Isolde Kurz
Vanadis
Isolde Kurz

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Drittes Kapitel. Auf der Fehlhalde

Die Fehlhalde führte ihren Namen noch von der Zeit her, wo die ganze Höhe mit Wein überpflanzt war und wo die sonnenlose Seite den Mißwachs ergab. Neuerdings aber hatte der Name eine sinnbildliche Bedeutung gewonnen, weil die billige Lage allmählich eine Reihe gescheiterter Schicksale angezogen hatte. Verkrachte Kaufleute, verabschiedete Offiziere, schlecht besoldete Beamte, Lehrerswitwen, aussichtslose ältere Fräulein hatten sich da nebeneinander angesiedelt; unter diesen Stiefkindern des Glücks befand sich seit kurzem auch die Familie Wittich, die nach dem Tode ihres Hauptes in bedrängte Lage geraten war. Es brauchte die ganze Vorurteilslosigkeit der Folkwangs, um die schicksalhafte Gegend nicht zu scheuen, aus der nur selten einmal ein Begünstigter wieder auf die Sonnenseite des Lebens zurückfand. Daher die Tränen Enzios, als er seiner Schwester die folgenschwere Entschließung mitteilte, und das triumphierende Lächeln Fehringers, wenn er einem von der Familie auf der Straße begegnete.

Die neuen Räume waren bequem verteilt und groß genug, daß auch Fannys Aufregungen sich darin ausleben konnten, nur klang ihre Stimme hier in der abgeschlossenen Wohnung noch lauter als im alten Haus, wo man halb im Freien lebte. Es fehlte bei der hohen Lage auch nicht an Helle, obwohl kein Sonnenstrahl unmittelbaren Zulaß in das Stockwerk fand. Dagegen ragte ein Turmzimmer über das Dach hinauf, das mit Fenstern nach drei Seiten alle Sonne auffing, die am Himmel stand, und zugleich einen weiten Blick über den Flußlauf und die jenseits gelegenen schönen Baumreihen gewährte. Dieser Raum war gleich zu Vater Folkwangs Studierzimmer bestimmt worden, wo er, um ungestörter zu sein, auch sein Bett aufschlagen ließ. Die andern richteten sich in ihrem Stockwerk mit dem wertvollen Hausrat ein, der jedoch zu den nüchternen Mieträumen und den geschmacklosen Tapeten nicht passen wollte. Und da alles nach Fannys Kopf gehen mußte, deren Eifersucht den Nichten kein Eingreifen gestattete, schlossen sich diese beiden noch enger aneinander und zogen sich ganz in ihr wiederhergestelltes Mädchenstübchen zurück, während Fannys Unrast aus den anderen Räumen jegliches Behagen fernhielt. Von den vielen Knaben war ihr zum Betreuen nur das Häslein geblieben, das man wenig hörte, weil es seine Freundschaft außer dem Hause hatte und auch viel in Feld und Flur herumschnupperte, besonders wenn es sich an die Fersen des jungen Försters hängen konnte, der es gern auf seinen Gängen mitnahm. So wußte sie gar nicht mehr, was mit ihrer Zeit anfangen, die ihr doch noch immer zu mangeln schien. Sie stellte keuchend vor Mühe eigenhändig schwere Geräte um, nahm die aufgehängten Bilder wieder von der Wand, gab niemals Ruhe und machte in ihrem treuen Eifer das Haus so unwohnlich wie möglich. Vater Folkwang war tief durchdrungen von ihren Verdiensten, entzog sich aber, wo er konnte, deren Auswirkungen und hauste wie ein Einsiedler in seinem Turmgemach.

Die beiden Schwestern brachten abwechselnd die Zeit bei der Großmutter zu, soweit die Jüngere nicht in der Schule war und die Ältere malte oder ihren Musikstudien bei Mutter Wittich oblag. Der neue Besitzer des van der Mühlenschen Hauses war ein kriegsbeschädigter Artillerieoffizier, der ein Bein verloren hatte und auf einem Ohr ertaubt war, daher störte ihn der Lärm nicht. Er empfand eine warme Bewunderung für Vanadis und pflegte sie gegen das Philistertum der Stadt, das ihr den Tod des Ponys wie ein Verbrechen ins Wachs gedrückt hatte, in Schutz zu nehmen. Bei der ersten Begegnung küßte er ihr ehrerbietig die Hand und erklärte ihre Handlungsweise für eine ritterliche; auch hatte er ihr sofort, als er von dem Vorgang vernahm, einen Platz an der Parkmauer für das Grab des Tieres zur Verfügung gestellt und es aufs tiefste bedauert, daß seine Frau in seiner Abwesenheit nicht auf den Vorschlag eingegangen war, das Pony mit zu übernehmen. Mit seiner Bewilligung wurde eine Steinplatte, die den Namen Falada trug, in die Mauer eingelassen. Das Immergrün trieb mächtig an der Stelle und blühte dunkelblau. Nie ging Vanadis dort vorüber, daß es nicht aus ihrem Herzen heraussprach: »O Falada, da du hangest«, und nur ihr vernehmbar kam die Antwort: »O Königstochter, da du gangest.«

Fanny hatte unterdessen jedem ihrer abwesenden Pflegesöhne sein Zimmer wieder eingerichtet, wie es im alten Hause gewesen; für sich selber verzichtete sie auf alle Bequemlichkeiten, damit es ja den Knaben nicht fehle, wenn sie in den Ferien heimkämen. Aber zunächst machte nur Gunther von diesem Vorteil Gebrauch. Er sah stattlicher aus und hatte infolge sportlicher Übungen seiner Länge auch etwas Breite zugesetzt, seine Bewegungen waren bestimmter, sein ganzes Wesen männlicher, Fanny weinte vor Freude bei seinem Anblick. Nur der überstarke Glanz der Augen verriet dem Tieferblickenden die Überspannung eines Hochdrangs, die immer Gefahr lief, im Zusammenprall mit den derberen Ansprüchen der Natur zu scheitern. Er hielt sich mit Widerwillen von der genießerischen und prahlerischen Hohlheit der Mehrzahl der studierenden Jugend ferne, wie sie zu Vater Folkwangs tiefer Enttäuschung die Nachkriegszeit hervorgebracht hatte, und bildete mit einer Anzahl Gleichgesinnter, die es denn doch unter der einförmigen Menge der Streber und Prasser noch gab, einen Jünglingsbund, der sich höchste Reinheit im Streben wie im Leben zum Ziele setzte. Seine Mitglieder gelobten, ihre ganze Kraft ohne selbstische Zwecke dem Dienste ihres Volkes zu weihen, den Ruf der sittlichen Erweckung weiterzutragen, selber dem Kampf um das Goldene Kalb fernezubleiben, keinen Alkohol zu genießen, käufliche Liebe zu verschmähen, sich rein zu halten bis zum Eheschluß, um ein gesundes, kräftiges Geschlecht zu zeugen. Sie mußten sich ferner verpflichten, die deutsche Sprache, soweit es an ihnen lag, von den Flecken der Fremdwörter zu reinigen, die Ausländerei auf jedem Gebiet zu bekämpfen, sich gegenseitig mit vollkommener Brüderlichkeit zu begegnen. Dieser Bund sollte durch alle deutschen Hochschulen Anhänger werben, die jährliche Zusammenkünfte abhalten wollten; und weil die Jugend Symbol und äußeres Wahrzeichen nicht entbehren kann, nahmen sie sich das Sonnenantlitz, kreisrund, von Locken umgeben, zum Merkmal, woran sie sich zu Gedankenaustausch und gegenseitiger Hilfeleistung erkennen wollten. Im Gegensatz zu den Knechten des Mammons und der Sinnlichkeit nannten sie sich »die Freien« und ihren Bund den »Baldersbund«. Gunther, der Feurige, hatte eine Flugschrift verfaßt, die zur Verbreitung in unzähligen Stücken gedruckt wurde, er brachte sie nach Hause mit.

»Unsere Alten sagen«, hieß es da unter anderem, »wir Jungen von heute hätten keine Ideale, und wir können nicht leugnen, daß allenthalben unter der deutschen Jugend ein Geist um sich gegriffen hat, der nichts mehr von dem zu wissen scheint, was ehedem Deutschland groß machte unter den Völkern, noch bevor es ein politisches Deutschland gab. Allein es sind zu allen Zeiten die wenigen gewesen, die einem Zeitalter den Stempel gaben, nicht die vielen. Freunde, Kameraden! Von allen Seiten tönt uns der Schrei nach Genießen entgegen, als ob wie vor einem Weltuntergang der Kelch der Erdenlust schnell noch hinuntergeschüttet werden müßte. ›Genießen!‹ ruft es aus der zeitgenössischen Literatur. ›Genießen!‹ antwortet es aus den Reihen derer, denen unser Jahrgang als unmittelbarer Nachfahre folgt und die wir jetzt abzulösen berufen sind. Wir aber erwidern auf diesen Ruf mit Goethes Faust: ›Genießen macht gemein. Wer das Leben lenken will, der muß sich selber zügeln können.‹ Kameraden, Freunde! Die Propheten des Tages erzählen euch, daß ein jeder das Recht an die größtmögliche eigene Wohlfahrt auf Kosten des Nächsten habe, und ihre Jünger sind gelehrig. Der Gefährte stößt den Gefährten vom Bootskiel, der Bruder betrügt den Bruder um die Erbschaft, die Freundin stiehlt der Freundin den Bräutigam oder den Gatten. Gesunden Egoismus nennen sie das. Es gibt keinen gesunden Egoismus. Das ist, als wolle man ein Organ des Körpers auf Kosten aller andern überernähren, wobei das Organ selbst und der ganze Körper leidet. Es sieht jetzt aus, als müsse das Meer ausbrechen, all den Unrat wegzufegen. Aber getrost, während alles verloren scheint, ist auch alles schon wieder gewonnen! Die Zeit selbst übernimmt in ihrer Strömung das Filtern. Unmittelbar auf jene Jugend, die schon heute keine mehr ist, folgt unsere Phalanx, und sollten auch wir versagen, so würden unsere Nachfahren sich von solchen Vätern abwenden und das bessere Erbe der Urväter wieder suchen.

Ein edler Denker des Auslands, Giordano Bruno, hat im sechzehnten Jahrhundert das Wort gesprochen: ›Gib, o Jupiter, den Deutschen, daß sie sich hohe Ziele setzen und sich selbst erkennen, so werden sie nicht Menschen, sondern Götter sein!‹ Götter! Wie dünkt euch dieses Wort, Freunde? Wollen wir nicht heute noch aufbrechen nach einem solchen Ziel? Der Bund, den wir geschlossen haben und zu dem wir euch einladen, weist nach diesem fernen Ende. Wir haben ihn Baldersbund genannt, nach dem reinen Gott mit der Strahlenwimper, dem Gotte der Jugend und des steigenden Jahres. Die Sonnenscheibe, von Locken umwallt, die sein Angesicht ist, haben wir zu unserm Wahrzeichen und Siegel genommen.«

Dann folgten die Satzungen, die auf Rückkehr zur Gesundheit und Natur, Schärfung des Pflichtgefühls und Gewissens, Stärkung vaterländischer und staatsbürgerlicher Gesinnung ohne Kriecherei nach oben, Reinhaltung von Leib und Seele, Schutz der Tiere und Bekämpfung jeglicher Roheit, Abschaffung des Trunks als geselliger Sitte lauteten und ein Ehrengericht vorsahen, das unwürdige Mitglieder ausschließen durfte. Kurz, ein irrendes Rittertum des Idealismus inmitten der alles Geistige leugnenden, grobsinnlichen Lebensanschauung der Zeit.

Tante Fanny weinte vor Freude, als er seine Flugschrift im Familienkreise vorlas, in der sie Geist und Ausdrucksform des Vaters übersteigert wiederfand, und fiel Gunther um den Hals, was er jedoch nicht liebte. Heinrich Folkwang machte keine Bemerkung zu dem Inhalt, er sagte nur:

»Dein Streben ehrt dich, lieber Sohn, mögest du dem Leben Wort halten und das Leben dir!«

Nur Vanadis, auf deren Beifall der Bruder zumeist gehofft und der zuliebe er den Namen Baldersbund gewählt hatte, fand dieses ganze Wesen zu überreizt und zu gewollt, es schien ihr, als müßte das Reinliche, Sittliche von selber dasein und brauche nicht so viel Aufwand, um ins Leben zu treten. Sie wußte nicht, welch schmerzhaftes Ringen es den Bruder kostete, den Glutstrom seiner Jugend durch einen solchen Eisenring am Ausströmen zu hindern. Beide hatten aufgehört, einander zu verstehen, weil Gunther seine sittlichen Forderungen auf eine Spitze trieb, wo sie in Puritanertum ausarteten. Als an Esthers Geburtstag nach altem Familienbrauch Gesundheiten getrunken wurden, wies er strenge den Schaumwein von sich. Er hatte ein Trutz-Trinkliedchen gedichtet, das von seinen Kommilitonen viel gesungen wurde, mit dem Kehrreim:

»Zerschlagt die Gläser, verschüttet den Wein!
Von Sonne wollen wir trunken sein!«

Während die andern ihre Kelche aneinanderklingen ließen, setzte er sich ans Klavier und sang sein Lied nach einer bekannten Melodie.

»Der Wein stammt auch aus der Sonne!« rief ihm Vanadis, ihren flachen Kelch, in dem die Lichter spielten, erhebend zu. »Wer einen solchen Tropfen Sonne am festlichen Tag verachtet, weil er im Übermaß genossen Schaden bringt, der ist kein echter Sonnensohn.«

Esther zupfte sie am Ärmel, aber das Wort war schon gesprochen. Gunther erhob sich gekränkt und ging schweigend aus der Türe.

Oskar Wittich, der für die Hochzeit einer seiner Schwestern nach Hause gekommen war und am Fest seiner kleinen Freundin nicht fehlen durfte, ging ihm nach und hatte alle Mühe, den liebevoll Zürnenden zu beschwichtigen.

Oskar wohnte diesmal nicht bei seiner Mutter, deren neue Wohnung für einen Gast zu eng war, sondern war zu seinem väterlichen Großvater gezogen, dem alten Totengräber, von dessen stadtbekannten Eigenheiten er in heiterer Weise zu erzählen wußte. Außerhalb des westlichen Stadtendes, da wo der unterste Ausläufer der Fehlhalde in den Feldweg überging, lag der stille, schöne Totengarten, in dem die Vögel ungestört den langen Tag sangen und die Blumen dufteten. Dort wohnte der wunderliche alte Mann mutterseelenallein in dem kleinen, einstöckigen, von der Friedhofsmauer mit eingeschlossenen Häuschen, das seit dem Tode seiner Frau keine lebende Seele mehr mit ihm teilen wollte, weil es des Nachts daselbst nicht immer geheuer war. Es gab Nächte, wo die Toten unruhig wurden, besonders wenn der Vollmond schien, und dann war es für niemand als für den Aufseher selber, ihren Herrn und Meister, geheuer. Jeden Abend, bevor er schlafen ging, besichtigte er seine stille Schar, indem er die langen Gräberreihen abschritt wie ein Feldherr die Front seiner Truppen. Da er etwas rheumatisch war, stützte er sich dabei auf sein spanisches Rohr wie der Alte Fritz, von dem ein ganz vergilbter Stahlstich über seinem Sofa hing und den er glühend verehrte. War dieser mit den Lebenden fertig geworden, daß es eine Art hatte, so führte er nicht minder strenges Regiment über die Toten. Sobald sich bei Nacht etwas auf dem Friedhof regte, sei es, daß eine Eule schrie oder daß ein Kater seinen Liebesschmerz ausströmte, alsbald war der alte Totengräber auf den Beinen, und in der weißen Unterhose, den Stock in der Hand, trat er hinaus und ermahnte die rebellischen Schläfer, sich nicht mausig zu machen, sondern hübsch liegenzubleiben, wie es ihre gottverdammte Pflicht war. Wehe dem unbefugten Kirchhofsbesucher, der so viel hätte wagen wollen. Ihm aber gehorchten sie, denn an der Stimme erkannten sie ihren Vorgesetzten. Wenn einer noch weiter muckste, so bedräute er ihn mit Entzug des nötigen Wassers für seine Blumen; das wirkte. Denn ein schön gepflegtes Grab zu haben, war ihr letzter Ehrgeiz hienieden, und ohne Ehrgeiz und Habenwollen, meinte er, könne man nicht einmal ein Toter sein. Seit er den eigenen Sohn zu der schweigenden Gemeinschaft hatte legen müssen, trat er weniger fritzisch mehr auf, aber aus früheren Jahren waren die wunderlichsten Anekdoten erhalten.

Da war einer unter den Toten, dem der alte Aufseher nicht traute. Der war im Leben ein Tückebold gewesen und hatte es mit Sticheleien auf den armen Totengräber abgesehen, den er gern ob seiner Beschäftigung hänselte, bis dieser ihm einmal ärgerlich drohte: »Warte nur, wenn ich einmal für dich das Grab zu schaufeln habe, will ich dir die Wohnung so eng und unbequem machen, daß du an mich denken sollst.«

Der andere hatte hohnlachend erwidert: »Wenn ich früher unter den Boden komme als du, so paß nur auf, was ich dir für einen Streich spiele. Du wirst deine blauen Wunder erleben.« Die Drohung vergaß der Totengräber nicht, und als wirklich bald danach sein Widersacher, obwohl an Jahren der Jüngere, ganz schnell verstarb, machte er sich auf eine Ungelegenheit gefaßt. Richtig, als der Sarg hinabgelassen war und man die Seile wieder hochziehen wollte – der alte Wittich hatte das beste Paar Seile genommen –, da wollten sie nicht rutschen, wie sehr man zog und zerrte, der Tote hielt sie fest, und es blieb nichts übrig, als sie ihm zu lassen zu seiner stillen Schadenfreude und zum großen Ärger des um seine Habe Geprellten. Nun konnte ja der Tote zufrieden sein, denn den angekündigten Streich hatte er seinem Gegner gespielt, allein sein Charakter war so bösartig und eulenspiegelhaft gewesen, daß man niemals vor ihm sicher blieb. Um ihn nicht in Üppigkeit fallen zu lassen, hielt ihn der Aufseher mit der Pflege seines Grabes knapp und beschränkte sich auf das Allernotwendigste, wozu ihn sein Amt verpflichtete. Jedesmal vor dem Schlafengehen, wenn er über die anderen in corpore den Abendsegen gesprochen hatte, trat er noch besonders vor das Grab seines Widerparts, um ihn zu verwarnen.

»Mein bestes Paar Seile hast du schon«, sagte er ihm einmal bei dieser Gelegenheit. »Wenn du fortfahren willst, Unfug zu stiften, so sollst du den alten Wittich kennenlernen.«

Sein Enkel, damals noch ein Knabe, war ihm nachgeschlichen und hatte gesagt:

»Wenn er dir was anhaben will, der schlechte Kerl, so bin ich auch noch da, Großvater.«

Der alte Mann entgegnete entrüstet:

»Was fällt dir ein, du Gelbschnabel, mir helfen zu wollen? Meinst du denn, du könntest nach Sonnenuntergang so ungestraft hier herumgehen, wenn sie nicht vor deinem Großvater Respekt hätten?«

Diese Dinge erzählte Oskar Wittich mit einem leisen und feinen Lächeln, ohne der Pietät zu nahe zu treten, daß alle ihre Freude hatten und das gestörte Festmahl heiter ausklang. Vanadis äußerte den Wunsch, diesen wunderlichen und rührenden Eigenbrötler kennenzulernen.

»So besuchen Sie mich doch einmal in meiner grünen Klause«, sagte Oskar, der immer hartnäckig bei dem »Sie« blieb. »Ich habe mir unter der Traueresche an der Mauer einen Arbeitswinkel hergerichtet, wo mich niemand stört. Der tote Dichter, dem der Platz gehört, liegt schon über fünfzig Jahre dort und bekommt keine Besuche mehr. Esther kennt die Stelle und kann Sie führen.«

Esther errötete über und über. Es stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, daß das stille Kind auch mit dem alten Totengräber wie mit allen Gliedern der Familie Wittich enge Freundschaft hatte und daß sie ihm von Zeit zu Zeit kleine Aufmerksamkeiten erwies oder solche Liebesdienste, die in einem frauenlosen Haushalte wohltätig sind. Nun wollten die Schwestern an einem der nächsten Tage selbander kommen, den alten Mann besuchen und Oskar bei seinen Büchern überraschen.

Als dieser nach Tische noch einen Augenblick mit den Schwestern allein blieb, fragte ihn Vanadis, was er von Gunthers Flugschrift halte.

»Was er schreibt und redet, ist Gold, und ich bewundere seinen Glauben«, sagte Oskar. »Aber es will mir nicht scheinen, daß man die Sittlichkeit eines Volkes durch Manifeste heben könne. Nach meiner bescheidenen Einsicht ist der Dienst an der Menschheit ein viel werktäglicheres Geschäft, er geht unscheinbar von Person zu Person und erfordert viel nachsichtiges Verstehen, denn die Menschen sind viel häufiger schwach als schlecht, und ihre Verkommenheit ist mehr eine Seuche, ein Contagium, dem sie unterliegen« (Sie verzeihen, daß ich als Arzt spreche), »als die freie Wahl des Schlechten. Aber vielleicht bin ich zu schwunglos, um zu ermessen, wie weit eine Dichternatur wie Gunther die Mitwelt nachreißen kann.«

Sie schwiegen eine Weile, dann fragte er:

»Ist es wahr, daß Sie das Pony erschossen haben?«

»Ja, ich habe es getan und täte es wieder. Glauben Sie auch wie die Spießbürger unserer guten Stadt, daß ich blutdürstig sei?«

Er lächelte ernst.

»Nein, Vanadis, ich habe Sie besser verstanden. Ich weiß, daß jener Direktor ein Pferdeschinder ist und daß Sie das gute Tier vor Mißhandlung retten wollten.«

»Ich wollte an ihm tun, was ich wünschte, daß man in ähnlichem Fall an mir selber täte. Es ist mir schwer genug geworden, und noch jetzt erwache ich zuweilen an dem Blick, mit dem es mich ansah. Ach Oskar, das Leben ist schwerer, als wir uns in der Kindheit träumen ließen.«

»Das ist es«, sagte er den Kopf senkend.

 

Am nächsten Sonntag besuchten die beiden Schwestern Oskar in seiner grünen Studierstube, wie sie es versprochen hatten. Er kam ihnen schon unter der Tür des Friedhofs entgegen. Der ganze Garten duftete in der stillen Septembersonne. Sie fanden Großvater Wittich beschäftigt, die Gräber zu begießen, Estherchen lief auf ihn zu, sobald sie ihn von weitem sah. Oskar sagte: »Großvater, dies ist das junge Fräulein, für das Vater so große Freundschaft hatte.«

Sie streckte ihm freundlich die Hand entgegen. Aber der Alte erschrak, als er sie so groß und schön sah, er äußerte nachher, es sei ihm gewesen, als ob alle Blumen sich vor ihr verneigten. In großer Verwirrung drehte er sein Mützchen in der Hand und wußte nicht, was auf ihre Anrede erwidern. Er murmelte etwas Unverständliches und verschwand, kam aber gleich wieder zum Vorschein mit drei wunderbar duftenden dunkelroten Rosen, die er ihr überreichte. Sie nahm sie dankend, indem sie sagte: »Aber nicht für mich allein!« Dabei reichte sie eine ihrer Schwester, die andere zog sie am langen Stengel durch ihre Blusenschleife, von der dritten entfernte sie die Dornen, um sie Oskar ins Knopfloch zu stecken, der Miene machte zurückzuweichen, dann aber sich die Gabe gefallen ließ.

»Rosen der Freundschaft haben keine Dornen«, sagte sie mit einer kleinen Bosheit wie beruhigend.

Sie gingen zu vieren durch die Gräberreihen, der alte Mann vergaß seine Scheu und wurde gesprächig, indem er die ansehnlichsten seiner Schläfer mit einem Ausdruck von Hochachtung nach Namen und Verdiensten vorstellte, als ob sie noch am Leben wären. Dies war jedoch der einzige Zug, in dem sich seine Absonderlichkeit äußerte, und Oskar hatte es wohl vorausgesehen, sonst würde er die Begegnung verhindert haben. Er begleitete die Schwestern noch ein Stück weit auf dem Heimweg. Da es ihm dabei begegnete, Vanadis mit »Fräulein« anzureden, blieb sie stehen und sagte lächelnd: »Ich bin nicht Fräulein, ich bin Vanadis. Können Sie nicht wenigstens das geschmacklose ›Fräulein‹ fallenlassen?«

»Wie Sie befehlen«, war die Antwort.

Da zuckte sie die Achseln und ging voraus, sich übermütig in den Hüften wiegend, indem sie nicht mit Worten, sondern nur mit Tönen vor sich hin summte: »Zur Liebe kann ich dich nicht zwingen!«

Estherchen weinte im Weitergehen in sich hinein: Was haben Sie nur, diese beiden? Ich kann sie nicht verstehen, und sie verstehen sich selber nicht.

 

»Die Welt ist häßlich, häßlich, häßlich«, sagte eines Tages Vanadis, den Pinsel sinken lassend, zu Corinna. »Es ist mir sogar verleidet, sie zu malen.«

»Aber die Natur doch nicht«, antwortete Corinna von ihrer Staffelei weg.

»Ja, die erst recht. Aus der Natur kommt alles Häßliche und Böse, aus der Körperwelt. Ich möchte meinen Körper abwerfen können und auf einem reineren Planeten gar nichts mehr sein als Stimme, Stimme, die sich ausströmt in Glück und Qual.«

»Woher nimmst du Glück und Qual ohne die Körperwelt?« fragte die andere mit leichtem Spott.

»Die bring' ich von der Erde mit, sie reichen aus für Ewigkeiten. Nur fort möcht' ich, fort, in höhere Lüfte.«

Sie fuhr sich mit einem Seufzer tiefsten Mißbehagens mit geballten Händen an beiden Seiten herunter, wie um ein unbequemes Kleid herabzustreifen, und reckte dann die Arme mit einer gewaltsamen Bewegung nach oben. Darauf ließ sie sich hoffnungslos in einen Stuhl sinken. Corinna trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Solch ein Kind! Hat noch nichts erlebt und redet daher wie ein indischer Asket. Wenn uns die Welt mißfällt, so heißt das immer, daß wir uns selbst mißfallen. Leiste, was dich und andere freut, so wird sie dir wie ein Zaubergarten vorkommen. Aber du weißt nicht, was du willst und sollst, daher dein Unmut.«

»Daß ich es vielmehr weiß, aber nicht kann und darf, daher kommt es. Singen möchte ich, zur Bühne gehen, das ist's. Ich weiß es jetzt, ich habe eine Stimme, in der ich mich ganz ausgeben könnte und mein und der andern Glück mit ihr machen. Aber es fehlen die Mittel zur höheren Ausbildung, jetzt, wo die Brüder studieren müssen. An einen Platz im Konservatorium ist nicht zu denken. Ich habe ja ein wenig singen gelernt, durch Egons Güte, der das für mich durchsetzte, so gut es hier im Städtchen zu haben war. Aber jetzt ist er fern, und auch wenn er mir erreichbar wäre, so dürfte er doch nicht wissen, um was es geht, denn er haßt das öffentliche Auftreten der Frauen, und gegen Bühnenkünstlerinnen hat er ein Vorurteil wie der rückständigste aller Männer.«

»Woher weißt du nun auf einmal, daß du das Zeug zur Bühnenkünstlerin hast?«

»Ich fühle es schon lange in mir, aber ich war voller Zweifel. Zu Hause darf ich ja nicht singen, es würde Vater stören, und Fanny würde bellen wie ein Hund, so zuwider ist ihr die Musik. Aber bei der Generalin war es anders. Es war dort ein feiner Musikkenner, ein älterer Herr, der sich an mir nicht satt hören konnte und mir eine glänzende Laufbahn prophezeite, wenn ich zur Bühne ginge. Die Generalin war entsetzt und winkte ab. Ich aber hatte keine Ruhe mehr. Bei einer Fidelioaufführung mit einem berühmten Gast als Leonore kam es in mir zum Durchbrach. Die Sängerin hatte eine Stimme von hoher Pracht, aber ihr Spiel war mittelmäßig und ihr Leibliches war unmäßig, daß man nicht gerne hinsah. Mein musikalischer Verehrer, der neben mir saß, sagte: ›Ich schließe die Augen und denke mir Sie an diese Stelle.‹ Ich tat das nämliche, und in der Nacht konnte ich vor Unruhe nicht schlafen. Des andern Tages ganz in der Stille raffte ich meinen Mut zusammen, um endlich zu wissen, was an mir ist. Ich ging zu unserem gefeierten Tenor, dem Stern des Hoftheaters, den alle jungen Mädchen vergöttern; ich tat es auch – bis zu jenem Tag. Er ließ mich etwas vorsingen und begleitete mich auf dem Klavier. ›Sie haben eine Stimme‹, sagte er, ›aber keine Seele.‹ Ich war zerschmettert, das hätte ich zuletzt erwartet. – ›Jaja!‹ sagte er mit Lachen. ›Das ist so; Sie singen wie eine Drehorgel‹, und als er sah, daß ich mit Tränen kämpfte, setzte er hinzu: ›Der Fehler ist heilbar, Sie haben noch nichts erlebt. Sie müssen durch das Tor des Lebens gehen, wenn Sie das Leben darstellen wollen.‹ Und er nahm sich dabei heraus, den Arm um mich zu legen.«

»Nun, und weiter? Du solltest durch das Tor des Lebens gehen?«

Die Malerin lachte ihr herbes Lachen.

»Ich stieß ihn zurück, er war nicht beleidigt, er lachte nur: ›Sehen Sie, wie grün Sie noch sind. Ich sage Ihnen nochmals: Sie haben eine Stimme, um die sich's lohnt, ich will sie ausbilden, aber Ihre Vorurteile müssen Sie ablegen, wenn Sie zur Bühne wollen. Und nun fassen Sie sich und überlegen sich's und kommen Sie wieder, wenn Sie klüger sind.‹ – Ich lief an jenem Tage stundenlang durch den Stadtpark, ehe ich der Gastfreundin wieder unter die Augen treten konnte; ich kam mir beschimpft und besudelt vor, und mein Herz schlug zum Zerspringen.«

»Jaja! So sind sie, die Herren der Schöpfung«, sagte die Malerin. »Du warst eben nicht witzig genug, dich mit ihm abzufinden.«

»Witzig?«

»Ja, ich habe mir einmal in ähnlicher Lage durch einen trefflichen Witz geholfen. Es war nach meiner ersten Ausstellung, ein berühmter Kunstkritiker – ich nenne seinen Namen nicht, denn er ist heute mein Freund – hatte ein freundliches, tiefgehendes Wort über meine Bilder geschrieben, das mir innerlich weiterhalf. Ich war gerührt und entzückt und dankte ihm schriftlich. Dann kaufte ich mir sein neuestes Buch und las es mit Begeisterung. Ich weiß nicht, was den berühmten Mann bewog, der armen, namenlosen Künstlerin einen Besuch zu machen. Er sagte mir Günstiges über meine Anlagen, mehr noch über meine Erscheinung. Das wunderte mich nicht weiter, denn ich war es damals gewohnt, es ist lange her. Nun, und dann wurde er persönlich, fragte nach meinen Lebensumständen, was mir in meiner Verlassenheit wohltat. Er setzte sich neben mich und legte den Arm um meinen Leib. Es konnte väterlich gemeint sein, aber seine Augen gefielen mir nicht. Was machen, wegrücken? Mir einen solchen Gönner verscherzen? Außerdem ist Sprödigkeit einem so viel älteren Mann gegenüber geschmacklos, er kann sich immer hinter die Vaterrolle verschanzen. Ein guter Geist erleuchtete mich, als er sich noch enger herandrückte. Ich übersah die Annäherung und begann mit Lebhaftigkeit von seinem Buche zu sprechen. Die schwierige Lage machte mich beredt, ich fand Worte, die ihm schmeichelten. Der Ausdruck seiner Augen verwandelte sich. Nie hätte ich sonst gewagt, einen Mann von solchem Ansehen ins Gesicht zu loben. Und nie hätte ich geglaubt, daß ihm das Lob einer ganz jungen, unerfahrenen Frau Vergnügen machen könne. Meine Kriegslist gelang mir wunderbar: sooft er wieder näher rücken wollte, nahm ich einen neuen Anlauf der Bewunderung, er merkte nichts, er war wie der Rabe aus der Fabel, der aus geschmeichelter Eitelkeit den Bissen fallen läßt. Ich trieb das Spiel, bis wir von außen gestört wurden. Er war zufrieden mit seinem Besuch und kündigte mir dessen baldige Wiederholung an. Ich sorgte dafür, daß er mich nicht allein fand. Seitdem sind wir in schriftlichem Verkehr geblieben und er ist mein Freund geworden, jetzt ist ja keine Gefahr mehr dabei. Ich schätze ihn von der geistigen Seite sehr hoch, und sein Rat ist mir oft von Nutzen gewesen. So muß man die Herren an der Nase führen.«

»Ja, du beherrschst das Leben, Corinna. Aber ich bin hilflos und ungeschickt.«

»Jung bist du, das ist alles. Auch muß ich zugeben, daß deine Lage eine andere war. Noch einen Besuch bei deinem Tenor, so wärst du ihm verfallen, denn damit gabst du ihm ein Recht über dich. Der erste schon war unvorsichtig.«

»Das habe ich begriffen. Ich sah ihn noch einmal, es war bei einem Gartenfest. Da setzte er sich zu mir auf eine Bank und fragte ganz väterlich, wozu ich mich entschlossen hätte. Er habe mir noch gar nicht gesagt, was ich an meiner Stimme besitze. Solch eine durchgehende Klangfülle bei solchem Umfang, das komme nicht so leicht wieder vor.

Als ich ihm entrüstet sagte, ich dächte nicht daran, mich für die Kunst zu verkaufen, lachte er wieder und antwortete: ›Sie sind noch sehr jung, sonst wüßten Sie, daß Ihrem Geschlecht gar nichts übrigbleibt, als sich zu verkaufen, immer und überall. Die Welt gehört dem Mann. Wo die Frau eintreten will, muß sie Torgeld zahlen, und jeder will von ihr, was sie allein geben kann. Auch die Ehe ist meist nichts anderes als ein Verkauf.‹

›Ich weiß‹, sagte ich, ›und darum gehe ich ihr aus dem Wege.‹

›Machen Sie, was Sie wollen‹, antwortete er. ›Aber das kann ich Ihnen im voraus sagen, den Tempel der Kunst betreten nur Eingeweihte. Wer Sie da hineinführt, ob ich oder ein anderer, immer wird es heißen: die Vorurteile draußen lassen. Fragen Sie die großen Künstlerinnen, wie sie hereinkamen, sie werden Ihnen das gleiche sagen, wenn sie ehrlich sind. Die Anfängerin muß für jede schöne Rolle, nach der sie strebt, mit ihrer Person zahlen. Das ist nicht mehr als billig, und die Kunst selber will es so. Um eine Rolle zu schaffen, muß man sie innerlich durchlebt haben. Man muß sie durchliebt haben, das ist's. Leben heißt lieben für die Frau.‹ – So sagte er, und mit diesem Zerrbild von Liebe warf er alle meine Träume von Ruhm und Glück und Zukunft in den Schmutz.«

»Der Mann mag in vielem recht haben«, sagte die Malerin. »Aber der Weg, den er dir zeigt, führt durch Sümpfe, für die deine Füße zu gut sind. Auch was dich sonst an der Bühne erwarten würde, ist nicht für Naturen wie die deine. Bleibe du bei deinen Farben, den schönen, unschuldigen. Malen kannst du, ohne daß du deine Person wegzuwerfen brauchst.«

So kam es, daß das Mädchen im Malen weiterstümperte, ohne Befriedigung, nur damit etwas geschah. Im übrigen saß sie auf der Sandbank fest und wartete, wie die meisten ihres Geschlechts in jenen Tagen, auf das unbekannte Schiff, das sie wegholen sollte.

 

Es war ein goldenes Jahr, an dem der Sommer mit seiner Inbrunst und seligen Bläue gar nicht von den Menschen scheiden wollte. Er hielt den Herbst in brüderlicher Umarmung, und beide teilten sich trunken und nimmersatt in die Herrschaft der Erde. Der eine trieb seine späten Blumen in unfaßbarer Fülle nach, der andere vergoldete die Wälder und schüttete über Obst- und Weinhalden seinen üppigsten Segen. Und die Sonne glühte noch Tag für Tag, als wollte sie niemals müde werden. Die junge Vanadis glühte und leuchtete auf einmal mit ihr um die Wette. Sie wünschte nicht mehr, reiner Geist zu sein, ein junges irdisches Glück tanzte in ihren Adern. Das Glück hieß Edwin Leo.

Die Generalin, ihre Gönnerin, hatte ihr des öfteren von einem Neffen erzählt, der in früher Jugend ein Tunichtgut gewesen, aber einer von der liebenswürdigen Art, der man nicht böse sein kann. Die Erinnerung an seine Knabenstreiche wurde in der Verwandtschaft mit frommem Grauen, aber zugleich mit einem geheimen Stolz gepflegt. Da er in den Schulen nur Unfug trieb und sich auch im Kadettenhaus nicht in die Ordnung fügen wollte, schickte man ihn nach Amerika, wo ein ausgewanderter Zweig der Familie sich seiner annahm. Edwin Leo wurde amerikanischer Bürger, kam zu Geld, das er in Ländereien anlegte, und trat, seinem Hang zum Soldatenstand folgend, als eben wieder einmal Indianereinfälle stattgefunden hatten, in ein gegen die unruhige Nachbarschaft ausgesendetes Kavallerieregiment ein, wo er zur Zeit als Rittmeister diente. Alle paar Jahre kam er auf einen Sprung nach Europa, um zu sehen, ob der alte Erdteil noch stand und ob Freunde und Verwandte noch lebten. Dann verliebte sich jung und alt in ihn, und die Knaben mußte man hüten, daß ihnen nicht Onkel Leo, der noch ebenso toll war wie in seiner eigenen Knabenzeit, die Köpfe verdrehte und sie zu allerlei Unternehmungen anregte, die sich in einem Schelmenroman besser ausnehmen als in dem Schulzeugnis eines künftigen ordentlichen Staatsbürgers. Er hatte eine Schwester, die an einen Gutsbesitzer im Bayerischen Wald verheiratet war. Dort setzte er jeden Jungen, der ihm in den Weg lief, aufs Pferd und ließ es mit einem Gertenhieb laufen; fiel der arme Kerl herunter, desto schlimmer für ihn. Besonders wo er so etwas wie Stubenhockerei witterte, konnte er trotz seiner natürlichen Güte grausam werden. Und seine eigenen Böse-Jungen-Streiche pflegte er den entzückten kleinen Hörern zur Nacheiferung zu erzählen. Sein Bild, das auf dem Schreibtisch der Generalin stand, zeigte ein keckes, wohlgeformtes männliches Gesicht, dem ein Ausdruck von Sorglosigkeit und Selbstvertrauen wohl anstand, weil er durch Selbstbeherrschung gemildert schien. Bisweilen hatte die Generalin ihrer jüngeren Freundin auch schon Stellen aus seinen Briefen vorgelesen, wobei diese sich ebensosehr an dem Temperament und den Einfällen des Schreibenden ergötzte, wie sie an dem eingestreuten Amerikanischen Anstoß nahm. Edwin Leo schrieb wie einer, der frühe die Heimat verlassen und den lebendigen Zusammenhang mit der Muttersprache verloren hat und daher seinem Deutsch mit englischen Brocken aushilft, die dem Ohre unerfreulich sind und von der Bildung des Briefschreibers keinen ganz günstigen Begriff geben. Sie war nun aber schon an diesen Stil gewöhnt, und gelegentlich erkundigte sie sich selbst, was die Exzellenz von ihrem tollen Neffen wisse. Da hatte ihr eines Tages die Generalin ein paar Zeilen geschrieben und den jüngsten Brief Edwins eingelegt, der nach allerlei liebenswürdigem Unsinn und ein paar sachlichen Mitteilungen von Gewicht am Schluß die Worte enthielt:

»By the bye, was macht die kleine Vana, von der Du mir so oft erzählt hast – und gewiß nicht ohne Absicht, denn das gibt's bei Euch Frauen nicht. Sie muß jetzt groß sein; ist sie so hübsch geworden, wie sie als Kind versprach? Lebt sie noch immer auf den Bäumen? Ist sie noch eine so tolle Reiterin? Oder ist sie auch ein Bählämmchen geworden wie die andern German girls? Jetzt bin ich ein gemachter Mann, jetzt könnte ich sie mir holen, denn – das sei Dir ins Ohr gebeichtet – das Junggesellentum kann mir nachgerade gestohlen werden. Ein Leben ohne Frau, das ist kein Leben. Ja, liebe, gute, alte, sorgenvolle (hier hatte die Tante dazwischen geschrieben: er meint »fürsorgliche«) Exzellenz, Dein wilder Neffe wird alt, er hat schon die Mitte der Zwanzig überschritten und sehnt sich nach einer zarten Hand, die ihm die Trense anlegt.«

Dann war noch quer durchgeschrieben:

»Oder hat sie am Ende schon einen Mann und läßt Deinem dummen Teufel von Neffen das Nachsehen?«

Diesem Schreiben hatte die Generalin noch einen Auszug ihrer Antwort an den Schreiber beigelegt:

»Vanadis ist alles geworden, was sie versprach, und mehr. Das Auf-die-Bäume-Steigen ist ihr zwar versalzen worden, denn ihr schöner Wald ist gefällt, und ihr Pony hat sie erschossen, weil sie es nicht mehr füttern konnten, aber sie betrauert es wie einen Freund. Einem zudringlichen Freier, der ihr mißfiel, hat sie mit einer Ohrfeige die Tür gewiesen. Wenn Du klug bist, kommst Du beizeiten.« Daraufhin hatte Edwin Leo gekabelt, daß er abreise, und nunmehr mußte er bald fällig sein, wie die Exzellenz meinte. Sie fragte deshalb an, ob er sich mit ihrer Empfehlung im Haus Folkwang vorstellen dürfe.

So unbegreiflich schnell, wie über Nacht ein Gewitter den Frühling in eine noch tote Landschaft bringt, war das gekommen. Vanadis mußte sich in die Hände beißen, daß sie nicht in Schreie ausbrach, um ihre Brust von der Bedrängnis dieses Nahen, Unbegreiflichen zu entlasten. Einen Augenblick wallte ihr alles Blut zurück und bäumte sich auf gegen die hereinbrechende Übermacht, dann aber warf sie sich in die Woge, und jede Faser ihres Wesens rief, jauchzte, schluchzte: Ja! Dieser Mann gefiel ihr. Ohne ihn je gesehen zu haben, ohne zu fragen, wie solch ein Indianer zu ihrem verfeinerten Seelen- und Geistesleben passen sollte, war sie entschlossen, durch Wasser und Feuer zu gehen, um die Seine zu werden.

Jetzt war endlich das Schicksal da, jetzt stand sie mit beiden Füßen im Leben. Aber es konnte nichts anderes als Funken geben. Denn daß man in der Familie alles aufbieten würde, um eine Heirat auf so große Entfernung zu hintertreiben, sah sie mit Bestimmtheit voraus, und sie fühlte ja selbst, daß sie im Begriffe war, den Ihrigen einen großen Schmerz zu bereiten, aber ein Unwiderstehliches handelte aus ihr und drückte die Bedenken nieder.

Sie begann mit Vorsicht zu überlegen. Wenn sie noch im alten Familiensitz wohnten, so wäre die Einführung Edwins unter dem Auge der Großmutter eine einfache und selbstverständliche Sache. Aber auf der Fehlhalde dürfte ihre erste Begegnung nicht stattfinden, es lag wie ein böser Zauber über dem Ort. Des Vaters Fremdenscheu und Furcht, sein Kind zu verlieren, blickte mißtrauisch auf jeden männlichen Besucher, und mit Fanny war immer weniger auszukommen, ihre nutzlosen Aufregungen über kleine häusliche Vorgänge waren das geringste; wenn sie in ihre Taktlosigkeiten verfiel, die jetzt nicht mehr von der vornehmen alten Frau im Zaum gehalten wurden, war sie einfach gefährlich. Ihre unkluge Zunge hatte die Nichte schon oft in die tiefste Verlegenheit versetzt. Sie schrieb an die Generalin, um ihr vorsichtig diese Schwierigkeiten anzudeuten und sie, zagend ob solcher Zudringlichkeit, um eine abermalige Einladung in ihr Haus zu bitten. Eine Woche später, bevor noch der Erwartete eingetroffen war, erging von der Generalin ein liebenswürdiges Schreiben an Herrn Folkwang, worin sie ihn bat, ihr doch für einige Tage seine älteste Tochter als Wohngast zu überlassen.

»Wird es Ihrem Neffen nicht scheinen, ich sei ihm zu schnell entgegengekommen?« fragte Vanadis beklommen, als die Generalin sie in den Armen empfing.

»Närrchen, was soll ihm denn ›scheinen‹? So ein Reitersmann ist für schnelle Entschlüsse, und aus dem lieben Herkommen hat er sich nie etwas gemacht.«

»Aber wenn wir uns gegenseitig nicht gefallen?« fragte sie, nun schon mit einem leisen Anflug von Schelmerei.

»Kind, ein Mädchen, dem Edwin Leo nicht gefiele, das gibt es nicht. Dieser Mensch ist ein Stück Sonnenschein, er ist eine wandelnde Freude Gottes. Und von der anderen Seite – ich will nichts weiter sagen.«

So war es denn geschehen, das Wunder. Eine freudige Männerstimme auf dem Gang, rasche Schritte und die Tür aufgerissen – Vanadis war in die Höhe geschnellt und blickte ihm entgegen –, da stand er, wie er ihr geschildert war, groß und schlank, mit lächelndem Gesicht, mit Siegfriedsaugen, der ganze Mensch ein Fest der Natur – die Generalin hatte recht: eine wandelnde Freude Gottes. Als er sie mit schnellem Blick umfaßte, wurde er einen Augenblick zaghaft, in seinen Mienen stand der Zweifel: Werde ich gefallen? Ihr Aufglänzen gab die stumme Antwort, da war kein Halten, da hatte er sie in den Armen: »Also mein?« und weiter sagte er nichts.

Sie nickte, denn zum Sprechen fehlte ihr der Atem, aber ihre Augen blickten fest in die seinigen. Da küßte er ihren emporgewandten Mund, der vom Übermaß der Erregung erstarrt war, küßte ihn wieder und wieder, bis er erwachte und den Kuß zurückgab.

»Willst du mit mir gehen, schönes Wunder?«

Sie nickte wieder.

»Aber du weißt, ich wohne weit weg in einer wilden Gegend, ganz an der Grenze der Zivilisation?«

Sie nickte lebhafter zum Zeichen, daß ihr das gefalle.

»Kannst du nicht sprechen, Wunder?«

Sie schüttelte den Kopf, denn noch immer versagte der Laut.

»Ist Vana stumm?«

Sie nickte wieder und lachte, jenes Lachen, das die Freunde ihr Blumenlachen nannten, dann aber brach sie in Tränen aus, doch auch durch Tränen blickte sie ihn fest an. Er drückte ihren Kopf liebkosend an seine Schulter.

»Du hast ganz recht zu lachen und zu weinen. Kommt dir so ein Narr daher, ein Kerl, der gar nichts taugt, aber mit der Glückshaube geboren ist, und holt sich solch ein Kleinod weg. Du weißt doch, daß ich ein böser Junge war und böse Streiche verübt habe und darum über das große Wasser mußte?«

»Das weiß ich«, sagte sie und lächelte wieder durch die Tränen.

»Gott sei Dank! Nun höre ich endlich ihre Stimme. Ich dachte schon ernstlich, Vana wäre stumm, und ich müßte mich mit dem Sehen begnügen. Es gibt zwar Männer, die sich eine stumme Frau wünschen, aber in unsern Einöden ist man dankbar für ein liebes Wort.«

Dann blickten sie sich beide aus der Nähe in die Augen und studierten eins die Züge des andern wie einen zu ergreifenden, noch nicht gekannten Besitz. Er schob sie ein wenig zurück, doch ohne sie freizugeben, um ihre Erscheinung besser mit dem Auge zu umgreifen.

»Also so sieht mein Lieb aus!« Und nun drehte er sie gar mit Vorsicht wie ein edles Gefäß her und hin: »Welche Seite ist die schönere? Ich weiß es nicht. Jede ist die schönste und alle gehören mir. Eigentlich bist du ja viel zu fein für mich. Weißt du, ich bin ein grober Kerl, ein Hinterwäldler, ein Barbar. Reiten kann ich und schießen, das ist mein Bestes. Auch im Schwimmen habe ich schon Preise verdient, aber vor aller höheren Kultur bin ich ein Ochse. Und von Vanadis sagen sie, daß sie eine halbe Gelehrte sei. Doch das schadet nichts, wir amerikanischen Männer nehmen das nicht übel, wir wissen schon, daß wir dümmer sind als unsere Frauen. Es soll einmal unsern Jungen zugute kommen, wenn du mehr weißt als ich.«

Die Generalin trat herein: »Nun, seid ihr einig? Keins vor dem andern zurückgefahren?«

Die beiden strahlenden Gesichter und die verschlungenen Hände gaben Antwort.

»Sieh sie an, Tante, und schäme dich, daß du so lau von ihr geschrieben hast.«

»Nanu, Junge, was soll das heißen? Was hätte ich denn schreiben sollen?«

»Nichts als: ›Sie ist auf der Welt die einzige, die viel zu gut ist für dich.‹«

»Das weiß Gott«, antwortete die edle Frau. »Aber jetzt kommt zu Tische, Kinder.«

Während der Mahlzeit erzählte die Exzellenz von den Jugendstreichen des Neffen:

»In allen Ställen hatte der Bub die Nase, und wo er einen Gaul erwischte, kletterte er ihm ohne weiteres auf den Rücken. Mein seliger Mann war ganz närrisch mit ihm; er hoffte, daß er unter seinen Augen einer großen militärischen Zukunft entgegengehen werde. Aber in der Kriegsschule stieß das Bürschlein gleich mit der Disziplin zusammen und verdarb auch andere.«

»Da flog er«, ergänzte der Neffe.

»Wie viele Anekdoten waren von ihm im Umlauf«, fuhr die Tante fort. »Unser guter alter Oberst X., ein Freund seines Vaters, war sein besonderer Gönner. Es war von dem etwas beleibten Herrn bekannt, daß er gern zahme Pferde ritt. Eines Tages sagte er leutselig vom Pferd herunter zu dem Jungen: ›Wie gefällt dir mein neuer Gaul, Edwin?‹ Der Schlingel stellt sich stramm: ›Zu Befehl, Herr Oberst, ein schönes Tier. Ein mit Schimmelfell bezogenes Kanapee.‹ Da war es mit der Gnade vorüber. Noch Jahre später, als der Nichtsnutz längst unsere Halbkugel verlassen hatte, sagten die jungen Offiziere der Garnison: ›Unser Oberst reitet heut wieder sein Kanapee.‹«

Vanadis lachte. Der Rittmeister aber bemerkte ernsthaft:

»Ich sollte mal in meiner Abteilung solch einen frechen Jungen haben, dem wollt' ich's austreiben.«

»Ja, so war er«, sagte die Generalin, sich die Lachtränen trocknend. »Es ist doch schade, daß er von uns gegangen ist. Wenigstens mit Gabel und Messer kann er noch umgehen wie ein Kulturmensch. Überhaupt, wenn er sich zuweilen ungebildet anstellt, so glaub ihm nicht: er hat eine gute Kinderstube gehabt, er hat sich nur aus Trotz zurückgebildet.«

»›Zurückgebildet‹ ist ein gutes Wort«, lachte der Neffe, »es stimmt. Sogar ein klassischer Windzug hatte mich in den Schulräumen angeweht. Aber ich zog es vor, ein Naturmensch zu werden und unter Rothäuten zu leben.«

Das junge Mädchen war entzückt von der Ritterlichkeit seines Benehmens und daß es der alten Dame ebenso galt wie der jungen. Sooft die Generalin aus dem Zimmer ging, sprang er auf, um ihr die Tür zu öffnen, und rückte ihr den Stuhl zurecht, wenn sie sich setzte.

»Auf diesem Punkt wenigstens hat ihn die Fremde nicht verdorben«, bemerkte die Tante.

»Fürchte dich nicht, du schönes Wunder«, sagte er. »Was dir diese gute Frau von mir Schlimmes sagt, ist alles wahr, aber die feinen weißen Finger hier – gibt es in aller Welt feinere? – können den groben Ton kneten, wie sie wollen. Ich habe das Talent, mich zu wandeln, und unterwerfe mich jeder Veränderung, die sie über mich verhängen. Ich will sogar noch ein Gelehrter werden, wenn ich einen Schulmeister finde, der die nötige Geduld mit mir hat.«

»Das dürfte schwer sein«, antwortete Frau von Leo. »Und nun ist es genug für heute. Mach dich auf die Sohlen und such dir eine Schlafstätte, denn hier ist kein Platz für dich, solange dieser holde Gast unter meinem Dache weilt.«

»Wie, gestrenge Exzellenz, du wirfst mich aus deinem gastlichen Haus, wo ich immer meine Heimat hatte, und gerade heut? Als ob ich nicht wüßte, daß du nicht mich allein, sondern eine ganze Schwadron unterbringst, wenn du willst.«

»Aber nicht, wenn eine Braut im Hause ist. Es darf mir kein Gerede aufkommen. Das bin ich der Familie Folkwang schuldig. Und jetzt ist Zeit zum Schlafengehen.«

Er verhandelte noch ein wenig, um den Abschied hinauszuschieben, mußte aber endlich doch aufbrechen. Noch einmal betrachtete er beim Schein des Kronleuchters seine Verlobte von Kopf zu Füßen wie ein Kind, das sich von seinem Geburtstagsgeschenk nicht trennen kann.

»Da steht sie! So sieht sie aus! Herrgott, die Meine! Bin ich ein Glückspilz! Sieh sie nur an! Wie sie blickt! Sie hat Heldenaugen. Gewiß ist sie schon einmal Löwenbändigerin gewesen. Da ist nichts von dem dummen Augenniederschlagen der German girls. Ich werde ganz klein vor ihr. Ich muß auch Kraft und Willen spüren, wo ich lieben soll.«

»Jetzt habe ich aber das Gefasel satt!« rief die derbe Exzellenz nachdrücklich. »Morgen ist auch noch ein Tag zum Süßholzraspeln.« Und damit trieb sie den Liebesseligen von hinnen.

Am andern Tag wurde ernstlich beraten, was jetzt zunächst zu geschehen habe. Edwin wollte heiraten, stehenden Fußes, oder seine Braut ohne weiteres mitnehmen. Aber die Generalin lachte den Übereiligen aus: ob er nicht wisse, daß zum Heiraten Papiere gehörten und daß in den sittenstrengen Vereinigten Staaten ein ungetrautes Paar nicht einmal landen dürfe. Sie war der Meinung, Vanadis solle gleich nach Hause fahren, um die Ihrigen vorzubereiten, und dann den Verlobten nachkommen lassen. Aber diesem Vorschlag widersetzte sich das Mädchen.

»Es ist bei uns eine gespannte Luft im Hause. Vater ist verstört und seltsam aufgeregt, seine Nerven beben. Fanny ängstigt sich, und wenn sie sich ängstigt, wird sie zänkisch und ausfallend, man kann nicht wissen, auf was für wunderliche Einfälle sie käme. Gunther, der vermitteln könnte, ist abgereist. Mein kleines Schwesterlein trägt allen häuslichen Kummer mit und siecht. Dahinein kann ich ihn nicht führen, bevor wir uns besser kennen. Ich muß fürchten, daß wir auseinandergerissen würden. Helfen Sie mir, es ihm klarzumachen, und behalten Sie uns hier; der Kampf wird frühe genug beginnen. Vater wird mich nicht so weit fortgeben wollen, und Tante Fanny, sowenig sie mich liebt, wird mit allen Schrecken auf mich einstürmen, daß ich bleiben soll. Und mündig bin ich ja auch noch nicht.«

Die Freundin sah das ein, und die Liebenden blieben in ihrem Schutze.

Als das verhandelt war, bat und bettelte der Neffe so lange, bis ihm gestattet wurde, allein mit seiner Braut einen Ausflug in die Berge zu machen und den Tag unter vier Augen mit ihr zu verbringen. Das war gegen die herrschende Sitte, und die Generalin äußerte zuerst Bedenken: »Offen gestanden, ich traue euch nicht ganz. Ihr beiden geht mir zu schnell. Ich will mir wohl den Kuppelpelz an euch verdienen, aber einen ehrlichen, ich bin den Folkwangs verantwortlich.«

Ihr Neffe aber entgegnete ernst:

»Meine Braut ist heilig; wie ich sie aus den Händen der Natur empfange, will ich sie vor den Altar führen.«

Waren es wirklich die heimischen Bergwälder, was sich im Herbstgold vor den Verlobten auftat? War es nicht der Urwald mit tausendjährigen Baumriesen und hängenden Lianen? Rauschte nicht der Missouri oder der Mississippi hinter ihnen? Dehnte sich nicht da unten in der Tiefe die grüne endlose Savanne? Und der rote Fleck, der da eben durch die Äste gelugt hatte und jetzt raschelnd durch das Unterholz davonjagte, was konnte der anderes gewesen sein als eine spionierende Rothaut? Denn neben dem verzauberten Mädchen ging das Abenteuer in Person und erzählte vom Leben in den Farmen, von den großen Büffelherden in der Prärie, vom Einfangen und Zähmen des tückischen Mustangs, und die junge Braut begeisterte sich, wie sie sich als Kind auf ihrem Baum für Robinson und den Lederstrumpf begeistert hatte.

Zuweilen redete der Verstand mit einem plötzlichen Erwachen dazwischen: Was ist mit dir geschehen? Wie kommst du zu diesem wildfremden Menschen, der plötzlich aus dem Mond gefallen ist? Er hat nichts mit allem Deinigen gemein. – Aber die Stimme des Herzens überschwang den Einwurf und antwortete: Das weiß ich besser. Wir zwei sind von Urbeginn, noch ehe die Welt erschaffen war, beisammen gewesen.

Quer durch Moosgründe und Heidelbeerbänke suchten sie weglos die steilere Richte. Da legte sich ein bemooster Mauerrest, der von einer alten Befestigung herrührte, in ihren Weg. Edwin fand es zu umständlich, den Durchgang zu suchen: mit ein paar spitzigen Steinen, die er mittels eines stumpfen in die Mauer trieb, stellte er schnell ein paar Leitersprossen her, woran sie hinaufstiegen. Oben sprang er ab und fing die Nachspringende in den Armen auf. Aber sie wand sich los und entlief ihm mit einer Leichtigkeit, die an ihren Bruder Häslein erinnerte, so daß Edwin sich zusammennehmen mußte, sie sich wieder einzufangen. Dann hielt er sie unterfaßt, und ungekannte Kraftströme, von einem zum andern gehend, hoben ihnen die Sohlen, daß sie zu schweben glaubten.

Auf den verwitterten Bänken einer einsamen Waldschenke, die sich in den Trümmereinfall eines zerstörten Raubschlosses eingenistet hatte, saßen sie sich bei einem Mahle gegenüber.

»Du wirst mich oft herzlich dumm finden«, sagte er ihr. »Bücher habe ich wenige gelesen! Du wirst es auch bald heraus haben, daß ich nicht eigentlich mit dem Hirn denke wie der zivilisierte Mensch, sondern wie die Wilden mit Ohren und Augen und mit den Poren der Haut. Was die einlassen, das ist mein, auf das übrige muß ich verzichten. So war es von jeher mit mir, drum konnten sie mich hüben nicht gebrauchen. Aber auf diesem Wege kommt auch manches herein, was in Büchern nicht steht und in Schulen nicht gelehrt wird. Kannst du die Vogelrufe unterscheiden? Ich wette, nein. Nun siehst du, Jung Siegfried war auch ein Dümmling, aber die Vogelsprache verstand er. Dein Hinterwäldler versteht sie ebensogut. Wenn ich im Wald liege, unbeweglich mit geladenem Rohr, das ich sorgfältig verstecken muß, denn das Wild unterhält ein Heer von Spionen in der Tierwelt, dann höre ich deutlich, was die Amsel von mir meint und wie das Rotkehlchen seine vierfüßigen Gönner warnt. Die Indianer bedienen sich nicht besser untereinander, wenn sie auf dem Kriegspfad sind, als die Vogelwelt das Hochwild, denn Mensch und Tier sind ebenbürtige Gegner.«

Das war eine Sprache, die Vanadis noch nie gehört hatte, aber auf der Stelle verstand, die Sprache des Ursprünglichen, die der andere, schönere Pol für die Verfeinerten ist. Vergessen war die Kunstwelt Egons und die Bücherwelt ihres Vaters. Vergessen der Fidelioabend und die Lehren Corinnas. Alle ihre Götter verlassen und vergessen. Nichts hatte für sie mehr Sinn, was nicht auf Edwin Leo bezogen werden konnte. Wozu das Wissen und wozu die Kunst? Beides floß aus der Natur als seinem Urquell. Hier war einer, der vom Urquell trank. Zurück mit ihm zum Urquell, der labender war. All ihr Wünschen und Wollen floß in das seinige hinüber. Er sprach vom Leben an der Grenzmark der Zivilisation, das noch das einzig wahre sei. Wo der Mann noch mit Flinte und Pflug der Natur die Nahrung für Frau und Kinder entreiße, wo er als Krieger seine Grenzgaue schütze, mit dem Feind in Greifweite, Mann gegen Mann, Kugel gegen Kugel, da gelte noch die Persönlichkeit, da sei es eine Lust, Mensch zu sein.

Ihre Augen strahlten, alle Heldensagen, an denen sich ihre Kindheit berauscht hatte, wurden da vor ihr lebendig. All ihr Durst nach Freiheit und Weite fand endlich seine Befriedigung. Neben ihm auf dampfendem Pferd durch die Prärien fliegen, mit ihm auf Anstand gehen, die Vogelsprache lernen, Sorgen und Gefahren teilen und bis an die Grenzen des eigenen Wesens gelangen: Höheres konnte das Leben ihr nirgends bieten.

»Es ist das Glück der Freien«, sagte sie stolz. »Wenn es nicht so bequem und sicher ist, so ist es jeden Tag neu, weil es immer wieder aus dem Nichts geschaffen werden muß und gegen die Schrecken der Natur verteidigt.«

»So spricht meine tapfere Amazone, die ihr Lieblingstier erschoß, um es vor roher Behandlung zu retten«, sagte der Liebende entzückt. »Aber sie soll nicht glauben, daß ich sie in eine Blockhütte führen wolle, wo sie selber das Feuer anzuschüren und das Wildbret zuzurichten hätte. An Händen, die dich bedienen, wird es dir nicht fehlen und nicht an Flinten, die das Raubzeug – vierbeiniges oder zweibeiniges – für dich niederknallen, daß du die Schrecken der Natur nicht aus zu großer Nähe zu sehen brauchst.«

Das ist die Erfüllung, dachte sie, und es war das einzige, was sie in diesen glücklichen Stunden denken konnte. Oh, wie jetzt endlich das Nebelgespinst der Kindheit, das sie noch immer umflockt gehalten, zerriß und die Sonne des Lebens strahlend hervortrat. Ja, jetzt, jetzt wußte sie, was sie wollte und sollte.

Noch ein zweiter Glückstag war den Liebenden unter dem fallenden Herbstlaub vergönnt. Als er sich neigte, begann Vanadis trotz der noch sommerlichen Wärme leise zu frösteln, und ein Unbehagen legte sich auf ihre Seele. Etwas Fremdes, Unverstandenes kam von irgendwoher auf sie zu und sandte einen Schmerz voraus. – Halte die Stunde fest, sie kommt nicht wieder, flüsterten die rieselnden Blätter. Und die Sonne sah schräger und schräger durch die Zweige, immer mehr Eile hatte sie zu sinken.

»Warum ist mein Mädchen heute so schweigsam und ernsthaft wie ein Indianer? Darf ich nicht wissen, was sie denkt?«

»Ich dachte, ob dieses Glück nicht zu groß sei, um wahr zu werden?«

»Warum soll es nicht wahr werden, mein geliebtes Wunder?«

»Ich habe mir oft schon, als ich jünger war, so märchenhafte Dinge zusammengedichtet, von stillen großen Flüssen, die ungedämmt durch weite Ebenen rinnen, und von fremden wilden Menschen und Tieren. Aber wenn ich zu mir kam, saß ich jedesmal auf meinem Baum.«

»Das waren meine Gedanken, die ich dir als Luftspiegelungen schon damals zusandte, um dir dein Zukunftsbild zu zeigen. Aber hast du dir auch einen Edwin Leo dazugedichtet?«

»Nein, so weit brachte ich es nicht.«

»Siehst du, den hast du nun als Zugabe, und der ist gewiß Wirklichkeit. Es ist alles viel einfacher, als du dir denkst. Das Glück ist immer einfach, es wartet am Wege und will nur erkannt und ergriffen sein, aber das ist es, was den meisten mißlingt. Wir beide haben es fertiggebracht. Als die gute Generalin mir zum erstenmal von dir schrieb, da wußte ich: Diese ist es! Ich sage nicht, daß mir nicht unterdessen manche andere auch gefallen hat, aber ich wußte: Unterdessen wächst mir die eine heran. Und als ich hörte, daß du jetzt flügge seist, da war gerade die rechte Zeit für mich, und ich kam. Jetzt bleibt nur noch der Widerstand der Deinen, den wir gemeinsam besiegen müssen.«

Ja, es war alles einfach; wenn man nur seine freudige Stimme hörte, hatte er im voraus recht. Er hatte ihren Arm fest durch den seinigen gezogen: »Fasse ihn herzhaft an, er ist aus anderem Stoff als die Luftbilder unserer Prärien.«

»Gibt es die wirklich?« fragte das junge Wesen an seiner Seite, schon wieder vom Wunderdurst brennend.

»Und ob es die gibt! Sie haben schon manchen braven Kerl ins Verderben gelockt. Sie können dir eine blanke Wasserfläche hinzaubern, wo nur dürres Steppengras wächst, und fahrende Wagenzüge mit weißer Leinenbedachung in segelnde Schiffe verwandeln. Von diesen Gaukelkünsten macht man sich keinen Begriff, ehe man sie gesehen hat.«

Er lachte plötzlich vor sich hin, weil ihm ein Erlebnis einfiel.

»Ich hatte einmal als ganz junger Leutnant den Befehl erhalten, mit meinen Leuten einen Trupp Dakotahs zu verfolgen, die mit Raub und Mord über unsere Grenze gebrochen waren. Wie ich mich an der Spitze meiner Abteilung vorfühle, erscheint plötzlich auf weniger als eine Meile Entfernung ein Reiterschwarm, der uns im Galopp entgegenkommt. Ich hielt sie durch das Glas für feindliche Indianer, die Gewehre oder Skalpe schwangen, und alte, erfahrene Präriejäger unter der Mannschaft bestätigten meine Meinung. Ich ließ zum Angriff blasen, und wir stürmten hin, wobei uns der Feind immer größer entgegenwuchs. Erst aus der Nähe erkannten wir ein halbes Dutzend erlegter Büffel, die uns die Spiegelung nicht nur gewaltig vergrößert und vervielfältigt, sondern auch in die scheinbare Bewegung versetzt hatte.«

Einmal ins Erzählen gekommen, fiel ihm Geschichte um Geschichte ein. Sie hörte unersättlich zu und forschte immer weiter. Am begierigsten fragte sie nach den Rothäuten.

»Ich fürchte, meine Liebste macht sich eine falsche Vorstellung von ihnen. Sie sind nicht, wie sie in gefühlvollen Romanen geschildert werden, und auch nicht, wie wir sie in unsern ehrlichen Knabenspielen darstellten. Ich stehe zwar nicht auf dem Standpunkt unserer Grenzmärker, die sagen: der einzig gute Indianer ist der tote Indianer, aber ich muß zugeben: der beste ist der am weitesten entfernte.«

»Muß noch immer mit ihnen gekämpft werden?« fragte sie.

»Selten«, war die Antwort. »Es kommt wohl noch dann und wann ein Überfall auf Reisende vor, die ihr Gebiet durchziehen müssen. Aber in Massen haben sie sich schon lange nicht mehr gezeigt. Wir haben sie das letztemal so gründlich heimgeschickt, daß ihnen das Wiederkommen vergangen ist. Höchstens daß sie an den uns freundlichen roten Stämmen ihr Mütchen kühlen. Unlängst ging zwar das Gerücht, daß in einigen Dörfern der Sioux Geistertänze abgehalten würden und daß ein Medizinmann die Ankunft eines Messias verkünde, der den weißen Mann vernichten und die vertriebenen Büffelherden zurückbringen werde. Aber als man nachforschte, zeigte sich's, daß es Märchen oder Übertreibungen waren.«

Dann sprachen sie von dem Heim, in das er sie führen wollte, und von den neuen Freunden, die sie erwarteten. Zuvor aber wollten sie zusammen den Niagara donnern hören und das Wunderland des Yellowstone-Parks besuchen. Wie ein leichter Schwindel stieg ihr die Vorstellung von so viel neuem Leben zum Hirn. Die Prophezeiung ihres Vaters fiel ihr ein: Sie wird fremde Länder sehen und fremde Sprachen sprechen und doch immer die Unsere sein. War nicht auch Edwin Leo auf seinen abenteuerlichen Fahrten ein Sohn der Heimat geblieben?

Als sie auf die Lichtung traten, löste sich die eben versinkende Sonne – hätte sie nur nicht solche Eile gerade heut! – in Goldstaub auf, der die ganze Luft erfüllte. Sie schritten noch eine Zeitlang durch die Verklärung, dann umschloß der Wald sie wieder, den schon die Dämmerung und bald darauf die Dunkelheit zudeckte. Nur wenige Sterne ließ er durch, aber herbstlich hell und glänzend.

»Kennt mein Lieb die Sterne?« – Ja, einige davon kannte sie, und als der Blick sich erweiterte, konnte sie ihm dieses oder jenes Sternbild nennen.

Zum Dank erzählte er ihr eine niedliche Indianerlegende von den Sternen, die er selbst aus dem Mund einer Häuptlingstochter von Neu-Mexiko hatte:

»Der Stamm der Navajo pflegt die Überlieferung, daß die Menschen zuerst tief unten in der Erde gehaust hätten. Als sie heraufkamen, gab es noch gar kein Licht, nur eine matte Dämmerung so wie auch drunten. Da beschlossen die Navajo, den Himmel nebst Sonne, Mond und Sternen zu machen. Den alten Männern der Navajo wurde das Schönste, die Sonne, aufgetragen, den andern Stämmen: Himmel, Mond und Sterne. Als der Himmel fertig war, begannen sie ihn ganz wundervoll mit Sternen zu besticken, wobei sie Bären, Fische und dergleichen darstellten. Aber während sie an der Arbeit waren, brach der Präriewolf herein und rief: ›Warum gebt ihr euch solche Mühe mit all der Stickerei? Steckt doch die Sterne hinein, wie es eben kommt!‹ – und er warf den ganzen Sternenplunder aufs Geratewohl hinauf, so daß nur wenige Sternbilder fertig wurden: die Unverschämtheit des Präriewolfs hat die schöne Bilderstickerei, die die Navajo planten, nicht zustande kommen lassen. Ist das nicht ewig schade, sweet baby?«

Sie antwortete mit einer zärtlichen Süße, die ihr ganzes Wesen durchflutete: »Der böse Wolf! Warum hast du ihm nicht eins auf den Pelz gebrannt?«

»Ist mehrfach geschehen. Aber es gibt auch gute. Soll ich dir auch von den guten Wölfen erzählen?«

»Bitte, tue das.«

Der Weg senkte sich und wurde uneben, man mußte auf Steine und Baumwurzeln achten. Er hielt sie enger an sich gezogen. Unter der schützenden und stützenden Zärtlichkeit empfand sie beglückt die Ehrfurcht des unverdorbenen Mannes vor einer reinen Mädchenjugend. Und sie wußte, daß ihr von diesem Manne nie etwas Widriges, Verletzendes kommen konnte.

Er begann wieder:

»Also das war so: Ein alter Indianer, der mit Weib und Kindern vor der Schlechtigkeit der Menschen in die Einöde geflohen war, kam in seinem Wigwam zu sterben. Er tröstete die Frau, daß sie ihm bald in das glückliche Geisterland folgen werde, und ließ sich von den beiden älteren Kindern, Bruder und Schwester, versprechen, daß sie ihren schwachen jüngeren Bruder nie verlassen wollten. Ein Winter verging, da faßte den Knaben die Unrast, es zog ihn in die Dörfer zu seinesgleichen. Seine Schwester erinnerte ihn an das gegebene Versprechen, daß sie sich nie voneinander und von dem jüngeren Bruder trennen wollten. Er nahm ohne Antwort Bogen und Pfeil und ging.

Die Schwester pflegte den schwächlichen kleinen Bruder zärtlich. Aber nach einigen Monaten wurde auch ihr die Zeit lang, sie trug an Holz und Nahrungsmitteln zusammen, was sie finden konnte, und häufte es im Zelte auf. Dann sagte sie zu dem Kleinen: ›Geh ja nicht fort aus der Hütte. Ich suche nur unsern Bruder und bin bald zurück.‹

Aber als sie ins Dorf kam, fand sie einen Mann und vergaß den kleinen Bruder. Der ältere Bruder hatte gleichfalls geheiratet und dachte nicht mehr zurück. Als der kleinere Bruder die Nahrung aufgezehrt hatte, ging er in die Wälder Beeren suchen und Wurzeln ausgraben, solange das Wetter mild war. Aber als der Winter kam, zog er in großer Not umher, verbrachte oft die Nacht in hohlen Bäumen und nährte sich von dem, was von der Mahlzeit der Wölfe übrigblieb. Mit diesen befreundete er sich so, daß er furchtlos bei ihnen saß, wenn sie fraßen, und sie ließen ihm stets aus Mitleid etwas übrig. So lebte er von der Gnade der Wölfe bis ins Frühjahr. Als das Eis auf den Seen schmolz, folgte er seinen neuen Freunden an die eisfreien Ufer. Zufällig fischte einmal dort sein älterer Bruder in seinem Kanu im See, weitab vom Ufer, da hörte er eine Kinderstimme und wunderte sich, wie ein Kind in diese Einsamkeit komme. Er horchte und vernahm den Schrei noch einmal. Eilig fuhr er dem Ufer zu und erkannte in geringer Entfernung seinen kleinen Bruder. Er hörte ihn klagend singen: ›Mein Bruder, mein Bruder! Ich werde ein Wolf.‹ – Als er ausgesungen hatte, heulte er auf wie ein Wolf, und der Ältere wunderte sich beim Näherkommen noch mehr, als er sah, daß der Kleine zur Hälfte Wolf geworden war. Er sprang auf ihn zu, um ihn in die Arme zu fassen, und rief: ›Kleiner Bruder, kleiner Bruder, komm zu mir!‹ – Aber das Kind entwich, indem es sang: ›Ich werde ein Wolf!‹ – und dazwischen heulte es. Der ältere Bruder, dem mit den Gewissensbissen die alte Liebe erwachte, rief immer wieder in großem Jammer: ›Kleiner Bruder, kleiner Bruder, komm zu mir!‹ Aber je eiliger er ihn zu erreichen strebte, desto schneller floh das Kind, und die Veränderung seines Körpers dauerte fort, bis es ganz verwandelt war und mit dem Ruf: ›Ich bin ein Wolf!‹ auf vier Füßen davonsprang. – Der ältere Bruder und die Schwester, als sie es vernahmen, konnten sich nicht darüber trösten und warfen sich, solange sie lebten, ihre Grausamkeit gegen den kleinen Bruder vor.«

»Das ist rührend, das ist schön«, sagte Vanadis. »Wie kann nur so viel Zartheit bei so viel Wildheit wohnen!«

»Das menschliche Herz ist unter jeder Hautfarbe dasselbe«, antwortete er.

»Ich liebe ein Land, wo Tiere und Menschen miteinander sprechen«, begann sie wieder. »Weißt du noch mehr so schöne Sachen?«

»Du sollst sie selber sammeln und niederschreiben, ich werde dir helfen, beim Aufsuchen nämlich, denn das Schreiben ist meine Sache nicht. Das gibt ein Geschäft für die langen Winterabende, wenn der Mann mit der Flinte durch Schnee und Wind stapft.«

»O nein, ich stapfe mit.«

»Das fehlte. Ich werde doch mein Köstlichstes nicht dem Unwetter preisgeben. Du weißt nicht, wie bei uns der Schneewind tobt. Das ist anders als unter diesen schützenden Hügeln.«

»Aber ich habe auch einen Willen.« Sie stampfte ein wenig mit dem Fuß. Nun mußten sie zum Schein ein Weilchen streiten, die zwei glückseligen Kinder. Dann versöhnten sie sich in einem langen Kuß.

Als sie aus dem Walde traten, lag die Stadt mit ihren Lichtern gerade unter ihnen, die goldene Arabesken in die abendliche Dämmerung malten. Sie staunten das wohlbekannte Schauspiel an wie ein Stück Feenland, so märchenhaft war die Welt, weil sie sich hatten.

Schau ihn dir an, Vanadis, so sieht er aus. Das ist sein Gang und seine Haltung. Ganz so, wie er ist, mußte er sein. Aus deiner Wunschkraft hat er sich leibhaftig gestaltet, damit auch du einmal erführest, wie einer glücklichen Braut zumute sei. Kein Zug an ihm, den du dir anders wünschtest. Keine kleine äußere Eigentümlichkeit, die dir nicht ganz gefiele, eine jede ist dir Sinnbild und Wahrzeichen eines innersten Wertes. Schau ihn dir an, tief und lange, damit er für immer dein Besitztum bleibt.

 

Beim Nachhausekommen fanden sie die Generalin in einiger Unruhe. Ein von Edwins Schwester nachgeschicktes Kabeltelegramm war gekommen, das ihr ahnendes Mißtrauen weckte.

»Doch nichts Schlimmes?« fragte Vanadis, als sie sah, daß Edwins Brauen sich zusammenzogen und seine Wangen um einen Ton blasser wurden.

»Schlimm oder gut, je nachdem man es nimmt«, antwortete er, schon wieder im Gleichgewicht. »Je früher ich reise, desto früher kann ich zurück sein und meine Liebste holen.«

»Reisen? Jetzt?« fragte sie entgeistert.

Er reichte ihr das Blatt, das die knappe Mitteilung enthielt, daß die Sioux in einer Grenzstation eingefallen seien, die Männer getötet, Rinder und Frauen weggeschleppt hätten, daß das Kriegsdepartement Truppen zusammenziehe und daß Rittmeister Leo sich unverzüglich zu seinem Regiment zu begeben habe. Die junge Braut entfärbte sich, ihr Herz hörte einen Augenblick zu schlagen auf – das war der Pfeil, der sie von weitem gesucht hatte! Sie brachte nur die zwei Worte heraus: »So schnell?«

Er tröstete sie: »Da hat meine Liebste gleich einen Vorgeschmack von unserem Westen. Man hat das Glück den Freien nicht geschenkt, es muß täglich frisch erobert sein. Dafür schmeckt es um so süßer. Sind das nicht deine eigenen Worte?«

Er küßte ihren bleich gewordenen Mund, und ihre Lebensgeister erwachten wieder. Die Braut eines Tapfern durfte nicht feige sein. Und was sollte denn diesem Menschen zustoßen, dieser Freude Gottes! Er mußte doch auf der Erde sein, damit sie glänzte und ihr Schöpfer an ihr froh sein konnte. Nur daß er so schnell schon fort sollte – aber da war wohl nichts zu machen? Nein, da war nichts zu machen. – »Was ist denn weiter?« fragte er. »Eine kleine Wasserfahrt. Dann ein kleiner Spazierritt zu den Herren Sioux, um ihnen den Besuch heimzugeben, wie es die Höflichkeit verlangt. Und dann bin ich wieder bei dir. Sorge du nur, daß die Familie ihre Einwilligung gibt und daß die Papiere unterdessen beschafft werden, damit wir dann keine Zeit mehr verlieren. Es wird mir eine Ewigkeit scheinen, bis ich dich fest habe.«

Wer sich über die Kriegsnachricht gar nicht fassen konnte, das war die Generalin.

»Frauen weggeschleppt! In unsern Tagen! Das kommt noch vor! Was hab' ich da angestellt! Du sagtest mir immer Gutes von den Rothäuten und daß sie jetzt Freunde seien . . .«

»Freunde? Nein, das sagte ich nie. Aber ruhige Nachbarn, das sind sie auch für eine ganz geraume Zeit gewesen. Es werden aber zuweilen Ungesetzlichkeiten gegen sie verübt, die sie mit dreimal größeren Ungesetzlichkeiten erwidern. Der rote Mann hat alle Laster des weißen Mannes, und noch einige dazu, die ihm die Nähe einer für ihn schädlichen Zivilisation aufzwingt. Das ist die Wahrheit. Aber verlaß dich drauf: die Frauen werden wir ihnen wieder abjagen, und daß mein Mädchen nicht mit ihnen in Berührung kommt, dafür werde ich sorgen. Und dann soll das mein letzter Kriegspfad gewesen sein. Also mach meiner Liebsten das Herz nicht schwer. Sie ist tapfer und begreift, daß wir ihre Schwestern zurückholen müssen.«

Sie lächelte an seiner Schulter: »Ich werde unterdessen auch meinen Kampf bestehen.«

»Ja, Liebste, sie werden dir's schwermachen. Ich kann es ihnen nicht übelnehmen. Wer sollte dich gerne hergeben? Und wer wenig reist, dem scheint das Wasser eine großmächtige Schranke. Aber sie werden sich drein finden, wenn du fest bleibst, und einsehen, daß es gar keine Trennung zu sein braucht, weil wir jederzeit herüberkommen können und sie hinüber. Auch sollen sie nicht glauben, daß ich dich an die Ungewißheit eines Soldatenschicksals binden wolle. Sobald dieser Feldzug zu Ende ist, begrabe ich das Schlachtbeil und werde Farmer. Die Nachbarn sollen staunen, was ich mir für eine Farmerin mitbringe. Spätestens zum Frühjahr bin ich wieder hier. Diese militärischen Spaziergänge dauern nicht lange. Sieh nur zu, daß dann alles in Ordnung ist. Lerne mir die Sprache gut mittlerweile, die brauchst du. Auch das Spanische wäre nicht vom Übel – man kann nie wissen –, und dir wird es ja leicht. Weiter brauchst du nichts. Und vor allem gib dich nicht mit der Ausstattung ab, das finden wir alles schöner drüben.«

Er begab sich noch spät auf das Telegraphenamt, um in Hamburg anzufragen, wann das nächste Schiff abgehe. Seine Braut begleitete ihn, um von der gesteckten Frist keine Minute mehr zu verlieren. Das Aufsehen, das sie zusammen erregten, bemerkte er allein, denn für sie gab es auf der ganzen Welt nur noch ein einziges Gesicht. Was sonst noch da war, sah sie gar nicht. Solange sie seinen Arm, der den ihren hielt, so nahe an ihrem Herzen spürte, war ihr das eigene Kraftgefühl wie eine Versicherung gegen das Schicksal.

Erst als der letzte Gutenachtkuß geküßt und sie allein auf ihrem Zimmer war, erschlaffte der überspannte Bogen. Aufschluchzend ließ sie sich vor ihrem Bett auf die Knie sinken. Sie vergaß, daß sie sonst das Wort ihres Vaters im Munde zu führen pflegte: sich um persönliche Vergünstigung an die Gottheit zu wenden, sei des höchsten Wesens unwürdig. Ganz kindlich, ohne zu fragen, ob da ein Ohr sei, das sie höre, flehten ihre angstvollen Gedanken um die Erhaltung ihres großen unbegreiflichen Glücks und daß, wenn das Geschenk für sie zu groß sei, es durch ihr Leben, nicht durch das seinige bezahlt werde.

Die Antwort aus Hamburg, die am Morgen eintraf, zwang Edwin, noch mit dem Abendzug zu reisen.

Vanadis stand mit der Generalin auf dem Bahnsteig neben ihm. Jetzt küßte er nur noch ihre Hand, dann flatterte ihr Tüchlein dem Abfahrenden nach. Es hatte keine Tränen zu trocknen, der Augenblick war zu heilig zum Weinen. Und am folgenden Mittag hielt sie schon einen telegraphischen Liebesbrief in Händen:

»Bleibe mir stark und froh und vergiß nicht, daß ich die Glückshaut habe«, das waren die letzten Worte, die er ihr noch vom Dampfer aus zurief.

 

»Ist mein Mädchen noch böse auf mich?« empfing Vater Folkwang seine Tochter, als die Heimkehrende bei ihm in seinem Turmzimmer eintrat.

»Ich böse, lieber Vater, und auf dich? Wofür denn?« fragte sie in aufrichtiger Verwunderung.

»Wegen des Falada.«

»Ach darum!« (Das Tier fiel ihr jetzt erst wieder ein.) »Gewiß nicht, lieber, lieber Vater. Verzeih, daß ich so töricht war, du konntest es ja doch nicht ändern. Und jetzt ist es auch schon so lange her.«

»So lange her?« staunte er bei sich selber. Sie küßte zärtlich seine beiden Hände. Die mit ihm eingetretene Veränderung wurde ihr nicht sogleich klar, denn sie ging noch mitten im Morgenrot. Wie lang sein Hals aus den eingesunkenen Schultern wuchs, und daß sein Gang vornübergeneigt war wie von einer Last, an der er immer schwerer trug, ging ihr erst im Lauf der Tage auf, als sie sich zu erinnern begann, daß sein Anblick früher ein anderer gewesen. In dem Vater regte sich das Folkwangsche Familienübel wieder mit der Erneuerung alten Leids. Seine Hoffnungen auf die neue Zeit hatten sich nicht erfüllen wollen, und nun hatte auch die Abwesenheit der Tochter ungünstig gewirkt. Er war gewohnt, daß sie ihm in Stunden, wo seine Augen vom Studieren und von der Nachtarbeit schmerzten, Goethe vorlas; in ihrer Stimme lag etwas dem Inhalt Verwandtes, und sie erinnerte ihn an die Stimme Eugenies, die er seine goldene Glocke genannt hatte. In der Zwischenzeit hatte Fanny sich in das Amt der Vorleserin gedrängt, und sie, die niemals Zeit hatte, fand jetzt Zeit in Menge, um den über alles geliebten kranken Bruder noch kränker zu machen. Ihr hartes, stoßendes Sprechen tat seinem musikalischen Ohr weh, aber seine schüchterne Bitte, ihm doch nicht soviel von ihrer Zeit zu widmen, wies sie mit Nachdruck zurück, denn wenn sich Fanny einmal in den Kopf gesetzt hatte, einem Menschen Gutes zu tun, ließ sie sich durch nichts beirren. Auch sah sein überzartes Gewissen in dem verlängerten Ausbleiben seines Lieblingskindes einen Vorwurf. Die Generalin hatte nämlich das junge Mädchen eine ganze Woche über den gesteckten Urlaub hinaus festgehalten, damit sie Zeit habe, sich nach all den Plötzlichkeiten, die über sie gekommen waren, zu fassen.

»Wird mein David jetzt wieder seine Harfe rühren für seinen alten, trübseligen Saul?« Das war die einzige Form, in die er seine Klage und sein Bedürfen kleidete.

So begannen die Lesestunden von neuem, und die jugendliche Stimme, die sich biegsam den Worten anschmiegte, auch wenn die Vorleserin dem Sinn nicht folgte, bewährte wieder ihre wohltuende Kraft. Sie mußte da beginnen, wo sie stehengeblieben war. Aber ihre Gedanken waren anderswo. Sie konnte sich in keine Welt mehr versetzen, zu der ihrem Geliebten der Zugang fehlte. Die hohe Getragenheit des Goethewortes klang ihr zu kunstvoll nach der Paradieseseinfalt jugendlicher Menschenrassen, womit Edwin sie bekannt gemacht hatte.

»Lies mir die Stelle noch einmal, du warst nicht dabei«, bat Vater Folkwang. Sie suchte, was er wohl meine.

»Hier, hier, wo Orestes die Schwester auffordert, mit ihm in den Tod zu gehen:

Laß dir raten, habe
die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne.
Komm kinderlos und schuldlos mit hinab.«

Gehorsam las die Tochter noch einmal: »Komm kinderlos und schuldlos mit hinab.«

Er ließ sie nicht fortfahren. »Fühlst du, wie schön das ist und wie tief! Kinderlos und schuldlos! Die Jungfrau, die Priesterin, die Geweihte! Sie soll nicht aus ihrer hohen Liebespflicht in den Alltag der Liebe hinuntersteigen. Sie soll auch die Sonne und die Sterne nicht zu liebhaben, damit kein Band sie in die Gewöhnlichkeit binden kann. Das ist die Besonderheit des Iphigenienschicksals: kinderlos und schuldlos. Das hebt sie aus der Menge. Das ist heilig schön. Findest du nicht auch, Kind?«

»Ja gewiß, lieber Vater.« – Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. Während sie weiterlas, forschte er heimlich in ihrem Gesicht. Was ist mit ihr vorgegangen? Sie ist nicht mehr die gleiche. Ihre Lippen sind röter, ihre Augen glänzen feuchter. Ihr ganzer Ausdruck ist verändert. Ihre Gedanken sind nicht mehr im Vaterhaus. Gewiß hat sie gewählt, sie liebt! Sie will Weib sein, nichts weiter – Weib wie alle die anderen!

Ein ungeheurer Schmerz würgte ihn an der Kehle, daß auch seine Aufmerksamkeit der Dichtung nicht länger folgte. Was mochte das für ein Mensch sein? Einer, der ihrer nicht wert war. Einer von den Laffen, die sie umschwärmten. Und welcher wäre überhaupt ihrer wert? Es gab ja auf der weiten Welt keinen, dem er sie gönnte. Nun würden sie kommen und sagen, es sei das Natürliche, weil sein Kind ins achtzehnte Jahr getreten. Er fand es unnatürlich und abscheulich. Wie haßte er zum voraus diesen Mann, der mit irdischem Verlangen nach seinem Kleinod griff, um aus einer Göttin ein gewöhnliches Eheweib zu machen. Nein, dieses Kind sollte ihm nicht dem gemeinsamen Los der Weibheit verfallen, sie war zu gut für den Alltag der Ehe, den niederen Dienst an der Fortpflanzung. Die Folkwangs waren ein überfeinertes Geschlecht. Alte Hanseatenkultur, von lange her durch den Umgang mit den führenden Geistern ihrer Zeit mit geistigem Element durchsättigt. Jeder der Vorväter hatte über sich selbst hinaufgebaut. Einmal mußte das abbrechen, weil die Türme nicht in den Himmel steigen können. Was Gunther werden konnte, das kündigte sich erst unklar von ferne an; in diesem frühgereiften Kinde war das Ziel schon erreicht, Leib und Seele harmonisch vollendet. Was andere sich mühsam erwerben, das war ihr in die Wiege gelegt. Wie eine Lilie, weiß, schlank, kerzengerade, war sie hinaufgewachsen über ihre Mitmenschen. So sollte sie bleiben: eine Geweihte, eine Hierodule, nur zum Anzünden von Tempelkerzen und zum Aufstellen von Tempelblumen da. – Seit ihn diese Entdeckung ganz unvermittelt, von innen her, getroffen hatte, war ihm noch viel weher als zuvor, alles andere Leid von diesem neuen, größeren, verschlungen. Nächtelang lag er seufzend und quälte sich mit Vorstellungen ab, die ihn in Verzweiflung trieben. Immer sah er die feuchtglänzenden Augen und die Lippen seines Kindes vor sich, die röter waren vom Kuß eines fremden Mannes. Es war ihm klar, daß die Generalin mit im Spiel gewesen, als man ihm hinterrücks sein Kleinod ablockte. Wie den Streich abwehren? Er wich jeder Mitteilung aus, er wollte wenigstens nichts Sicheres wissen, so lange wie möglich. Wenn es zur Auseinandersetzung kam, so wußte er ja, daß er unterliegen mußte, denn er hatte keine Anlage zum tyrannischen Vater. – Sollte er vielleicht bei der Großmutter auf den Busch klopfen? Aber nein – wenn sie eingeweiht war, so war sie auch zugleich Mitverschworene gegen ihn, denn wo gab es eine alte Frau, die nicht gerne zu einem verliebten Streich die Hand bot! Am besten die Erklärung hinauszögern, so vergrößerte sich die Entscheidung ebenfalls. Vielleicht, daß sie sich mittlerweile anders besann. Nur nicht durch ein Nein ihren Eigensinn reizen!

So steckte Heinrich Folkwang seinen Kopf in den Sand, und jede stumme Werbung seines Kindes um ein Stündlein gegenseitigen Vertrauens stieß auf eine leise, nicht zu mißdeutende Gebärde der Abwehr. Er war dabei sicher, daß Egon, wäre er erreichbar, diese Haltung billigen und teilen würde. Keiner ihrer beiden Väter hatte noch je an einen Gatten für Vanadis gedacht. Sosehr sie stets gewetteifert hatten, vor dem Kinde das Rauchfaß zu schwingen, war es doch keinem jemals eingefallen, in ihren geheimen Mädchenwünschen lesen zu wollen. Denn beide waren sie uneingestanden und unbewußt auf jeden eifersüchtig gewesen, der sich ihr zu nähern suchte. Nur die jungen, noch nicht flüggen Hausfreunde, die Kameraden der Brüder, waren ihnen recht gewesen, in der sicheren Witterung, daß ein so junges Mädchen sich den älteren Genossen wünschen mußte.

Mit Edwins Abreise war die schöne Jahreszeit, die so lange vorgehalten hatte, geschieden. Es regnete, und kalte Wirbelstürme rissen ganz schnell den sommermüden Laubschmuck vollends von den Bäumen, daß er auf den Straßen nasse Teppiche und Fallen für die Füße bildete. Beide Töchter mußten abwechselnd den Vater auf langen Wanderungen begleiten, da er nicht mehr wie sonst allein zu gehen liebte, als fürchte er sich vor seinen eigenen Gedanken. Weil aber Estherchen vor rauhen Winden und Nässe behütet werden mußte, fiel die Aufgabe meist der Älteren zu. Dabei suchte diese immer aufs neue die Möglichkeit einer Aussprache, und immer wieder verschob sie den gefürchteten Augenblick, weil sie sah, daß er unruhig wurde, sobald sie Miene machte, ihm etwas Besonderes, Persönliches zu sagen. Sie hatte zu feine Taster, um nicht schon an dem Zucken, das jedesmal über seine Züge ging, zu erkennen, daß er nicht gestimmt war, auf ihren Herzenswunsch einzugehen, sondern ihm von vornherein feindlich gegenüberstand. So lag das Unausgesprochene wie ein böses Gewissen zwischen beiden. Denn zwei Menschen mögen wohl eine Mauer des Schweigens zwischen sich aufrichten; was das eine fühlt, erreicht das andere doch auf unerforschten Wegen, wenn sie beisammen wohnen. Sie beschloß am Ende zu warten, bis Edwins Rückkehr in naher Aussicht sei, vielleicht daß sich bis dahin Vaters Zustand besserte. Sie suchte durch verdoppelte Aufmerksamkeiten ihm den drohenden Schlag zu vergüten. Das verdoppelte vielmehr sein Übel, denn er fühlte die Absicht durch. Ja, und wäre nur die verwirrende Ähnlichkeit nicht gewesen, die ihm den Schlaf nahm mit tausend Bildern des Vergangenen. Solche Augen hatte Eugenie in ihrer Brautzeit gehabt, als sie sich aus einer Herzensernüchterung mit raschem Tausch in seine zärtlichen Arme flüchtete. Mitunter konnte er Vergangenheit und Gegenwart, Mutter und Tochter nicht mehr auseinanderhalten, dann war es, als ob jener Unbekannte, dessen Macht er ahnte, ohne zu wissen, wer er war, ein Verbrechen gegen ihn plane. Wie die Tage kürzer und dunkler wurden, verschlimmerte sich sein Zustand. Er starrte oft lange wortlos vor sich hin. Zuweilen aber, wenn Vanadis bei ihm eintrat, glänzte er auf und murmelte: »Eugenie!« Das Mädchen bemerkte selbst, daß sie mit der Zeit dem Bilde ihrer Mutter, das über Vaters Arbeitstisch hing, immer ähnlicher wurde. Was sie mehr als alles beunruhigte und was sie doch niemand wissen lassen durfte, war, daß seine Augen ihr zuweilen mit einem Ausdruck folgten, der nicht väterlich war. Ihre Unbefangenheit trübte sich, so daß sie ihm nicht mehr sein konnte, was sie ihm gewesen, und das verschärfte sein Seelenleiden. Er hatte Stunden, wo er sich verfolgt wähnte und geheimnisvolle Drohungen zwischen den Zeilen der einlaufenden, ganz harmlosen Briefe zu finden glaubte. Der Tochter war es, als sehe sie den Wahnsinn immer engere Kreise um sein Haupt ziehen. Sie vermied es nach Möglichkeit, mit ihm allein zu sein, und nahm zu den Vorlesestunden das Schwesterchen mit, das er zärtlich liebte. Wenn Esther kindlich seine Hand ergriff und sich an ihn schmiegte, begaben sich die Dämonen zur Ruhe.

Es regnete weiter. Alle Bäche schwollen und trugen unendliche Wassermassen in den kleinen Fluß, den seine Ufer nicht mehr zu halten vermochten. Holzwerk, abgerissene Stege und weggespülte Zäune, auch dann und wann ein totes Tier, wurden vorbeigetragen. Die schönen jenseitigen Flußauen waren weithin überschwemmt. Die Folkwangsche Jugend begab sich ins Haus der Großmutter, wo man von der Rückseite des Parks den gewaltigen Anblick aus der Nähe genoß. Das Wasser hatte nicht nur den Flußweg samt dem Steg, der über das Bächlein führte, sondern den ganzen Wiesenstreifen weggerissen und schlug bis an die Parkmauer herauf. Da kam unerwartet Vater Folkwang, im Regenmantel, den Stock in der Hand, durch das Tosen und Branden in gewaltsame Lustigkeit versetzt.

»Ganz Waldhausen soll unter Wasser stehen«, sagte er. »Wer geht mit mir, die Überschwemmung aus der Nähe zu sehen?«

»Ich«, sagte Vanadis, der nichts anderes übrigblieb, denn Enzio hatte später noch eine Schulstunde, und Esther hustete, Großmutter kam bei Gängen überhaupt nicht in Betracht.

Vater und Tochter brachen auf, letztere in eine Regenkapuze der Großmutter gehüllt, denn es fing schon wieder zu tröpfeln an. Das Bächlein, das unter der Straße durchfloß, hatte diese zwar gleichfalls überschwemmt, war aber schon wieder gefallen, so daß der Weg begehbar war. Die Waldhauser Straße, die ehedem den schönen Forst durchschnitt, war jetzt nur noch ein Fahrweg zwischen öden, abgeholzten Strecken. Erika und Heideröschen, die im Sommer das Auge versöhnten, waren ein häßliches, niedergeklatschtes braunes Stengelwerk. Der Fluß, der zur Rechten brandete, war durch eine sich aufbauende Bodenwelle noch von der Straße geschieden. Aber wo diese sich in raschem Fall zur Ebene senkte, da wogte ein See mit unübersehbar fernen Gegenufern; Telegraphenstangen und Baumreihen ragten heraus, die die Fortsetzung der Straße bezeichneten, und eine kleine Ortschaft mit Kirchlein stak mitten in der Flut. Von der Stelle, wo die beiden standen, hatte ein Wiesenpfad zu einem hübsch gepflegten Wirtsgärtchen mit grünumhangener Laube geführt, in der die Folkwangs bisweilen auf Nachmittagsspaziergängen ihren Kaffee nahmen. Jetzt schwamm das überflutete Gärtchen, das ein sauberer Zaun im Viereck umgab, tief im Wasser, und die verschlossene Lattentür trennte den kleinen See von dem großen.

»Gefällt dir das Nixengärtlein mit der niedlichen Laube, mein Kind?« fragte der aufgeregte Mann, das Mädchen am Arm bis an den Rand des Wassers ziehend. »Wollen wir nicht hier wohnen und uns häuslich einrichten? Du wärst die Nixe, ich der Wassermann – der Neck oder Strömkarl, wie die Schweden sagen. Und ich spiele die Harfe, weil der Neck nicht selig werden kann – oh, niemals, denn ihm steht das Herz nach dem, was nicht erreichbar ist. Du aber sängest und lachtest, denn Nixen können nicht weinen, wie es auch von dir heißt, daß du nicht weinen könnest.«

Er drückte sie unbewußt so stark nach vorwärts, daß sie fürchtete, auf dem glatten, abschüssigen Rande auszugleiten und ins Wasser zu stürzen. Gewaltsam machte sie sich frei.

»Lieber Vater, das Wasser ist jetzt zu kalt für Neck und Nixe. Du siehst ja, daß sie sich zurückgezogen haben«, sagte sie, ihrer Stimme eine Sicherheit gebend, die das Zittern ihres Herzens verleugnete, denn in einer solchen Erregung hatte sie den stillen Mann noch nie gesehen.

Stimmen, die in der Nähe ertönten, brachten ihn zu sich.

»Guten Abend, Herr Professor«, hieß es. »Sind Sie auch gekommen, das Hochwasser zu sehen? Hier hat sich's ja ruhig in der Ebene ausgebreitet, und die Menschen konnten sich in Sicherheit bringen. Aber nach Washeim sollten Sie gehen, wo es von den Bergen herunterschießt. Da hat sich der Fluß in zwei Arme geteilt und hält den Ort umfaßt und abgeschnitten, das Wasser stürzt durch alle Gassen ein und aus.«

»Wie kann man dorthin gelangen, wenn der Ort abgeschnitten ist?«

»Auf dem Bahndamm, Herr Professor. Der ist stellenweise eingestürzt und die Schienen hängen im Wasser. Aber er führt noch ein Stück weit in den Ort hinein.«

»Das müssen wir sehen«, sagte der Gelehrte mit einem Jauchzen in der Stimme.

»Aber seien Sie vorsichtig, Herr Professor, auch der Bahndamm ist unterwaschen.«

Heinrich Folkwang machte sich auf den Weg, und seine Tochter konnte nichts tun als ihm folgen, wenn sie eine Unvorsichtigkeit verhüten wollte. Die Ortschaft Washeim lag eine Stunde flußaufwärts am Fuß der Bergtraufe und wurde häufig von Wassermassen heimgesucht, die das kleine Flüßchen schwellten, weshalb es durch Uferdämme rechts und links befestigt war. Diese waren schon am Vortag teilweise eingestürzt und die Breschen durch Sandsäcke ausgefüllt worden. Aber die nachstürzenden Wassermassen gingen über alles hin. Das außerordentliche Schauspiel hatte eine Menge Neugieriger angezogen, sie suchten alle auf dem Bahndamm, der sich in einem Bogen vom Flusse entfernt hielt, den Ort zu erreichen. Vater und Tochter strebten über Schienenschwellen und Kies den anderen nach. In dem Überschwemmungsgebiet sah es aus, wie wenn ein Meer sich von den Bergen stürzte. Der stark erhöhte Bahndamm lief hier wie eine Mole zwischen den Wassern durch. Bei dem Viadukt, unter dem sich die Ströme vereinigten, machten die meisten der Neugierigen halt, denn die luftige Brücke schütterte vor der Gewalt der Stöße. Die Mutigeren gingen weiter, mit ihnen Professor Folkwang und sein Kind.

Beim Eingang des Dorfes blieben die letzten zurück, der Eindruck war zu ungeheuerlich. Über alle die steilen Gassen und engen Durchlässe stürzten gelbgraue Gießbäche herunter, die bei Straßenkreuzungen gegeneinanderprallten, sich hoch aufbäumten, Gischt verspritzend mit dem Gebrüll und Getobe kämpfender Dämonen.

»Nur einen Blick in die Dorfgasse«, sagte Folkwang, und die beiden gingen weiter. Gerade dem Bahndamm gegenüber, durch einen tiefwirbelnden Wasserarm getrennt, lag ein niederes Haus, dessen unterer Teil im Wasser stand. Durch die Fenster des Obergeschosses, hinter denen ahnungslose Geranien lachten, konnte man in das Innere der einfachen, sauber gehaltenen. Zimmer blicken, die leer waren bis auf eines. In diesem, dem kleinsten, wo in einer Ecknische mit Muttergottesbild die Ewige Lampe brannte (die Ortschaft war katholisch), lag eine alte Frau im Bett, die entweder von den Bewohnern vergessen war oder auf der eiligen Flucht vor den plötzlich einbrechenden Wassern wegen eines Gebrechens nicht hatte mitgenommen werden können. Sie schien gelähmt zu sein, denn sie regte sich nicht und schien auch nicht zu verstehen, was vorging. Vielleicht war sie taub und hörte das Donnern der brandenden Wasser gar nicht, die schon nahe an ihr Fenster heraufstiegen. Aber sie hatte die Augen offen und hielt einen Rosenkranz zwischen den Fingern und bewegte leise den mummelnden Mund.

»Siehst du die alte Frau da drinnen?« raunte Folkwang ganz nahe an das Ohr seiner Tochter. »Sie ist ganz allein, alle haben sie im Stich gelassen. An den alten Leuten liegt ja nichts, die kommen doch nicht mehr mit. Nur den Rosenkranz haben sie ihr noch zugeworfen, zum besseren Sterben. Man darf nicht alt werden. Ich will es nicht. Werde du es auch nicht. Es ist schön, in der Jugend zu sterben – wen die Götter lieben, stirbt jung, sagten die Alten. Weißt du noch, wie du mir aus der Iphigenie lasest? Du lasest so schön mit der goldenen Stimme deiner Mutter. Wie hieß nur die Stelle, die ich dich zweimal lesen ließ? ›Komm kinderlos und schuldlos mit hinab.‹«

Er sprach immer näher an ihr Ohr und drängte sie gegen den Dammrand, unter dem die tiefen gelbgrauen Wasser sich in fürchterlicher Hast wälzten. Plötzlich legte er den Arm um ihren Leib: »Komm! Komm mit! Da müssen wir hinunter.«

Vanadis stemmte sich zurück und rang verzweifelt gegen den plötzlichen Ausbruch des Irren, der immerzu in ihr Ohr ächzte: »Komm! Komm mit!« Sie schrie nicht, es wäre zwecklos gewesen, sie konnte nur noch denken: Edwin, wo bist du? –

Da erscholl eine jugendliche Männerstimme unmittelbar hinter ihnen:

»Guten Abend, Herr Professor! – Sie sind ja sehr guter Laune heut. Es freut mich, daß ich Sie so aufgelegt sehe.«

Oskar Wittich schob sich wie vom Himmel gefallen dazwischen. Sie hatten vor dem Lärm der Wasser die Schritte nicht bemerkt, die ihnen folgten. Oskar ließ dem Betretenen, Zusichgekommenen keine Zeit zu antworten, er faßte ihn mit dem Rechte des jüngeren Freundes unter dem Arm und setzte sich mit ihm in Bewegung. Vanadis, mit noch stoßendem Herzschlag, hielt sich in geringer Entfernung hinter den Männern. Oskars Erscheinen an diesem Ort war ein unmittelbar von oben gesandtes Wunder. Er zog den alten Herrn unvermerkt mit sich, indem er ihn vor dem Füßevertreten auf den Schienenschwellen warnte und seine Schritte regelte. Dabei vermied er es mit der Seelenkenntnis des geborenen Arztes, von der wachsenden Gefahr der Dammunterwaschung zu sprechen, sondern strebte, ihn durch Reden über kalte Füße und drohenden Schnupfen in die Vorstellung des Alltags zurückzubringen. Erst nachdem sie das wasserfreie Gebiet erreicht hatten, gestattete er dem mehr und mehr in sich Zusammensinkenden, sich nach seiner Tochter umzuwenden. Sie ging auf den Ton des Freundes ein und trat harmlos an die andere Seite des Vaters. Einen angstvollen Blick, den dieser in ihr Gesicht warf, erwiderte sie mit einem völlig unbefangenen, als sei das Vorgefallene ein Scherz gewesen.

Als sie zu dreien das Haus erreichten und der Vater ganz gebrochen unter Fannys lauten Sorgenrufen sein Turmzimmer erstieg, sagte Vanadis:

»Welcher Engel hat Sie hergeführt, Oskar?«

»Den Engel kennen Sie, er heißt Esther.« Dabei legte er die Hand auf das Haupt des Kindes, das mit unbeschreiblichem Ausdruck zu ihm aufsah. – »Sie hat mich nachgeschickt. Ich suchte Sie lange, bevor mir Begegnende sagen konnten, wo man Sie zuletzt gesehen hatte.«

Er sagte es in dem ihm eigenen ruhigen Ton. Seine heftige ausgestandene Angst verschwieg er. Bevor er sich verabschiedete, sagte er noch zu Vanadis allein:

»Ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß der Zustand Ihres Vaters dauernd gefährlich ist. Übrigens haben Sie es schon selber begriffen. Wir Ärzte nennen das ›akute Melancholie‹. In solchen Augenblicken ist der Kranke zu allem fähig, wie Sie gesehen haben. Ich hoffe, es wird jetzt Ruhe eintreten. Aber verbürgen kann ich es nicht. Jedenfalls – die Neigung zu solchen Anfällen bleibt, sie können sich jederzeit wiederholen und können bis zur Halluzination gehen. Unter keinen Umständen dürfen Sie mehr mit ihm allein bleiben, versprechen Sie mir das. Esther ist noch zu jung, um einen Einfluß auszuüben, und Frau Fanny ist der Lage nicht gewachsen. Es wäre gut, wenn einer Ihrer Brüder käme. Der Kranke sollte stündlich überwacht werden, aber nicht so, daß er es merkt. Für Sie allein ist es mit Gefahr verbunden. Er liebt Sie zu sehr – in seinen Angststunden überkommt es ihn, daß er Sie vor dem Leben retten möchte, soviel hab' ich verstanden. – Sollte in der Nacht etwas Besonderes eintreten, so findet mich Enzio beim Großvater.«

Die Nacht verging ruhig und die folgenden Tage ebenso. Inzwischen waren die Wasser gefallen und hatten ihre dämonische Anziehungskraft verloren. Dem Kranken tat es wohl, nicht mehr die Nächte hindurch von seinem Türmchen aus das Rauschen und Donnern des Flusses tief unten zu vernehmen. Er ging wenig mehr aus und wollte alsdann keine Begleitung. Bei Tische war er still und scheinbar heiter, nur so seltsam zerstreut, daß er nicht wußte, ob er eine Speise zuckern oder salzen wollte. Nach Vanadis, die viel von Hause abwesend war, weil sie sich bei ihrer englischen Lehrerin mit Feuereifer im Sprechen übte, fragte er niemals, die Lesestunden hatten von selber aufgehört. Auch wenn von der baldigen Rückkehr der Söhne ins Vaterhaus die Rede war, weil es schon stark auf Weihnachten ging, zeigte er geringen Anteil. Dagegen zog es ihn zu Oskar, der im Stübchen des Großvaters über seiner Arbeit saß. Gerne ließ er sich auch von dem alten Wittich in dem stillen Totengarten herumführen, studierte die alten Grabsteine, und als er einmal an einem offenen, frisch geschaufelten Grab vorbeikam, blickte er lange hinunter und sagte: »Also so macht man ein Grab!« Dann ging er lange auf dem noch unbenutzten Wiesengrund herum, als ob er etwas suchte. Der alte Totengräber begleitete ihn durch sein stilles Reich und ließ sich nichts von seinen Seltsamkeiten anmerken. Nur als sie am Grabe seines Widersachers vorüberkamen und sich ein losgegangenes Eisen in seiner Hose fing, sagte er loshakend unhörbar: »Bleib liegen, alter Esel!«

Dann führte er seinen Gast mit Andacht an das Dichtergrab in der Ecke, das ganz so schön gehalten war, wie Oskar erzählt hatte. – »Es ist mein schönstes Grab«, sagte der alte Mann mit Stolz. – Nicht nur, daß das rostige Gitterwerk ganz mit horizontal gezogenen Rosenranken durchflochten war, zu deren winterlichem Schutz schon ein Haufe Tannenreiser geschichtet lag, der Wackere pflegte auch noch mit großer Sorgfalt ein Lorbeerbäumchen auf dem Grab, das er im Kübel versenkt hielt, um es während der schlechten Jahreszeit im gewärmten Hause zu bewahren. Jetzt war es schon durch eine im weißen Gewand herrlich erblühte Weihnachtsrose ersetzt, denn ganz ohne Freude durfte ihm der verschollene Dichter nicht bleiben. Professor Folkwang suchte die Inschrift zu entziffern, die nicht mehr lesbar war.

»Sie ist seit langem verwaschen. Mein Vorgänger hat sich nicht um das Grab gekümmert, es war ganz eingesunken, als ich es übernahm. Ehedem standen ein paar griechische Worte auf dem Stein, sie sollen sich auf seinen Namen bezogen haben: Stillfried.«

»Stillfried? Und woher wollt Ihr wissen, daß er ein Dichter war?«

»Er hinterließ nicht soviel, um sein Begräbnis zu bezahlen.«

»Das ist freilich ein Indizienbeweis«, lächelte der Professor. »Aber hat er wenigstens Verse hinterlassen?«

»Ja, ein Verwandter von ihm war einmal hier, um das Grab zu suchen, und freute sich, als er es so gut erhalten fand. Der schenkte mir zum Dank ein Büchlein mit seinen Versen. Ich bewahre es auf, und Oskar soll es einmal von mir erben.«

»Einen friedlichen Winkel hat er sich ausgesucht«, bemerkte der Professor, die Umgebung des Grabes musternd, »man könnte ihn darum beneiden.«

»Er hat ihn nicht ausgesucht, Herr Professor, es war Vergünstigung, daß er ihn erhielt. Ursprünglich wollte man ihn außerhalb der Mauer einscharren, wie mir mein Vorgänger sagte. Sie wissen doch« – der Mann dämpfte seine Stimme –, »er hat sich selbst entleibt.«

»So, tat er das? Weiß man den Grund? War er Vater?«

»Ich glaube nicht, Herr Professor, er starb jung.«

»Dann mag er wohl seine Schwester geliebt haben.«

Der alte Mann wußte nicht, was aus dieser Rede machen. Zu Oskar, der herangetreten war, sagte Heinrich Folkwang: »Merkwürdig, daß unsere Kultur den Freitod noch bestrafen zu müssen glaubt. Im Altertum war er heilig, und von den besten Helden haben nur wenige anders geendet. Und auch noch heute, in der Dichtung, besonders auf der Bühne, hat er das tragische Recht für sich. Nur im Leben soll er eine Schmach sein. Kannst du eine Logik darin finden?«

Oskar sprach von dem den Hinterbliebenen zugefügten Schmerz. Aber der Kranke hörte im Strom seiner Gedanken die Zwischenrede nicht einmal.

»Erst die Kirche hat diese Ungereimtheit in die Welt gebracht, das erste Christentum hat noch gar nichts damit zu schaffen. Ich finde nicht, daß Christus ein Wort gegen den Selbstmord gesprochen hätte. In den Zehn Geboten Mosis steht ebensowenig davon, denn freiwillig sterben ist nicht das gleiche wie einen anderen töten. Du hast dich ja auch mit Gottesgelehrtheit befaßt, Oskar, kannst du mir die Wandlung deuten?«

»Als Theologe, der ich nicht geworden bin, kann ich Ihnen nichts darüber sagen. Vielleicht bedurfte es für Moses des Gebotes gar nicht, das alte Judentum scheint jenen Hang nicht gekannt zu haben. Wenigstens ist mir aus dem Alten Testament kaum ein namhafter Fall von Selbstmord erinnerlich, außer Saul, dessen Ende auch anders erzählt wird. Aber menschlich und philosophisch muß ich sagen: Das Leben ist so reich an Möglichkeiten der Erneuerung, es ist so rasch im Wiederaufbau des Eingestürzten, daß man es nicht ohne Not abkürzen sollte.«

»Es ist auch reich an Möglichkeiten des Irrtums und des Verbrechens. Aber darin hast du recht: nicht ohne Not, nicht ohne große Not.«

 

Weihnachten stand vor der Tür, und die Ankunft der Brüder füllte das Haus mit Leben. Aber den stillen Mann in der Turmstube rissen sie nicht aus seiner Schwermut. Die Winke, die ihnen die Schwester gab, fanden wenig Beachtung. Es scheint ja wider die Natur, wenn das Alter der Jugend Sorgen machen will, die doch allein das Recht hat, Kümmernisse zu bereiten. Gunther, sonst so feinhörig für die ungesprochenen Worte des Vaters, befand sich in den stärksten Jünglingskrisen und glitt vom Wellenberg ins Wellental. Je mehr ihn die dunklen Mächte der Natur bedrängten, einen um so höheren Schwung gab er sich, um das Irdische ganz zu überfliegen; so hatte er auch kein Auge für das Leiden anderer. Bruno, dem harten Zwang der Kriegsschule entronnen, tobte sich noch einmal mit den ehemaligen Schulkameraden rodelnd und Schlittschuh laufend aus und kam des Abends, mit Eis verkrustet, laut und fröhlich nach Hause. Daß der Vater gealtert war, sahen sie wohl, allein es war ihnen die natürliche Folge des Planetenumlaufs, der sie selbst aus Kindheitsniederungen den Höhen des Lebens entgegentrug. Ein Schicksal gab es nach ihrer Meinung überhaupt nur für die Jungen. Was mit den Alten geschah – und alt war alles, was zu einem früheren Zeitgeschlecht gehörte –, das war einfacher Ablauf der Natur. Deshalb betrachteten sie auch die wissenschaftlichen Kämpfe ihres Vaters mit den Häuptern seiner Zunft als etwas schon historisch Gewordenes, eigentlich bereits der Vergangenheit Angehöriges, wenn diese sich auch vor ihren Augen fortspielten. Denn ihnen und ihren Altersgenossen lag es ja nun ob, die ganze Welt umzugestalten. So ging keine fördernde und erfrischende Wechselwirkung herüber und hinüber. Dennoch war ihr Kommen wohltätig, weil es die ängstliche Spannung im Hause lockerte.

Nur einer war voll Hilfsbereitschaft und Teilnahme, von dem man es am wenigsten erwartete: Roderich. Sein Künstlerauge sah schärfer.

»Ist Vater krank?« war seine erste Frage an Vanadis. »Er ist sehr verändert!«

Sie sprach von den Schwermutsanfällen, die sich gesteigert hätten, das Nähere konnte sie ihm nicht sagen.

»Ihr hättet niemals in die Fehlhalde ziehen dürfen«, sagte er, »diese Straße ist sein Verderben.«

Sie zuckte die Achseln. »Du hast gut reden. Wohin denn?«

Es nahm sie im stillen wunder, diesen rauhen und sonst so unwirschen Gesellen voller Rücksicht und Aufmerksamkeit für den Leidenden zu sehen. Wenn er des Nachts in Vaters Zimmer Stöhnen hörte – er selber schlief in einer Dachkammer nebenan –, schlich er leise vor seine Tür, ob er nicht irgendein verdächtiges Geräusch wahrnehme. Auf Spaziergängen, die der Vater jetzt meistens allein antrat, geschah es oft unvermerkt, daß Roderich sich zu ihm fand und ihn durch seine abgerissenen, aber immer ins Herz der Dinge zielenden Bemerkungen oder durch kleine komische Geschichten aus seiner vergrübelten Gedankenwelt riß. Auch äußerlich war der Junge ein anderer geworden: sein entwickelteres Gesicht hatte angefangen, die übergroße Nase in sich hineinzuziehen, daß sie zwar immer noch das Durchschnittsmaß überschritt, doch nicht mehr wie ein einzelstehender Fels in der Ebene aufragte. Er hatte sich in dem leerstehenden Gelaß, das eine durchlaufende Röhre von der untenliegenden Küche her ganz kostenlos von selber wärmte, eine Werkstube eingerichtet, aus der sich der Geruch von Farben und Säuren durch den ganzen Korridor verbreitete. Dort malte er oder ätzte Kupferplatten mit selbstverständlicher Unermüdlichkeit, denn ihn freute nichts auf der Welt außer der Arbeit, und er zog den Kreis seiner Versuche immer weiter. Über die Fortschritte, die er machte, und die Erwartungen, die seine Lehrer von ihm hegten, verlor er kein Wort, er sprach wie immer nur durch das Vollbringen. Corinna, die neugierig war, etwas von ihm zu sehen, hatte ihn aufgesucht und äußerte sich mit höchster Anerkennung über seine Sachen. Roderich erwiderte den Besuch und sprach mit geringerer von den ihrigen. Nur die schießenden Amazonen hatten ihm gefallen, darin sei Kraft, aber das andere Zeug – Frauenarbeit! Er war jetzt in dem Frühstadium werdender Talente, wo sie ihre ganze Urteilskraft in das Verwerfen setzen. Doch die Amazonen gingen ihm als Vorwurf im Kopf herum, er entwarf nun seinerseits eine Amazonenschlacht auf der Kupferplatte. Das gab ihm Gelegenheit, seiner Leidenschaft für Pferde zu frönen, seine Amazonen waren beritten und kämpften mit Schwertern, ihre Gegner kämpften zu Fuß mit Lanze und Bogen. Der Hauptstoß der Schlacht spielte sich in Gruppen mehr nach hinten ab, im Vordergrund lag eine vom Pferd gerissene Amazone, die ein Grieche zu Boden drückte und ihr mit einem Stein den Schädel einschlug.

»Die Kraft ist groß«, sagte Corinna, »aber der Gedanke ist abscheulich.«

Vanadis war entsetzt, als er ihr das Bild zeigte.

»Du bist und bleibst das alte Rauhbein«, sagte sie. »Das ist ja schlimmer als bei den wilden Völkern. Und noch gar gegen Frauen.«

»Ja, weißt du nicht, daß man nichts auf der Welt so hassen kann wie eine Frau? Schon von Herrn Wittich lernte ich, daß keine Kriege so wild geführt wurden wie die gegen die Amazonen.«

»Aber warum denn mit einem Stein?«

»Weil er weher tut«, sagte er boshaft.

In diesem Augenblick ertönte von der Stadt her die Feuerglocke.

Roderich fuhr auf: »Was ist das?«

»Ein Brand«, sagte das Mädchen ruhig. »Du kannst das jetzt oft erleben. Es brennt fast jede zweite, dritte Nacht. Wir sind es schon gewohnt, daß uns die Feuerglocke aus dem Schlaf weckt.«

Die Folkwangsche Jugend stürmte schon die Treppen hinunter, Roderich folgte. Die weiblichen Glieder des Hauses eilten in Vaters Turmzimmer, wo der gerötete Himmel weithin zu überblicken war und aufsteigender Qualm die Unglücksstelle anzeigte. Das Museum, ein Stolz der Stadt, noch aus dem 17. Jahrhundert stammend und von allen Fremden als edles Beispiel deutschen Barocks bewundert, brannte.

»Welch ein Verlust! Welch ein Verlust!« murmelte Vater Folkwang. Er sah noch eine Weile hinaus, dann wurde er unruhig und griff nach Hut und Stock.

»Vanadis, begleite den Vater!« schrie Fanny erschrocken. Dieser schüttelte den Kopf und ging. Die Tochter, eingedenk der Warnung Oskars und im Bewußtsein, daß ihre Gegenwart seine Erregung steigerte, widerstand dem Drängen der geängstigten Frau und wollte Enzio ihm nachschicken, aber das Häslein war schon den großen Brüdern nachgestürzt. So blieb Fanny nichts übrig, als ihm selbst aus der Ferne zu folgen, denn sie hatte begriffen, daß er sie nicht neben sich wollte.

Am Morgen sah man nur blasse, übernächtigte Gesichter beim Frühstück. Die jungen Leute hatten die halbe Nacht beim Löschen geholfen, aber den stolzen Bau zu retten hatte man nicht vermocht. Nur die Bilder und andere Kunstschätze waren noch rechtzeitig herausgeschafft worden. Das Gebäude selber war eine schwarzqualmende Trümmerstätte. Fanny erzählte den jungen Leuten von der Brandepidemie, die seit Einzug des Winters die Einwohnerschaft in Atem hielt und die nur verbrecherischen Händen zugeschrieben werden konnte. In einem Stadel vor der Stadt hatte es begonnen, von dem die Funken auf ein kleines Wohnhaus übergesprungen waren und es mit verzehrt hatten. Eine Woche später war in einer Bäckerei Feuer ausgebrochen, das jedoch gelöscht werden konnte. Danach schien dem Unternehmer der Mut zu wachsen, denn bald darauf stand das Kameralamt in Flammen. Da die Kräfte der Polizei ungenügend waren und ihre Streifzüge ohne Erfolg, traten alle jüngeren Männer der Stadt zu einer freiwilligen Feuerwache zusammen, die des Nachts die Runde machte und sich stundenweise ablöste. Ein Landstreicher wurde als dringend verdächtig festgenommen, aber während er in Untersuchungshaft saß, brach gleich wieder ein neuer Brand aus, und seitdem kam die Feuerwehr nicht mehr zur Ruhe. Man konnte des Nachts nicht mehr ruhig schlafen, denn wer war sicher, daß ihm nicht der rote Hahn aufs eigene Dach flog? Und niemals eine Spur des Täters, den man nahe daran war, unter den Unsichtbaren zu suchen.

Was die arme Fanny um den Schlaf brachte – denn sie lag in steter Angst, wie ihr Bruder sich aus dem hohen Turmzimmer retten sollte, wenn im Hause Feuer ausbrach –, das war für die Folkwangsche Jugend eine erregende Abwechslung. Sie schlossen sich der freiwilligen Streifwache an und verbrachten die Nächte größtenteils außer dem Hause. Am Morgen gab es dann immer irgend etwas zu erzählen. Nur Roderich konnte das schöne alte Gebäude, in dem er die gehobensten Stunden seiner Jugend verbracht hatte, nicht verschmerzen, und gelegentlich entfuhr ihm der derbe Ausruf:

»Der Dummkopf! Warum hat er nicht lieber die Fehringersche Fabrik in Asche gelegt! Dann gäbe es eine Scheußlichkeit weniger auf der Welt, und Vaters Nerven könnten sich im alten Hause wieder beruhigen.«

Daß im alten Hause kein Platz mehr war, überlegte er nicht.

 

Der Heilige Abend wurde bei der Großmutter verbracht, wo es wieder einmal still und wohlig war wie in alter Zeit. Die Fabrik nebenan feierte und lag im Schnee, der langsam fiel, begraben, von unbetretenem Schnee umgeben. Tannenduft durchzog das Haus, wenn auch der Baum, der mit dem Heranwachsen der Kinder schon immer kleiner geworden, heute nur noch ein Bäumchen war; man besaß ja keinen Forst mehr, in dem man fällen konnte, was einem gefiel, sondern hatte ihn beim Händler kaufen müssen. Esther hatte ihn geschmückt und auf seine Spitze den Stern von Bethlehem gesetzt, darunter ein Christkind im Wickelband, von ihr selbst verfertigt. Gunther las auch heute wieder ein Gedicht, diesmal ohne Reime noch Alliteration, das er »Verlöbnis« betitelte. Es war nur ein hinflatterndes rhythmisches Band, das sich in einer Höhe bewegte, wo man nicht mehr deutlich sehen konnte. Mystische Vermählung mit einer Sternenjungfrau, in blauem Kristallpalast vollzogen und gefeiert in Ätherwein, unter gleichzeitiger schroffer Absage an die Niedrigkeit irdisch-sinnlicher Liebe war der Inhalt.

»Gunther, mein lieber Junge«, sagte die Großmutter, »ich weiß nicht, ob ich zu alt geworden bin oder was es sonst sein mag: ich verstehe dich heute gar nicht, ich weiß nicht einmal, in welcher Sprache das gedichtet ist.«

»Ich verstehe mich ja selber auch nicht«, antwortete Gunther. »Ein Fittich hat mich gestreift und mich geblendet. Ein heiliges Dunkel ist jetzt in mir, in dem ich mich mühe zu schauen. Aber noch sehe ich nichts als einen feurigen Schein.«

»Du bist deinem Goethe untreu geworden, mein lieber Sohn«, sagte Vater Folkwang.

»Goethe? Ja, ich habe vielleicht zu lange schon vor ihm gekniet. Er ist der Herr Himmels und der Erden; so weit das Auge reicht und der Gedanke klimmt, ist alles sein. Aber jetzt weiß ich einen, der durch die Milchstraße schweift und dem kaum noch die Ahnung folgen kann. Ich gehe ihm nach und bin glücklicher, wenn nur ein halb verstandenes Wort von ihm in meiner Seele aufdämmert, als wenn der andere mich mit allem Glanz der Erde überschüttet.«

»Wer ist das?« fragte die Großmutter erstaunt.

Gunther schwieg. Statt seiner antwortete die Schwester leise: »Hölderlin.«

»Du kennst ihn auch!« sagte Gunther erfreut. »Es sind unser bis jetzt nur wenige, die von ihm wissen. Die Zeit, in der wir leben, ist seine Feindin, wie es auch seine eigene war. Aber das muß anders werden. Ich war an seinem Grab unter den Trauerweiden, bei dem schief gesunkenen Stein, da horchte ich, ob ich nicht den Tiefvergessenen im Traume reden hörte. Und ich schwor mir zu, daß ich ihn einmal aufrichten wolle, diesen Stein, und unsrem Volke sagen, wer es ist, der darunter schläft. Mein Schwesterlein soll mir dabei helfen, wir wollen es uns zum gemeinsamen Ziele setzen. Denn sie liebt die Poesie wie ich, und sie weiß, daß höher zu schwingen keinem Sterblichen jemals möglich sein wird.«

Aber die Schwester, die ihm sonst im Geistigen so ähnlich war, trug jetzt anderes in der Seele, und sie antwortete zu seiner Überraschung:

»Was braucht es denn der Sterblichen? Was braucht es der Hymnen und Oden? Der höchste Dichtergeist singt nicht in Menschenworten. Seine Rhythmen sind die Ozeanwellen und das Rauschen des Urwalds, aus den Savannengräsern singt er seine zärtlichsten Liebeslieder.«

Ihr Vater blickte sie seltsam beunruhigt an, ihre Augen strahlten heute wie nie zuvor. »Savannengräser?« fragte er gedehnt.

Sie verbesserte sich: »Oder sei es der Sand der Wüste, von dem uns Egon erzählt hat, daß er singen könne.«

»Paule, du rasest!« rief Bruno mit behäbigem Lachen.

Aber Gunther sagte, schmerzlich bewegt von dem unerwarteten Widerspruch:

»Ja, wenn du das Gestaltlose den Geist der Dichtung nennst –«

»Mag er dann mit Menschenzungen reden. Aber dann sucht er sich den Mund der Naturvölker« – sie stockte bestürzt und schloß: »oder der Kinder.«

Die Großmutter schüttelte lächelnd den Kopf:

»Was seid doch ihr Folkwangs für ein verstiegenes Geschlecht! Der eine sucht die Kunst in der Milchstraße, die andere braucht wenigstens den Urwald dazu. Ich bleibe, wo es warm und menschlich ist, bei meinem Mozart und meinem Goethe.«

»Liebe Großmutter«, sagte der Enkel, ihr die Hände küssend, »du bist ein unvergängliches köstliches Stück Rokoko. Müssen wir uns nicht versteigen, um neben dir auch noch etwas zu sein?«

»O du Schmeichelzunge. Aber jetzt lassen wir das Reden und singen ein Weihnachtslied. Danach sollt ihr einen Weihnachtstrunk bekommen, den ich selbst gebraut habe und der euch wärmer eingehen wird als Gunthers Ätherwein, den ich mir für eine Dezembernacht doch zu eisig denke.«

Sie stellten sich alle um das Klavier, und die jungen Stimmen sangen im Chor: »Stille Nacht, heilige Nacht.« Als sie geendet hatten, entglitt Vanadis leise in das Schlafzimmer der Großmutter. Sie konnte die Fülle ihres Herzens nicht länger bändigen und brach in Tränen aus. Das sollte ja die letzte Weihnacht im Kreis der Lieben in der Alten Welt sein! Es war herzzerreißend und beseligend zugleich, und sie ließ sich von beiden widerstreitenden Empfindungen hemmungslos überströmen. Auf ihrer Brust knisterte ein Papier: Edwins erster Brief aus Amerika. – Die Schiffe gingen damals noch langsam. Er war wie verabredet an die Generalin gesendet und von dieser im zweiten versiegelten Umschlag so weiterbefördert worden, daß er gerade auf den Heiligen Abend in die Hände der Empfängerin kam. Beim Schein der grünverschleierten Lampe, die auf dem Tischchen in dem kleinen Erker brannte, zog sie ihn aus dem Busen, um sich seiner Gegenwart zu versichern, und trank nun schon zum drittenmal unersättlich seinen Inhalt, den sie bereits auswendig wußte.

»Sei nicht traurig über diese kurze Trennung«, hieß es da, »sie erst vollendet unsere Liebe. In der Einsamkeit der Meerfahrt wurdest Du erst ganz die meine. Ich bin ja trotz meines aufgeklebten Yankeetums, das Du nicht zu ernst nehmen darfst, ein richtiger deutscher Schwärmer. Daheim bei unserer guten Exzellenz und in unsren rotgoldenen Wäldern, da war alles Rausch und Staunen. Jetzt aber sinkt Dein Bild langsam tiefer und tiefer in mich hinein! – Sie sollen nicht glauben bei Dir zu Hause, daß ich nicht zu schätzen wüßte, was das Glück mir gegeben hat. Ich werde es immer besser verstehen lernen, wenn ich es auch für jetzt nur fühlen kann.«

Sie fuhr an einem Luftzug auf. Der Vater stand vor ihr, der ganz still eingetreten war.

»Was ist das für ein Brief?«

Sie war zuerst erschrocken, dann faßte sie sich schnell: »Nimm ihn, lies ihn.« Sie wollte ihm den Brief hinreichen und endlich alles sagen, da er in den letzten Tagen viel ruhiger geworden schien. Aber er wich mit einer Abwehrgebärde zurück und ging stille hinaus.

Als die andern aufbrachen, blieb Vanadis bei der Großmutter, die immer eine Schlafstätte für sie bereit hatte, und schüttete endlich in das feine, allverstehende Herz der alten Frau ihr Glück und ihren Kummer aus. Diese war schon durch die Generalin verständigt und konnte nichts tun als gepreßten Herzens ihren Segen erteilen, denn sie wußte wohl, daß von ihrer Enkelin, wenn sie einmal ihre Seele hingegeben hatte, keine Sinnesänderung zu erwarten war.

 

Am Christmorgen, als Großmutter und Enkelin sich an der gedeckten Frühstückstafel gegenübersaßen, die eine getröstet und selig ausgeweint, weil sie jetzt ihre Sache in guten Händen wußte, die andere ihre Bekümmernis unter der gleichmäßigen freien Miene, die sie als eine Lebenspflicht betrachtete, bergend, wurde an der Haustür jählings die Klingel gerissen. Heraufgestürzt kam Enzio mit der Schreckenskunde: »Kommt schnell, Vater hat sich ein Leids getan!«

Heinrich Folkwang war die ganze Nacht nicht zu Bette gegangen. Man hatte ihn auf- und niedergehen, Schubladen aufziehen hören, aber der genossene Punsch lag über den Hausgenossen, daß sie ihre vorgesetzte Wachsamkeit vergaßen. Die Magd, die in der Frühe als erste am Zimmer des Herrn vorüber mußte, sah in dem Lichtschein, der unter der Tür hervordrang, ein dünnes Rinnsal von Blut. Sie weckte mit ihrem Geschrei das Haus, man erbrach die Tür und fand den unglücklichen Mann mit weiß gewordenem Gesicht und geschlossenen Augen im Liegestuhl zur Seite gesunken. Er hatte sich die Pulsader durchschnitten! Aber er atmete noch, und durch einen eigentümlichen Zufall war er nicht völlig verblutet. Er war in der Ohnmacht mit der ganzen Wucht seines Körpers auf den linken Arm gesunken und hatte dadurch das spritzende Blut gehemmt, daß es mäßiger quoll, am rechten Arm war der Schnitt, den die verletzte Linke noch führen wollte, fehlgegangen. Auch hatte er augenscheinlich die ganze Nacht mit sich gerungen und die Tat erst ausgeführt, als sich schon das frühe Tagesleben zu regen begann. Auf dem Tische lag ein beschriebenes Blatt:

»Ich muß es, muß es, muß es tun. Verzeiht mir, meine Lieben, es geschieht, um größeres Unglück zu verhüten. Euer unglücklicher Vater.« Auf einem besonderen Zettel stand: »Verzeih mir auch Du, Vanadis, den Schrecken, den ich Dir damals bereitet habe. Du sollst leben, geliebtes Kind, und glücklich sein.«

Hilfe war schnell zur Stelle. Der verletzte Arm wurde abgeschnürt und der Ohnmächtige zu sich gebracht. Er blieb jedoch gänzlich teilnahmslos. Eine Verstellung fürchtend, verfügte der Arzt die Überführung nach der Heilanstalt, wo ununterbrochene Wachsamkeit eine Wiederholung des Versuchs unmöglich machte. Der Kranke widersetzte sich nicht, die Trennung von den Seinigen schien ihm eher lieb zu sein. Er hatte sich mit seinem Schritt vom Leben abgeschieden und betrachtete sich selbst als einen Toten. Als ihn nach einigen Tagen die beiden jüngsten Kinder besuchen durften – die älteren hielt man ihm mit Absicht ferne –, da lächelte er sie freundlich an, ging aber auf kein Gespräch ein.

Bruder James aus Hamburg wurde gerufen, hatte jedoch keinen besseren Erfolg. War's Vorsatz, war's Einbildung, der Kranke blieb in der Rolle des Gestorbenen, dem die Trauer der Hinterbliebenen folgt, der aber selbst keinen Gruß zurücksenden kann.

Am Abend saß die Familie wie bei einem Totenmahl. »Seit wann ist es denn so schlecht bei ihm geworden?« fragte der Ankömmling.

»Seit ihm Egon fehlt«, sagte Fanny, »ist er mehr und mehr in sich selbst versunken. Aber ganz schlecht wurde es erst am Tage, als die Fabrik uns von dem alten Wohnsitz trieb. Seitdem hat er keine gute Stunde mehr gehabt. Und dazu kam noch die lange Abwesenheit der Kinder, die das Übel verschlimmerte.« – Dabei warf sie einen strafenden Blick auf die ältere Nichte.

»Aber gerade jetzt sind sie doch alle beisammen«, entgegnete James Folkwang zweifelnd.

»Die Wahrheit«, fiel Gunther ein, »ist die, daß er das alte Haus nicht verschmerzen konnte. Wir verbrachten den Heiligen Abend wie ehemals bei der Großmutter. Da rissen ihn die Erinnerungen hinunter. Er sagte mir auf dem Heimweg, er sei ein toter Mann, ihm sei sein Bestes genommen worden. Das Beste war doch das Haus, wo er in ländlicher Stille seine Werke schuf und wo wir Kinder unter seinen Augen aufwuchsen.«

»Konnte denn dieser Lümmel von Fehringer mit seiner Fabrik nicht hundert Schritt seitwärts gehen? Wer stellt denn einen solchen Betrieb hart neben die Wohnhäuser?«

»Er wollte uns seine Macht fühlen lassen«, sagte Fanny, »weil er sich einen Korb geholt hat.«

»Möchte ihn der Feuerteufel heimsuchen, der hier umgeht, den elenden Buben, weil er aus niedriger Rachsucht eine ganze Familie unglücklich gemacht hat!« rief Herr James, der sonst Wohlabgewogene, in großer Erbitterung. Der Zustand seines Bruders ging ihm zu Herzen; da jedoch sein Bleiben zwecklos war und das Geschäft in Hamburg seiner bedurfte, fuhr er gleich des andern Tages wieder zurück.

Am Abend nach seiner Abreise geschah, was er in seiner Entrüstung gewünscht hatte: der rote Hahn schwang seine Flügel auf der Fehringerschen Fabrik! Als die Feuerglocke ertönte und der Himmel sich über der Waldhauser Landstraße zu röten begann, blickten Vanadis und Esther sich erbleichend an: Die Großmutter! Gunther und Bruno waren schon die Treppen hinabgestürzt, hinter ihnen her in großen Sätzen stürmte Roderich. Nur das Häschen, sonst der flinkste, wenn es etwas zu sehen gab, drückte sich blaß und zitternd in die Zimmerecke und wimmerte: »Ich fürchte mich. Ich fürchte mich.« Die Tante mußte bei ihm bleiben, denn er schlug mit den Zähnen aufeinander wie im Fieber. Die beiden Mädchen aber fuhren in ihre Mäntel, zogen die Mützen über ihre Stirn und eilten den Brüdern nach.

Auf den Straßen war es schwarz von Menschen, die alle nach dem Waldhauser Tor drängten. »Die Papierfabrik brennt! Die Papierfabrik!« scholl es ihnen von rechts und links entgegen. Von der Menge halb fortgerissen, strebten sie dem Brandplatz zu.

Im Lumpenhaus, einem schlechten Fachwerkbau, der dem Park am nächsten lag, war das Feuer ausgebrochen, und als erste hatte es die Großmutter von ihrem Blumenerker aus entdeckt. Zuerst hatte sie dem Schein, der bald da, bald dort hinter den Fenstern aufzuckte, keine Beachtung geschenkt; sie meinte, ein Aufseher gehe noch spät mit Licht umher. Bald aber verbreitete sich ein scharfer, brenzliger Geruch wie von schwelenden Lumpen, den sie mit ihrem feinen Geruchssinn wiederum zuerst von allen wahrnahm. Sie benachrichtigte die Hausgenossen im Untergeschoß, die nun auch aufmerksam wurden. Sie hatten nicht lange zu warten und zu raten, denn schon nach wenigen Minuten fuhren rote Schlangen an den Fenstern vorüber, und durch das ganze Gebäude ging ein rasender, hexensabbatähnlicher Feuertanz, der schnell auf das Maschinenhaus übersprang und die Arbeiter ins Freie trieb. Ringsumher begann sich die Luft zu erhitzen. Die unten schleppten ihr bestes Hausgerät ins Freie und stellten es im tiefen Straßenschnee abseits vom Brandplatz auf. Die Großmutter regte sich nicht, sie erklärte, das Haus in dem sie geboren war, unter keinen Umständen verlassen zu wollen, sie sei gewiß, daß ihr keine Gefahr drohe. Bis die Feuerwehr kam, wurden schon die entzündeten Papier- und Lumpenballen von dem glühenden Luftstrom über das Dach emporgewirbelt und flogen als wilde Feuerdrachen weit umher. Die große Kälte erschwerte das Löschen, denn der Rand des Flüßchens war gefroren. Roderich hieb mit einem Beil ein Loch hinein, aber nun gefror das Wasser in den Schläuchen. Man mußte die Fabrik brennen lassen und wandte die ganze Mühe dem van der Mühlenschen Hause zu. Dieses war eine Zeitlang durch den hohen Schnee, der darauf lag, geschützt gewesen. Aber die Gluthitze der Umgebung und der immer fallende Funkenregen schmolzen den rettenden Belag. Aus der Stadt wurden unendliche Mengen heißen Wassers in Fässern herangefahren, und aus allen Häusern der Vorstadt schleppte man noch welches in Eimern herzu, womit das bedrohte Dach ununterbrochen berieselt wurde. Dabei ging die Schönheit der Deckenstukkatur und des Treppenhauses zugrunde. Die Großmutter hatte sich endlich doch zum Aufbruch entschließen müssen, denn es regnete ihr heiß auf den Kopf, und Gunther, der zuerst eingedrungen war, erklärte, mit ihr bleiben und in dem Glutmeer ersticken zu wollen, wenn sie nicht gehe. Die nachgestürzten Enkelinnen trugen Wertsachen und Kleidungsstücke zu Corinna, die ihr Häuschen hilfreich allen Obdachlosen zur Verfügung stellte. Aber nur die Großmutter und die Majorin machten von der Einladung Gebrauch, die andern eilten gleich auf den Brandplatz zurück. Unterdessen hatte die Feuerwehr das Haus vollends ausgeräumt und fuhr fort, es unter Wasser zu halten. Zum Glück ging der heiße Luftstrom vom Nachtwind getrieben nach der anderen Seite. Am Morgen war die Fabrik ausgebrannt. Als der Papier- und Lumpenvorrat verzehrt und alles Holzwerk aufgefressen war, sank der Brand zusammen.

Fanny hatte die Nacht allein mit dem plötzlich erkrankten Enzio in der leeren Wohnung verbracht, denn auch die Magd war mit den anderen Mägden des Hauses dem wilden Schauspiel nachgelaufen. Als die Jugend zurückkam, ganz erfüllt von den Ereignissen der Nacht, befand sich Fanny in höchster Erregung; sie war eine ebenso unfähige wie ängstliche Krankenwärterin. Der Knabe hatte vom Schreck eine plötzliche Mundsperre bekommen und konnte kein Wort mehr hervorbringen, sondern starrte nur mit entsetzten Augen den Geschwistern entgegen. Man mußte den Arzt rufen, der die verkrampften Kiefer aufbrach. Aber seine Nervenerschütterung gab sich nicht, auch als er die sehr geliebte Großmutter, die vorderhand noch Corinnas Gastfreundschaft annehmen mußte, heil vor sich sah. Häslein, das muntere Häslein, das mit seinen Sprüngen die ganze Familie ergötzt hatte, war nicht mehr zu erkennen, es behielt seit der Brandnacht etwas Scheues und Trauriges, und seine drolligen Bewegungen eines sichernden oder springenden Häsleins erinnerten jetzt viel mehr an das geängstigte Tier, das vor Hunden und Jägern flieht.

Die Fehringersche Fabrik mußte vollends abgetragen werden, weil die ausgebrannten Mauern mit Einsturz drohten. Es hieß, sie sei noch gar nicht versichert gewesen, und in der Stadt gönnte man dem Besitzer, der unbeliebt war, den Schaden. Der Brand wurde zuerst als die Rachetat eines entlassenen Arbeiters angesehen, doch der Verdächtigte konnte sein Alibi nachweisen. Dann war von der weggeworfenen Zigarre eines Aufsehers die Rede. Aber auch diese vermeintliche Spur führte ins Leere. Der Fabrikbrand blieb ebenso unaufgeklärt wie die früheren Brände in der Stadt, und man war nunmehr überzeugt, daß er in das Schuldbuch des gleichen Täters zu schreiben sei. Gegen das Frühjahr hin wurde endlich ein schwachsinniger junger Mensch, der wegen seiner Gutmütigkeit und seiner wunderlichen Reden im Städtchen wohlgelitten war, dabei ergriffen, wie er eben ein neues Feuer legen wollte. Im Verhör gestand er auch die früheren Brandstiftungen ohne weiteres zu und gab als Begründung seiner eifrigen Tätigkeit an, daß er die Steine habe wärmen müssen, weil sie frören. Nur an dem Fabrikbrand leugnete er hartnäckig jede Schuld. Seit er in sicherem Gewahrsam saß, hörten jedoch alle weiteren Heimsuchungen auf. Die Fehringersche Fabrik wurde nicht mehr erstellt, der Besitzer verkaufte den ganzen Flächenraum, auf dem er kein Glück gehabt hatte – es hieß auch, der Betrieb habe wenig abgeworfen –, an einen Bauunternehmer. Die Großmutter wohnte wieder in dem neu hergestellten Hause, das kein Rädergesurr und kein Kollergang mehr erschütterte und das wieder etwas von der ehemaligen Traulichkeit zurückgewann, wenn auch der Schmuck der Innenräume zerstört war. Aber das konnte den Vertriebenen nichts mehr nützen, die den Besitz verkauft und ihr Familienglück dabei eingebüßt hatten. Heinrich Folkwang wollte nicht ins Leben zurück. Er blieb dabei, sich als Abgeschiedenen zu betrachten, der nur noch geistweise da war. An besseren Tagen las und schrieb er wie sonst, an den schlechteren, wo die Unruhe über ihn kam, rannte er unaufhörlich durch die Räume der Anstalt und durch den winterlichen Garten. Seine Kinder ließ er nicht mehr vor sich. Und als eines Tages Fanny, die in ihrem Herzeleid oftmals die Mauern der Anstalt umirrte, sich im Garten eingeschlichen hatte, um ihn von weitem zu sehen, machte er kehrt und eilte entsetzt ins Haus zurück. Auch seinen Bruder, der noch zweimal kam, ihn zu besuchen, wies er ab, weil er gestorben sei und nichts mehr brauche, ließ ihn aber bitten, sich seiner Familie anzunehmen. Die Ärzte erklärten ihn nicht für eigentlich geisteskrank, nur für das Opfer einer großen Traurigkeit und Ermüdung, und daß er sich hinter seine Wahnidee, das Gestorbensein, mehr zurückziehe, um vor der Außenwelt einen Schutz zu haben, als daß er ihr wirklich verfallen sei.

Onkel James, nunmehr das Haupt der Familie, nahm das arme, verscheuchte Häslein aus seiner Lateinklasse, wo er wenig vorwärtskam, und brachte ihn nach Hamburg in eine Handelsschule, um ihn später in seinem Kontor zu beschäftigen. Damit öffnete er diesem Neffen, den er von jeher besonders gut leiden mochte, weil er bei einem äußerst geweckten Kopf auch eine hervorragende Begabung für das Rechnen besaß und somit als der geborene Kaufmann erschien, den Weg zu einer ihm gemäßen und glückhaften Laufbahn.

Die jetzt viel zu große Wohnung in der Fehlhalde verödete. Fanny wurde nur durch die Hoffnung, daß ihr Bruder eines Tages doch zu den Seinigen zurückkehren werde, und durch den Wunsch, ihren geliebten Jungen, Gunther voran, für die Ferienzeit das Vaterhaus zu erhalten, bei ihren ungeliebten Hausfrauenpflichten festgehalten. Zwischen ihr und der älteren Nichte wuchs die Entfernung, denn ein dunkler Vorwurf arbeitete in ihr, daß dieses Kind irgendwie schädigend auf das Befinden des Vaters eingewirkt habe. Für Esther hatte sie eine große Zärtlichkeit, aber auch dieses stille, sanfte Geschöpf entschlüpfte ihren ungefügen Händen. Bei keinem Wetter ließ sich Estherchen abhalten, zu dem alten Mann im Friedhofsgarten zu laufen, seinen Haushalt nachzusehen oder ihm im Treibhaus an die Hand zu gehen. Dafür erhielt sie von Oskar, der in Prag seine Studien vollendete, zuweilen einen dankbaren Kartengruß.

Vanadis verbrachte ihre meiste Zeit bei der Großmutter. Dort konnte sie in dem wieder eingerichteten Blumenwinkel, wo der Blick auf den im Schnee versunkenen Brandplatz ging, ungestört lange Briefe an Edwin schreiben, zuweilen in englischer oder in spanischer Sprache, welch letztere sie ohne Nachhilfe nur aus Büchern sich anzueignen suchte. Ihr Verhältnis zu Corinna hatte sich gelockert. Sie ahnte gleich, daß die gereifte, enttäuschte Frau ihre Wahl mißbilligen würde. Und doch fiel es ihr schwer, mit einem Geheimnis um die Freundin ihres Herzens herumzugehen, das ihr diese ebenso wie der mißtrauische Vater aus der Seele las. Die erste Andeutung hatte Corinna schon in Schrecken versetzt. Sie kannte Edwin Leo dem Namen nach und machte sich kein angenehmes Bild von ihm.

»Gerade du und einem Wilden in seine Wälder folgen!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Und wie gerne!« antwortete Vanadis kurz.

»Es ist ein Abfall von dir selber.«

»Kein Abfall. Ich wollte ja keinen, der meine Ideale mit mir suchte, sondern einen, in dem sie erfüllt sind.«

Corinna schüttelte den Kopf. Doch war sie zu sehr Frau, um nicht bei der nächsten Begegnung zu fragen:

»Was macht dein Wilder?«

»Er jagt am Big-Horn die räuberischen Sioux.«

»Wie könnt ihr nur in Verbindung bleiben, wenn er immer auf Streifzügen ist?«

»Die Briefe werden von der Militärstation befördert«, war die knappe Antwort. Die Verlobte fühlte den seelischen Widerstand, der gegen ihre Wünsche kämpfte, und gab immer so wenig Auskunft wie möglich. Bei der Großmutter hatte sie leichteren Stand. Auch sie hatte zu Anfang widersprochen:

»Wozu nun all die großen Vorbereitungen? Wozu die vielen Kulturbücher, die du gelesen hast? Wozu Musik und Malerei, wozu die großen Dichter, wenn das alles nun mit einem Male wertlos werden soll und du außerhalb der Zivilisation leben willst?«

»O Großmutter, es wird nicht wertlos, weil ich es nicht mehr treibe. Und ich gebe es ja gar nicht wirklich auf, ich hole mir das Schöne nur an seinem Ursprung. Ist nicht alles Herrliche in Kunst und Dichtung aus der Natur geholt? Laß du mich zur Natur, da finde ich alles wieder. Laß es mich da suchen, wo es von Anfang an war.«

Da ergab sich die Großmutter, wohl begreifend, daß für dieses Kind Liebe und Schicksal eines waren. Die tapfere alte Frau, die ihren Lebensmut wie eine Fahne durch die bittersten Geschicke trug, bereitete sich vor, auch die Enkelin zu entbehren, nachdem ihr der Schwiegersohn, der den eigenen ersetzt hatte, lebendig entrückt war, denn das Leben hatte sie entbehren gelehrt. Nur wie dieser es tragen sollte, wenn er noch einmal in die Familie zurückkehrte, machte ihr zu schaffen. Aber unterdessen entwickelte sich Esther immer innerlicher und verstehender. Dieses Kind, das eine Naturbegabung für das Helfen und Wohltun besaß wie andere für eine Kunst, mußte nun in die Lücke treten. Auch sie war in das Geheimnis, das sich durch die Luft mitteilte, eingeweiht.

Esther sagte nichts bei der Ankündigung, sie umschlang nur die Schwester leidenschaftlich und trat dann in die Fensternische. Dort weinte sie leise vor sich hin.

»Mach mich nicht traurig«, bat Vanadis. »Unsere Trennung wird keine sein. Wir kommen herüber, du kommst zu uns.«

»Der arme Oskar«, sagte Esther leise.

»Der arme Oskar!« wiederholte Vanadis mit Unmut.

»Immer der alte Wahn? Diese Liebe hat nie anders als in deiner Einbildung bestanden. Du stehst seinem Herzen viel näher als ich.«

»Ich weiß, was ich weiß«, antwortete die kleine Schwester.

 

Kalt und langsam schlich der Spätwinter durch das Haus auf der Fehlhalde, wo die drei Frauen frierend näher zusammenrückten. Die Nachrichten vom Vater lauteten trostlos. Er hatte jetzt Zeiten, wo er sich einbildete, sein Lieblingskind getötet zu haben. Ein Versuch, seinen Wahn durch ihre Gegenwart zu widerlegen, scheiterte an seiner vermehrten Erregung bei der Ankündigung ihres Kommens. In ruhigen Stunden unterhielt er sich gerne mit der Frau des Direktors, die mit weiblichem Takt und Einfühlen aus seinen halben Worten heraushörte, daß eine Leidenschaft für die eigene Tochter, aus der Ähnlichkeit mit der Mutter entsprungen, der Urgrund seiner Gemütsstörung war. Die Tochter erfuhr nichts davon. Sie wußte auch nicht, daß ein Bekannter, der zufällig Zeuge ihres Abschieds von Edwin gewesen, durch gutgemeinte, aber falsch angebrachte Glückwünsche das Geheimnis verraten und damit die Katastrophe beschleunigt hatte. Doch die Ahnung dieses Unbegreiflichen, Schicksalschweren, die ihr gefühlsmäßig aufgegangen war, lag beklemmend über ihr. Nur von unterhalb des Horizonts sandte der Liebesstern noch seine tröstlichen Strahlen herauf, aber zuweilen verdunkelte sich auch er, wenn die Briefe gar zu lange Zeit brauchten. Daß der Feldzug langwieriger und der Feind zahlreicher war, als Edwin vorausgesehen oder als er sie hatte wissen lassen wollen, konnte sie sich nicht mehr verhehlen. Er schrieb nur, daß harte Winterstürme in Dakota das Vorgehen gegen die Indianer vom Missouri her erschwerten. In einer alten Zeitschrift hatte sie zufällig den Bericht über Indianerkämpfe aus früheren Tagen gelesen, und die grausige Schilderung eines aufgefundenen Schlachtfeldes mit den beraubten Schädeln der Weißen nahm ihr nachts den Schlaf. Daß der Krieg bis zum Frühjahr zu Ende sein werde, hoffte sie schon längst nicht mehr. Wenn nur er heil blieb, wollte sie gerne warten. Auf die erste schnelle Bezauberung war bei ihr kein Rückschlag erfolgt. Das Fernsein hatte vielmehr der Vorstellung, die immer am Bilde des Geliebten weiterarbeitete, Zeit gelassen, die Liebe zu vervielfachen und zu vertiefen. Und endlich brach ein Tag des Jubels an. Ein Brief von Edwin kam, der ihr einen glänzenden Handstreich meldete: er hatte die gefangenen Frauen ihren Schändern und Peinigern abgejagt! Von eingeborenen Spähern geführt, war er in tiefer Nacht mit solcher Urplötzlichkeit über das Dorf, wohin die letzten Spuren wiesen, hereingebrochen, daß es ihm und seinen Leuten geglückt war, die Unseligen aus den Zelten zu reißen, wo sie in tiefster Schmach als Last- und Lusttiere der Wilden lebten, und alles, was männlichen Geschlechts war, niederzumachen, bevor die Überfallenen Zeit hatten, nach ihrem Brauch die weißen Gefangenen zu ermorden und selbst auf ihren Ponies das Weite zu suchen. Mit den befreiten Frauen und den erbeuteten Pferden waren dann die Retter in das nächste Grenzdorf zurückgekehrt. Die Freude der Erlösten, der Triumph des siegreichen Soldaten und sein Dank an die Vorsehung, daß es gerade ihm vergönnt war, den Streich zu führen, füllten alle Seiten seines Briefes und ließen nur wenig Raum für die knappe Versicherung, daß nun bald der letzte Schlag fallen und der Feind gezwungen sein werde, Frieden zu schließen.

Der Freudensturm, der aus den vielen dünnen Blättern des überseeischen Papiers rauschte, erfaßte die Empfängerin mit solcher Gewalt, daß sie Gefahr und Blut und Schrecken vergaß und jubelnd zuerst zur Großmutter und dann zu Corinna stürzte: »Er hat sie gerettet!«

»Wer? Wen?« staunten diese.

Sie gab ihr den Brief zu lesen. Auch Corinna war hingerissen von diesem Strom des Lebensgefühls und hütete sich zu widersprechen. Aber heimlich blieb sie mit ihren Wünschen auf der Gegenseite.

Danach trat wieder eine lange Pause ein, wo die Briefe ausblieben und das Herz der Liebenden aus sich selber zehren mußte. Edwins Lichtbild, das einzige, das sie von ihm besaß – die Generalin hatte es ihr abgetreten, weil die Zeit nicht mehr reichte zu einer neuen Aufnahme –, lag des Nachts unter ihrem Kissen. Sie sprach mit dem Abwesenden und ließ alle Worte, die zwischen ihnen gewechselt worden waren, in ihrem Herzen widerhallen. Blick und Gang und Bewegungen des Geliebten waren ihr immer gegenwärtig, nur den freudigen Ton seiner Stimme konnte sie sich nicht zurückrufen, wie sehr das Ohr nach innen horchte.

Darüber wurde es Frühjahr, es wurde Sommer, und noch war kein Ende des Wartens abzusehen.

 

Eine Nachricht aus der Anstalt, daß der Vater sich neuerdings wieder dem Leben zuzuwenden scheine und daß er ein Verlangen nach dem Anblick seines Ältesten geäußert habe, führte Gunther noch vor dem Beginn der Sommerferien in die Heimat zurück. Er fand den Kranken schreckhaft abgemagert, doch mit Augen, die nichts Krankes, Irres mehr hatten. Heinrich Folkwang empfing den Sohn ohne Überraschung noch Wiedersehensfreude, ganz so, als wären sie erst am Vorabend auseinandergegangen. Er knüpfte das Gespräch mit den Ausblicken ins Unendliche, die ihm immer nahelagen, da an, wo sie es bei dem letzten Zusammensein gelassen hatten; das weckte im Sohne den Eindruck, als sei die Erkrankung dieses Geistes, der all die Zeit über Letztes und Ewiges weitergesonnen, nur ein vorübergehendes Fernesein, eine Entraffung gewesen, auf die jetzt eine freudige Wiederkunft folgen müsse. Ganz erfüllt von diesem Gedanken, kam er nach Hause mit dem Vorschlag, den auch der Arzt billigte, daß jetzt die Schwester, nach der der Kranke noch immer zu fragen vermied, ihn gleichfalls besuche und damit seine Rückkehr in die Familie einleite.

Als Vanadis in Begleitung des Arztes den Garten betrat, wo der Kranke sich aufzuhalten pflegte, sah sie ihn in der Laube sitzen, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt und mit der Hand den Bart umgreifend, wie es seine Gewohnheit war, wenn er in Gedanken saß. Unhörbar trat sie hinein und legte eine Hand auf seinen Arm. Der Sinnende richtete sich auf und starrte sie an wie eine selige Vision, an deren Wirklichkeit man nicht zu glauben wagt. »Eugenie!« stammelte er und blieb mit weit offenen Augen regungslos, damit sie nicht zerfließe. – »Vater, es ist dein Kind«, sagte eine ganz junge süße Stimme. Da fuhr er auf wie ein verwundetes Tier, daß die Tochter entsetzt zurückwich, und mit einer für den geschwächten Körper unbegreiflichen Gelenkigkeit entsprang er über die hölzerne Brüstung der Laube ins verschlungene Gehölz, ihm nach der Wärter, der sich in der Nähe gehalten hatte. Eine Zeitlang hörte sie noch, wie die Verfolgung des außer sich geratenen Kranken weiterging, dann verließ sie weinend den Garten.

Um die Mitte des Juni hatte Vanadis einen erschütternden Traum. Sie meinte, noch völlig wach zu liegen, da sagte eine wohlbekannte Stimme, nach der Türe zu verhallend: »Was macht mein geliebtes Wunder?« Es war die Stimme, deren freudigen Ton sie sich so lange nicht mehr hatte vorstellen können. Sie fuhr auf und ging, wie sie glaubte, der Stimme nach, deren Schwingungen in der Luft noch fühlbar waren. Eilende Schritte gingen vor ihr her, die nur das Herz vernahm, sie folgte, geriet in einen Gang, der durch Dunkel ohne Ausweg führte und plötzlich vor einem von jähem Schein erhellten Abgrund zu Ende war. Unerreichbar! klang es vom anderen Rande herüber. Sie erwachte und lag noch immer in ihrem Bette, aber das Herz in ihr wurde schwer wie Blei.

 

Nicht gar lange danach kam ein Brieflein der Generalin an die Großmutter, worin die Schreiberin bat, ihr Vanadis zu schicken, weil sie etwas Notwendiges mit ihr zu sprechen habe. Frau van der Mühlen gab der Enkelin gerne Urlaub in der Hoffnung, daß ihr bedrücktes Gemüt sich in der Umgebung, wo sie ihr Glück gefunden hatte, aufrichten und ihre Heimkehr eine gesegnete sein werde. Aber Vanadis, die die Fahrt mit innerem Beben antrat, kam nicht so bald zurück. Als sie vor der bekannten Haustür unter den Kastanien aus dem Wagen stieg, öffnete die alte Dienerin mit verstörtem Gesicht, und im Vorraum kam ihr die Generalin selbst entgegen, schwarz gekleidet und mit Augen, die geweint hatten. Da war ohne Worte schon das Schlimmste gesagt.

Den Verwandten im Bayerischen Wald hatte das Kabel gemeldet, daß um die Mitte des Monats am Little Big Hornriver ein furchtbares Schlachten stattgefunden habe, wobei Edwins Regiment in eine Falle gelockt und nach vielstündigem Verzweiflungskampf durch eine ungeheure Übermacht von Rothäuten zum großen Teil aufgerieben worden sei. Man hoffte noch eine Zeitlang, weil Edwin nicht unter den Gefallenen, sondern nur als vermißt gemeldet war, und solange sein Schicksal nicht aufgeklärt wurde, wollte die Generalin mit der Nachricht zögern. Unterdessen aber hatte ein Indianer aus befreundetem Stamm, der auf seiten der Weißen gekämpft hatte und dem Blutbad entronnen war, bezeugt, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie Rittmeister Leo durch einen Nahschuß fiel. Und bald darauf wurde in einem durch die nachsetzenden Rächer zerstörten Indianerdorf unter anderen, den Weißen abgenommenen Beutestücken auch ein Paar Reithandschuhe gefunden, in die sein Name eingetragen war. Diesen Umstand verschwieg man zwar der verwitweten Braut, aber er nahm der Hoffnung auch noch ihren letzten Anker, daß jener Zeuge sich in der Person getäuscht haben könne. Danach war kein weiteres Vertuschen möglich, denn die Familie Leo versandte schon ihre Traueranzeigen.

Frau von Leo schrieb an ihre Freundin van der Mühlen:

»Seit den acht Tagen, daß sie das Schreckliche weiß, hat sie noch immer kein Wort gesprochen und keine Träne geweint. Sie regt sich nicht, steht am Fenster, wo sie mit Edwin stand, und blickt in sich hinein, als ob sie ihn da suche. Etwas Grübelndes ist in ihrem Gesicht, das ich nicht verstehe. Es scheint, daß sie die Tatsache seines Todes nicht wirklich gefaßt hat, sich aber irgendwie vom Erdboden losgerissen fühlt, ohne Zusammenhang mit den Lebenden. Wir überwachen sie stündlich. – Gestern setzte sie plötzlich den Hut auf, griff wie im Traum nach ihrem Schirmchen und schlug den nächsten Waldpfad ein; wahrscheinlich wollte sie die Wege wieder gehen, die sie mit Edwin gegangen war. Der Gärtner folgte ihr aus der Entfernung. Sie wanderte lange, aber ohne Gewinn, sie kam mit ebenso verstörtem suchendem Gesicht nach Hause. – Edwins Schwester ist eigens aus ihrem Bayerischen Walde hierhergefahren, um sie in die Arme zu schließen. Wir hofften, sie würde weinen. Aber Malwine hat keine Ähnlichkeit mit dem Bruder, ihr Erscheinen sagte dem armen Kinde nichts. Vanadis blieb unbeweglich.«

In einem späteren Briefe hieß es:

»Ich kann es mir nicht verzeihen, daß ich zu der übereilten Verlobung die Hand geboten und so unwissentlich das Leben dieses edlen Geschöpfes geknickt habe. Ohne mich, was hätte es für sie bedeutet, daß fern da drüben im Westen ein amerikanisches Reiterregiment von einem wilden Indianerstamm umzingelt wurde und daß in dem Blutbad auch ein Kapitän Leo ums Leben kam? Durch mich wurde es ihr zum Verhängnis. Mein eigenes Leid um den lieben prächtigen Jungen, das gewiß nicht klein ist, tritt ganz zurück vor der Sorge um Vanadis. Ich halte es für meine Pflicht, alles zu tun, was in meinen Kräften steht, um sie aus der Verfinsterung zu retten. Sie nach Hause zurückzulassen, wäre verfrüht, und hier, wo jedes Gerät sie an ihn erinnert, kann sie sich erst recht nicht frei machen. Es ist oft, als horchte sie angespannt auf den Widerhall seiner Stimme von den Wänden. Aber Deine Furcht, daß es wie bei ihrem Vater mit stillem Wahnsinn enden könnte, teile ich nicht. Mein Hausarzt, der ein sehr verständiger Mann, auch für seelische Dinge, ist, findet keine Spur von geistiger Störung an ihr, nur das Staunen vor etwas Ungeheurem, das sie weder in sich aufnehmen noch von sich abwehren kann. Er meint, das beste wäre, sie in völlig veränderte Umgebung zu bringen. Nun hab' ich mir den Plan einer Schweizerreise entworfen mit Abstecher über den Berninapaß nach Italien hinunter, wozu ich die großmütterliche Erlaubnis erbitte. Wenn es etwas gibt, das ablenkend wirken kann, so muß es die Größe der Hochgebirgswelt sein und die Neuheit der südlichen Landschaft, wo sie durch nichts an Edwin erinnert wird.

Ich habe vorsichtig begonnen, nach ihrer Geneigtheit zu tasten, fand aber bis jetzt kein Eingehen. Sie schweigt! Was unter dem Schweigen arbeitet, weiß ich erst, seit meine Gesellschafterin, ein junges gutes Wesen und Vanadis glühend ergeben, sie mit der Frage überraschte: ›Wann reisen wir, Fräulein Folkwang? Darf ich für Sie einpacken?‹ – ›Post abwarten‹, war das einzige, was sie leise zur Antwort gab.

Das ist es, woran sie sich klammert. Sie horcht mit den inneren Sinnen in den Raum hinaus und sagt: ›Ein Brief ist unterwegs. Ein Brief von ihm.‹ Sie spürt das Näherkommen dieses Briefes, so behauptet sie. Offenbar hält sie noch einen Irrtum für möglich, wie auch ich es eine Zeitlang tat. Es ist ja schwer zu denken, daß dieser Mensch nicht mehr am Leben sei, der das Leben selber war. Aber unterdessen hat man die Einzelheiten der Schlacht erfahren, sie sind fürchterlich. Den Geschwistern wurde gekabelt, daß seine Leiche gefunden worden sei, etwas abseits mit einem toten Indianer daneben. Er muß sich gegen viele im Nahkampf gewehrt haben, denn das Gras war ringsum zertrampelt und sein Körper voller Wunden. Zeitungen sind unterwegs mit eingehendem Bericht, die ich ihr je nach dem Inhalt geben oder unterschlagen werde. Die letzte Kabelmeldung habe ich ihr vorsichtig beizubringen gesucht, aber ihr Geist scheint sie gar nicht aufgenommen zu haben, sie wartet weiter.«

So war es, Vanadis wartete weiter. Sie hatte sich Edwins lebensvolles Bild durch alle Zauber der Phantasie mit hundertfachem Leben angefüllt, daß es gefeit gegen das Sterben war. Und nun war es ihr unmöglich, aus diesem Bilde das überschwenglich-lebendige Leben wieder herauszuholen und es zum Bild eines Toten zu machen. So saß sie in stumpfer Bewußtlosigkeit, weder sich noch den Tod begreifend. Als lebend durfte sie ihn, als tot konnte sie ihn nicht denken, und denken mußte sie ihn doch immerzu. Der ungeheure Schmerz, der hereinwollte, fand keine Tür, um einzudringen. Und vor dem Unvermögen, ihn hereinzulassen, entsetzte sich ihre Empfindung, indem sie das innere Erstarren mit Empfindungslosigkeit verwechselte und sich selbst zum häßlichen, widernatürlichen Rätsel wurde. Sie mühte sich ab, den Gedanken zu fassen, ihn wie ein schnellwirkendes zerstörendes Gift in sich zu trinken. Aber das Gift blieb unwirksam, die Natur verarbeitete es nicht. Ja, hätte sie ihn sehen können, wie er im blutigen, zerstampften Grase lag, dann hätte sie glauben und vielleicht ihm nachsterben können, oder sie hätte die erlösenden Tränen gefunden, aber ohne Augenschein blieb ihr die Nachricht von seinem Tode eine fremde, seltsame, sie von der ganzen Außenwelt trennende und innerlich doch nicht wahre Mär.

*

Wo das Schicksal eingekehrt ist, läßt es hinter sich die Pforte offen, denn es hat an einem Besuche nicht genug. Um die Erntezeit trat es in Märchens Gestalt abermals über die Folkwangsche Schwelle. Ihr Gatte, Herr von Wehl, der Großindustrielle, den ein eiliges Geschäft außer Landes rief, übergab sie der Obhut Fannys, weil das junge Paar noch kein eigenes Heim besaß und James Folkwang der Ankunft eines Stammhalters entgegensah. Beim Eintritt in das sonnenlose Haus, wo der Schritt auf leeren Gängen hallte, wäre Märchen am liebsten wieder umgekehrt. Aber als sie hörte, daß Gunther samt dem ihm nachgefolgten Roderich die Ferien im Hause verbringe, wurden ihre Füße leicht; mit behender Anmut eilte sie hinauf und über die Schwelle. Es war wie eine Rückkehr unter das eigene Dach. Nachdem sie Fanny umarmt hatte, hielt sie einen Augenblick Gunthers Hand fest in der ihren und sah ihm mit ernstem Ausdruck ins Gesicht.

»Daß ich wieder bei euch sein darf! Ich war ja früher viel zu leichtfertig. Ich wußte nicht, was ich an euch hatte. Unterdessen hab' ich es schätzengelernt. Mein Bestes verdank' ich eurem Umgang.«

In ihrer Stimme schwang ein tieferer, frauenhafterer Ton. Sie war auch einfacher gekleidet, wie ihm schien. Er schob es auf ernstere Lebensauffassung und veredelten Geschmack. Auch der seinige war geläutert, ihre Kettchen und Spangen hätten nicht mehr zu seinem Herzen gesprochen. Daß diese Einfachheit viel ausgesuchter und kostbarer war als ihr ganzer Mädchentand, konnte er nicht beurteilen. Das aber sah er genau, daß sie unendlich schöner geworden war. Das lichte Rosenrot von ehedem lag duftiger, durchscheinender auf ihren Wangen, ihre Züge waren durchgebildeter und ausdrucksvoller. O du Einzige, dachte er, und sein Herz begann zu schlagen, aber er gab sich eine tadellose verwandtschaftlich unbefangene Haltung.

Danach trat sie zu Roderich, der mit mürrischem Gesicht zur Seite stand.

»Auch hier, alter Brummbär?« fragte sie freundlich und fuhr ihm mit dem Recht gemeinsamer Jugendtage durch sein Bürstenhaar. Er stieß ein Brummen aus und schnappte nach ihrer Hand, daß sie mit einem »Uh!« zurückfuhr.

Inzwischen wandte sich Herr von Wehl mit Auszeichnung an Gunther, um sein Liebstes dem ritterlichen Schutz des jungen Vetters zu empfehlen. Er drückte sich gewählt und ungemein verbindlich aus, doch seine Augen blickten kühl und weltklug. Erscheinung und Auftreten waren die des gebildeten, aber ganz im Irdischen wurzelnden Geschäftsmannes. Übrigens hatte man keine Zeit, ihn kennenzulernen, denn er reiste noch desselben Tages weiter.

Gunther hatte aus Märchens ersten Worten mit einem Schmerz, der nicht ohne unbewußte Befriedigung war, herausgehört, daß sie in dieser Ehe keine innere Heimat gefunden habe. Daraus erwuchs ihm, wie er meinte, als ihrem nächsten männlichen Verwandten die Aufgabe, ihr den Mangel zu vergüten und sie über das Ungenügende ihres Zustands hinauszuheben. Zudem war er ihre einzige Ansprache, denn Edwin Leos tragischer Tod und die tiefe Trauer der abwesenden Schwester lagen wie ein Alp auf dem Hause, auch die Großmutter hatte ihr Lachen verlernt. Roderich saß mit Arbeitswut über einer Radierung und kam für Frauenumgang überhaupt nicht in Betracht. Die zwei musizierten wieder viel zusammen mit beiderseits gewachsenem Können und machten lange gemeinsame Spaziergänge, um dann irgendwo im Waldesschatten zu rasten, wobei er am Ende regelmäßig ein Buch hervorzog. Sie gab sich Mühe, an dem, was er ihr vorlas, Geschmack zu finden, denn die wenigen Jahre hatten ihre beiderseitige Stellung umgekehrt. Jetzt war sie es, die an ihm emporsah und anerkennend seine Überlegenheit gelten ließ. Mehr noch wirkte seine äußere Veränderung. Durch die Freiluftübungen, zu denen er seinen von Natur zarten Körper mit eiserner Willensstärke zwang, waren die Mängel ausgeglichen und seine Haltung gehoben, sein zuvor mädchenhaft feines und weißes Gesicht war gebräunt und kräftiger in den Linien, sein Auftreten sicher und bewußt. Der sonst von ihr heimlich belächelte Knabe war ein schöner, ein glänzender Jüngling geworden. Sein Blick hatte nicht mehr das unbestimmte Schwärmerische von ehedem, er war willensfest auf ein glühend gesuchtes inneres Ziel gerichtet. Zwischen den Brauen hatte sich eine Falte eingegraben, die das junge Gesicht älter und männlicher erscheinen ließ und Märchen zu denken gab. Sie meinte zu verstehen, aus welchem Kampfgebiet die vorzeitige Falte kam, und es reizte sie zu ergründen, wie es bei ihrem Wiederbegegnen in ihm aussah. Zuerst war es nur das alte neugierige Spielen mit der Flamme, aber allmählich wandte sich das Spiel gegen sie selber. Aus seiner glühenden, wenn auch noch so strenge beherrschten Jugend floß eine süße prickelnde Unruhe in sie über, die ein beständiges Verlangen nach seiner Gegenwart in ihr wach hielt. Sie begann zu ahnen, daß es Köstlichkeiten der Liebe geben könne, gegen die ihr Eheleben nur ein grauer Alltag war. Sein männlich verhaltener Schmerz um das Los der Schwester und um das unheilbare Leiden des Vaters, Esthers stille Tränen, auch die gedämpften Stimmen Fannys und Roderichs brachten einen zarteren und innigeren Ton in den gegenseitigen Verkehr, wobei es leichter war, das Gefühl sprechen zu lassen. Märchen paßte sich auch äußerlich der Trauerstimmung an, indem sie allen Kleiderprunk vermied und Tag für Tag in dem nämlichen, sehr einfachen, aber sehr vornehmen perlgrauen Seidengewand erschien, mit keinem anderen Schmuck als einer schweren Perlenkette, die sie wunderbar kleidete. Mit einem Einfühlen, das man bei ihr nicht gesucht hätte, behandelte sie den allgemeinen Kummer wie einen eigenen, vermied jedes vorlaute oder spielerische Wort und wußte alle, Gunther voran, mit dem Schmeichelton ihrer Stimme tröstlich zu streicheln, denn soviel hatte sie jetzt vom Leben gelernt, daß man, um Liebe großzuziehen, auch selber Liebe oder den Schein davon geben muß. Aber deutlicher wagte sie ihm nicht entgegenzukommen, aus Furcht, er könnte Gefahr wittern und das Zusammensein, das ihr so reizvoll war, entweder gewaltsam abbrechen oder doch einen Dritten zwischen sich und sie schieben. Denn sie sah wohl, wie er seine Stellung gegen sie schützte, indem er auch der unschuldigsten körperlichen Annäherung auswich. Niemals ließ er sich auf dem Waldgrund neben ihr nieder, auf einem Steinblock sitzend oder stehend an einen Waldbaum gelehnt, pflegte er ihr vorzulesen. Und immer bereit, für seine Ideale zu werben, weihte er sie in seine Begeisterungen ein und setzte ihr seine Weltanschauung auseinander.

»Ich glaube an den Teufel als Fürsten der Welt, sogar an seine Hörner und seinen Pferdefuß«, erklärte er ihr einmal, »sie sind die treffenden Sinnbilder für die Urmacht des Tieres. Dieses zu überwinden, sind wir geboren. Denn Gott hat kein anderes Rüstzeug, um den Teufel zu bekämpfen, als allein den Menschen, der jenen versteht, weil er durch seine tierische Seite ihm zur Hälfte angehört.«

Märchen antwortete nicht. Sie hatte sich die Kunst des eindrucksvollen Schweigens zu eigen gemacht, das keine Stellung nahm, aber zum Weitersprechen anregte.

»Ja, ich glaube an den ewigen Widerstreit der zwei polaren Mächte, des Ormuzd und des Ahriman«, fuhr er fort, »aber durch den Menschen wird der Streit gestritten. Jede gute Tat, jedes reine Lied ist eine Überwindung des Tieres und ein dem Lichtgott erfochtener Sieg.«

Ein andermal legte er ihr die Hoheit des Beatrice- und Diotimakults aus, der wie alles Höchste des Menschen aus dem Unerfüllten, aus der Sehnsucht, geflossen sei:

»Da wollen sie der Jugend die Bande abnehmen, die das Triebleben fesseln, damit sie sich nicht weh tue im Ringen zwischen Natur und Geist. Laßt sie ringen, wie sie können, Götter und Dämonen freut dieser Kampf. Das bequeme Ausleben der tierischen Triebe erfreut weder die einen noch die anderen, es erschafft nur satte Philister.«

Märchen, die Wunderschöne, lag im Moosgrund, den Kopf auf einen Arm gestützt, und sah ihn aus rätselhaften Augen an. »Lies mir aus deinem Hölderlin«, bat sie, um ihn von seinem Thema abzulenken, denn dies war der kürzeste Weg in seine Seele. Das Werk des Dichters lag damals noch zu mehr als zwei Dritteln verschüttet wie ein hellenischer Tempel, von dem nur wenige Säulen aus der Erde ragen, und die ihn ausgraben sollten, waren noch nicht geboren. Aber alles, was man von ihm kannte, fand sich in Gunthers Besitz, und er trug es immer mit sich. Er las ihr das »Fragment an den Rhein«, und zuweilen unterbrach er sich, um ihr den Sinn auszudeuten, der aus ihr unzugänglichen Tiefen blickte. Seine Stimme bebte, als er las, denn in dem gefesselten Jünglingsstrom, der eingeengt im dunklen Schacht tobte, wurde ihm das Toben seiner eigenen Blutströme bewußt.

Aber innig und feierlich klang es, als er wieder anhob: »Ein Rätsel ist Reinentsprungenes.« Seine Hörerin strengte sich gewaltig an, allein sie kam nicht mit. Seit sie reifer geworden, hatte sie sich die Sicherheit der eingelernten Urteile abgewöhnt, die niemand täuschten, nicht einmal mehr sie selbst, und ahnte jetzt dunkel, daß sie in solche Höhen gar nicht hinaufreichte. Doch mit der Witterung der Evastochter fühlte sie zugleich, daß sie dabei nichts verlor, weil es ihm süßer war, sie an der Hand sich nachzuziehen, als wenn sie sicheren Fußes die gleichen Gipfel mit ihm beschritten hätte.

»Was meint er mit dem Reinentsprungenen, Gunther?« fragte sie bittend und hob die Augen zu seinem Moosblock, wobei in der Blickrichtung von unten nach oben etwas eigentümliches Weiches und Hingegebenes lag.

Er neigte sein Haupt zu dem ihren herab und sagte bedeutsam:

»Das Reinentsprungene kennt sich selber nicht und fragt, was Reinentsprungenes bedeute. Ist nicht das Wasser rein entsprungen, das aus der Höhe fällt und aus der Tiefe wieder emporsteigt, von den reinsten Kräften des Erdinnern genährt? Und ist nicht die Seele, die mich soeben anblickt, ebenso reinentsprungen in kristallener Durchsichtigkeit?«

Märchen senkte den Blick wie in Bescheidenheit, sie war nicht immer darauf gefaßt, in ihren Augen lesen zu lassen.

»Wie glücklich bist du, Gunther, ihn so ganz zu verstehen.«

»Ich wäre ein Lügner, wenn ich behaupten wollte, ihn ganz zu verstehen«, antwortete er ernst. »Es gibt vielleicht zur Zeit noch keinen, der ihn ganz versteht. Aber das beweist nur unser eigenes Unvermögen. Darum reden sie von Irrsinn und eingetretener Geistesschwäche. Wir sind die Irren. Wir sind die Schwachsinnigen. Als er seine Liebe verlor, ließ ihn die Anziehungskraft der Erde los, und er schwingt jetzt in Höhen, wohin ihm niemand folgen kann. Die, zu denen er dort spricht, verstehen ihn. Aber uns andern ist seine Sprache zuweilen wie die Traum- und Geistersprache, deren Sinn schwindet, wenn wir ihn eben zu haben meinen.«

Er las weiter bis zu der Stelle, wo der Dichter plötzlich, wild von eigenem Schmerz und scheinbar zusammenhanglos die zornigen Worte ausstößt:

»Wer ist es, der zuerst / Die Liebesbande gefälscht / Und Stricke von ihnen gemacht hat?«

Diesen Worten gab seine Stimme ein dumpfes, drohendes Grollen. Dann schwieg er einen Augenblick und las darauf die gleiche Stelle noch einmal und noch eindringlicher. Märchen, ohne innere Anschauung von dem, was sie hörte, fühlte doch, daß sie von dem Vorwurf mitgetroffen war, und begann leise vor sich hin zu weinen. Dieses stille, fast kindliche Weinen war eine Bitte, daß er ihr aus der Stärke seines Jugendgefühls heraus die große Absolution erteile für den Frevel, das beste Gold des Lebens um ein falsches, schlecht geprägtes Metall verschleudert zu haben. Aber der Augenblick der Gefahr war schon vorüber, ihre halb gespielte, halb empfundene Reue zog ihn nicht zu ihr herab. Er war schon wieder mit dem Adler der Dichtung in die Höhe gestiegen, wohin sein eigener Schmerz nicht drang. Sie fühlte sein Entgleiten, und es blieb ihr nichts übrig als ihm nachzustreben, wenn sie ihn festhalten wollte.

»Ich will mir die Gedichte verschaffen«, sagte sie, »und täglich darin lesen wie du, vielleicht, daß auch ich ihm näherkomme. Dann will ich dich fragen, ob ich recht verstanden habe.«

Darauf schenkte er ihr seinen teuersten Besitz, die alte zweibändige Hölderlinausgabe, wo jede Seite mit Randbemerkungen von seiner Hand bezeichnet war. Sie legte sie mit heißem Dank in ihren großen Schmuckkasten, der sie überallhin begleitete, um sie kein einziges Mal mehr zur Hand zu nehmen.

 

Die Generalin schrieb an Frau van der Mühlen:

»O liebe Madelon, was habe ich Dir heute zu berichten! Noch beben alle Nerven in mir. Das Kind hat recht behalten. Es war ein Brief unterwegs, und sie hat sein Kommen gespürt. Sie flog dem Postboten entgegen und riß ihm den überseeischen Umschlag mit Edwins Schriftzügen aus der Hand. Sie umarmte mit Jubelrufen mich, die Gesellschafterin, sie hätte die ärgsten Feinde umarmt. Eine ganze Weile barg sie den Brief auf der bloßen Brust, wie die Hellseherinnen tun, wenn sie mit der Herzgrube lesen. Dann öffnete sie ihn langsam, um die selige Erwartung zu verlängern, und las, las wieder, immer das gleiche, las mir Stücke daraus vor, unter stürzenden, erlösten Tränen. Es ist ein langer Brief, in der Pause der kriegerischen Handlungen auf der Militärstation geschrieben. – ›Ich wußte ja, daß er nicht sterben kann, wenn er mich liebt‹, frohlockte die Arme. Als sie fertig war, drehte sie die Blätter verwundert hin und her. ›Er schreibt gar nichts von der Schlacht, er will mich nicht erschrecken‹, sagte sie, ›aber er kommt bald, der Krieg sei ja so gut wie zu Ende, meint er, noch vor dem Herbst will er mich holen‹. – Es war grausam, grausam, liebe Freundin, Du begreifst: sie hatte in dem Jubelsturm das Datum nachzusehen vergessen. Als sie stutzig wurde, die Zeit nachrechnete, da ging es ihr erst auf, daß dieser Brief kein Lebenszeugnis bedeutet, weil er vor dem verhängnisvollen Tage geschrieben ist. Und jetzt – begreifen müssen, daß die Hand, die diese freudigen Worte geschrieben hat, doch schon im Grabe liegt – diesen Sturz vom Himmel in die Hölle kann ich Dir nicht schildern. Wir haben ja in unseren Tagen auch manches Leid an uns selbst und an anderen erfahren, aber eine solche starre, hoffnungslose Verzweiflung hast weder Du noch ich erlebt. Es war zu grausam, daß sie die Stimme des Lebenden noch einmal hören mußte, um an seinen Tod zu glauben. Jetzt liegt sie nebenan im Morphiumschlaf. Es gab kein anderes Mittel, die wilden Schreie zu stillen, die ihr der Krampf unwillkürlich aus der Brust riß. Für ein paar Stunden hat sie Ruhe und Vergessenheit. Aber was dann? Wer soll sie trösten? Und doch mußte diese Krise kommen, sonst hätte das eigensinnige Warten am Ende wirklich noch zur Geistesverwirrung geführt.«

Gunther fragte telegraphisch an, ob er die Schwester holen solle, und erhielt abschlägigen Bescheid, sie sei noch nicht imstande, die Ihrigen zu sehen.

Die Unmöglichkeit der Unglücklichen aus seiner brüderlichen Treue heraus auch nur das Geringste zu vergüten, zerriß ihn ganz, daß er auch vor Märchen floh und keinen Trost wollte. Aber diese ließ nicht ab von ihm. Sie liebte und wollte diesen Jüngling, der ihr mit jedem Blutstropfen hörig war und der sich doch eigensinnig von ihr fernhielt. Schon war das Geschäft Herrn von Wehls dem Abschluß nahe, nach dessen endgültiger Abwicklung er sie unverzüglich zurückholen wollte, und noch immer standen sie und Gunther sich im gleichen bemessenen Abstand gegenüber. Sie nahm den Weg über sein brüderliches Leid, um die fliehende Stunde zu fassen.

»Hat sie denn diesen jungen Mann so sehr geliebt?« fragte sie mit der innigsten, weiblichsten Teilnahme.

»Wir Folkwangs sind vom Stamm des Asra«, antwortete er düster.

»Welche sterben, wenn sie lieben«, ergänzte sie mit einem Seufzer, um daran zu erinnern, daß auch sie eine Folkwang war, und sie lehnte wie überwältigt vom Mitempfinden ihr schönes Haupt an seine Schulter. Da faßte er plötzlich ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände und küßte mit verzweifelter Leidenschaft ihren Mund. Aber als ihre Arme ihn umschlingen wollten, drückte er sie nieder und stürzte aus dem Zimmer.

*

Ein Hufschlag, der in der Ferne dröhnte, weckte Vanadis aus dem Morphiumschlaf und ließ die Betäubte aufhorchen, ob der Tote komme, um sie zu holen. Noch waren alle Wunder- und Heldenmärchen ihrer Kindheit in ihr lebendig, ihre Liebe selber war ein Nachklang von diesen gewesen. Als der Hufschlag verhallte, sank sie verzweifelt in die Kissen zurück. Und nun begann das Kreisen der Gedanken: Wo war ich? Was tat ich in den Minuten seiner Todesqual? Mit welcher Nichtigkeit war ich beschäftigt? Vielleicht probierte ich ein Kleid an und dachte, wie ich ihm darin gefallen würde. Heißt es denn nicht, daß Liebe ein magischer Leiter für die Gedanken der Abwesenden sei? Warum sagte sie mir nichts? Hatte er keine Zeit mehr, an mich zu denken? Man hört so oft von Botschaften Sterbender; konnte er mir keine senden? War ich zu stumpf, zu taub, sie aufzufangen? Aber nun fiel es wie ein Blitzschein in ihre Erinnerung. Was war das mit seiner Stimme in jener Nacht? Wie hatte es geklungen? Unerreichbar! – Ach, unerreichbar für immer! Sein Sterbehauch, den er ihr zusandte! Doch kamen ihr wieder Zweifel, ob sie nicht bloß geträumt habe. Die Schlacht ward ja am Tage geschlagen, und jene Stimme sprach in der Nacht. Aber geht nicht die Sonne dort zu anderen Stunden auf? Wenn es drüben Tag ist, schlafen wir hier in unseren Betten.

Von der Reise, von Hochgebirge und Süden wollte sie nichts hören. Es gab nur einen Ort, nach dem ihr Herz brannte; den Boden, wo er gefallen war. Da ihr dieses Verlangen nicht erfüllt werden konnte, war alles andere sinnlos. Sie trieb wie auf einer kleinen Eisscholle im Ozean, die von Minute zu Minute schmilzt. Der Gedanke, was die Wilden aus ihrem Opfer gemacht haben konnten, an dem eine frühere Niederlage zu rächen war, wurde zum Gespenst, vor dem sie nicht floh, das sie sich selber heranzog und festhielt. Nächte hindurch rief sie den Toten an:

»Komm nicht in deiner Schönheit und Kraft, wie ich dich noch immer sehe. Ich will die fromme Lüge nicht, ich will dich! Komm, wie du warst in deiner Todesqual, komm in deiner Verwüstung. Jetzt ist nichts mehr schön als Wunden und Tod und Verwesung. Schone mich nicht, komm so, wie du jetzt bist!«

Je verzweifelter sie rief, desto stummer blieb es von drüben: Nicht einmal der Traum gab ihn zurück. Niemals wollte er, wenn sie die Augen schloß, der Schlafenden erscheinen; aus tiefster Vergessenheit, aus frühesten Jahren tauchten fremde, gleichgültige Gesichter auf, das seinige niemals. Und immer öder wurden die Tage, in die das rollende Gestirn sie hineinführte, ohne ihn, über ihn hinweg. Sie hing irgendwo im Leeren, konnte den Erdboden nicht mehr mit dem Fuß erreichen. Die Generalin sagte ihr: »Weine dich aus, Kind, blicke nicht so starr!« Aber sie hatte keine Träne. Weinen hieße sich zu dem Furchtbaren bekennen, dem ihr Herz doch immer wieder nein sagte.

Sie hatte der mütterlichen Freundin versprochen, sich kein Leides zu tun. Und dahin ging auch nicht ihr Hang. Denn es war ja nichts Gegenwärtiges, unmittelbar Zwingendes da, sie in den Tod zu treiben, nur ein Gedanke, der vor der Erinnerung des Lebens immer wieder unwirklich wurde. Aber verlöschen, sich still versinken lassen in die Natur zurück, die ihren Geliebten an sich genommen hatte, das schien die sicherste und beste Zuflucht. Weil sie die meiste Zeit teilnahmslos auf dem Kanapee lag, mußte ihr das Essen aufs Zimmer gebracht werden, und dabei fand sie Gelegenheit, den größten Teil unauffällig wegzuschütten. Daß ihre Bewegungen matter wurden und ihre Blässe noch einen Ton blässer, fiel nicht auf, denn es ging auf Rechnung des Kummers. Aber das war nicht der Weg, der zum Ziel führte, denn die Jugend schöpft aus unerschöpflichen Kräftebecken.

Frau von Leo führte ihren bleichen Gast jeden Tag ein paar Schritte ins Freie. Die äußerlich rauhe und männliche Frau wurde dabei zu einem Wunder von Einfühlung. Wenn sie des Mädchens Arm zittern sah, so wußte sie, daß diese von der Erscheinung irgendeines Vorübergehenden getäuscht, den Verlorenen in ihm zu erkennen meinte. Und die Erschütterung übertrug sich auf sie, daß sie mit in den Bann der Einbildung geriet und gleichfalls eine Ähnlichkeit mit Edwin sah, die vielleicht gar nicht vorhanden war.

Vanadis hatte noch niemals einen Toten gesehen, denn damals, als der Großvater starb, hatte man sie wegen ihrer zarten Jahre vom Sterbebett ferngehalten, und seitdem war der Tod nicht wieder über die Folkwangsche Schwelle getreten. Sie kannte den Zerstörer nicht. Sie wollte ihn sehen, ob sie ihn dann besser begriffe. Nicht weit vom Hause der Generalin befand sich inmitten schöner älterer Anlagen der neuerstellte städtische Friedhof, der erst wenige Gräber hatte und noch ohne Mauern wie ein offener Garten dalag, wo Blumen dufteten und Vögel sangen. Dorthin ging Vanadis täglich mit einem Buch, aber nicht um zu lesen. Wenn niemand zugegen war, schlich sie sich zu der abseits gelegenen Leichenhalle und spähte durch die hohen Scheiben nach den stillen Schläfern da drinnen, gespannt, inständig, als wären sie Edwins mitgefallene Kameraden und wüßten etwas von ihm. Aber die wächsernen Puppen, seelenlose Abbilder von Gewesenen, hatten ihr nichts zu sagen, sie wußten weder vom Tod noch vom Leben. Einmal fand sie die Tür offen, ging hinein und blickte forschend von einem zum andern.

Ein Aufseher, der hinter ihr eingetreten war, sagte: »Suchen Sie hier jemand?« – »Ja«, antwortete sie mechanisch, »aber er ist nicht hier.« Sie setzte sich wieder auf ihre Schattenbank im Freien und starrte in ihr Buch, dessen Seiten sie nicht umblätterte. Da sagte eine fremde Stimme neben ihr: »Ja, das Leben ist schwer, junges Fräulein.«

Ein älterer Herr mit graugemischtem Haar und Backenbart hatte sich im Abstand auf die gleiche Bank gesetzt, ohne daß sie es bemerkte. Sie antwortete nicht, aber nach einer kleinen Weile hob jener wieder an:

»Wenn Sie um einen Toten trauern, so bedenken Sie, wie schlecht er vermutlich empfangen würde, wenn er wiederkäme.«

»Herr, was fällt Ihnen ein?« antwortete die Angeredete empört und durch die unerwartete Einmischung plötzlich aus ihrer Starrheit geweckt.

»Oh, Sie dürfen mir nicht zürnen«, sagte der andere. »Ich habe einmal einen solchen Wiederkömmling gekannt, er war der Unglückseligste aller Menschen. Nicht jeder ist tot, der liegenbleibt, denn jede Kugel trifft ja nicht, wie schon das Volkslied sagt, es wäre oft besser, sie träfe.«

Sie starrte ihn mit versagendem Herzschlag an:

»Ich verstehe Sie nicht. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, so sprechen Sie deutlich.«

Der Unbekannte beachtete ihre Erregung nicht, sondern sprach mit der gleichen eintönigen Stimme wie vorher weiter.

»Haben Sie nie von dem unglücklichen Kaiser Maximilian von Mexiko gehört, junges Fräulein?«

Das Mädchen hatte verschiedentlich Bilder des erschossenen Kaisers gesehen, und es wollte ihr bei dieser Frage bedünken, als ob der Sprecher ihm gliche. Dieser zog jetzt aus einer abgenützten Geldbörse eine fremde Goldmünze hervor: »Sehen Sie, das ist ein Maximiliansdukat. Der Kaiser reichte, als sie ihn zum Pfahl stellten, einem jeden zur Hinrichtung befohlenen Soldaten eine solche Goldmünze zum Andenken. Sehen Sie ihn an, so sah er aus.«

Dabei rückte der Fremde sein eigenes Profil wie zufällig in die Stellung des geprägten Kopfes, wobei die Ähnlichkeit doch deutlicher wurde.

»Warum erzählen Sie mir das? Was geht es mich an?« fragte sie schroff, beinahe zornig, denn seine Worte vom Liegenbleiben und Nichtgetroffensein hatten so etwas wie eine wahnsinnige Hoffnung erweckt, die bei dem Fortgang seiner Rede schwer zu Boden fiel und sie noch trostloser zurückließ.

Jener hob wieder zu erzählen an: »Ich hörte einmal, daß auf Schloß Laaken bei Brüssel ein falscher Maximilian aufgetaucht sei, der alle Räume zu kennen schien und nach längst verstorbenen Personen fragte. Er schlich im ganzen Schloß umher, da fürchtete man, er könnte die unglückliche Frau, die einst Kaiserin gewesen, durch seinen Anblick erschrecken, und schob ihn über die deutsche Grenze ab.«

Er hielt noch immer die Münze in der Hand und seinen Kopf in der Stellung des geprägten, wie um die Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Züge zu bannen.

Ist das ein Irrer oder ein Betrüger? fragte sich Vanadis. – Und wie als Antwort auf die stumme Gedankenfrage bemerkte jener: »Man sagt immer ›Betrüger‹, wenn das Wiederkommen unerwünscht ist. – Er hat alles verloren«, fuhr er fort, »Krone, Gemahlin, Familie, sein Leben unter der Sonne. Nichts ist ihm geblieben als die Dichtkunst, die muß ihn im Schattenreich trösten. Gnädiges Fräulein wissen doch, daß Maximilian auch Dichter war? Darf ich Ihnen aus seinen Gedichten vorlesen?« – Dabei suchte er in seiner Tasche nach einem Schriftbündel.

»Ich bitte mich zu entschuldigen«, antwortete sie kurz und wollte aufstehen, aber sie sank jählings zurück. Der kurze Augenblick, wo es ihr geschienen, daß dieser Mann mit einer geheimen Meldung an sie geschickt sei und daß sie jetzt gleich etwas Außerordentliches, vielleicht etwas Rettendes erfahren sollte, hatte genügt, um ihr ganzes Innere durcheinanderzuwirbeln. Die unmittelbar folgende Enttäuschung fuhr ihr wie ein Schlag in die Glieder, von dem ihre Knie lahm blieben.

»Fühlen sich Gnädige unwohl?« fragte der Fremde besorgt. – »Es wird gleich vorüber sein«, antwortete sie halblaut.

Er eilte in das Haus des Friedhofaufsehers, um ihr ein Glas Wasser zu holen, das sie schluckweise belebte. Doch als sie sich aufs neue erheben wollte, taumelte sie abermals.

»Gnädige gestatten, daß ich Sie heimführe«, sagte er, sie vorsichtig unterfassend, und schlug mit ihr behutsam den kürzesten Gang nach dem Hause der Generalin ein, das mit der Rückseite auf den Totengarten sah. Er zeigte sich dabei so ortskundig, daß sie mit matter Stimme fragte, ob er in der Nähe wohne.

»Ich, wohnen?« antwortete er. »Am Tage wohne ich im Hotel Sonnenschein, bei Nacht im Gasthof zum Stern. Jeder Tote hat sein Grab, nur der Lebendigtote hat nichts, wohin er sein Haupt lege.«

Schon hatte die Generalin von weitem die Gruppe gesehen und kam ihnen besorgt entgegen, um die Geführte vom Arm ihres Beschützers zu empfangen, der jedoch an ihrer Seite blieb, bis sie die Gartentür erreichten. Erscheinung und Auftreten des unglücklichen Mannes machten auf die Generalin einen so vorzüglichen Eindruck, daß sie ihn mit einzutreten bat, um ihm noch besser für den Schutz ihrer Nichte, wie sie den geliebten Gast zu nennen pflegte, danken zu können. Er half ihr noch im Gartensaal den Liegestuhl für die Erschöpfte zurechtrücken und wollte sich dann empfehlen. Aber sie forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und fragte, wen sie die Ehre habe, vor sich zu sehen.

Er entschuldigte sich, daß es für ihn gefährlich sein würde, seinen Namen zu nennen: »Ich werde von Wien aus verfolgt, gnädige Frau. Ich bin der kaiserlichen Familie lästig geworden seit meinem Unglück. Ich muß versuchen, aus dem Wege zu bleiben. Man hat mir aus der Ferne einen Apparat angelegt, um mir das Kronzeichen an der Schläfe wegzuelektrisieren. – Gnädige wissen doch, daß alle Habsburger mit dem Kronzeichen geboren werden?«

Die Generalin riß die Augen weit auf, denn der Fremde hatte bisher völlig vernünftig gesprochen, und auch jetzt stand der ruhige und sichere Ton seines Redens im größten Gegensatz zu dem Vorgebrachten.

Die Gesellschafterin, die soeben mit dem Kaffee eintrat, ließ vor Erstaunen beinahe die Tassen fallen und erlaubte sich die schüchterne Frage, ob es denn so etwas gebe. Sogar Vanadis richtete sich in ihrem Liegestuhl auf und horchte; es war seit Edwins Tod ihr erstes Zeichen von Anteil an der Außenwelt.

»Davon habe ich nie gehört«, sagte kopfschüttelnd die Generalin.

»Es gibt in den regierenden Häusern viele Dinge, von denen man in der Öffentlichkeit nie erfährt«, antwortete der Fremde. Und während ihm eine Tasse Mokka gereicht wurde, glitt er wieder mit einer geschickten Wendung in das Los des unglücklichen Maximilian hinüber.

»Kannten Sie ihn denn?« fragte Frau von Leo. Er zögerte, dann sagte er bedeutungsvoll: »Wir – standen einander nahe.« Und da sie nicht weiter fragte, setzte er hinzu: »Sie hören ja an meiner Aussprache, daß ich Österreicher bin. Ich saß mit dem jungen Erzherzog auf einer Schulbank.«

»Ich wußte nicht, daß die österreichischen Erzherzöge die gemeinsame Schule besuchen«, antwortete die Generalin bedenklich.

»Der Fall war ein besonderer, Gnädige.« Hier brach er entschieden ab und erhob sich, indem er noch bat, an einem der nächsten Tage nach dem Befinden des gnädigen Fräuleins fragen zu dürfen. Der gleich darauf eintretende Hausarzt erkundigte sich, wie die Exzellenz zu dieser merkwürdigen Bekanntschaft komme, denn er war dem Abgehenden noch im Hausflur begegnet.

»Da müssen Sie mein liebes Kind hier fragen«, sagte die Generalin. »Sie hat auf der Straße seine Eroberung gemacht.«

Vanadis öffnete die Augen halb und sagte mit dem umflorten Stimmklang, der ihr aus den furchtbaren Schreikrämpfen geblieben war: »Ich habe eine Anziehungskraft für das Unglück. Wenn sich in der Gegend ein Geistesgestörter aufhält, so findet er gewiß den Weg zu mir.«

Eine Erinnerung schwebte mit dem allerflüchtigsten Schein eines Lächelns über ihr Gesicht. In der gleichen Anstalt mit ihrem Vater befand sich ein berühmter Gelehrter, der nicht dort festgehalten war, sondern aus freien Stücken kam und ging, je nach seinem geistigen Befinden. Denn er war kein eigentlicher Irrer, sondern litt nur an zeitweiligen Störungen, bei deren Herannahen er sofort das Asyl aufsuchte, dessen Leiter ihm befreundet war. Er ging als gänzlich ungefährlich frei in der Gegend umher, wo ihn jedermann kannte und grüßte, verwickelte die Vorübergehenden in Gespräche, die bald wunderlich, bald tiefsinnig waren, und empfahl sich wieder. Vanadis war also nicht im mindesten erschrocken, als der Herr Direktor, wie man ihn in der ganzen Gegend nannte, eines Tages, da sie Nachrichten vom Vater geholt hatte, in den Anlagen, die das Asyl umgaben, mit gezogenem Hute vor ihr stehenblieb und fragte, ob er die Ehre habe, die Königin von Saba vor sich zu sehen. – »Das nicht, aber vielleicht eine Art Verwandte von ihr«, hatte sie mutwillig geantwortet. Nun hatte er sie auf dem langen Weg durch die Waldung zur Bahnstation begleitet und ihr allerhand närrische Dinge vorgeredet, wobei es ungewiß blieb, ob er scherzte oder aus einer Art von Wachtraum sprach oder ob er nur das junge Wesen verblüffen wollte.

So schnell der Schein vorüberhuschte, die Generalin hatte ihn doch wahrgenommen und dachte getröstet: Sie wird sich wiederfinden. Wie wäre es bei ihrem Geiste anders möglich!

Der Arzt saß neben der Leidenden, hielt ihren Puls, den er zu schwach fand, und drang ihr ein Ei auf, das sie ohne Widerspruch zu sich nahm; daneben berichtete er der Generalin, was er von dem Besucher und seinen stadtbekannten Seltsamkeiten wußte. Seine Ähnlichkeit mit dem erschossenen Kaiser und seine geheimnisvollen Hinweise auf einen Zusammenhang mit der habsburgischen Dynastie hatten da und dort bei gläubigen Seelen, besonders weiblichen Geschlechts, die Annahme erzeugt, daß er selber der unglückliche Maximilian sei, andere hielten ihn für einen Hochstapler, weshalb ihn das österreichische Konsulat eine Zeitlang überwachte. Auch die Polizei beschäftigte sich wiederholt mit ihm, doch ohne ihm nachweisen zu können, daß er sich selbst für jenen ausgebe, und noch viel weniger, daß er die geglaubte Personengleichheit zu seinem Vorteil ausnütze. Auf dem Einwohneramt sei er als Max Kaiser mit Geburtsdaten, die allerdings denen des unglücklichen Habsburgers entsprächen, eingetragen; ob die Angaben stimmten, wisse man nicht, doch werde er jetzt als harmloser Monomane völlig in Ruhe gelassen.

Danach glitten die zwei in andere Gespräche hinüber. Der Arzt erzählte halblaut von einer bösartigen Typhusepidemie in Hannover, wo sein im gleichen Berufe tätiger Bruder an der Spitze einer großen Klinik stand und alle Betten mit Typhuskranken besetzt hatte, für die es bei der Schwere der Ansteckungsgefahr an Händen zur Pflege fehlte. Die Unterhaltung sank zum Flüstern herunter, weil beide glaubten, daß Vanadis schlafe. Aber diese lag mit wachen Ohren und hielt eine lange, ernste Prüfungsstunde mit sich selber ab. Sie hatte sich sterben lassen wollen, kampflos und schmerzlos, und hatte erfahren müssen, daß man nicht mit leichter Hand das dunkle Tor entriegelt, das sich nur dem gewaltsamen Willen öffnet. Heute hatte ihr die Begegnung mit dem Irren besser als alle Freundesmahnungen gezeigt, wohin das Hegen einer einzigen ununterbrochenen Vorstellung führen kann. Und nun mußte sie sich fragen, ob es des Kühnsten und Freudigsten würdig sei, ihn durch das Opfer eines zerschlagenen, mühselig hingeschleppten Daseins ehren zu wollen. Wie würde sie ihm so gefallen? Und wie sollte es weitergehen, wenn sie doch leben mußte? Unter ihr Dach zurückkehren, das kein väterliches mehr war, kam für sie nicht in Frage; was dort an Pflichten blieb, dem genügte Esther, das treue Kind. Hier im Hause länger bleiben, eine müßige Last, wozu? Diese Wände, diese Wälder gaben keinen Ton seiner Stimme je zurück. Man würde ihr bald einen anderen Gatten vorschlagen, die Generalin hatte schon ihre Schützlinge im Hintergrund. Zu Corinna gehen, die ihr Briefe über Briefe schrieb? Verlorene Liebesmüh, aus ihr wurde niemals eine Künstlerin. Was also dann? Nur nicht länger tatenlos leidend das Haupt senken. Das Schicksal hatte zu ihr gesprochen, sie wollte dem Schicksal Antwort geben. Welche? Es mußte eine sein, die der Größe des Anrufs entsprach. Wenn Krieg im Lande wäre, wenn es ein Lazarett gäbe, wo Verwundete litten und starben, dort wäre ihr Platz, dort würde sie mit Einsatz des eigenen Lebens in jedem Verletzten Edwin Leo pflegen. Doch im Vaterland und an seinen Grenzen herrschte tiefer Friede. Mitten in diese Gedanken hinein fiel die Mitteilung des Arztes von der Epidemie in Hannover. Sind es nur Kriegsverletzte, die Hilfe brauchen? fragte sie sich selber. Ist Krieg nur im Kriege, wo die Waffen sprechen? Wie mit Worten gerufen kam die Antwort aus ihrer Seele: Wo ein Mensch leidet und stirbt, immer ist es Edwin Leo. Das fiel wie ein Scheinwerfer auf ihren Weg. Heilige Stimme, du hast mich immer recht geführt, antwortete sie dem Göttlichen, das aus ihr gesprochen hatte. Und auch die Worte ihres Vaters an Oskar Wittich, von den Soldaten der Menschheit, die immer ohne Friedensschluß vor dem Feinde stehen, kamen ihr wieder. Diesem Feind konnte auch sie in die Augen blicken. Freilich war sie keine geschulte Kraft, aber sie war gewandt und opferbereit, und wo es an Händen fehlte, mußten auch die ihrigen willkommen sein.

In den nächsten Tagen zeigte sie plötzlich Lust und Liebe zum Dasein. Sie ließ sich willig von der beglückten Gastfreundin füttern und zu Kräften bringen. Schon tauchte der Reiseplan wieder auf. Das Mädchen sagte weder ja noch nein. Eines Nachts aber, als schon alle schliefen, schrieb sie noch an einem Brief und ordnete ein paar Sächlein in eine Handtasche. Dann legte sie sich zu kurzem Schlafe nieder mit dem Gedanken: Edwin, heute hab' ich mir einen Traum von dir verdient. Der Geliebte trat noch immer nicht vor ihr Kissen. Aber als es gegen Morgen ging, fühlte die Schlafende eine dunkle Gestalt über ihr Gesicht geneigt. Ohne die Augen zu öffnen, wußte sie, daß es Gunther war. Sie wollte fragen: Was willst du? Aber der Schlaf hielt ihre Zunge gefesselt, und das Traumbild entglitt.

 

In der gleichen bleichen Frühstunde, in der Vanadis allein und ungesehen aus dem Hause der Generalin trat mit Hinterlassung der geschriebenen Bitte, ihr ein zeitweiliges Verschwinden zu gönnen und die Familie zu trösten und ihr zu sagen, daß sie nicht gehe, um sich ein Leid anzutun, wurde das Haus auf der Fehlhalde durch einen Knall erschüttert, der alle Bewohner weckte. Estherchen und Roderich, die blitzschnell auf den Füßen waren, eilten gleichzeitig nach Gunthers Zimmer, wo ein Schuß gefallen war. Roderich als der zunächst Wohnende stand zuerst am Bette des Freundes, über dem sich noch ein leichtes Rauchwölkchen nach der Decke kräuselte. Gunther war tot. Der Revolver, mit dem er die Tat getan, lag noch in seiner erschlafften Rechten.

Zwei Tage zuvor war Herr von Wehl erschienen und hatte Märchen weggeholt; ob sie ihm gern oder ungern folgte, war ihr nicht anzusehen. Er hatte Gunther für seine Ritterdienste, von denen er durch seine Frau unterrichtet war, gedankt und ihn mit großer Zuvorkommenheit für die nächste Ferienzeit auf seine Villa am Gardasee eingeladen, die eben instand gesetzt wurde. Märchen unterstützte unbefangen die Aufforderung. Aber Gunther antwortete nicht, und als beide aus dem Wagen noch Grüße zurückwinkten, blieb er in solcher Selbstvergessenheit unter der Haustür stehen, daß man meinen konnte, seine Seele werde mit davongeführt und habe ein leeres Gehäuse zurückgelassen.

So blieb es auch die beiden nächsten Tage. Er ging mit starren Augen wie ein Verhexter umher. Man wußte nicht, war es der Abschied von Märchen, oder lag das Leid der Schwester so schwer auf ihm. Niemand hörte ein Wort aus seinem Munde. Er schweifte in der Gegend umher oder schrieb auf seinem Zimmer. Fanny lebte in steter Angst und flehte Roderich an, ihm zu folgen, wenn er nachts das Haus verließ. Dieser ging ihm ungesehen mit einem Stock bewaffnet durch die nicht allzu sicheren Wälder nach. Aber die Ferien auf der Kunstakademie gingen zu Ende, und als Roderich seine Platten und Fläschchen einpackte, schien Gunther aus einem Traum zu erwachen und suchte die paar Sachen, die er mitgebracht hatte, gleichfalls zusammen. Am Morgen wollten sie gemeinsam abreisen, weil ihre Fahrt eine Strecke weit in derselben Richtung ging. Darum fiel es nicht auf, daß man Gunther noch lange Zeit in seinem Zimmer stöbern und kramen hörte.

Roderich und Esther beugten sich zusammen über das unbewegliche Gesicht, das ein schmales Blutbächlein leise zu furchen begann. Während Fanny durch das Haus rannte und laut kreischend um Hilfe schrie, kniete das Kind am Bettrand und faltete in leisem Gebet inbrünstig die Hände. Der Gerichtsarzt erschien, die Untersuchungskommission, der eine stellte den sogleich eingetretenen Tod fest, die anderen durchstöberten Papiere und gaben sie zurück, weil keine Spur zu dem Beweggrund des Selbstmords führte. Man sprach von erblicher Belastung, denn ein Großoheim väterlicherseits war denselben Weg gegangen. Daß Vater Folkwang gleichfalls Hand an sich zu legen gesucht hatte, war der Öffentlichkeit nicht bekannt und kam nicht zur Sprache. So war es gut für Roderich, daß Esther gleichzeitig mit ihm eingetreten war, wodurch keine Frage nach fremder Täterschaft aufkommen konnte. In den zwei Nächten, die der Tote noch im Haus verweilte, war er es, der die Leichenwache hielt. Bei angezündeten Kerzen saß der Getreue am Bette Gunthers und las in seinen Papieren. Da war eine von der Universität schon fertig mitgebrachte, völlig druckreife Abhandlung über das deutsche Märchen, die auf der Vorderseite die Widmung trug: »Einer teuren Blutsverwandten.« Eine Kopie in Kunstschrift von Gunthers eigener Hand geschrieben und augenscheinlich für Märchen bestimmt, war unvollendet geblieben. Die Abhandlung begann mit den halb rhythmischen Worten:

»Durch die deutsche Winternacht wandelst du, Märchen, milde Sterne funkeln auf deinem Haupt, und das Einhorn geht vertrauend neben dir. Nicht um die Wunder arabischer Nächte gäb' ich dein sinniges Lächeln und die zarten Christrosen, die zu deinen Füßen erblühen, Märchen der Deutschen!«

Dann kam eine Anzahl Gedichte, von jener übersinnlichen Hoheit, in der der Jüngling sein Irdisches bändigte. Sie waren an seine »Lichtschwester« gerichtet, an das unerreichbare Wunschbild, das ihm nach höchsten Zielen voranschwebte.

Aber da waren noch andere Blätter, die Roderich verkohlt aus der Asche des Ofens zog, bevor die Kommission zur Stelle war, denn amtliche Neugier sollte ihm nicht in das innerste Herz des unglücklichen Freundes hineinspähen. Eine halbverbrannte blonde Haarsträhne hatte er sorgfältig noch einmal angezündet und die unkenntliche Asche aus dem Fenster gestreut.

In der vorgeschrittenen Nacht, als alle Hausbewohner schliefen, holte er die angekohlten Papierfetzen hervor und suchte über die vom Feuer gebrannten Lücken weg den Inhalt herzustellen:

»Gott allein weiß, was ich gelitten habe«, hieß es auf dem ersten Blatt. »Meine Göttin, meine Fee, das Eheweib dieses Mannes! Denk es aus, Herz, und zerbirst!« Dann stand quer hindurchgeschrieben: »Nein, nur über deinen Körper hat er ein irdisches Recht. Deine Seele ist fern von ihm, sie ist bei mir. Wir sind zusammen da, wo wir immer gewesen, bevor unsere Leiber auf die Erde herunter mußten, um getrennt zu leiden und uns durch die ewige Sehnsucht noch fester und inniger zu vereinigen.«

So ungefähr mußten die ersten Sätze gelautet haben, die jetzt verkohlte Fetzen unterbrachen. Dann kam ein wilder Aufschrei, kaum noch leserlich: »Märchen, Märchen! Warum das? Ein Traum warst du, süß und schön und unerreichbar. Ach, wie süß und schön! Warum bliebst du nicht ein Traum, ein Feentraum! Mein ganzes Leben hättest du durchleuchtet. Aber das, das! O Märchen, was hast du getan! Was hab' ich getan! – Nein, ich ertrage die Erinnerung nicht.« – Hier fehlte ein Stück, dann ging es weiter: »Das Paradies ist zerschlagen, alle Blütenbäume am Boden. Wie jetzt weiterleben? Wie dem Mann unter die Augen treten, der mir so gütig war? – Das also ist das Ende des hohen Flugs! Der Geist, ein besoffener Wächter, vergißt sein Amt, und der Mensch geht in die Falle der Natur. Und fortan wäre ich dieser Wut verfallen wie die anderen, auf die ich hochmütig heruntersah. Oh, niedrig ist, was die Menschen Liebe nennen. Und da spricht man von Menschenwürde!

Wie jetzt vor die Freunde treten, denen ich Führer sein wollte und Gesetze gab? Soll ich ihnen sagen: Hier steht er, der das Gesetz zuerst gebrochen hat, nicht nur unser höheres Gesetz, sondern jede gemeine alltägliche Menschensatzung dazu. Der die Gastfreundschaft geschändet hat und einen Ehrenmann, der ihm vertraute, begaunert! Was soll mit ihm geschehen? Kameraden, steinigt ihn!«

Zuletzt kam noch ein durchrissenes Blättchen:

»Meine arme Schwester, meine kleine geliebte Vanadis! Du weißt nichts von solcher Häßlichkeit. Ich stehe im Geist an deinem Bett und sehe dich weinen in deinem reinen, heiligen Schmerz. Könnte ich dich mit mir hinwegnehmen. Aber ich bin nicht würdig. Allein muß ich gehen, du sei deinem Schutzengel befohlen, ich kann dich nicht mehr behüten.«

Als Roderich neben der kalten Hülle des Freundes die Blätter entziffert hatte, die das dunkle Rätsel lösten, vollzog er den stummen Befehl des Toten, indem er sie in einer Aschenschale vollends verbrannte. Seinen Schmerz verbitterte der Gedanke, daß er für diesen Ausgang mit verantwortlich sei. Er allein hatte gesehen, was vorging, er hätte es hindern können, es brauchte vielleicht nur einer Mahnung an den empfindsamen Gunther, um ihn aus dem Strudel zu retten. Aber er hatte die Einmischung gescheut und den Dingen ihren Lauf gelassen.

In der Frühe, die auf den Unglückstag folgte, kam Herr James Folkwang, aus Hamburg gerufen, mit ihm das Häslein, das man seit Jahr und Tag nicht gesehen hatte und das sich an der Leiche des Bruders die Augen aus dem Kopf weinen wollte. Der Großkaufmann hatte viel zu gehen und zu schlichten, denn der Friedhof gehörte Evangelischen und Katholiken gemeinsam, der Wetteifer der Konfessionen hatte größere Strenge in kirchlichen Dingen zur Folge, daher erhob der Klerus von beiden Seiten Schwierigkeiten wegen der Bestattung. Aber der alte Totengräber war des Ausgangs sicher und begann, auf eigene Hand neben dem Dichtergrab bei der Mauer, an dem schönen Platz, den einst Vater Folkwang für sich gewünscht hatte, die Erde für den Sohn auszuheben. Ein Mittelweg wurde gefunden, die Freunde des Hauses und Gunthers ehemalige Schulkameraden, soweit sie noch in der Stadt lebten, allen voran Oskar Wittich, der aus Prag herbeigeeilt war, stellten ohne Beistand von oben, aber ungehindert eine würdige Feier an. Zwar durfte keine Musik und kein Geistlicher den Sarg begleiten, und die Glocken wurden nicht geläutet. Aber die Bahre, die von jungen Freunden den kurzen Platz von der Fehlhalde zum Friedhof getragen wurde, war ganz mit roten und weißen Rosen zugeschüttet, und ein hoch mit Blumen beladener Wagen folgte. Fast die ganze männliche Jugend des Städtchens schritt hinter den Angehörigen und umstand im weiten Halbkreis das offene Grab an der Mauer. James Folkwang rief dem Neffen namens der Familie einen kurzen Abschiedsgruß nach. Dann ergriff Oskar Wittich in schlichter und gemessener Haltung für die Freunde das Wort: »Die traurige und mangelhafte Einrichtung der menschlichen Dinge zwingt mich, der ich am wenigsten dazu ausgerüstet bin, an diesem Grab, wo Erfahrenere reden müßten, von einem edlen Leben Zeugnis abzulegen. Freunde, Leidtragende, wir alle haben Gunther Folkwang gekannt, und wir wissen, daß kein Reinerer und Besserer unter uns ist, wir können uns einen Reineren und Besseren auch nicht einmal denken. Er ist von uns gegangen aus eigenem Entschluß. Was ihn dazu trieb, wissen wir nicht. Aber wir wissen: wie der Baum, so die Frucht. Wie das Herz, so die Entschlüsse, die es gebiert. Also wollen wir diesen Entschluß ehren, auch wenn wir ihn nicht verstehen, und obgleich wir durch ihn einen unersetzlichen Verlust erleiden. Aber, Freunde, Leidtragende, wir wissen auch, daß unser Bruder Gunther ein Dichter war. Wie der Dichter höhere Glücksgefühle kennt als wir anderen, weil ständig alle Ströme des Lebens durch ihn gehen, so leidet er auch die Schmerzen, verstärkt durch die Schmerzen aller Erschaffenen, die er von seinen eigenen nicht zu scheiden weiß. Wenn einem solchen die Seele in ihren Tiefen verletzt wird, so findet er kein Abkommen mehr mit dem Leben. Unser Freund war von der stolzen, königlich fühlenden Art, die nur sein will aus dem vollen oder gar nicht sein. Im Altertum haben ganze Städte den Freitod gewählt, um der Knechtschaft zu entgehen, jauchzenden, bacchantischen Freitod, und haben selbst die Schonung des milden Siegers verschmäht, um ihrer selber würdig zu bleiben. Die Geschichte schilt ihr Handeln nicht, sie rühmt an den Alten, was an den Heutigen verurteilt wird.«

Er schwieg eine Weile, nach neuen Worten suchend. Da schwirrte auf einmal aus der Nähe eine Lerche über dem niedergelassenen Sarg empor und stieg jubilierend in die Höhe.

»Gunther, lieber Gunther, Gott hat dir verziehen, er schickt dir seine Lerche!« rief eine hohe kindliche Stimme in das Schweigen. Es war Esther, die mit zurückgeworfenem Kopf den Flug der Lerche verfolgte.

Oskar sammelte noch einmal seine Gedanken:

»Lieber Gunther, unvergeßlicher Freund! Dieses Kind spricht wahr. Wir durften dich nicht mit der Musik, die du liebtest, ins Grab senken. Dafür schickt Gott selbst dir seine Lerchen und läßt sie deine ungesungenen Lieder hinauf zum Himmel tragen.«

Das Ehepaar von Wehl ließ einen prachtvollen Kranz an Gunthers Grab niederlegen. Märchen hatte ihrem Gatten, der zu dem so schnell nach ihrer Abreise eingetretenen tragischen Ereignis befremdet blickte, beizubringen gewußt, daß ihres jungen Vetters Überspanntheit von je in der Familie für gefährlich gegolten habe. Roderich, der diese Erklärung ahnte, zertrat und zerstampfte insgeheim den schönen Kranz, daß er entfernt werden mußte, was den Angehörigen nicht unlieb war, denn alle bürdeten Märchen die Schuld an dem Vorgefallenen auf, nur nicht in dem wahren Sinn, den Roderich allein kannte.


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