hoffnung faßte, dieses Letzte könne ihr doch noch erhalten bleiben. Als sie ankündigte, daß sie aus dem Schwesternverband ausgetreten sei und ihr Pflegeamt jetzt im eigenen Haus ausüben wolle, jubelte die alte Frau und sagte schließlich: »Wenn es dir nur nicht zu lange dauert, denn deine Nähe wird mir sein, was Abisag von Sunem dem alten König David war.«

Das junge Mädchen kniete vor ihr und küßte zärtlich ihre immer noch schönen Hände, jeden Finger einzeln. Dann vergrub sie ihren Kopf im Schoß der alten Frau, um ihre Tränen nicht zu zeigen. Die Feinfühlige erriet, was in ihr vorging, und sagte: »Du weißt, ich habe Anwartschaft, steinalt zu werden. Vielleicht lachst du, wenn ich dir gestehe, daß ich in meinen Augen niemals älter geworden bin, und du denkst im stillen, wenn du es auch nicht aussprichst, ich brauche ja nur in den Spiegel zu sehen, um von dem Irrwahn, der dir unheimlich vorkommen muß, geheilt zu werden. Weit gefehlt, dieser selbe Spiegel, in den ich blicke, solange ich denken kann, denn er hat mich auf allen Umzügen, auch ins Ausland, begleitet, dieser Spiegel ist so anhänglich an mein Jugendbild, daß er kein anderes aufkommen läßt. Eine alte Frau blickt hinein, aber eine junge schaut heraus. Sehr merkwürdig, nicht wahr? Ich stelle es mir so vor: von einem Tag zum andern sieht man sich nicht älter werden, und da du jeden Tag hineinschaust, erlebst du keine Veränderung. Das ist's, und die Erinnerung hilft nach.«

»Wenn du aber in einen fremden Spiegel schaust, Großmutter?«

»Dann zerreißt der schöne Wahn. Darum lasse ich es weislich bleiben.«

»Du liebes, herrliches achtzehntes Jahrhundert«, sagte die Enkelin. (Frau van der Mühlen war zwar im neunzehnten geboren, aber allen schien es, als müßte die Sonne des Rokoko ihre Jugend bestrahlt haben.) Die Zukunft dieses Kindes, das ihr einmal in manchem ähnlich zu werden versprochen hatte und dann durch das Blut der Folkwangs in ganz andere Bahnen gezogen worden war, machte ihr zu schaffen, und sie bemühte sich immerzu leise, sie auf Heiratsgedanken zu bringen.

»Laß das, Großmutter, die Ehe ist eine Lebensform, für die ich nicht geschaffen bin.«

Jetzt entsetzte sich die Großmutter, denn sie war der tiefgewurzelten Überzeugung, daß es für eine Frau keine ehrenvolle Stellung geben könne, die nicht ein Mann mit seinem Namen deckt.

»So spricht dieselbe, die um den Verlust eines Verlobten ihr Leben wegwerfen wollte!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Das war vor langer, langer Zeit, auf einem anderen Planeten. – Und es war eine andere Vanadis«, setzte das Mädchen trübe hinzu.

»Kind, es muß nicht die erste Liebe sein. Auch deine Mutter wählte deinen Vater erst, als eine frühe Liebeshoffnung zerronnen war, und ist doch so glücklich mit ihm geworden.«

»Wen hat sie geliebt? Du hast mir nie davon gesprochen.«

»Ahnst du es nicht?«

»Egon?«

»Wen sonst? Er war um jene Zeit eine hinreißende Erscheinung. So fein, so eigen, von so schenkender Gegenwart. Aber immer war die Schwäche eines alten Geschlechts in ihm, das seit lange nicht aufgefrischt worden ist. Nur kein Aufsehen! Nur nicht aus dem Rahmen fallen! Kein Gerede im Rücken haben! Und er hätte nur über einen großen Sturm hinweg der ihre werden können.«

»Aber daß er Roderich als Sohn anerkannte, das fiel doch gewiß aus dem Rahmen.«

»Woher weißt du davon? Wir haben doch das Geheimnis streng gewahrt.«

»Ich hörte es ihn selbst zu Vater sagen, als ich klein war und nicht verstand, was er meinte. Später als Märchen daran herumbohrte, legte ich mir's zurecht.«

»Es ist wahr, Roderich stammt nicht aus Egons kurzer Ehe, wie die Leute glauben. Die junge Frau starb im ersten Jahr und nahm ihr Neugeborenes mit. Es hat ihn ein schweres Opfer gekostet, den Schritt zu tun, zu dem ihn sein Gewissen drängte und jene Freunde, die er seine ›Alten‹ nennt. Sie lagen ihm an, wie es scheint, sein Blut nicht in schlechten Händen zu lassen, ihm Namen und Stellung in der Welt zu geben. Aber mit der Schwere dieses Entschlusses hat sich seine väterliche Liebeskraft erschöpft. Nie sah man an ihm, der euch Folkwangskinder so sehr liebte, eine Regung von Zärtlichkeit für sein eigenes. Und so ist es geblieben.«

»Und meine Mutter? Trug sie schwer daran?«

»Minder schwer als er, denn sie entschied sich schnell zu der neuen Wahl.«

»Der arme Vater! Nur aus Enttäuschung gewählt worden!«

»Nein, nicht arm. Die zweite Liebe ist die bessere. Sie versteht zu schätzen und ist dankbar, auch für das Kleinere, wo die erste alle Sterne vom Himmel für sich begehrt. Aber denke du nicht, sie habe in deinem Vater ein Glück zweiten Ranges gefunden. Wenn ich ›das Kleinere‹ sagte, so meinte ich damit die kleinere Blendung. Sie wußte bald, daß sie mit einer Liebe, die alles einsetzt, das größere Los gezogen hatte. Er wuchs ihr täglich, wie Egon hätte abnehmen müssen. Und ihn behielt sie obendrein als Freund. Als sie Gunther in den Armen hielt, ließ er sie als Madonna malen, sich selber tief unten als gewappneter Ritter, der ihr dient, deinen Vater auf die andere Seite, geistlich, mit dem Bischofsstab, beide in anbetender Stellung, wie auf alten Bildern. So stand sie auch im Leben zwischen ihnen.«

»Wo ist das Bild?«

»Er hat es für sich bestellt und gibt es niemals her, nicht einmal eine Kopie. Er war nicht zugegen, als es gemalt wurde, die ersten Jahre hielt er sich ganz von dem jungen Paare fern. Erst deine Geburt gab ihn seinen Freunden zurück. Als du zum erstenmal aus dem Kinderschlaf die Augen zu ihm aufschlugst, war er dein und ist es geblieben.«

Dann ließ sie sich ihren Schmuckkasten bringen und holte eine wunderfein gearbeitete goldene Kapsel hervor, die beim Aufspringen Egons Jugendbild zeigte, auf Elfenbein gemalt.

»Zwar soll der ganze Inhalt des Kastens dein werden, aber das Bild deines besten und unverlierbarsten Freundes übergebe ich dir schon jetzt. Es war Eigentum deiner Mutter, die es mir an ihrem Hochzeitstag zum Verwahren gab, damit es nicht an alten Wunden schürfe.«

Sie hängte der Enkelin die Kapsel um den Hals: »Trage du sie, dir wird sie ein Talisman sein.«

Aber das angeschlagene Thema ließ ihr keine Ruhe, sie wollte wissen, wer die neuen Bewerber um die Hand ihres Lieblings gewesen seien.

»Das ist schnell erzählt«, sagte die Enkelin. »Du mußt nicht denken, daß um eine Schwesternhaube her die Freier wimmeln. Da war ein hochgestellter Beamter, den ich auf Urlaub kennenlernte, ein wackerer Mann und lächerlich verliebt, aber von aller Magie entblößt und unbeschreiblich langweilig. Ich begriff nicht, daß er so schlechte Fühler hatte, es bis zu einem Nein zu treiben. Mit dem zweiten Falle stand es ähnlich, nur ließ ich es nicht soweit kommen. Der letzte aber bedeutete eine Versuchung. Ich hielt mich nach meinem Abgang von der Villa Waldlust einige Tage in München auf; Roderich führte mich durch die Galerien, ich habe da viel von ihm gelernt und bin ihm großen Dank schuldig geworden. In der Fremdenpension, wo ich abstieg, saß man meist des Abends noch gesellig beisammen. Ein Engländer mit dem gelassenen Anstand einer guten Herkunft und ausgedehnter Weltbildung ging mir nicht von der Seite. Die Inhaberin, die ihn seit Jahren kannte, stellte ihm das Zeugnis aus, daß er ein Gentleman vom reinsten Wasser sei. Er fesselte mich durch geistiges Gespräch, das ich lang entbehrt hatte, und ich fühlte, wie er sich vorsichtig tastend meiner inneren Welt näherte. Am dritten Abend wurde er deutlicher. Er sprach von seiner Absicht, sich auf einer der griechischen Inseln niederzulassen, die er vom Vorüberfahren kannte. Aber er müßte ein verstehendes Wesen um sich haben, das sein Glück teilte – das englische Wort companion ließ das Geschlecht offen –, und er würde dann weiter nichts vom Leben verlangen, als in dieser Gesellschaft zu den Tempelruinen zu reiten und von der höchsten Felsenspitze die Schiffe vorüberziehen zu sehen. Beim Auseinandergehen hielt er meine Hand mit einem langen, fragenden Drucke fest, dem ich mich nicht entzog, ihn aber auch nicht erwiderte. In der Nacht lag ich lange und befragte mein eigenes Herz. Es schrie nicht auf mit einem Nein, wie es oft getan hatte, antwortete aber auch nicht mit einem entschiedenen Ja. Doch du kennst meine Sehnsucht nach den Inseln des Südens. Ich habe mit all meinem Fernweh noch nichts gesehen, nichts erlebt. Die Waage sank zugunsten des Bewerbers, es schien mir, ich könnte es mit diesem Manne wagen.

Am nächsten Morgen brachte man mir einen Brief von ihm. Er glaubte zu fühlen, schrieb er, daß der tiefe Eindruck, den ich auf ihn hervorgebracht hätte, nicht völlig einseitig gewesen sei. Dies und die Größe meiner Denkart gebe ihm den Mut zu einem Antrag, der so sehr gegen das Herkommen sei, daß nur die schriftliche Form für die Ehrenhaftigkeit seiner Gesinnung Bürgschaft leisten könne. Er sei reich und unabhängig, aber durch eine unglückliche, längst nicht mehr wirklich bestehende Ehe gebunden. Ein Freund von ihm, der sich in gleicher Lage befindet, sei dennoch durch ein edles Mädchen glücklich geworden. Wenn ich mich entschließen könnte, ihm die Hand zu reichen, auch ohne Ring, so würde ich in allem die Rechte und die Würde seiner Gemahlin besitzen bis zu dem Zeitpunkt, wo er imstande wäre, mich auch vor dem Gesetz dazu zu machen.«

Frau van der Mühlen geriet außer sich über die Erzählung: »Wie war es möglich? Dir, dir einen solchen Antrag! Was hast du geantwortet?«

»Liebe Großmutter, errege dich nicht. Du siehst, ich bin bei dir, nicht auf der griechischen Insel. Aber die Entrüstete und Beleidigte zu spielen, fand ich keinen Grund. Ich sandte ihm nur die Antwort, daß ich nicht glaubte, ihn stark genug lieben zu können, um mir den Schmerz zu verzeihen, den ich durch einen solchen Schritt meinen Angehörigen bereiten würde.«

Mit dieser Antwort war die alte Dame nicht zufrieden: »Dich! Meine stolze Enkelin zu einer ›femme entretenue‹ machen wollen! Verzeih, ich finde kein deutsches Wort für die französische Sache.«

»Großmutter«, sagte die Enkelin ernst, »wäre ich weniger eine ›femme entretenue‹, wie du es nennst, wenn ich mich um den Ring einem mir gleichgültigen Mann verkaufte, den ich sogleich hassen würde, wenn er seine gekauften Rechte gebrauchen wollte?« – »Wie du die Dinge auf den Kopf stellst! Aus Gleichgültigkeit kann Neigung werden, wenn die Sitte gewahrt ist.«

»Nicht bei mir. Um einem Manne zu gehören, müßte mir alles an ihm gefallen. Sobald auch nur ein Blick, eine Gebärde herausfällt aus dem Zauberkreis, so ist die Wahl falsch gewesen, und das Herz schreit nein! Das ist ja eben das Wesen der Liebe, daß ihr alles gefällt, auch das Ungefällige.«

»Du machst es mir schwer, von dir zu gehen, wenn ich dich nicht auf dem natürlichen Weg unseres Geschlechtes sehen soll«, klagte die alte Frau.

»Das Schicksal hat es anders gewollt, du weißt es. Den einen, den ich liebte, nahm mir der Tod. Den andern, den ich hätte lieben können, mußte ich selber von mir schicken.«

»Der arme Oskar«, seufzte jetzt Frau van der Mühlen. »Wie es ihm gehen mag? Er schreibt mir nicht mehr.«

»Er schreibt auch mir nicht mehr. Aber er ist glücklich geworden. Johanna schrieb mir von der Hochzeitsreise. So schön hat nie eine Frau zu einer andern Frau gesprochen. Es ist alles gesagt, was zu sagen war. Oskar selbst konnte nichts mehr dazusetzen als seinen Namen. Sei gewiß, sie macht ihn viel glücklicher, als ich es gekonnt hätte.«

»Traurig genug, dich so etwas sagen zu hören.«

Jeden Tag entspann sich nun das gleiche Gespräch in irgendeiner Form aufs neue. Frau van der Mühlen konnte es nicht überwinden, daß ihr Enkelkind eine Anschauung von der Ehe hatte, durch die auch ihre eigene verurteilt wurde.

Ein andermal sagte die Großmutter: »Hast du gesehen, was die Ehe aus Märchen gemacht hat? Eine Frau, der alles huldigt, auch die bedeutenden Männer. Das flattrige, plappernde Mädchen ist nicht mehr zu erkennen. Und sie hat mit achtzehn Jahren den ersten genommen, der sich ihr bot. Ich tat zu meiner Zeit das gleiche und habe es nie bereut. Beide Männer hättest du als deiner nicht würdig abgewiesen. Märchen hat einen reizenden kleinen Jungen, der in nichts seinem Vater gleicht. Er schlägt ganz in euer Geschlecht zurück; oft meine ich, Gunthers große blaue Augen blickten mich aus seinem Gesichtchen an. Was schadet es, wenn der Vater kein geistig Ebenbürtiger ist? Das Blut der Mutter gibt den Ausschlag. Hast du denn noch niemals Sehnsucht nach einem Kinde gehabt?«

»Ja, Großmutter, ich blicke in jedes Kinderwägelchen, das vorüberfährt, und möchte das kleine Ding in meine Arme nehmen.«

»Und doch . . .?« fragte die Großmutter.

»In einem Haus, wo ich pflegte«, sagte die Enkelin, »befand sich eine wunderschöne Angorakatze, die schönste, die mir je zu Gesicht kam. Sie hatte ehedem in einem gleichrassigen Kater den ebenbürtigen Genossen besessen und hatte die Jungen, die sie von ihm bekam, ein ebenso edles Geschlecht, mit der zärtlichsten Mutterliebe betreut. Der schöne Kater geriet unter einen Wagen, und die Leichtfertige mochte nicht im Witwenstande leben. Sie ließ sich mit gemeinen Katern von der Straße ein und warf seitdem Jahr um Jahr ein Häuflein häßlicher, gemeiner Jungen. Aber sie zog das unedle Geschlecht nicht auf, sondern tötete gleich den ganzen Wurf, bis man ihr aufs neue den rasseechten Gefährten gab. Die Mütterlichkeit, zu der ich mich veranlagt fühle, hat große Ähnlichkeit mit der dieser Angorakatze.«

Die alte Frau erhob entsetzt die Hände: »Der Allmächtige bewahre uns! – Danach schwieg sie lange und sagte endlich aus tiefster Seele: »Jetzt weiß ich Bescheid.« – Von da an sprach sie nicht mehr vom Heiraten mit der Enkelin.

Corinna kam fast jeden Abend mit der Geige herüber, deren weicher Strich der Leidenden ein Labsal war. Einmal setzte sie sich an den Flügel im Nebenzimmer und bat Vanadis zu singen. Diese lehnte ab, weil sie ihre Stimme verloren habe. Corinna wollte es nicht glauben, aber sie überzeugte sich bald, daß diese herrliche Stimme, deren Kraft und Umfang bei den Kennern für einen ungehobenen Schatz gegolten hatte, in der Tat dahin war.

»Wie ging es nur zu?« fragte sie. – »Im Typhus«, war die Antwort.

»Arme Vanadis«, sagte Corinna erschüttert. »Es war dein Totenopfer.«

»Ich bereue es nicht«, entgegnete diese. »Einmal war ich doch ganz und eins mit mir selber und ging bis an die letzte Grenze meines Wesens. Das ist für mich die einzige Form des Glücks.«

Danach aber legte sie die Stirn in die Hände und mochte den ganzen Abend kein Wort mehr sprechen.

Die Großmutter, die stündlich die Abnahme ihrer Körperkräfte spürte, lag halbe Nächte lang in schweren Gedanken. Den Tod fürchtete sie nicht und brauchte sich auch nicht mit ihrem Gotte zu versöhnen. War sie auch keine Heilige gewesen, so doch ein echter Mensch, und sie wußte aus ihrem Goethe, daß reine Menschlichkeit alle menschlichen Gebrechen sühnt. Hätte Gott eine Heilige aus ihr machen wollen, so würde er es anders angegriffen haben. Über diesen Punkt war sie beruhigt. Aber über Vanadis, das unfaßbar schwierige Kind, das ihr bald ganz nahe und geistverwandt, dann wieder fremd und meilenfern war, weil aus zwei gegensätzlichen Naturen zu einer unangreifbar geschlossenen Einheit zusammengeflossen, über dieses Geschöpf mußte sie endlos grübeln und sinnen. Beide führten jetzt ein rührendes Gaukelspiel miteinander auf, wobei sie nur heitere Gesichter zeigten und scherzende Reden führten, indem jede, um die andere zu schonen, so tat, als sehe sie den heranschleichenden Zerstörer nicht. Aber jede wußte, daß die andere um ihre Liebe litt, nur daß das Leiden der Sterbenden das schwerere war, weil sie ihr Geliebtestes in einer liebeleeren Welt zurücklassen sollte. Lange rang sie innerlich um einen Entschluß, endlich schrieb sie an Egon, zerriß den Brief, schrieb ihn zum zweitenmal und legte ihn dann noch eine Nacht unter ihr Kopfkissen, ehe sie ihn absandte. Gegen seine Gewohnheit antwortete Egon sogleich, es gingen noch ein paar Briefe hin und her, bis die alte Frau getröstet aufatmete und sich anschickte, in Frieden zu scheiden.

Egon schrieb in dem galanten Briefstil seiner Jugendtage: »Sie haben, meine Teure und Hochverehrte, die Bedenken, womit Sie mich seinerzeit ansteckten, von meiner Seele genommen. Lassen Sie Ihr schönes Gemüt durch keine Sorge mehr trüben. Sobald Sie des Kindes nicht mehr bedürfen, werde ich mir Vanadis holen, nicht um sie in einen goldenen Käfig zu stecken und den Schlüssel abzuziehen, sondern um sie zu der freiesten und stolzesten aller Frauen zu machen. Sie soll endlich ihr junges Leben genießen. Mir soll sie Tochter sein, mein vorrückendes Alter Tag für Tag mit dem Sturzbach ihrer unverbrauchten Jugend übersprühen. Mehr kann und darf ich nicht verlangen. Ein Gelübde, das ich vor Zeiten tat, würde es mir verwehren, wenn mir nicht die Natur selber sagte, daß meine Zeit vorüber ist. Sie soll ihre volle Freiheit haben, und ich werde nicht der Narr sein, meine Ehre für gekränkt zu halten, wenn es einmal geschehen sollte, daß ein jüngerer Mann ihr Neigung einflößt. Ich fordere nichts, als daß mein Haus von jeder Nachrede frei bleibt. In diesem Punkt bin ich altmodisch, wie Sie mich kennen. Alles andere steht im Schutze meines Wappenschilds.

Lassen Sie, o Unverwüstliche, Ihre strahlenden Kinderaugen durch keine Sorge trüben und glauben Sie an die unverrückbare Anhänglichkeit Ihres alten Verehrers, der sich bis in die dritte Generation durchgeliebt hat, der aber auch in Tochter und Enkelin nur fortfuhr, am gleichen Altar, wo er zuerst Weihrauch verbrannte, zu opfern.

Ihr Getreuester in saecula saeculorum

Egon«

Als Frau van der Mühlen diese Zeilen in sich aufgenommen und dann das Blatt sorgfältig zerpflückt hatte, kam noch einmal etwas von ihrem alten, seligen Leichtsinn über sie. Nun war sie über die Zukunft des Kindes ruhig. Daß es eine so ritterliche Gesinnung und einen so ritterlichen Ton noch gab in der Welt, wie sie nunmehr geworden, das tröstete und labte sie wie der duftendste Honig. Und das unerwartete Wiederauftauchen der bezaubernden Tage in den Bädern von Lucca, wo Egons erste Huldigungen in der Tat ihr selbst gegolten hatten, verjüngte sie plötzlich um dreißig Jahre. Sie stand noch einmal auf, ging umher, kramte in alten Papieren und sang voll Übermut ihre verschollenen französischen Liedchen.

Die Enkelin ließ sich nicht täuschen, aber sie ging auf den Ton ein, und der Ton verbreitete seinerseits die Stimmung, die er vortäuschen wollte. Auch Corinna und Fanny nahmen an der Fröhlichkeit teil. Aus der Stadt kamen häufig Besuche, die immer gerne angenommen, zum Teil auch festgehalten und bewirtet wurden. Niemals hatte man ein sonnigeres Krankenzimmer gesehen, aber die Ursache dieses tiefen Trostes blieb allen verborgen. Auch Frau von Leo fuhr herüber; die Jugendfreundinnen saßen in der blühenden Laube beisammen, die der Großmutter verblieben war, und erneuten festliche Erinnerungen. Nebenan auf dem Boden der abgebrannten Fabrik war eine Villa entstanden, und eben wurde um diese her ein Garten angepflanzt. Das verbrannte Papier gebe einen guten Dünger, bemerkte die Großmutter, und sie freute sich auf die verschönte Aussicht, denn sie vergaß immer wieder, daß ihre Tage gezählt waren; aber eben dieses Vergessen half ihrer Glücksnatur sie verlängern. Tief war die Enkelin jetzt, da es zu Ende ging, von der Erkenntnis ergriffen, daß doch niemand dieses Leben ganz verstanden hatte, auch sie selber nicht. Alle hatten sie die Liebenswürdigkeit der Frau van der Mühlen und ihre leichte Heiterkeit gerühmt. Daß diese Heiterkeit im Feuer des Schicksals vergoldet war und daß ihr lächelndes Heldentum viel mehr Ehrfurcht erheischt hätte, beachtete niemand, denn die alte Frau machte keine Worte darum, ihr war alles selbstverständlich gewesen. Einmal wollte es Vanadis ihr doch sagen, daß sie, die Enkelin, sie verstand. Aber sie durfte es nicht in große Worte fassen und hätte das auch nicht gekonnt. Sie kleidete ihre Bewunderung in einen Scherz:

»Weißt du, Großmutter, als wir einst zusammen von jenen ci-devant lasen, die mit einem Hofknicks vom Leben Abschied nahmen, um lächelnd das Schafott zu besteigen, da dachte ich stets, aber ich wagte es dir nicht zu sagen, daß du von dem gleichen Geschlechte sein müssest. So heldenhaft hättest auch du dich gezeigt.«

»Ach, Kind, was sagst du? Ich und heldenhaft! Nein, ich habe gar nichts Pathetisches an mir und wüßte nicht, woher ich es nehmen sollte.«

»Das hatten jene auch nicht, dafür besaßen sie zu viel Stilgefühl. Aber Helden waren sie doch, gerade deshalb.«

»Aber ich schreie, wenn mir etwas weh tut, und das schickt sich nicht für Helden.«

»Ja, Großmutter, die Griechen und ihre Götter schrien auch.«

Die alte Frau, die noch niemals über sich selber nachgedacht hatte, staunte und freute sich, daß sie auf so hohem Sockel vor der Enkelin stand. Aber schließlich hatte sie sich doch an lauter Lebenslust und Frühlingswonne übernommen, die Füße schwollen wieder stärker an, und sie mußte ins Bett zurück. Da lag sie nun und hielt die Hand der Enkeltochter, und ihre Gedanken wanderten, denn zuweilen unterbrach sie das Gespräch mit einem: »Weißt du noch?« – Dann blitzte aus fernster Vergangenheit etwas Zärtlich-Galantes auf, und ein Ausdruck glitt über ihre Züge, der auf einem minder edlen Antlitz leichtfertig geschienen hätte, bei ihr aber nur ein Rest von Götterjugend war. – Holdes achtzehntes Jahrhundert, dachte dann Vanadis wieder, aber sie sprach es nicht mehr aus, denn sie merkte wohl, daß die alte Frau die Generationen nicht mehr auseinanderhielt und daß die Beichte gar nicht für die Enkeltochter gemeint war.

»Die Liebe ist süß, aber vergänglich«, sagte die Sterbende einmal. »Laß den Geliebten immer nur Episode bleiben. Erschüttere nie den Boden der Familie.« Und leise seufzend setzte sie hinzu: »Rechtzeitig enden können, im Leben wie in der Liebe, das ist's!«

Allmählich versank sie in einem wallenden goldenen Nebel. Fanny, jetzt sehr bleich und mager, mit schneeweißem Kopf, wanderte zwischen dem Hause van der Mühlen, wie es noch immer hieß, dem Friedhof und der Heilanstalt hin und her. Aus letzterer brachte sie wieder einmal ein Päckchen Briefe mit, die der Kranke unermüdlich an seinen verstorbenen Sohn schrieb. Sie begannen meist in strahlender Klarheit, fielen allmählich in Ermüdung und endigten in Verworrenheit:

»Meinem lieben Gunther, zu Händen meiner treuen Schwester Fanny.

Sie verheimlichen mir Deinen Aufenthalt, mein geliebter Sohn, und suchen uns einander zu entfremden. Aber es wird ihnen nie gelingen, denn ich bin im Geiste bei Dir wie Du bei mir. Heute nacht hatten wir ein langes Gespräch zusammen, jetzt fahre ich mit dem Schreibzeug fort, wo wir stehengeblieben. Du beklagtest, daß Goethe nicht vaterländisch empfunden habe. Wenn Du nach Dresden kommst, so sieh Dir den Zinsgroschen des Tizian an oder, besser, betrachte ihn in einer farblosen Nachbildung, wo die bunte italienische Farbenlust nicht stört. Der unsäglich wissende, traurig-mitleidige und doch ironische Blick des Erlösers, worin das tragische Geheimnis des ewigen Werdens und Vergehens liegt, vor dem Geiste des Tizian ist es in einer Vision von unerhörter Tiefe aufgegangen. Der Pharisäer, der vor ihm steht und auf ihn einredet, ist gar kein übelwollender Versucher, nur ein eifernder, im Irdischen haftender Alltagsmensch. Und nun der Äonenblick des Erlösers, der über ihn hinstreift und seine Worte ins Längstvergangene und Nichtvorhandene wandelt. Mit solchem Blick sah Goethe in die Kämpfe der Zeit. Er durfte die Stufe der Nation überspringen, denn er wußte, wohin er trat. Und er blickte auch gar nicht immer aus solcher Höhe herunter. Oft genug empörte er sich über die Bedrückung seines Volkes. Nicht so sehr, weil es sein Volk war, als weil es unter den Völkern Europas das Volk ist, das, wie er wohl wußte, bei all seinen Mängeln dem Überweltlichen am nächsten steht. Auch pries er ja den Schmetterling, der sich am Licht verbrennt, und hat gewiß während der Freiheitskriege in Augenblicken, die vorübergingen, das grenzenlose, selbstvergessene Hingegebensein an eine Idee, wäre es auch die engere Idee, beneidet. Denn warum sollte er die Kämpfer von Leipzig weniger bewundern als die von Marathon?

Und wiederum verabscheute er als Mensch den Krieg, und die schönste südländische Landschaft wurde ihm tödlich vergällt, als ein beflissener Führer ihm sagte, hier habe Hannibal eine große Schlacht geschlagen. Seine Vorstellungkraft bedeckte ihm alsobald den blumigen Grund mit zerfetzten blutenden Menschenleibern. Also zugleich Kriegsgegner und glühender Verehrer Napoleons! Das Leben ist widerspruchsvoll, und im Dichter, der tausend Leben lebt, kreuzen sich die Widersprüche tausendmal.«

Die lange Anspannung folgerechten Denkens hatte den Schreiber sichtlich erschöpft, denn die Fortsetzung verlor sich in ein Wirrsal und endigte: »Lebe, wirke Du im Lichte, geliebter Sohn, und denke mit Nachsicht an Deinen unglücklichen Vater im Schattenreich.«

Vanadis als nächste Erbin Gunthers erhielt diese Blätter und legte sie frisch eingesiegelt auf den Grund ihres Koffers.

Der Erdhügel hatte sich über Frau van der Mühlen geschlossen, ihre Wohnung war schon ausgeräumt und Vanadis für die nächsten Tage zu Corinna gezogen. Dort hatte sie in der Stille, um durch keinen fremden Einblick behindert zu werden, einen einschneidenden Entschluß gefaßt. Dann erst befolgte sie die von der Verstorbenen selbst empfangene Weisung, Egon ihren Hingang anzuzeigen.

»Sie ist sich bis zur letzten Stunde treu geblieben«, schrieb sie, »der Zauber der Anmut und der Laune, der sie jünger machte als ihre Enkelkinder, verließ sie auch im Sterben nicht. An ihrem vorletzten Tage begehrte sie noch einmal aufzustehen – der Arzt hatte es untersagt, aber ich sah ja, daß es doch zu Ende ging –, ich mußte sie auf ihren Blumenbalkon führen und zum Kanarienvogel, dem sie noch einen Apfelschnitz durchs Gitter steckte. Dann wollte sie auch noch einmal vor den großen Spiegel in ihrem Ankleideraum treten. Ich suchte sie abzuhalten, damit sie nicht vor der Verwüstung, die die Krankheit angerichtet hatte, erschrecke, aber da war nichts zu machen. Als sie ihr zerfallenes Gesicht sah, stutzte sie und staunte, denn sie war nicht darauf gefaßt. Dann aber brach ihre gute Laune wie Sonnenschein durch, sie sagte mit dem Ton, den du kennst: ›Ah Madame, que vous êtes jolie.‹ Und ihr Röckchen zierlich mit beiden Händen fassend verabschiedete sie sich mit einem tiefen feierlichen Knicks von ihrem Spiegelbild: ›Adieu, Madame!‹ Das gleiche Lächeln stand auch, als sie entschlafen war, auf dem wiedergeglätteten Antlitz. Sie sah aus, als wäre sie soeben mit Menuettschritten in die ewige Seligkeit hinübergetanzt. – O diese goldenen Einfälle und der rasche freudige Rhythmus ihres Sprechens, wie liegt das noch in den Ohren!

Ihre Schubladen hatte sie alle aufs schönste geordnet, alle Rechnungen beglichen und auch den Betrag der Beerdigungskosten zurechtgelegt. Ein Bündel Briefe, noch duftend, mit verblaßtem Seidenband gebunden, befahl sie mir Dir uneröffnet zuzustellen, was hiemit geschieht.

So ist nun das Vaterhaus für immer abgeschlossen, und schon morgen liegt die alte Heimat hinter mir. Nur die treue Fanny bleibt hier zurück, sie hat die Einladung von Onkel James, jetzt bei ihm zu leben, abgelehnt, sie will die Gräber hüten und einem Lebenden nahe sein, der sich gestorben glaubt, während er Briefe an einen Toten schreibt, den er für lebend hält.

Und was jetzt? – Ich brauche Veränderung. Ich will reisen, will sehen, was Gottes Hände aus seiner Erde gemacht haben. Ich ließ mit Fannys und Corinnas Beirat eine Zeitungsanzeige in mehrere Weltblätter einrücken: ›Ein junges Fräulein, Waise aus bester Familie, zweiundzwanzigjährig, gelernte Pflegerin und sprachenkundig, sucht einen Platz als Reisebegleiterin bei kranker Dame oder älterem leidendem Herrn, am liebsten ins Ausland.‹ In den ersten Tagen wollte sich nichts Ansprechendes zeigen. Dann aber kam ein Brief aus Paris, der allen meinen Wünschen entsprach. Denke Dir, eine Orientreise, mein altes Wunschziel, und leichter Dienst bei gutem Gehalt. Ich mußte zuvor noch mein Lichtbild schicken, woraus man dort schloß, daß ich die Rechte sei. Eine längere Seefahrt steht mir in Aussicht. Übermorgen abend sitze ich im Pariser Schnellzug und treffe überübermorgen um die gleiche Zeit in der Hauptstadt Frankreichs ein. Dort wird mich der Gatte meiner Patientin am Straßburger Bahnhof in Empfang nehmen. Die Wohnung liegt im Boulevard des Italiens, ich soll aber zunächst keine Briefe dorthin schicken lassen, nur hauptpostlagernd auf meinen Namen. Ich hätte ja gerne zuvor Deinen Rat eingeholt, aber man drängte zu sofortiger Entscheidung, und die Gelegenheit, die Welt zu sehen, ist so einzig, daß ich sie mir nicht entgehen lassen konnte. Das Geld für die Reise ist schon angewiesen, ich brauche nur noch meinen Koffer zu packen.«

Weiter las Egon nicht, er ließ den Brief fallen, sprang auf, schellte nach Carlo, verlangte das Kursbuch und befahl ihm, augenblicklich das Handköfferchen mit dem Allernötigsten zu packen und sich selbst für den nächsten Pariser Zug fertig zu machen, auch die Revolver nicht zu vergessen, einen für den Herrn, einen für den Diener. Der ruhige Mann war wie von Sinnen, daß der alte Diener nicht wußte, was von seinem Herrn denken. Aber als dieser auf den Brief gedeutet und nur die zwei Worte gesagt hatte: »Eine Mädchenfalle!«, da erfaßte der flinke Florentiner, der in seiner Jugend bei den Karabinieri gedient hatte und mit dem Verbrechertum Bescheid wußte, gleich die Lage. Er flog mit einem am Stadttor genommenen Wagen zur Bank, zum Konsulat, während der Herr in seinem eigenen zum Telegraphenamt eilte. Vier Telegramme sandte er gleichzeitig aus: eins an Vanadis, falls die Abreise sich verzögert hätte, ein anderes an sie im Schnellzug, ein drittes an Corinna mit dem Auftrag, sie unterwegs, wenn erreichbar, aufzuhalten, ein viertes, langes, an seinen Freund, den deutschen Botschafter in Paris. Ein paar Stunden später saßen Herr und Diener nebeneinander im Schlafwagen. Sie besprachen die Anzeichen der Gefahr, in die sich die Unvorsichtige gestürzt hatte, und die Wege zur Rettung. Wozu die postlagernden Briefe, wenn nicht um die Entdeckung einer falschen Wohnungsangabe zu verzögern, abgesehen von sonstigen verdächtigen Umständen? Es waren kürzlich Fälle von Mädchenverschleppung in die Öffentlichkeit gedrungen, die auf einen weitverzweigten Betrieb und sogar auf Hehlerschaft der Pariser Polizei schließen ließen. Stets wurden die Opfer, zumeist Waisen, durch falsche Vorspiegelungen von Hause weggelockt und den Freunden die Handhabe zur Nachforschung entzogen. Aber auch wenn man dieses Schlimmste nicht annehmen wollte, so waren die Angaben, auf die hin das ungewarnte Mädchen sich in das Wagestück stürzte, und die Eile, zu der man sie drängte, verdächtig genug, um zu beweisen, daß keine kranke Frau dahinterstand. Es war ja der harmlosere Fall möglich, daß irgendein Lebemann eine flotte weibliche Begleitung suchte, und in solcher Lage war die Hintergangene immer noch Manns genug, sich selbst zu beschützen. Aber die Anzeichen deuteten doch eher auf einen verbrecherischen Anschlag.

Egon, der alle Farbe aus dem Gesicht verloren hatte, sagte zu dem ihm gegenübersitzenden Diener: »Carlo, wir müssen uns auf einen harten Strauß gefaßt machen. Wenn die Schurken – ich rechne mit mehreren – das Bild Fräulein Folkwangs gesehen haben, so geben sie die Beute nicht leichten Kaufs mehr frei, sondern haben ein engmaschiges Netz bereit, das sie ihr überwerfen wollen. Wenn wir keine Zugverspätung bekommen, sind wir Punkt sieben in der Gare de Lyon, wir haben also noch die Zeit, für den Straßburger Zug zur Stelle zu sein. Ich zweifle nicht, daß Exzellenz Meinart einen tüchtigen Privatagenten mit ein paar gewandten Leuten zu unserer Unterstützung entsenden wird, da wird es ganz vom Augenblick abhängen, was zu geschehen hat. Jedenfalls werden wir beide den Zug in entgegengesetzter Richtung abschreiten und unsere Leute so aufstellen, daß sie im Notfall gleich zur Hand sind.«

»Ja, Herr Baron«, sagte Carlo, »aber haben Sie auch schon bedacht, daß ihr einer entgegengefahren sein kann, um sie desto sicherer zu haben, und daß er sie vielleicht schon auf der letzten Station vor Paris aussteigen läßt?«

Egon schüttelte den Kopf: »Ich glaube, du gehst zu weit. Es vermutet doch niemand eine Verfolgung, da sie wissen, daß das Fräulein alleinsteht.«

»Eine Waise kann aber einen Bruder haben, der nachträglich Bedenken bekommt und sie zurückruft«, meinte der Diener, »sie kann auch unterwegs durch einen Mitreisenden gewarnt werden. Solche Halunken gehen gern sicher.«

Baron Solmar war selbst beunruhigt, aber er wollte es nicht zeigen: »Jedenfalls können wir für den Augenblick nichts weiter tun. Die Polizei habe ich nicht benachrichtigt, weil sie in diesem Punkt für unsicher gilt. Kommt der Straßburger Zug leer an und wartet auch keine verdächtige Gestalt auf dem Bahnsteig, dann allerdings ist die Lage sehr schwierig. Immerhin könnte aber Fräulein Folkwang die Abreise verschoben und abtelegraphiert haben. Jetzt tun wir am besten, wenn wir zu schlafen versuchen, damit wir morgen unsere Geisteskräfte sicher beisammen haben.« – Und methodisch, wie er in allem war, entkleidete er sich mit Carlos Hilfe und legte sich zum Schlafen nieder.

Ein guter Stern stand über der Ankunft in Paris. Sie hatten keine Verspätung, und alles stimmte. Am Straßburger Bahnhof stellte sich der von der Botschaft geschickte Privatagent ein, dessen Leute sich unauffällig im Hintergrund hielten, für den Fall, daß die Anwendung von Gewalt nötig würde. Auf dem Platz vor dem Bahnhof, der in jenen Tagen nur mäßig erhellt war, hatten Carlos rasche Augen außerhalb des Laternenscheins und abseits von der langen Droschkenreihe einen geschlossenen Wagen bemerkt mit einem Menschen auf dem Kutschbock, der sichtlich kein Berufskutscher war, und einem anderen daneben, der sein Gesicht von der Helligkeit abgekehrt hielt. Carlo schlenderte daran vorbei, als ob er einen Wagen suchte, und sah im Innern die Fenster geschlossen. »Wir kommen nicht zu spät«, sagte er seinem Herrn, »sie wird draußen erwartet.«

Der Zug fuhr ein, und das erste, was Egon sah, war die Gesuchte im Reisemantel, etwas bestürzt, wie ihm schien, in das Gewimmel schauend. Da erblickte sie ihn, der ihr zuwinkte, und sprang, noch kaum daß der Zug zum Halten kam, heraus, indem sie einen begleitenden Herrn, der mit dem Handgepäck zuvor herausgesprungen war und sie gleich am Arm fortziehen wollte, zurückstieß. Schon hielt Egon sie in den Armen, während Carlo sich des Gepäcks bemächtigte, das der Begleiter abgestellt hatte, um zwischen die sich Begrüßenden zu treten: »Mein Herr, was bedeutet dieser Auftritt?«

»Das bedeutet, daß ich der Vormund bin und mein Mündel in Empfang nehme.«

»Sie sagen die Unwahrheit, Schwester Eugenia ist mündig, sie hat eine Stellung in meinem Hause angenommen und hat Vorschüsse empfangen. Meine kranke Frau erwartet sie noch heute abend.«

»Ihre kranke Frau wird die Güte haben, noch etwas länger zu warten. Diese junge Dame begleitet mich unverzüglich auf die Deutsche Botschaft, wo sie erwartet wird. Dort bitte ich Sie morgen vorzusprechen und Ihre Vorschüsse zurückzuholen. Hier ist meine Karte.«

»Mein Herr, ich finde Ihr Betragen unerhört. Sie sind hier fremd und brauchen Gewalt gegen einen Einheimischen und gegen eine Dame, die in seinem Schutze steht.«

Er wollte aufs neue die Hand an sein Beutestück legen, und sein Spießgeselle vom Wagensitz, der herbeigeeilt war, schien ihm Beistand leisten zu wollen. Aber Vanadis stieß ihn abermals mit Kraft zurück und klammerte sich fest an Egons Arm, während schon der Privatagent an ihre andere Seite trat und ein Haufe Neugieriger sich um sie her zu sammeln begann. Indessen Carlo rasch einen gemieteten Wagen heranwinkte, schlug Egon den Überrock zurück, um seine Brieftasche herauszunehmen, wobei ein Ordensband zum Vorschein kam, das ihm der Diener ohne sein Wissen angeheftet hatte. Er bemerkte es auch jetzt nicht, aber der andere bemerkte es, und das Band zusamt der Krone auf der Karte und der Nennung der Deutschen Botschaft – das Reich stand damals auf der Höhe seines Ansehens – bewies dem Freibeuter, daß er in ein Wespennest gegriffen hatte. »Ca tourne mal«, hörte Carlo den Mitverschworenen leise sagen. Beide Spießgesellen verzogen sich, nachdem der erste noch drohend gesagt hatte: »Nous nous reverrons, Monsieur«, worauf Egon herablassend erwiderte: »A demain.«

Paris war um jene Zeit noch nicht die Lichtstadt, denn man kannte bislang nur die Gaslaterne. Carlo, der dort Bescheid wußte wie in seiner Vaterstadt, hatte sich neben den Kutscher gesetzt. Die Erregung zitterte in ihm nach, daß er die Gerettete noch immer in Gefahr glaubte. Und in der Tat, solange die Fahrt über schlecht erhellte Plätze und durch halbdunkle Gassen ging, folgte ihnen ein geschlossener Wagen, der dem vor dem Bahnhof aufgestellten glich: vielleicht wollten sich die Mädchenfänger versichern, daß das Ziel der Retter wirklich die Botschaft war, bevor sie von ihrem entschlüpften Fang abließen. Bei der Ankunft in der Rue de Lille waren die Verfolger verschwunden.

Vanadis hatte auf der ganzen Fahrt geschwiegen und nur Egons Hand fest in der ihren gehalten. Wenn sie auch nicht alles übersah, so war ihr doch klar, daß der Freund wie ein Himmelsbote in ihr Leben eingegriffen hatte, um sie aus einer Lage zu reißen, deren Unheimlichkeit ihr aufgegangen war im Augenblick, wo jener Mensch sich in Epernay zu ihr ins Abteil setzte. Er sei ihr entgegengefahren, gab er vor, damit sie sich bei der Einfahrt in die große Stadt nicht fürchte, worauf sie kalt geantwortet hatte: »Ich fürchte mich niemals!« Dies war jedoch geprahlt, denn es lief ihr eisig den Rücken hinunter, wenn sie ihren unerwarteten Beschützer ansah, von dem sie sich trotz oder vielmehr wegen seiner übergroßen Aufmerksamkeiten wie eine Gefangene bewacht fühlte. Zwischen Châlons und Epernay war ihr Egons Telegramm ausgehändigt worden, das sie aufforderte, sogleich die Fahrt zu unterbrechen und ihm mitzuteilen, wo sie sei; allein es war so verstümmelt, daß sie nicht ergründen konnte, was er von ihr wollte, und bevor sie sich schlüssig war, saß der Beflissene neben ihr. Jetzt ging ihr auf, wovor Egon warnte, aber sie wußte nicht, wie sich mit ihm in Verbindung setzen, denn einen Versuch, unterwegs auszusteigen, zu telegraphieren und dabei heimlich zurückzubleiben, vereitelte ihr Begleiter. Ihr Hirn arbeitete angstvoll, wie sich ihm entziehen, aber sie fand keinen Rat, denn er hatte nichts gesagt noch getan, was ihr ein Recht gegeben hätte, Hilfe gegen ihn in Anspruch zu nehmen. Da erblickte sie beim Einfahren den Freund, den ersten, den einzigen, der ihr geblieben war, der ihr immer da erschien, wo die Not am höchsten stieg. Während der ganzen Fahrt durch die Straßen von Paris hielt sie seine Hand, und ihr Atem flog noch immer.

»Armes Kind«, sagte er und sonst nichts, denn das war kein Augenblick, um ihr Vorwürfe zu machen. Nur nach einer Weile setzte er kopfschüttelnd hinzu: »O Corinna! O Fanny!«

Erst des andern Tages, als sie sich in der Pflege der Botschafterin ausgeruht und erholt hatte, weihte er sie in die ganze Größe der Gefahr ein, der sie entronnen war.

»Wenn dein Brief nur wenige Stunden später eingetroffen wäre oder mein Zug sich verspätet hätte, so wärst du gestern abend hinter gepolsterten Doppeltüren, die keinen Schrei durchlassen, verschwunden, und vielleicht würde niemals mehr ein Zeichen von dir mich erreichen. Betäubt gemacht und wehrlos, unfähig dich zu regen, würdest du nach irgendeinem unbekannten Bestimmungsort verfrachtet und hättest aufgehört du selbst zu sein.«

Diese Annahme wurde ganz zur Gewißheit, als im Lauf des Tages sich niemand einstellte, das vorgeschossene Geld in Empfang zu nehmen.

»Die Gauner haben einen heilsamen Schrecken davongetragen, aber das wird leider andere Opfer nicht schützen«, sagte der Botschafter.

»Kann man sie denn nicht aufstöbern und ausheben?« fragte sein junger Gast.

»Es ist noch nie gelungen«, war die Antwort, »weil unsichtbare und mächtige Beschützerhände über ihnen sind. Man kann nur durch die Presse warnen lassen. Aber es ist wie mit der Fremdenlegion, immer wieder fliegen die Motten ins Licht.«

Am Abend dieses Tages setzte Egon sein Patenkind von dem Wunsch ihrer sterbenden Großmutter, daß er sie dauernd unter seinen Schutz nehme und ihr durch seinen Namen eine Stellung gebe, in Kenntnis. Er erklärte ihr, wie er die Sache auffaßte und was er geantwortet hatte, und legte die Entscheidung in ihre Hände. Die Gerettete war bis ins Mark erschüttert. Sie konnte nichts sagen als: »Oh, wie glücklich und stolz machst du mich!« Die Welt wankte noch um sie, daß sie sich nirgends als in seiner Nähe sicher fühlte; und sie begriff nicht, warum er sie ganz zart von seiner Schulter ablöste und ihr das schnell gegebene Ja noch einmal zur Überlegung zurückgeben wollte.

»Weißt du nicht mehr, daß ich schon einmal für dich den Hochzeitsschleier trug?«

»Kind, ich habe es nie vergessen. Damals nahm das Fest ein trauriges Ende, diesmal soll es eine bessere Zeit einleiten. Laß dir den Schleier durch Fanny nach Florenz schicken. Es ist schön, wenn Vorgeahntes Erfüllung wird.«

 

Vanadis schrieb aus Florenz:

»Lieber Roderich, guter alter Junge, wenn Dein Vater, der nächster Tage gewisser Papiere halber nach Deutschland muß, Dir auf dem Heimweg über München mitteilt, daß er mich zu Deiner Stiefmutter machen will, so denkst Du schon von selbst nicht an die böse Stiefmutter unserer Märchen. Es soll Dir aber auch von vornherein klarsein, daß Du an Deiner alten Spielkameradin, Gunthers Schwester, die immer auch die Deine bleibt, eine ehrgeizige neue Mutter bekommst, die danach brennt, einmal den Ruhm zu genießen, dem Talent zum Aufstieg verholfen zu haben. Vergiß Du nie, daß das schöne Haus, in das Dein Vater mich führen wird, Deine natürliche Heimat ist, und mache uns beide froh, indem Du Dich in unsere Harmonie einfügst. Im Garten soll eine Werkstatt nach Deinen Wünschen errichtet werden, und Du sollst frei sein, zu gehen und zu kommen, wie es Dir Bedürfnis ist. Auch für Deinen Freund Janek werden wir einen Unterschlupf finden; so närrische Leute stoßen hier weniger an als bei uns zu Hause. Ich habe mir sein Dabeisein eigens als Hochzeitsgeschenk erbeten, statt der Diamantennadel, die ich mir hätte am Ponte vecchio auswählen sollen. Die Bahn liegt jetzt glatt vor Dir, und Deine Zukunft ist in Deiner Hand. Wir wollen nur eine stille Hochzeit feiern und rufen Dich nicht dazu, denn wir gehen dann gleich auf die Reise. Aber bei der Rückkehr hoffen wir Dich wohleingerichtet auf der Villa Casteldimonte zu finden und einen Haufen werdender Werke um Dich her.«

Der Brief wurde Egon vorgelegt, ehe er abging. Dieser fand die Fassung um einen Ton zu hoch für den derben Bengel, wie er meinte, aber er hatte gegen den Inhalt nichts einzuwenden. Antwort kam keine, weder Glückwunsch noch Dank. Das erbitterte den Vater, der nach seiner Weise schwieg. Seine Reise nach Deutschland verzögerte sich noch, weil auch in Florenz Vorkehrungen zu treffen waren. Unterdessen führte er seine Braut nach Lucca und zeigte ihr die Wälle, wo sein Liebesfrühling mit Eugenie van der Mühlen geblüht hatte, und die liegende Frau im Dom, die der Frühvollendeten glich. Während ihrer Abwesenheit traf aus München die Schreckenspost ein, von Roderichs Hausfrau abgesandt und durch ein paar nachfolgende Zeilen Goffredis erläutert, daß der Unglücksjunge auf einer Künstlerkneipe im Streit einen Mitschüler erschlagen habe und dann ohne Mittel flüchtig gegangen und verschollen sei. Mit erblaßtem Gesicht gab Egon seiner Braut den Brief Goffredis zu lesen und bat sie, den Unseligen als tot zu betrachten. Er selber strich ihn aus seiner Erinnerung – aus seinem Herzen brauchte er ihn nicht erst zu streichen –, und als er nach Deutschland fuhr, berührte er München nicht. Vanadis aber konnte Goffredis Darstellung nicht so schlankweg glauben. Sie wandte sich insgeheim an die Pensionsinhaberin, bei der sie vorübergehend in München gewohnt hatte, und bat sie, den Umständen aufs allergenaueste nachzuforschen. Diese kannte zufällig einen Kunstschüler, der Augenzeuge des unseligen Vorgangs gewesen, und nun erschien Roderichs Tat in anderem Licht. Allerdings war er an jenem Abend ungewöhnlich gereizt und laut gewesen, aber an der Schlägerei trug er nicht die Hauptschuld. Ein Kamerad von der Akademie, der ihm schon öfter durch Zuträgereien geschadet, war ausfällig gegen ihn geworden und hatte, um ihn noch mehr zu ärgern, seinen unzertrennlichen Janek gehänselt. Roderich, halb angetrunken, schlug zu, der andere griff nach einem daliegenden Messer, worauf der Clown dem Angreifer an den Hals sprang. Im nächsten Augenblick sah man zwei gestürzte Körper am Boden: den Clown, aus dem gleich das Blut zu sickern begann, und neben ihm, durch gewaltigen Hieb mit einem schweren Hausschlüssel niedergestreckt, den Urheber des Streites, der nicht mehr zuckte. Beide Verwundete wurden ins Spital getragen, wo der Malschüler mit einer Schädelverletzung bewußtlos daniederlag, der arme Janek aber gleich nach seiner Aufnahme verschieden war. Roderich, der den Gegner tot glauben mußte, war und blieb verschwunden. Spuren von ihm schienen nach Hamburg zu führen, aber im Hause James Folkwangs war er nicht aufgetaucht. Das findige Häslein schnüffelte auf die Bitten seiner Schwester heraus, daß um die fragliche Zeit ein junger Mensch von herabgekommenem Aussehen, dessen Kennzeichen mit Roderichs Äußerem stimmen mochten, sich in der Hafengegend umhergetrieben und auf einem ausländischen Schiff Dienst genommen hatte: ob es wirklich sein unglückseliger Pflegebruder gewesen und wohin er gefahren war, ließ sich nicht feststellen.

Ein finsterer Schatten fiel auch diesmal auf den Brautschleier der Großmutter. Die Neuvermählte kam über das Schicksal des Verschwundenen nicht hinweg. Ihr Wille war ja so gut gewesen, warum nur wollte er nicht gedeihen? Und jetzt erlosch vielleicht die Flamme des Genius, die sie hätte hüten sollen, weit draußen auf einem öden Meere.

Ihr Gatte nannte den Namen des verlorenen Sohns nicht mehr. Die Hoffnungen, die er eine Zeitlang auf ihn gesetzt hatte, begrub er lautlos. Er führte seine Angetraute ins Pharaonenland. Als sie den Fuß auf afrikanischen Boden setzte und der Osten sein stilles Auge groß vor ihr aufschlug, ging alles Persönliche unter in Schauen und Staunen.


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