Isolde Kurz
Vanadis
Isolde Kurz

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Zweites Buch

Erstes Kapitel. Iris Florentia

Seit einer Reihe von Jahren war Vanadis Baronin Solmar. Für den gesellschaftlichen Kreis, der sich in Florenz um sie bildete, hieß sie Donna Eugenia, das klang Egons Ohren immer süß und paßte zu dem Gebilde, das er sich heranstilisierte. Mit ihrem Trieb ihm zu gefallen hatte sie sich ganz nach ihm geartet, und die Natur half seltsam willig nach. Sie war noch etwas gestreckter als ehedem, ihre Züge von neuem Jugendschmelz überglänzt, aber geschlossener im Ausdruck. Egon hatte sein Wort gehalten und ihr die Welt nach allen Seiten eröffnet. Seine schon zur Bequemlichkeit neigenden Gewohnheiten hatte er ihr zuliebe wieder abgelegt und sich aus ihrer Jugend selbst verjüngt. Er gab ihr Entwicklungsmöglichkeiten, wie sie nur wenigen Frauen ihres Jahrhunderts zuteil wurden. Jede Anlage, die das Leben schmücken konnte, drängte er zur Vollendung. Und es hieß arbeiten, um seinen Ansprüchen nachzukommen. Ihr gutes Sprachgehör genügte nicht mehr, erlesene Sprachmeister mußten sie in die Feinheiten der toskanischen Mundart einführen und ihr Englisch und Französisch verbessern. Zum ersten Geburtstag auf Casteldimonte schenkte er ihr ein edles Reitpferd; aber von dem kunstlosen Hinfliegen wie einst auf dem Falada durfte keine Rede mehr sein: bevor er sie zu seinem Morgenritt über die Colli mitnahm, ließ er sie unter seiner Aufsicht in der ersten Reitschule einen strengen Kursus mitmachen, damit sie neben dem tadellosen Reiter, der er selber war, an Sitz und Zügelführung tadellos erscheinen konnte. So wandelte er sie leise um, wie alles, was in seinen Luftkreis kam, und sie bemerkte es nicht einmal, weil ihr Geschmack sich von selbst nach dem seinigen bildete. Doch ging sein Einfluß nur auf die äußeren Dinge. Die Ursprünglichkeit ihrer Seele beschneiden zu wollen, fiel ihm nicht ein, zu sehr entzückte den Überlegten, Überfeinerten die immer wieder durchbrechende Natur, und wenn sie einmal ein stärkeres Wort, wie er selbst es nie in den Mund nahm, gebrauchte, so freute ihn das wie ein frischer Luftstrom. – Auch mit ihrem Anzug beschäftigte er sich gerne und eingehend: ein großer Londoner Schneider mußte sie für die Straße kleiden; für Gesellschaften belieferte sie das erste Pariser Haus, bei eigenen Empfängen aber sah Egon sie am liebsten in edlen Stilgewändern, die den Fresken des Ghirlandajo nachgefühlt waren. Er liebte es auch, sie zur Anprobe zu begleiten, und nicht selten steckte er schnell noch eigenhändig ein fließendes Band oder eine duftige Kaskade an, um die Grazie ihrer Bewegungen durch die Bewegtheit der Gewandung anmutig zu unterstreichen. Die übermütige junge Vanadis, die sie bis zu Edwins Tode gewesen, und die blasse Schwester Eugenie unter der gesteiften Haube waren beide nicht mehr, sie flossen zusammen in die Florentinische Lilie, wie Egon sie mit Stolz nannte, in die vornehme Frau aus den Tagen der hohen Kultur, für welche die Maler malten und die Dichter dichteten und von der nichts verlangt wurde als dazusein und schön zu sein, damit durch sie der Garten der Welt schöner würde.

Der Rahmen, in den er sie faßte, vollendete das Bild. Die Villa Casteldimonte lag hoch über Florenz mit allseitig freiem Blick über die Arnostadt und ihren Hügelkranz. Egon hatte das schloßähnliche, aus dem Mittelalter stammende Gebäude von häßlichen späteren Einbauten befreit, vermauerte Deckengewölbe bloßgelegt, kleinliche Zwischenwände niedergerissen und die hohen, weiten Säle von ehedem wiederhergestellt, auch Türen und Treppen durchgebrochen. Durch Anlage von Bädern und Heizvorrichtungen hatte er für die neuzeitlichen Bedürfnisse gesorgt und einen fürstlichen Wohnsitz geschaffen. Dunkle Riesentische auf Löwenfüßen, geschnitzte Schränke, Stühle und Truhen und anderen wertvollen Hausrat kunstreicherer Jahrhunderte hatte er von langer Hand her einzeln gekauft und mit dem Ganzen zur Einheit zusammengestimmt. An den altertümlich getönten Wänden waren Meistergemälde der guten Zeit mit weiser Sparsamkeit verteilt, daß jedes zu seinem Rechte kam. Für die neuen, die er kaufte, war ein eigener Raum bestimmt, der allmählich zur Galerie anwuchs. Auf Pfeilern und geschnitzten Sockeln standen Bronzebüsten und Marmorwerke von erlesener Kunst, Westliches und Östliches, während einer langen Lebenszeit auf Reisen gesammelt. Seltene Drucke in Folio und Stiche lagen, von Carlos sorgsamen Händen behütet, auf Tischen umher, Dinge, die der Besitzer im Vorübergehen zur Hand zu nehmen und zu betrachten oder durchzublättern liebte. Aber erst mit dem Einzug der jungen Herrin legte sich ein Lächeln über die strengen Räume. Jetzt trugen tiefe gepolsterte Lehnstühle und breite Ottomanen mit einer Unzahl bestickter Seidenkissen der Bequemlichkeit und Anmut Rechnung. Farbengesättigte Teppiche und orientalische Brücken lagen überall auf dem dunkelroten weichen Glanz der alten Backsteinfliesen. Durch alle die ineinandergehenden Säle duftete aus hohen Vasen oder weiten getriebenen Kupferschalen ein Überschwang von Blumen, einheimischen und fremdländischen, im eigenen Treibhaus gezogenen, deren Fülle das Jahr über wechselte, aber niemals ausging. Hochwüchsige Topfblumen, in große leuchtende Gruppen geordnet, empfingen den Eintretenden schon in der Vorhalle, und an festlichen Tagen begleiteten sie ihn mit weitentfalteten Kelchen zur Rechten und zur Linken die steinerne Treppe hinan, die steil und gerade war wie in den meisten altitalienischen Villen. Das schönste Gelaß des Hauses lag im zweiten Stockwerk des großen viereckigen Turmes und hieß seines herrlichen, nach drei Seiten freien Ausblicks wegen von alters her die Bellavista. Eine durchgezogene Backsteinwand teilte jetzt den Raum in Schlaf- und Badegemach für Donna Eugenia. Die Wände des Schlafzimmers waren mit gelbem Damast bekleidet, denselben matten Goldton hatten die seidenen Kissen des frei stehenden, wahrhaft königlichen Bettes, von dessen Bekrönung ein Prachtbehang niederfiel, aber so zurückgebunden, daß er der Schläferin die Luft nicht beeinträchtigte. Ein echter Tizian schmückte die gegenüberliegende Wand. Neben dem Kopfende des Bettes aber hing ein anderes Bild, das niemand zu sehen bekam, ein grünseidener Vorhang verhüllte es. Zwei große Fenster, stark erweiterte ehemalige Luken, jedes durch einen Pfeiler in der Mitte geteilt, das eine nach Süden, das andere nach Osten blickend, überfluteten das Zimmer mit Licht, das durch doppelte Läden nach Bedarf geregelt wurde. Wenn das volle Licht auf den Damast der Wände fiel, so entzündeten sich diese, daß es war, als säße man mitten im Sonnenherzen. Die außerordentliche Dicke der Außenmauern schützte vor Hitze wie Nordsturm. Wollte aber die Bewohnerin den Weg der Sonne bis zum Untergang verfolgen, so brauchte sie nur die Tür zu dem marmorbekleideten Baderaum nebenan zu öffnen, dann konnte sie die Abendglut weithin über Zypressen- und Olivenhügeln bis zum Monte Morello brennen sehen. In der Dämmerstunde wurde der Zauber fast noch größer. Dann spannte sich ein Sternenhimmel von unerhörter Pracht und Weite aus, und tief unten im Tale entflammte sich ein zweiter Sternenhimmel, die Lichter von Florenz, die zuerst in feuriger Kette den Lungarno entlangliefen, dann einen Straßenzug um den andern erhellten, daß die versunkene Stadt aus ihrem Dunkel wieder herauswuchs, bis sie zuletzt die Colli erstiegen, auf dem Piazzale Michelangelo einen regelrechten Sternenreif bildend. Nie blickte Vanadis auf diese allabendliche Festbescherung hinunter, ohne von einem Schauer der Andacht ergriffen zu werden und von dem glühendsten Dankgefühl für den, der ihr, der Heimatlosen, Umhergeworfenen, eine solche Heimat bereitet hatte. Aber er liebte Dankesworte nicht. – »Laß keine platte Dankbarkeit zwischen uns beide treten«, hatte er ihr einmal sehr ernsthaft gesagt. »Was wir einander geworden sind, das war vorbestimmt, als du zum erstenmal deine kleinen Ärmchen gegen mich ausstrecktest. Wer hat es dir damals beigebracht, daß du einmal meinen Namen tragen würdest? Das stammt von weiter her, als Menschengedächtnis reicht.«

Ausgewählt, abgetönt war auch die Geselligkeit auf Casteldimonte; ihr Stempel war höchste Ausschließlichkeit. Dort eingeführt zu sein, galt für eine Auszeichnung, zu dem engeren Kreise zu gehören, für einen Adelsbrief. Rauschende Feste gab es nicht, aber die beste Musik, die fesselndste Unterhaltung für verwöhnte Geister. Von Frauen wurden nur die seltenen Ausnahmen geladen, die den Anspruch darauf in sich selber trugen. Geputzte und betitelte Nullen, die mit eines berühmten Mannes Namen prangten und seine nicht verstandenen Gedanken als eigene ausgaben, sah man auf Casteldimonte keine. Aber wer irgend geistigen Zuwachs brachte, war willkommen, und die einmal Geladenen waren es für immer. Sie konnten kommen und gehen, wie es ihnen paßte, konnten sich in den weiten Räumen verlieren, sich in der Bibliothek oder dem Gemäldesaal vergraben, sie waren da zu Hause, waren im Mitbesitz alles Schönen.

Unermüdlich war Egon bestrebt, das Denken des jungen Wesens zu klären, sie auf seine eigene Höhe zu heben. Er ließ ihr in goldgepreßtem Leder einen von ihm selbst zusammengestellten Kalender anfertigen, worin jedem Tag ein Goethevers vorangestellt war, unter dessen Zeichen sie den Morgen beginnen sollte. Langsam, schrittweise führte er sie in die Kunstwelt von Florenz ein. – »Übernimm dich nicht«, pflegte er zu sagen, »die Kunst ist lang, sie braucht ein ganzes Menschenleben. Jeden Tag nur ein Bild. Aber das eine tief in die Vorstellung aufgenommen.« – Er belehrte nicht, wo ihr Sinn noch nicht geweckt war, und tadelte nicht, wo sie durch rasche Blendung fehlgriff. »Eine schiefe eigene Meinung bringt die Erkenntnis näher als eine übernommene richtige«, sagte er. Er liebte die Leidenschaft, mit der sie sich ihre Lieblinge wählte. Aus Giorgiones Konzert tönte ihr die schwermütige Musik ihrer eigenen Seele. Die Primavera des Botticelli ging mit ihr wie ein gemaltes Frühlingslied; nie atmete sie die blühende Stille der florentinischen Frühlingsnacht, ohne daß sie die weißen Schleier seiner Grazien wehen sah, und das wogende Duftmeer erinnerte sie an seine blumenstreuende Nymphe. Nur seine Liebesgöttin, die Herrin der florentinischen Blütennächte, hatte ihr nichts zu geben.

Das Verhältnis der Gatten war das gleiche geblieben seit ihrer Hochzeit. Nach der Trauung hatte Egon ihr ein versiegeltes Päckchen übergeben mit der Bitte, es an der ersten Wiederkehr des Tages zu öffnen. Es enthielt eine goldene Kapsel mit dem bezaubernden Jugendbild ihrer Mutter, von dieser selbst ihrem damaligen Verlobten gegeben, das Gegenstück zu der Goldkapsel mit Egons Bild, das ihr die sterbende Großmutter umgehängt hatte. Ein Blättchen von seiner Hand lag bei:

»Ich will es hier wiederholen, daß es nicht wie das gesprochene Wort verweht. Und ich sage es vor dem Angesicht, dem ich für Dein Glück verantwortlich bin. Bis diese Zeilen vor Deine Augen kommen, hast Du auch schon Gelegenheit gehabt, ihre Wahrhaftigkeit auf die Probe zu stellen. Ich nehme Dich nicht an meine Brust, Du edle Blume, um da zu verdorren. Du bist frei, auch wenn Du meinen Namen trägst. Wenn das Übermächtige in Dein Leben tritt, brauchst Du seinem Rufe nicht zu widerstehen. Ich werde immer meinen Schild über Dich halten. Ich selber werde nichts hören, nichts sehen. Der Mann, den Du lieben kannst, wird mein Freund sein, denn Du kannst keinen Unwürdigen lieben. Nur das bedinge ich aus: zerstöre nicht den Frieden des Hauses. Laß keinen Schatten auf meinen Namen fallen. Und gehe niemals von mir, was auch geschehe. Wer sich an Deine Nähe gewöhnt hat, kann Dich nicht mehr entbehren. Dein Weg ist noch lang, der meinige kurz. Wenn ich scheide, magst Du mit einem anderen teilen, was ich Dir zurücklasse. Solange ich lebe, bleibe Du bei mir.«

Der Leserin stürzten die Tränen herunter. Es trat ein, was die Großmutter prophezeit hatte: Je mehr Freiheit du ihr gäbest, desto tiefer würdest du sie in Fesseln schlagen. Alle Versuchungen, die ihren Schritten folgten, versanken ankertief vor solcher Seelengröße. Und von ihm gehen? Sie begriff nicht, wie er auf diese Furcht kommen konnte. Flieht man denn vor dem, was dem Leben Halt und Inhalt gibt? War er nicht wie das Auge Gottes über ihr? War er nicht, wenn er ins Zimmer trat, jetzt wie ehedem, der immer Willkommene, immer Erwartete? Sie war stolz auf ihn, wenn er trotz seiner Jahre leichtfüßig die steile Steintreppe hinabeilte, und sie war stolz auf ihn, wenn im ernsten Männergespräch sein Wort den Ausschlag gab. Nie wurde er für sie im Zusammenleben der Gewohnte, Gewöhnliche. Die letzte Fremdheit, die zwischen ihnen blieb, sicherte die Dauer der Anziehung. Sie sah dem späten Mittagsmahl immer mit einem leisen Verlangen entgegen, weil es die erste Stunde war, die sie vereinigte, wenn nicht der gemeinsame Morgenritt voranging, denn das Frühstück nahm jedes auf dem eigenen Zimmer. Und nie ließ er sich in schlechter Laune vor ihr blicken; er hielt sich dann lieber unter einem Vorwand auf seinem Zimmer oder verschwand auf einige Tage aus der Stadt. In solcher Verklärung, wie sie ihn sah, wollte er für immer von ihr gesehen sein. Wie er alles stilisierte, was er angriff, stilisierte er auch seine Ehe.

Warum kann es nicht anders zwischen uns sein? Leben wir nicht an unserem Glück vorüber? mußte sie zuweilen denken. Aber die tief eingewurzelte verehrungsvolle Scheu, die sie seit den Kindertagen für diesen ersten und ältesten Freund hegte, verhinderte sie, auch nur in Gedanken weiterzufragen. Er konnte ja nichts anderes wollen als das Rechte. Alle Leidenschaft war in ihrem Blute entschlafen, seit dieses Blut bei Edwins Tod gerann, und keine nachfolgende Begegnung hatte es aufgerüttelt. Aber daß man auch lieben kann ohne Leidenschaft, hatte sie im Verkehr mit Oskar empfunden. So liebte sie jetzt den Mann, dessen Namen sie trug, und die Huldigungen, die sie empfing, waren ihr nur lieb, weil sie dadurch in seinen Augen schöner zu werden meinte. Sie ahnte nicht, was er in Wahrheit bei diesen Huldigungen empfand. Wenn sie am Café Doney vorübergingen, wo unter der Tür die jungen eleganten Müßiggänger lungerten, fühlte er die langen Blicke, die ihnen folgten, und er hörte sie in Gedanken Wetten eingehen, wie lange noch die junge Frau dem alten Mann treu bleiben werde. Da er sich vor der Eifersucht fürchtete, die ihn als Hüter eines solchen Schatzes befallen könnte, befliß er sich selbst, ihr auch jüngere Männer vorzustellen, streng gesiebt nach ihrer sittlichen Führung.

Ein einziges Mal in Jahren erwachte für sie der Zauber des Geschlechts. Ein Reisebekannter von ihrer Nilfahrt her, dessen anziehende, sonnverbrannte Männlichkeit von ihr bemerkt worden war, fand sich auf Casteldimonte ein. Sie hatten ihn in Phile getroffen, als Egon sie durch die sterbende Pracht des Tempels führte mit dem Schweigen, das der Tragik solcher todgeweihten Schönheit ziemt, und der junge Mann hatte sich in den Ernst der Stimmung einzufühlen gewußt. Hernach auf der Weiterfahrt kehrte er den witzigen, fesselnden Gesellschafter hervor. Sein häufiges Erscheinen auf Casteldimonte brachte auch dorthin eine bewegtere Luft und unterhielt die junge Frau, bis es sie leise zu beunruhigen begann. In seiner Beflissenheit lag ein stilles, fühlbares Werben, das allmählich wärmere Töne fand. Das verletzte sie für Egon und übte doch einen Reiz. Egon sah es, litt und schwieg.

»Schicke ihn doch weg, wenn er dir mißfällt«, bat sie. – »Er hat dazu keinen Anlaß gegeben.« – »Dein Mißfallen ist Anlaß genug.« – »Das wäre gegen die Abrede.«

So sah sie, um die reine Stimmung zu erhalten, keinen Weg, als sich eine Reihe von Malen vor dem Besucher verleugnen zu lassen, bis er wegblieb. Doch ein Stück Jugend lehnte sich im stillen gegen den Zwang auf, den sie sich selber antat. Ein paar Monate später kam ihr zufällig zu Ohren, daß der junge Mann aus dem adligen Klub als Falschspieler ausgeschlossen worden war und fluchtartig die Stadt verlassen habe. Sie wollte es Egon erzählen, da zeigte sich's, daß er längst von dem Vorgefallenen unterrichtet war.

»Und du schwiegst?« staunte sie.

»Warum sollte ich reden, da du ihn doch schon selber entfernt hattest?«

Sie begriff, daß er auf die Rechtfertigung verzichtet hatte, um sie nicht zu demütigen. Ergriffen kniete sie bei dem Stuhle nieder, wo er saß, und küßte seine Hand: »Du bist gütiger als ein Gott.«

Er riß schnell die Hand zurück, hob ihr Angesicht empor und sagte: »Du bist reiner als ein Bergquell. Aber denke nur nie, daß ich dich in Röhren und Kanälen fassen wolle. Frei sollst du deines Weges eilen, du schöner Sprudel.«

Daß er ihrer Jugend dennoch mit leisem Druck die Richtung vorschrieb, wußte er selber nicht. »Leben wir nicht an unserem Glück vorüber?« fragte auch er sich zuweilen, aber er hatte in sich selbst eine unübersteigliche Schranke aufgerichtet und bemühte sich, das zarte Werben nicht zu sehen, das in der hingegebenen Haltung des jungen Weibes lag. Nur in seltenen Fällen betrat er ihr Schlafgemach, wenn sie sich einmal unpäßlich fühlte und er den Arzt zu ihr begleitete oder wenn für einen Kunstgegenstand, den er ihr schenkte, die passendste Stelle gefunden werden mußte. Noch seltener und nur aus besonderem Anlaß setzte sie den Fuß in das seine, das ein Stockwerk tiefer lag. Sie versenkte sich dann jedesmal in den Anblick des Bildes über dem Schreibtisch, von dem ihr die Großmutter erzählt hatte, ohne es zu kennen: ihre Mutter mit Gunther im Arm als Madonna und ihren Vater und Egon als dienende Hüter unterhalb des Thrones. Doch konnte die Ähnlichkeit nicht groß gewesen sein, es war mehr ein schönes Bild als ein Porträt.

»Ich wollte keine Naturwahrheit«, antwortete Egon auf ihren Einwurf. »So hielt sie den Kopf und so die Hände, du hältst sie ebenso, das genügt der Phantasie. Mit halbgeschlossenen Augen sehe ich deine Mutter in dem Bild. – Will ich sie mit offenen Augen sehen, so blicke ich dich an«, setzte er lächelnd hinzu.

Eine Zeitlang peinigte ihn der Wunsch, sie wieder einmal schlafen zu sehen wie als Kind. Ob sie noch immer so schön schläft wie in ihrem Kinderbettchen? Sie legte den Kopf auf das Ärmchen und lächelte. Gewiß, so lächelt sie wieder. Unschuldige Menschen werden im Schlaf schöner. Die Heuchler und die Verdorbenen entpuppt er. – Eine Innentreppe führte von Egons Ankleideraum gerade vor das Zimmer der jungen Frau. Als die Sehnsucht, sie schlafen zu sehen, immer unwiderstehlicher wurde, stieg er mit Katzentritten vorsichtig die Stufen hinauf und schlich vor die Tür, deren Schlüssel außen steckte. Aber ehe er die Klinke faßte, wich er wieder zurück, als hätte ihm jemand den Weg vertreten. – Armes Kind, dachte er. War's nicht Jammers genug, daß dein eigener leiblicher Erzeuger dich mit unväterlichen Blicken gestreift hat, muß ein anderer armer Narr, der dich sein Kind zu nennen versprach, das gleiche tun? – Er hatte unlängst bei einem Kunsthändler ein Bild gesehen, das ihm nachging: einen Greisenkopf, der hinter einem Türbehang hervorlugte nach einem nackten schlafenden Weibe mit unaussprechlich widrigem Ausdruck, aber erschütternd gemalt. Er hätte das Gemälde gerne gekauft, wäre ihm nicht der Gegenstand zu abstoßend gewesen. Jetzt kam es ihm plötzlich in den Sinn. – Unheil treffe mich, wenn ich jemals ein begehrliches Greisenauge auf die junge Schönheit richte. Wenn sie eines Tages um mich weint, soll ihr mein Bild nicht durch die Erinnerung an welke Greisenküsse vergällt werden. – Leise schlich er zurück, aber nicht so leise, daß die Schlummernde nicht aus ihrem allzu leichten Schlummer heraus sein Kommen und Gehen vernommen hätte unter einem unsagbaren Gemisch der Gefühle.

 

»Nachmittagstee im Hause Burney. Kleiner Empfang, um ein großes Ereignis zu feiern: die Durchreise Liszts. Nur ganz Bevorzugte sind geladen.«

Mit diesen Worten reichte Egon seiner Gattin die Einladung. Vanadis machte große Augen: »Liszt? Lebt er denn noch, der Zauberer? Ich meinte, er spiele sein Klavier längst in den elysischen Gefilden. Du weißt, wie Großmutter ihn verehrte, daß es ihr kein anderer Pianist recht machen konnte. Aber niemals sagte sie mir, daß er noch lebe. Er muß ja hundertjährig sein.«

»Da sieht man, wie jung du selber bist. Er lebt und ist gar nicht so überalt, wie du glaubst. Nur daß du ihn seit den frühesten Kindertagen nennen hörtest, hat ihn dir zur Sage gemacht. Spielen wirst du ihn nicht hören, leider, denn er spielt nicht mehr für Fremde, aber nur sein Gesicht gesehen zu haben, wird einmal eine große Erinnerung für dich sein.«

»Wir nehmen also an?« jubelte sie. »Du fühlst dich nicht müde nach der langen Fahrt?«

Das Ehepaar war erst am Vorabend aus dem Engadin zurückgekehrt, und Egon hatte gleich so viel zu erledigen gefunden, daß er die Durchsicht der wartenden Post auf den Morgen verschoben hatte.

»Ich müde? Du weißt, daß ich niemals müde bin«, antwortete er etwas ärgerlich, denn er liebte es nicht, wenn eine solche Möglichkeit in Betracht gezogen wurde. Er war in der Tat von erstaunlicher Zähigkeit und wurde anscheinend immer jünger. Sie sagten ihm nach, daß er von seinem Verkehr mit östlichen Weisen ein untrügliches Verjüngungsmittel mitgebracht habe. Dem war auch so, nur daß die Anwendung nicht in den Händen des Kammerdieners lag. Das dauernde innere Gleichgewicht, das er sich errang, war sein Verjüngungsmittel. Und die unerbittliche Regelmäßigkeit, womit er in den Vormittagsstunden seine leiblichen und geistigen Übungen durchführte, hielt beides, Leib und Geist, in Schwung. Weil die junge Frau sich in den ersten Jahren über diese Ausdauer wunderte, erzählte er ihr einmal von einem Olympiasieger, den ganz Hellas verehrte. Aber als der Gefeierte einer mehrwöchigen Reise wegen seine Übungen unterbrechen mußte, büßte er seine Gelenkigkeit ein, und um seinen Ruhm nicht zu überleben, tötete er sich. Seit sie diese Geschichte gehört hatte, half sie Carlo darüber wachen, daß er nie am Vormittag in seinen Übungen gestört wurde.

Als sie bei Burneys eintraten, fanden sie eine kleine Anzahl Bekannter, die in Gruppen umherstanden oder auf den mitten im Raume verteilten Ottomanen Platz genommen hatten. Es wurde nur flüsternd gesprochen in der feierlichen Stimmung Wartender, denn der Vergötterte ruhte noch nach den Mühen eines anstrengenden Vormittags und der lange ausgedehnten Mahlzeit im Haus der Gastfreunde. Endlich trat er ein, von der Hausfrau schon an der Tür in Empfang genommen, ein vornehmer Weltgeistlicher, groß, aufrecht, in schwarzen Strümpfen und Schnallenschuhen, mit dem wallenden weißen Haar und den berühmten Warzen in dem übergroß geschnittenen Gesicht, ganz so wie ihn seine Bilder zeigten. Egon ließ den ersten Andrang vorübergehen, ehe er sich näherte, dann wurde er mit einer Herzlichkeit begrüßt, die Vanadis überraschte. Es war eine der Feinheiten seiner Natur, daß er, der alle Großen seiner Zeit kannte, nie von einem berühmten Mann als einem ihm Befreundeten sprach, sondern es immer dem andern Teil überließ, die nähere Beziehung zu betonen. Er stellte seine junge Gattin vor. Ein staunender Blick, vor dem sie bescheiden die Augen senkte.

»Die Enkelin unserer alten Freundin van der Mühlen«, setzte Egon hinzu.

Da ging ein Glänzen über das Gesicht des alten Mannes. »Oh – Ihre Großmutter war eine entzückende Frau. Halb Europa lag ihr als junger Gesandtin zu Füßen. Und ihr Mutterwitz! Wie oft hat sie uns mit ihren Einfällen erfrischt, es war, als springe ein Waldquell mitten herein in die Gesellschaft, daß alle die Tropfen abschüttelten. Hat sie sich noch etwas von ihrem Schmelz bewahrt in den höheren Jahren?«

»Sie war bis zu ihrer letzten Stunde jünger als ihre Enkelkinder.«

»Sie war unter dem Venusgestirn geboren; was sie angriff, blühte«, antwortete er lächelnd.

Andere drängten herzu, das Solmarsche Ehepaar trat zurück und mischte sich unter die Geladenen. Nach einer Weile trat die Hausfrau freudeglühend zu Vanadis und flüsterte ihr ins Ohr:

»Er spielt schon lange nicht mehr für Fremde. Aber heute will er eine Ausnahme machen. Er läßt Ihnen sagen, er spiele nur für Sie und für noch eine, deren Andenken er in Ihnen verehre.«

Eine Tür wurde geöffnet und die Gäste gebeten, in das Nebenzimmer zu treten, wo der große Flügel stand.

Viel hatte Vanadis von der Besonderheit des Lisztschen Spieles gehört, aber sich nichts darunter denken können. Jetzt verstand sie. Das war kein Klavier, kein Ding aus Holz und Saiten, es war ein fremdes, wundersames Tier, das sang. Ein Magier bezauberte es durch sein Berühren, er streichelte es, daß es singen mußte, er zwang es durch herrischen Druck. Aus seinen Fingerspitzen strömte Musik wie ein Fluidum und übertrug sich den lebendig werdenden Tasten, die ihm entgegenwogten. Ja, er selbst war eins mit diesem Tier, ein Zentaur, der die eigene Mähne streicht. Im Spiele Liszts wurde Mozart erst ganz Mozart. Das war goldener Sonnenstaub über einer Feenlandschaft, Gewitterschauer, wobei es Perlen regnete. Mitten in dem Perlenregen tanzte die Jugendgestalt der Großmutter im tief ausgeschnittenen Schnebbenleib mit den kunstvollen Menuettschritten und den tiefen Knicksen, womit sie noch vom Leben Abschied genommen. Gewiß hatte der alte Zauberer den holden Geist mit Bewußtsein beschworen. Die Entzückte suchte Egons Augen, er nickte ihr zu, als ob auch er die Erscheinung wahrnähme, die noch einmal zierlich in ihren Röcken untertauchte, ehe sie versank.

Auf dem Heimweg kam die junge Frau gar nicht aus dem Taumel: dieser Mann! Das war ja nicht nur ein großer Musiker, er war die Musik selber, die menschgewordene, er war Orpheus, welcher der Welt erst die Beseelung durch den Rhythmus brachte. Man hatte nur halb gelebt, bevor man wußte, daß es einen solchen Menschen gab.

Egon stimmte in allem zu; diese Hingerissenheit für den greisen Meister, der so viel älter war als er selbst, hatte ihm etwas Heimlich-Tröstliches.

»Der alte Schlangenbeschwörer hat seine Macht über Frauenherzen noch nicht eingebüßt«, sagte er lächelnd zu Vanadis.

»Diese Macht ist nicht an das Lebensalter gebunden«, antwortete sie, seine Hand drückend.

Der Wagen rollte durch eine enge Gasse in der Nähe von Santo Spirito. Da sah Vanadis einen schlanken jungen Mann aus einem dunklen Haustor treten. Es war Goffredi, der seit einiger Zeit in Florenz arbeitete und, wie sie wußte, irgendwo bei Santo Spirito eine Werkstatt innehatte. Er erkannte die Vorüberfahrenden nicht, weil er den Kopf nach einer hohen, sehr aufrechten Frauengestalt zurückwandte, die ihm mit vorsichtigem Zögern folgte und beim Vorüberrollen des Wagens in das Dunkel zurücktrat. – Ein Modell aus guter Familie, das nicht gesehen werden will, dachte die junge Frau im Wagen. Aber etwas an dieser Erscheinung mit dem dunklen Haar unter dem hellen Sommerhut erschien ihr bekannt und erinnerte doch an keine Gestalt aus ihrer Umgebung. Da überkam sie's plötzlich: Corinna! So wie diese Unbekannte trug Corinna den Kopf, sie gleichen sich auch in den Körpermaßen und in der Bewegung. Lange schon war ihr diese Freundin und Führerin ihrer Jugend ferngerückt, sie nahm sich nun vor, ihr ganz gewiß morgen zu schreiben. Dem eben zur Seite schauenden Egon war die Begegnung entgangen.

Noch lange in dieser Nacht umwogte sie das Tonreich Liszts, als reine Musik, wie sie aus dem Kosmos strömt, ohne das rohe Mittel irdischer Werkzeuge. Aber beim Aufwachen war ihr erster Gedanke: Corinna! – Ja, sagte sie zu sich selber, noch heute morgen schreibe ich ihr.

Während sie dabei war, den Vorsatz auszuführen, wurde ihr zur ungewohnten Stunde eine Karte überreicht – nur Auswärtige wählten den Vormittag zu Besuchen. Sie las und flog der Ankommenden auf der Schwelle entgegen: »Da sieh, an wen ich soeben schrieb. Gestern hatte ich eine Geisterbotschaft, die dein Kommen ankündigte: ich sah im Zwielicht eine Gestalt, die dir glich, und heute erscheinst du selber!«

Corinnas Gesicht, das die südliche Sonne schon gebräunt hatte, färbte sich um einen Ton dunkler. »Keine Geisterbotschaft«, sagte sie schnell, »ich war es wirklich. Unser Freund Goffredi hatte mich gebeten, sein neues Tonmodell zu besichtigen. Darüber wurde es spät. Künstler finden ja kein Ende über künstlerische Dinge.«

Sie lachte wie ehedem am Ende des Satzes kurz auf, aber ihr Lachen klang minder hart als früher.

»Wie kam es, daß du den Lucchesen früher sahst als mich?«

»Wir machten zufällig die Reise zusammen, da half er mir bei der ersten Ankunft. Es hieß, ihr seid im Engadin.«

»Welch ein Glücksstern waltet seit zwei Tagen. Gestern durfte ich Liszt spielen hören. Denke dir, Liszt! Er ist hier, er wohnt bei Freunden. Und für mich hat er gespielt. Nein, nicht für mich, zum Andenken von Großmutter, die er verehrt. Danach dürfte man für lange Zeit keine Wünsche mehr haben. Und nun steht heute Corinna vor mir!«

Corinna lächelte wie verträumt, ohne auf die Trunkenheit der Freundin einzugehen.

»Jetzt aber ziehst du gleich zu mir herauf«, meinte diese.

»Verzeih, ich male in den Uffizien. Da war es mir von Wert, ein schönes Zimmer ganz in der Nähe zu bekommen. Ich hab' es gut getroffen: der Arno fließt unter meinem Fenster, und ich sehe schräg nach dem Ponte vecchio hinüber. – Welch eine Welt«, setzte sie andächtig hinzu. »Und so lange mußte es dauern, bis ich sie kennenlernte.«

Seltsam, Corinna war älter geworden und hatte sich zugleich verjüngt. Von ihrer Stirn lief ein wohl drei Finger breiter weißer Streif über den dunklen Scheitel und durchwand auch noch den schön geschlungenen Haarknoten. In der Schildpattspange, die diesen im Nacken hielt, wiederholte sich der gleiche reizvolle Farbenübergang von rötlich schimmerndem Kastanienbraun zu mattem durchscheinendem Weiß. Der weiße Streif milderte das Männliche ihrer Züge, und der Abschluß durch die Spange vollendete den schönen Kopf ins Weibliche. »Corinna ist eitel geworden«, sagte die jüngere Freundin lächelnd. »Wie lieb' ich das an ihr. Es nähert sie uns andern, geringeren Evastöchtern an. – Aber komm, daß ich vor allem deinen Augen zu trinken gebe.«

Sie öffnete alle Läden, daß der Blick ungehindert in die Runde ging, und nun wurden alle die steinernen Ewigkeitsgebilde in der Stadt und auf den Hügeln nach Lage und Namen festgestellt. Vieles war der Besucherin schon bekannt, man sah, daß sie ihre Zeit genutzt hatte. Dann wandte sich die Bewunderung dem Innenraum zu. Keiner von all den ausgesuchten Gegenständen, die ihn füllten, entging dem geschulten Auge. Am meisten fesselten sie natürlich die Bilder. Mit dem Tizian war sie ziemlich bald fertig. »Er ist ein Gott«, sagte sie, »aber ein Gott kann einem Wurm wie mir nichts geben. Er erschlägt mich mit seiner Vollendung.«

Dann stand sie lange vor einer Anzahl ungerahmter Skizzen und halbfertiger Bilder in dem tieferen Teil des Zimmers, zu dem zwei flache, teppichbelegte Stufen hinabführten. Denn das Schlafzimmer hatte die reizvoll-eigensinnige Besonderheit, daß der kleinere, nach Süden blickende Vorderraum, den ein niedriges vergoldetes Gitter einfaßte, etwas erhöht lag, so daß der Blick frei durch das Südfenster fiel, während die beiden anderen Turmfenster auf steinerner Stufe erklommen werden mußten. Die Bewohnerin empfand es als Vorzug, nicht die ganze Pracht des Rundblicks ununterbrochen vor Augen zu haben, sondern sich in ihr Inneres zurückziehen zu können, ohne die Läden zu schließen. Deshalb stand ihr Schreibtisch nebst der kleinen Handbibliothek, den Freunden ihrer Jugend, in dem größeren unteren Raum, den das Fenster von oben her erhellte und der mit kostbarem, stilgerechtem Hausrat ausgestattet war. Den Vorderraum mit der prunkvollen Schlafstätte, deren kronenartigen Baldachin der goldene Reigen des Tierkreises schmückte, benutzte sie nur zum Schlafen; sie meinte dann im Sternenschein über der Erde zu schweben. Corinna ging von einem der aufgehängten Bilder zum andern, immer wieder zurückkehrend, bald vor- bald rückwärts tretend, unersättlich schauend. »Ich frage nicht, von wem sie sind«, sagte sie. »Ich kenne die Hand, die das gemacht hat, vielmehr: die es gewollt hat, denn noch ist nichts Erreichtes da, nur Anweisungen auf eine Zukunft von größtem Ausmaß. Hast du denn nie wieder etwas von dem Unglücklichen erfahren?«

»Niemals. Ich habe seine Bilder kommen lassen und hier aufgehängt, gegen meines Mannes Wunsch, damit sie mich täglich an meine Schuld gegen ihn, daß es mir nicht gelungen ist, ihn zu retten, mahnen sollen.«

»Hast du denn Schritte getan?«

»Immerzu. Mein Bruder Enzio, der ebenso wie Bruno jedes Jahr seinen Urlaub mit uns verbringt, erläßt schon lange in kurzen Abständen in den gelesensten Weltblättern auf deutsch, englisch und spanisch immer den gleichen Aufruf: Roderich, kehre heim! Du hast keine Blutschuld. Komm in dein Elternhaus!«

»Wieso ›keine Blutschuld‹?« fragte Corinna. »Ist denn der Mensch nicht auf dem Platz geblieben?«

»Er lebt und kann seinen Richtern danken. Sie haben ihn wegen des Mordes an dem armen Clown freigesprochen – als in Notwehr befindlich. Hat dir denn Goffredi nichts davon erzählt? Er weiß es am besten.«

»Kein Wort.« – Corinna wollte aufbrechen, wurde aber durch die Bitten der Freundin bestimmt, zu Tisch zu bleiben. Man setzte sich wieder auf dem niederen Diwan, Carlo brachte ein Tablett mit Backwerk und eingemachten Früchten.

»Und das verschleierte Bild?« fragte die Malerin. »Darf ich es nicht auch sehen?«

Vanadis erhob sich und zog die grünseidene Kordel. In schwerem Goldrahmen standen zwei Gestalten einander zugewandt, nur in halber Höhe, aber so ausdrucksvoll, daß man sie ganz zu sehen meinte. Er, ein großartig geschnittener Jünglingskopf unter dem Helm, hielt einen nackten, sinkenden Mädchenkörper aufrecht und blickte mit einem unsagbaren Ausdruck von Rührung, Leid, Reue ganz nahe auf sie herab. Die ganze Erlebniskraft einer starken Seele war in dem Blicke gesammelt. Das Mädchen, das ein Köcherriemen als Amazone bezeichnete, mit einer breiten Wunde in der Brust, lag ihm schlaff im Arm, man fühlte, daß die Knie eingebrochen waren, die Arme hingen ihr herunter in der beginnenden Willenlosigkeit des Todes. An der Haltung des Rumpfes erkannte man noch, daß ihr Kopf zu ihm emporgerichtet gewesen und daß ihr letzter Blick dem seinigen begegnet war. Der Kopf jedoch fehlte, an seiner Stelle war ein ovales Loch in der Leinwand: der Künstler hatte ihn herausgeschnitten.

Corinna stand mit weitoffenen Augen, atemlos. »Welch eine Pracht! Und welch ein Jammer«, sagte sie leise. »Verstehst du, was er mit dem Bild wollte und warum er es zerstört hat?«

»Du erinnerst dich«, antwortete Vanadis, »daß er einmal in den Jahren seiner Höllenbruegelei eine Amazonenschlacht radiert hat, wo ein Krieger im Vordergrund auf unmenschliche Weise eine gestürzte Reiterin tötet? Er bekam viel über das Bild zu hören und gestand später, daß er es bloß gemacht habe, um mich zu ärgern – du weißt ja, unser alter Kinderkrieg. Er wollte immer einmal die böse Tat gutmachen. Nun hat er, wie es scheint, kurz vor der tragischen Katastrophe die todwunde Penthesilea im Arm des trauernden Siegers gemalt. Warum er den Kopf zerstörte, weiß ich nicht.«

»Der alte Herr da«, antwortete Corinna auf den Tizian deutend, »braucht sich dieses Gegenübers nicht zu schämen.«

Sie blieb lange vor dem Bilde stehen. »Je länger ich hinsehe«, sagte sie, »desto mehr erinnert mich Bau und Rhythmus der Glieder an dich, wie dich oft als Najade unser Flüßchen sah.« Vanadis schwieg. Es war ihr fremd und beklemmend, dieses Bild zu zeigen, als ob sie etwas preisgäbe, das zu ihr allein sprechen sollte. Egon hatte es nie gesehen, noch zu sehen verlangt.

»Vielleicht hat er kein richtiges Modell für den Kopf gefunden«, meinte Corinna, »und hat in einem Anfall von Unmut, was ihn nicht befriedigte, zerstört. Solche Launen kommen bei Künstlern vor.«

»Kann sein«, antwortete Vanadis, die wußte, daß Roderich mehr nach seinen Einfällen als nach der Natur arbeitete, und zog den grünen Vorhang wieder zu.

In einer dem Speisesaal vorgebauten Loggia, zu der von außen die späten Rosen heraufkletterten, war unter hohen Kübelpflanzen der Tisch für drei Personen gedeckt. Der Gast staunte im stillen über den vornehm-unaufdringlichen Luxus des Tafelgeschirrs und des Silberzeugs, über die hingestreuten Spätherbstveilchen. – So speisen nun die beiden alle Tage, dachte sie. Märchenhaft!

Während der Mahlzeit war Egon die Verbindlichkeit selbst. Corinnas Besuch versprach ihm bereicherte Stunden für Vanadis, und er konnte so wenig wie diese begreifen, daß sie die Gastfreundschaft seines Hauses ausschlug: man könnte sie ja doch leicht jeden Tag im Wagen nach den Uffizien bringen und wieder abholen lassen. Aber die Malerin war nicht zu überzeugen. Beim Nachtisch wurde dem Hausherrn ein verschlossener Umschlag überbracht. Er sagte erfreut:

»Ich kann den Damen für heut abend etwas Außerordentliches bieten. Ich habe einen Logenschlüssel für das Teatro Nicolini bekommen. Nur durch Zufall war er noch zu haben, weil heute der große Tommaso Salvini auftritt.«

»Wer ist das?« fragten die Frauen.

»Der größte Bühnenkünstler unserer Tage in seiner größten Leistung, dem Othello. Ich habe Salvinis Stern durch mehr als drei Jahrzehnte verfolgt. In allen europäischen Hauptstädten, wo er mit seiner Truppe erschien, war ich unter seinen treuesten Zuschauern. Seinen Othello hab' ich wohl dreißigmal gesehen, und er war mir immer wieder überraschend. Wer sollte es glauben – dieser große Künstler hat sich auch nicht einmal wiederholt. Immer erlebt er die Othello-Tragödie in sich selber frisch und neu, doch immer mit der gleichen Urgewalt, mit derselben Wildheit und Zartheit. Aber Worte können den Eindruck nicht wiedergeben. Man muß ihn selbst gesehen haben, um an solche Kunstgröße zu glauben.«

Vanadis zweifelte, ob es wohlgetan sei, den gestrigen Eindruck gleich durch einen neuen, überwältigenden zu erschlagen. Aber Egon redete ihr das Bedenken aus, indem er sagte, alle große Kunst sei eine. Corinna jedoch lehnte bei beider Enttäuschung den angebotenen Platz in der Loge ab, weil sie anderweitig gebunden sei. Die Freundin drang in sie, und auch Egon riet, eine so einzige Gelegenheit nicht zu versäumen, da der Künstler nur kurze Zeit in Florenz bleibe und der Othello wohl kein zweites Mal auf dem Spielplan erscheinen werde; ob sich denn das Geschäft nicht verschieben lasse?

»Leider nein«, war die Antwort. Dann stockte die Sprecherin. Ein an ihr ganz ungewohntes Erröten ging über die herben Züge, und wie wenn sie sich des »Leider« als einer Unwahrheit schämte, verbesserte sie sich schnell: »Es läßt sich durchaus nicht rückgängig machen.«

Der Hausherr hatte den winzigen Zwischenfall nicht beachtet, aber zwei Frauenaugen senkten sich ahnend und staunend in ein Frauenherz.

 

Ein königlicher Mann stand vor den Stufen des Dogenthrones. Kein Mohr, ein Sarazene im Turban und weißen Mantel, stolz und ritterlich. Die gebietende Gestalt schon etwas ausgefüllt, wie es dem Alter des Mohren entsprach, aber stählern biegsam. Die Maske war wunderbar. Die dunklen Augen im Weißen rollend, das von der braunen Haut abstach, warfen Funken, ihr Feuer war unverlöschliche Jugend eines schon leise sich neigenden Lebens. Jede Gebärde Würde, Adel, verhaltene Glut und schwingende Kraft. Juwelen blitzten an der Hand und im Gürtel, auch sie gehörten zu diesem Mann. Nun erhob er die Stimme, eine dunkle, von Blitzen durchzuckte, die vielleicht noch die größte Mitgift seiner Kunst war. Selbstbewußt, doch ohne Überhebung, erzählte er von der Liebe der edlen Patrizierstochter zu ihm, dem Mohren, dem Kriegsmann, von ihrem leisen Werben, das sein Zögern überwand. Als er sagte: »Da sprach ich«, waren alle Frauen eine einzige Desdemona, Egons Gattin mit ihnen. Dann kam die Nacht im Feldlager. Blaß schimmerte das Zelt des Befehlshabers im Hintergrund. Vorn zanken sich zwei Offiziere inmitten der Kameraden, die vergeblich beschwichtigen. Die Klingen kreuzen sich. Eine Frau im Nachtgewande, Desdemona, sucht sie durch Bitten auseinanderzuhalten. Da flattert die Zelttür auf, ein Blitz, der von dem Säbel des Mohren flammt, mit Tigerschnelle hat er sich auf die Streitenden gestürzt und sie getrennt, seine Befehle donnern durch den Raum. Mit dem nächsten Griff hat er die weiße Gestalt hoch auf dem Arm: »Komm, du Süße – Gute Nacht, ihr Herrn«, und trägt sie ins Zelt zurück.

Die Hörer waren von Sinnen, sie rasten, sie trampelten. Vanadis stürzten die Wonnetränen aus den Augen: »Er ist übermenschlich. Worte sprechen es nicht aus, was er mir gegeben hat. Ich möchte seine Hand küssen.«

»Ich will dich mit ihm bekannt machen«, lächelte Egon gütig, »dann küßt er sie dir.«

Die Logentür ging auf, ein Herr aus dem florentinischen Hochadel, der zu dem engeren Kreis von Casteldimonte gehörte, erschien, Baron und Baronin Solmar zu begrüßen. Die beiden Herren stimmten überein, daß Salvinis Kunst noch immer im Wachsen sei.

»Nur seine Truppe«, setzte Egon hinzu, »läßt wieder einmal viel zu wünschen.«

»Das ist das Verhängnis unserer italienischen Bühnenkunst, daß wir kein stehendes, staatlich gestütztes Theater haben«, antwortete der Florentiner, »und daß darum jeder große Schauspieler sich selber seine Truppe zusammenrafft, wo er sie findet und – so wohlfeil er sie findet.«

Erst bei diesen Worten kam es Vanadis zum Bewußtsein, daß alle Mitspieler erbärmlich waren und daß besonders Desdemona dastand, als ob sie aus Werg und Lappen gefertigt wäre. Aber das störte sie nicht, sowenig wie die Erkenntnis, daß die ganze Dichtung in barbarischer Weise auf die gedrängte Wirkung eines einzigen Schauspielers zusammengestrichen war, denn sie sah und hörte doch nur diesen einen.

»Wissen Sie noch, Marchese, jenen großen Abend, wo die Ristori, Salvini und Cesare Rossi zusammen auf der Bühne standen? Ein Dreigestirn, wie wir keines mehr sehen werden.« Die beiden älteren Herren vertieften sich in ihre Erinnerung und waren einig, daß mit Salvini die große Kunst zu Ende gehe. »Der Nachwuchs«, sagten sie, »sucht statt der Kunst die Künstelei, oder sie stürzen vor lauter Naturalismus in die Unnatur.« – »Aber jetzt nehmen Sie Ihre Nerven fest in die Hand, Donna Eugenia, Sie werden auf eine harte Probe gestellt werden«, sagte dann der Besucher, sich beim ersten Klingelzeichen erhebend.

Das erste Schleichen des Giftes durch die Adern des Mohren begann. Sein erster Zweifel an ihr und wie er sich noch gegen Jagos Verruchtheit wehrt. Da fällt ihm ein, daß er sich ja schon auf der absteigenden Bahn des Lebens bewegt: Ma non tanto. Dieses non tanto, womit der Unglückliche sich zu beruhigen sucht und doch sich selber nicht glaubt – das ging durch Mark und Bein. Plötzlich lag er mit einem Raubtiersatz auf dem Leib des röchelnden Jago und drückte ihm die Kehle zu. Vanadis hielt sich mit beiden Händen an der Logenbrüstung fest, das Miterleiden wollte sie in Stücke reißen. »Fassung! Fassung!« sagte Egon leise. »Gleich wird es noch schlimmer kommen.«

Die Tür des Schlafgemachs öffnete sich, der unselige Mörder, der sich für den gerechten Richter hält, schleicht an das Bett der todestraurigen Desdemona. Soeben hat sie ihr Schwanenlied vollendet: »Singt Leide, Leide« – da ist der tollgewordene Geliebte über ihr her. Sein schauerliches Raunen, ihr Flehen, ihre Unschuld, kaum hielten die Nerven der Hörer stand. Es wurde damals in Florenz erzählt, daß der Künstler einmal in der Raserei des Spiels seine Partnerin wirklich getötet habe. Man konnte es glauben, wenn man ihn sah, sein Spiel ging hart bis an die letzten Grenzen der Kunst.

Zum Schluß überschritt er diese. Wie er sich die Gurgel buchstäblich absäbelte und dann am Boden scheinbar verendet noch einmal mit den Füßen zappelte, war keine Kunst mehr, sondern ein Stück rohes Leben.

Egon schüttelte den Kopf: »Das ist mir neu an ihm. Ein Zugeständnis an den Zeitgeschmack. Schade. Dafür müßte Tommaso Salvini zu hoch stehen.«

Aber die Jugend an seiner Seite erhob keine Ausstellung, sie war dem gemeinen Dasein entrückt. Sie schloß in dieser Nacht kein Auge. Auch Liszt und Mozart verblaßten in dieser Erschütterung. So nahe war ihr nie das Dämonische der großen Kunst gekommen. Shakespeare, Salvini, der Mohr, sie waren ihr zu einer Person geworden, hoch über Menschenmaß. Staunend sann sie den Wegen des Schicksals nach: Wenn ich jetzt eine braune Farmerin im Westen wäre, so säßen vielleicht schon ein paar wilde Jungen neben mir im Sattel, aber von einer solchen Herrlichkeit hätte ich nie etwas geahnt.

 

Es war ein hoher Tag für die junge Schloßfrau, und ihr Herz ging in zitternden Schlägen, als der Gefeierte Egons Einladung annahm und zum Frühstück auf Casteldimonte erschien. Als er ihr die Hand küßte, wäre sie am liebsten vor ihm niedergekniet, hätte sie nicht vor allem Theatralischen Scheu getragen. Und nun gar diesem Manne gegenüber, vor dem ihr nur stumme Ehrfurcht am Platze schien!

Auch Corinna nahm teil an seiner Gegenwart und begann zu ahnen, was sie versäumt hatte. Denn der große Künstler war auch im Privatleben eine Persönlichkeit, und der Zauber seiner Stimme ging mit ihm. Es gab in Florenz Menschen, die sich auf der Straße heimlich an seine Fersen hefteten und hinter ihm in jede Verkaufsstelle, jedes Kaffeehaus traten, nur um ihn sprechen zu hören.

Er äußerte sich bei Tisch über die Schauspielkunst und beklagte, daß das Sprechen von den jungen Künstlern nicht mehr gehörig gepflegt werde. – »Die ganze Kunst steckt im richtigen Aussprechen des Wortes«, sagte er, »es hat seinen Gefühlswert schon in sich, und dieser zieht die Gebärde nach, alles ist gegeben, alles ist da, der Künstler darf es nur herausholen.«

»Ja, mein verehrter Meister, das sagte Michelangelo vom Steine auch«, bemerkte der Herr des Hauses. »Aber nicht jeder, der in den Stein haut, ist ein Michelangelo.«

Der Künstler bescheinigte die versteckte Schmeichelei durch ein angenehmes Lächeln.

Nach Tisch, da die herbstliche Sonne warm, aber nicht lästig war, durchschlenderte man den Park, den Egon unter Benutzung der ursprünglich viel bescheideneren Anlage in großem Stile umgeschaffen hatte. Von dem breiten Kiesplatz, der der schönen doppelten Freitreppe vorgelagert war und zur Einfahrt diente, über den weiten, jetzt wieder frischgrünen Rasenplatz, den von der einen Seite eine Brustwehr mit alten Steinfiguren, von der anderen die lange, schattende Zypressenallee einfaßte, stieg man über schöngelegte Mosaikstufen zur zweiten Terrasse mit dem großen achteckigen Wasserbecken hinab, worin ein Sprühstrahl in die Höhe stieg; der Sockel, der den plastischen Schmuck tragen sollte, stand noch leer, denn Goffredis Triton hatte schließlich dem Besteller nicht gefallen. Lorbeerbäume, in Kugelform geschnitten, umstanden im weiten Kreis das Becken, Kübel mit Zitronenbäumchen, auf breiten gemauerten Pfeilern ruhend, schlossen den Hintergrund ab, von dem es jäh in die Tiefe ging. Von dort aus betraten sie einen Kiesweg zwischen sauber geschnittenen dunklen Lorbeerhecken, zu deren Füßen sich trotz der späten Jahreszeit rechts und links ein mehrfarbiges breites Blumenband hinzog. Die Herren gingen plaudernd und rauchend voran, die Frauen folgten stumm, vom Zauber umsponnen. Vanadis verglich mit den Augen die beiden Männer vor ihr. Egons schlanker Wuchs, seine leichte, vornehme Haltung erschienen heute ein wenig schwächlich, fast unbedeutend neben dem Gast. Dieser mochte der ältere sein, aber er warf die Schwere seiner Körperlichkeit mit jeder dieser schwingenden Bewegungen von sich. Sie dachte an seine vulkanischen Ausbrüche auf der Bühne und fragte sich, ob wohl auch er so väterlich neben einem jungen Weibe wohnen könnte. Das Frage- und Antwortspiel zwischen Emilia und Desdemona kam ihr in den Sinn: »Tätst du solch Unrecht um die ganze Welt?« – »Nicht um die ganze Welt tät' ich solch Unrecht.«

Vor einem Rosentor machte der Gast bewundernd halt. Hier schloß ein altes, aus der früheren Umfassung stammendes Gemäuer, das jetzt den neuen Garten in zwei ungleiche Hälften teilte, aber an vielen Stellen durchbrochen oder abgetragen war, mit einem Torbogen ab. Diesen hatte der Gärtner zum Träger einer Rosenfülle gemacht, die im Herbst zum zweitenmal blühte und die auch, an den sinnvoll erhaltenen Mauerresten, einen einzig schönen Wandbehang bildete.

»Nie sind sich Zufall und Wille schöner begegnet«, sagte der Künstler. »Es gibt ein entzückendes Bild. Das graue wetterfeste Gestein und diese Rosenpracht, der es seine Stütze leiht und sich dafür von ihrer dankbaren Fülle überschütten läßt. Es ist wie ein Liebesbund zwischen holder Frauenblüte und reifer, schirmender Männlichkeit.«

Er sprach die letzten Worte mit der leichten Emphase, die den tragischen Darsteller nie ganz verläßt.

»Wie zwischen Desdemona und Othello«, schaltete Vanadis ein, der noch immer das Herz klopfte, wenn sie zu dem Bewunderten sprach.

»Wie zwischen Donna Eugenia und dem Schöpfer aller dieser Schönheit«, ergänzte dieser. Er ergriff mit leichtem Schwung eine der hoch herabhängenden Ranken und brach die vollkommenste der eben erschlossenen Rosen, um sie ihr zu reichen. Sie steckte sie an ihre Brust. – »Welche ist nun die schönere?« fragte er lächelnd.

Nach einem Gang durch die Warmhäuser mit der Pracht ihrer tropischen Zöglinge führte Egon den Gast mit einer gewissen Feierlichkeit in das Glanzstück seiner Gartenkunst, das Orchideenhaus. Er zog seit langer Zeit diese Wunderblüten, pflegte sie aber wie üblich durch Ableger zu vermehren. Nun hatte er vor etlichen Jahren in Holland gesehen, wie durch Samenkreuzung neue Arten gezogen werden können, und hatte auf dem Tauschweg etwas von dem kostbaren Samen, der mit Geld nicht zu kaufen ist, erstanden, wonach er sich mit dem größten Eifer das schwierige und umständliche Verfahren zu eigen machte. Ein besonderes Laboratorium hatte er sich zu diesem Zwecke bauen müssen, und er verbrachte seitdem viele Stunden des Tages bei der zeitraubenden, nur mit äußerster Peinlichkeit durchzuführenden Sterilisierung der Nährsubstanz und der endlichen, nicht minder umständlichen Einfüllung des Samens in die Glaskolben. Dann wartete er monate-, jahrelang mit ebensoviel Umsicht wie Ausdauer auf den Erfolg. Es war ein Fest, wenn endlich ein leichter grüner Schleier im Glas das Keimen des Samens anzeigte. Egon fand nicht leicht ein Ende, wenn er auf seine Orchideenzucht kam, und die junge Frau bangte, ob er nicht mit seiner Ausführlichkeit dem hohen Gast beschwerlich falle, aus dessen gespannter Miene sie nicht erraten konnte, ob seine Aufmerksamkeit echt oder gespielt sei. Als ihnen aber eine armlange Cattelayenrispe mit einer Fülle lilafarbener Blüten wie angeflogene Schmetterlinge entgegenleuchtete, entfuhr dem Künstler ein Ausruf entzückten Staunens. Vanadis befragte mit raschem Blick ihren Gatten. Seine Augen bejahten, da löste sie mit flinkem Scherenschnitt die Rispe und reichte sie dem überraschten Gast: »Mein Gegengeschenk, es hält sich monatelang frisch.«

Danach ließ man sich in einem Tempelchen nieder, das einem Mauervorsprung eingebaut war. Der Herr des Hauses braute selbst den türkischen Kaffee, eine feierliche Handlung, die er niemals andern Händen überließ.

Von hier aus hatte man den schönsten Blick über die Stadt. Nirgends stellten sich ihre drei Wahrzeichen ausdrucksvoller zusammen: die Kuppel Brunelleschis und der schöngeschmückte Campanile, damals noch nicht von der überladenen Domfassade niedergeschrien, dann etwas abseits die mittelalterliche Masse des Palazzo vecchio mit dem schlanken Turm, der leicht und kühn in zweimaligem Anlauf emporsteigt wie eine Blume auf hohem Stengel, deren Kelch aus sich selbst einen zweiten, noch schöneren Kelch in die Höhe treibt.

Man sprach wieder vom Theater, weil ein Schauspieler nicht lange von anderem sprechen kann.

»Ich trete morgen als Hamlet auf«, sagte der berühmte Gast. »Sie müssen kommen und mich sehen. Ich lege großen Wert auf Ihr Urteil über meinen Hamlet. Bei euch Nordländern steht ja die Meinung fest, daß kein Romane diese Rolle spielen könne. Es fehle die innere Zerspaltenheit, wird behauptet. Ich schmeichle mir, dieses Vorurteil widerlegen zu können. Gerade der Hamlet hat mich immer aufs neue beschäftigt, und ich glaube tief genug eingedrungen zu sein in die Zerfahrenheit dieses Geistes, der von der ungeheuren Entdeckung erdrückt wird und sie doch nicht in ihrer schrecklichen Wirklichkeit sich zu eigen machen kann. Kommen Sie morgen, ich werde für Sie allein spielen, und ich fühle, ich werde besser sein als je.«

Natürlich ging man in den Hamlet. Salvini blieb auch in dieser Rolle der Künstler größten Stiles, aber die nordischen Gäste dachten sich den Dänenprinzen noch anders: tastender, hilfloser, gleichsam entkörperlichter. Die gebietende Sicherheit seines Wesens konnte der Künstler nicht genügend abdämpfen. Er spukte nicht als trüber Geist durch die Hofgesellschaft, sondern hielt mit dämonischer Überlegenheit alle nieder, daher erschien auch die widersinnige Flucht in den vorgetäuschten Wahnsinn nicht als ein krankhaftes Versteckenspielen vor sich selbst, um Zeit zu gewinnen, sondern als überlegte Absicht. Erst als er auf die Frage: »Was lest Ihr, Prinz?« entgegnete: »Worte, Worte, Worte«, gerieten beide wieder in seinen Bann; so war noch nie die Schalheit menschlichen Geredes verächtlich gemacht worden wie durch dieses nachlässig hingeworfene dreimalige »Worte«, und dabei hatte in seinem Blick etwas von der schmerzlichen Ironie des Erlösers auf Tizians unvergeßlichem »Zinsgroschen« gelegen, den Vater Folkwang so sehr liebte.

Am Schluß dieses Aktes, als der Beifallssturm den Künstler hervorrief, wurde ihm ein prachtvoller Lorbeerkranz, durchsetzt mit Orchideen aus dem Gewächshaus von Casteldimonte, überreicht. Er erkannte die Geberin, noch bevor er die beigesteckte Karte überblickt hatte, und verneigte sich dankend nach ihrer Loge.

In der Zweikampfszene am Schluß wurde ihre Begeisterung abermals niedergeschlagen: was im Othello so hinreißend gewesen, das blitzschnelle Dreinfahren mit der Klinge, welche die Streitenden trennte, diese meisterliche Fechtkunst wurde im Hamlet zu einer Darbietung an sich, einer Art Fechtstunde, freilich mit unendlicher Anmut durchgeführt, von dem Biegen des elastischen Degens am Boden bis zum Augenblick, wo dem Gegner der seinige aus der Hand fliegt. Die südlichen Zuschauer tobten im Wonnesturm, sie hatten auf diesen Glanzpunkt gewartet, aber er störte die tiefe Tragik und war für nordisches Gefühl einer so großen Kunst nicht würdig. Vanadis wurde traurig, weil sie Egons Mißfallen fühlte und ihm nicht unrecht geben konnte, aber doch so gern aus ungeteilter Seele bewundert hätte.

Widerstrebend folgte sie dem Gatten in das Künstlerzimmer, wo sie dem von Huldigungen Umdrängten kaum in die Augen zu schauen wagte, aus Furcht, er könnte ihr den inneren Widerspruch aus der Seele lesen. Aber er war zu hoch getragen von dem Triumph des Augenblicks, um an eine solche Möglichkeit zu denken.

Sie sahen ihn noch eine Reihe von Malen, ehe er schied, als Lear, als Macbeth, sogar als Jago und in einer Anzahl geringerer, seitdem verschollener Stücke, immer groß und ergreifend, aber nicht auf seiner vollen Höhe wie im Othello. Doch ein Festabend, den die Solmars zu seinem Abschied gaben, zeigte ihn noch einmal in seiner ersten Herrlichkeit.

Solche Einladungen waren jedesmal ein Ereignis, das den Gästen unvergeßlich blieb, denn jede trug den Stempel des Besonderen, Einmaligen. Das ganze geistige Florenz, Einheimische und Fremde, wurden geladen; über zweihundert Karten hatte man versandt. Egon lenkte die Veranstaltung am Zauberstab, er vergaß den Einsiedler, der er durch Jahrzehnte gewesen, und wurde wieder der junge Botschaftsrat von Solmar, der zu seiner Zeit als Festleiter seinesgleichen nicht hatte. Seine junge Frau brauchte dabei nichts zu tun, als in ihrem Brokatgewande zu lächeln und jedem der Geladenen einige artige Worte zu sagen.

Um zehn Uhr abends begann die Auffahrt der Wagen auf dem großen Kiesplatz, und eine halbe Stunde später waren die Riesenräume des unteren Stockwerks von Menschen gefüllt, die sich in den festlichen Sälen umhertrieben, da und dort stehenblieben, Hände schüttelten, kleine Gruppen bildeten; nur die Alten und Gebrechlichen setzten sich. Es war der Mühe wert, alles anzuschauen. Schon beim Eintritt in die gewölbte Seitenhalle, die als Mantelablage diente, begann der Zauber. Man stieg da eine Anzahl kleinerer Stufen zu einem Treppenabsatz empor, der die Nebenhalle von dem gleichfalls gewölbten Hauptsaal trennte, und stieg drüben ebenso viele Stufen hinunter, die sich teppichbelegt bis in den Festsaal vorschoben. Stufenabwärts, an der offenen, geländerlosen Seite, waren hochgezüchtete vielfarbige Dahlien und Chrysanthemen wie eine Schar blühender Ehrenjungfrauen zur Begrüßung des edlen Gastes aufgestellt. Aber das Podest barg noch eine Überraschung: Gegenüber der hier aufstehenden Haupttreppe, die nach dem oberen Stockwerk führte, waren hinter Lorbeer- und Kameliengebüsch Musiker mit altertümlichen Holz- und Streichinstrumenten verborgen, die im Augenblick, wo der Stern des Abends die Stufen betrat, eine leise Musik anhoben, um die Schritte des Gefeierten unaufdringlich zu begleiten. Über das laute Stimmengewirr gingen die Töne einer Viola d'amore, einer Flöte und einer Klarinette wie zarte Geistergrüße hin, um es nicht zu übertäuben, sondern ins Gehaltenere herabzudämpfen. Ein Hauch der Weihe legte sich über die Versammelten, und jene gewisse Langweiligkeit, die solchen vielsprachigen Empfängen, wo sich die Gäste untereinander wenig kennen, innezuwohnen pflegt, verwandelte sich in eine Stimmung ehrfurchtsvoller Erwartung. Wohin sich der Künstler bewegte, umdrängte ihn ein Kreis von Verehrerinnen und Verehrern, die vorgestellt zu werden wünschten, und nach Art der Könige hatte er für jeden und jede ein freundliches oder schmeichelhaftes Wort. Diener mit Tabletts zwängten sich durch die Reihen, während die irdisch Gesinnten unter den Gästen, die in der Mehrzahl waren, sich in einen Nachbarraum durchschoben, wo Riesentische eine Fülle von Leckerbissen und erfrischenden Getränken anboten, die im Nu unter dem Andrang verschwanden. Dann verteilten sich die befriedigten Genießer durch die Flucht der lichterstrahlenden Säle.

Inzwischen führte Salvini in feierlicher Haltung die Herrin des Hauses zu einem hochlehnigen altertümlichen Stuhl aus rotem Brokat, der in der tiefen Nische unterhalb einer marmornen Selene stand, und bat sie mit einer Handbewegung, zu sitzen. Der Hausherr stellte sich wie zufällig daneben, während der Künstler einige Schritte zurücktrat, um von der nächsten Ottomane die darüber gebreitete orientalische Decke aufzuraffen, die er sich mit einem Wurf malerisch um die Schultern schwang. Gleich hatte sich eine ahnungsvolle Gruppe um die Nische gebildet, und im nächsten Augenblick waren alle andern Säle leer, nur in dem einen drängten sich die Gäste Kopf an Kopf. Der Künstler schritt vor, verbeugte sich tief und begann gegen die Thronnische:

»Ehrwürdiger, mächtiger und erlauchter Rat!
Sehr wohlerprobte, edle, gute Herren . . .«

Florenz, Casteldimonte, das Jahrhundert versanken, man war im Dogenpalast von Venedig. Der Mohr reinigte sich vor dem Senat von der Anklage höllischer Verführungskunst. Niemand, dessen Menschliches nicht im tiefsten Nerv getroffen wurde von dem Ausdruck dieser einfachen Erzählung:

»Sie liebte mich, weil ich Gefahr bestanden.
Ich liebte sie um ihrer Liebe willen.«

Vielleicht hat nie ein Mensch diese Worte so gesprochen, vielleicht wird sie nie mehr einer so sprechen, wie sie der große Tommaso Salvini jenes Abends sprach.

»Hab' ich's recht gemacht, mein Kind?« fragte Egon, als die Lichter gelöscht wurden.

»Du machst alles recht, was du angreifst«, sagte sie, innig seine Hand küssend.

 

Als die Tage kürzer und kälter wurden, saßen die Freundinnen gern in dem milde durchwärmten gelben Gemach und zogen zuweilen den grünseidenen Vorhang auf, um immer aufs neue die Zerstörung des Gemäldes zu bedauern. Sie schien ihnen das schicksalhafte Sinnbild jener ungestümen Kraft, die, kaum daß sie den Weg zum Schönen gefunden hatte, sich selbst vernichten mußte. Im Lauf des Herbstes war einmal Arnold Böcklin, der zur Zeit in Florenz malte, wegen eines bestellten Gemäldes nach Casteldimonte gekommen, und da der Herr des Hauses zufällig abwesend war, hatte Vanadis die Gelegenheit benutzt und den seltenen Gast unter dem Vorwand, ihm ihren Tizian zu zeigen, auch vor das grünverhangene Bild geführt. – »Der kann etwas«, sagte der Schweizer in seiner kräftigen Art. »Wenn er so weitermacht, dauert er länger als alle, die heute leben. Wer ist er?« – »Mein Stiefsohn.« – »Wo lebt er?« – »Verschollen!« – Der Künstler zuckte bedauernd die Achseln. – Jetzt wußte sie wenigstens sicher, wie sie mit dem Bilde dran war.

Von Böcklin und Roderich brachte Corinna das Gespräch unmerklich auf Goffredi, dem schon seit einiger Zeit Egons Gönnerschaft fehlte, weil seine letzten Arbeiten enttäuscht hatten. Der weise Mäzen hatte den Grundsatz, seinen Schützlingen die aufgewendeten Mittel nicht zu schenken, weil er sagte, geschenktes Geld bringe jungen Leuten keinen Segen, es mache nur Faulenzer: er nahm ihnen an Stelle der Rückzahlungen die fertigen Werke, wenn sie ihm gefielen, ab. Das paßte Goffredi nicht, der viel für sich selber brauchte und, wo er Vorschüsse abtragen sollte, nur lustlos arbeitete. So kam es, daß sein vorher so warmer Gönner den Geschmack an ihm verlor. Vanadis versprach, soweit es an ihr liege, ihn wieder zu Gnaden zu bringen, und Corinna dankte mit Wärme. Sie blühte auf, wenn sie nur von dem schönen und begabten Jüngling sprach: »Ich danke ihm mehr, als ich sagen kann. Er widmet mir, der alten Frau, seine Zeit, begleitet mich in die Galerien, durchwandert mit mir die Umgegend und ist mir eine Brücke zu dieser fremden und wunderbaren Welt, zu der ich ohne ihn schwer den rechten Zugang gefunden hätte.«

Ein andermal sagte sie: »Wenn man immer zu Hause mit den Eigenen lebt, so ahnt man nicht, daß es auch eine völlig andere Einstellung zu den Dingen geben kann und wieviel Überraschendes der Verkehr mit einem fremden, ganz anders gerichteten Volkstum bietet. Das fällt oft wie ein Blitzschein auf die gewohnten Gegenstände, daß sie wie von innen her verwandelt sind.«

»Ja, und man ist dann leicht geneigt, was einem ganzen Volke gehört, dem einzelnen gutzuschreiben«, sagte Vanadis. »Hast du so viel Umgang mit Einheimischen?«

»Ich habe meine Hausleute, einfache, aber vorzügliche Menschen mit der hohen florentinischen Sprachkultur, die ich anstaune. Ich habe ja niemals fremde Sprachen gelernt und besitze auch kein Sprachtalent, aber für diesen Zauber ist mein Ohr offen. Sie helfen mir so taktvoll und unauffällig nach, daß ich leicht zurechtkomme. Und dann habe ich ja Goffredi«, schloß sie, zu dem Ausgangspunkt ihrer Gedanken zurückkehrend.

Über das Gesicht der jüngeren Freundin glitt ein Schein eines Lächelns, da warf die Ältere ihr in plötzlicher Leidenschaft die Arme um den Hals:

»Ja, ich will keine Komödie vor dir spielen, du hast es gleich gefühlt: ich liebe Goffredi und er liebt mich. Deine alte Corinna hat sich gehäutet, die Verächterin des ganzen Männergeschlechts sieht jetzt in einem einzigen die Welt. Du bist nicht so kleinlich, mir den Abfall von mir selbst und daß ich früher geboren wurde als er vorzuwerfen. Die Liebe klügelt nicht, sie rechnet nicht mit Zahlen, sie kommt, sie ist da, sie läßt keinen Raum für anderes. Sieh, ich nähere mich jetzt dem Tor, wo die Jugend Abschied nimmt, und ich habe niemals, niemals zuvor das geringste von ihren Freuden besessen. Ich habe nie das Glück gekannt, Weib zu sein. Mein Leben im Vaterhaus war die Vorhölle, meine Ehe war die Hölle selbst. An meinen Kindern habe ich die Mutterpflichten erfüllt, ohne das Mutterglück zu kennen. Jetzt sind sie groß und bedürfen meiner nicht mehr, und leider sind sie mehr nach ihrem Vater als nach mir geraten. Nun führt mir das Glück am schönsten Tag und in der schönsten Stadt der Erde diesen Jüngling zu, dem ich als Knaben, wenn er mit seinen Gipsfiguren an meine Rosenpforte klopfte, manches Stück Geld und Schokolade zuschob. Und in ihm finde ich das Eine, Unbegreifliche, woran ich nie geglaubt habe, was ich für eine Dichterfabel hielt.«

Die stolze, herbe Frau war ganz verwandelt. Sie kniete während ihrer Beichte am Boden und hielt die Knie der jüngeren Freundin umfaßt: »Verstehst du mich, du Kind, oder verdammst du meinen späten Glücksdurst?«

»Du bist jünger als jemals«, sagte diese ergriffen und küßte zärtlich den schönen weißen Streif im dunklen Haar.

»Auch er pflegt ihn zu küssen, weißt du«, murmelte Corinna mit einem fast mädchenhaften Erröten.

»Ich sehe Goffredi ja nicht mit deinen Augen«, begann Vanadis. – »Das ist mir lieber«, warf Corinna lächelnd ein. – »Aber ich habe lange genug gelebt, um zu wissen, daß die Liebe und ihr Gegenstand nicht aneinander gemessen werden dürfen. Sie ist göttlicher Art, und er ist irdisch, da kann es niemals eine Entsprechung geben.«

»Wie weise meine kleine Vanadis geworden ist«, sagte Corinna ohne Ironie.

»Das Leben hat mich lange zum Amboß gehabt; in den Funken, die es da gab, habe ich erkennen lernen.«

»Bist du nicht restlos glücklich, mein Geliebtes?« fragte Corinna, sich erhebend.

»Glücklich, ja, aber restlos?!« antwortete die Jüngere und stand gleichfalls auf. »Mein Glück ist ein großer Dank und ein großer Verzicht.«

»Du Arme, ich ahnte es«, sagte Corinna, innig ihre Hand drückend.

Die Freundin erwiderte bedeutsam: »Aber Corinna soll glücklich sein, und wenn es zu Ende ist, dann soll sie erfrischt und stark zu ihrer schönen Kunst zurückkehren.«

Corinna nickte, während sie doch bei dem bloßen Wort »Ende« ein Schauder überlief.

Bald nach diesem Gespräch zog Egon den Lucchesen wieder an sich und ließ ihn den Kopf seiner Frau modellieren. Das geschah unten in der Werkstatt bei Santo Spirito, und weil der Gatte den von einem Bildhauerraum unzertrennlichen Staub scheute, es aber doch nicht passend fand, die junge Frau ganz allein mit dem jungen Künstler zu lassen, mußte Corinna bei jeder Sitzung zugegen sein. Er ahnte nichts von der Beziehung der beiden, und Vanadis bewahrte mit Sorgfalt ihr Geheimnis, sie war nicht sicher, ob er ihr nicht andernfalls Corinnas Umgang verbieten würde. Er war ein geschworener Feind jener Liebesromantik, wie sie jahraus jahrein aus aller Herren Ländern in Florenz zusammenströmte, sich da einmal auszuleben. Selbst Durchreisende von geistigem Rang hielt er von seiner Schwelle fern, wenn sie einer regelwidrigen weiblichen Begleitung verdächtig waren. Er pflegte zu sagen, schon darum müsse man solchen Verhältnissen aus dem Wege gehen, daß man nicht in die Tragödie oder das laute Ärgernis, womit sie häufig genug endeten, hineingezogen werde.

Die Büste gelang zur Zufriedenheit, wobei der kluge Lucchese die Ähnlichkeit mit dem Kopf der liegenden Frau im Dom von Lucca, an die Baron Solmar sich so gern erinnern ließ, deutlicher zum Ausdruck brachte, als sie jetzt in der Natur hervortrat. Dafür wurde ihm auch die Ausführung in Marmor übertragen. Das hatte längere Sitzungen zur Folge, wobei Goffredi sich sehr zu seinem Vorteil zeigte und gegen beide Damen den gleichen ehrerbietigen Abstand wahrte, so daß Corinnas Beichte der Freundin wie ein seltsamer Traum erschienen wäre, ohne die ergreifende Weisheit, die jetzt über ihren Zügen lag und auch den Tonfall der Stimme verändert hatte. Auf einem Drahtgestell unter feuchten Tüchern befand sich eine fast vollendete Büste Corinnas.

»Prachtvoll«, entfuhr es Vanadis, als die Lappen abgewickelt wurden. Es war ein Ernst und eine Größe der Auffassung darin, die sie dem Lucchesen nicht zugetraut hätte.

»Ein sehr lohnender Kopf für die Plastik«, meinte er bescheiden. Er wies auf die Schönheit der vielen Flächen hin und auf den edlen Bau der Stirn mit dem klassischen Haaranwuchs, Vorzüge, die geradezu nach dem Bildhauer riefen, und er war so aufrichtig, durchfühlen zu lassen, daß dieser in sich ruhende Kopf in seiner Art eine dankbarere Aufgabe für den Künstler sei als die beweglichen Züge, an denen er jetzt arbeitete.

»Oh, sie ist schön!« rief Vanadis, einen Arm um die Schulter der Freundin legend. »Ich habe es noch nie so wie heute gesehen.«

Corinna leuchtete von stillem, starkem Glück.

Später, als die Freundinnen unter vier Augen beisammen waren, sagte Vanadis: »Seit ich dein Bild von seiner Hand gesehen habe, weiß ich, daß er dich wirklich liebt. Mit solchen Augen sieht nur die Liebe.«

Jetzt brach die stumme Glut in Strömen hervor:

»Oh, wie er mich liebt. Niemals hätte ich geglaubt, daß ich noch solches Feuer in einem jungen Mann entzünden könnte. Und nun gar in diesem – in diesem . . .«

Sie konnte vor Erregung nicht weitersprechen.

»Du bist beneidenswert, Corinna«, sagte die Freundin. »Alles, was die Natur aus dir machen konnte, bist du geworden: Künstlerin und Frau und Mutter – und Geliebte! Du hast vielleicht die Reihenfolge umgekehrt, aber du hast sie ganz durchlaufen. Was ist von mir zu sagen? Ich bin nicht Frau, nicht Geliebte, nicht Nonne, nicht Weltkind, nicht Mutter noch Künstlerin. Was bin ich denn? Ein Fetisch in Goldbrokat, mit Perlen behängt!«

»Du bist hundert Frauen«, erwiderte Corinna mit Überzeugung.

Ein Auftrag rief Goffredi nach Rom. Da gab es für Corinna, die sich eben noch mit ihrer ganzen Seele der Arnostadt zugeschworen hatte, kein Bleiben mehr. Sie fühlte plötzlich das dringende Bedürfnis, im Palazzo Borghese zu kopieren, die Aquädukte im Abendschein zu malen. Sie packte ihre Bilder, ihre Kleider, umarmte die Freundin, und fort war sie. Aus Rom kam noch ein jubelndes Schreiben, das in die Worte ausklang: »Ich halte, was das Leben nur einmal gibt, und frage nicht, wie es enden wird. Ich will es nicht wissen. Sollte denn diese gegenwärtige Stunde, die so reich und schwer ist an Glück, weniger wiegen als eine späte, künftige, die vielleicht niemals kommt! Ich bin glücklich.« – Das war auf lange Zeit hinaus das letzte Zeichen von Corinna.

Die Lücke wurde der Zurückbleibenden schmerzlich fühlbar. Was sonst an Gästen ihr Haus betrat, stille, vornehme Menschen, Veteranen des Lebens, die sich mit ihren Erfahrungen in den Frieden der vornehmsten und stillsten Stadt – das war Florenz noch in jenen Tagen – zurückgezogen hatten, Kunstkenner und Sammler, die ihre Schätze hüteten, was konnten sie dem jungen Weibe geben? Um Corinna her war das Leben, mochte sie sich auch aus ihrem Rauschkelch die Vernichtung trinken. Aber diese, die heil am Ufer saßen und platonisch den Schiffbrüchen anderer zuschauten, reizten ihre Ungeduld. Und wie lästig all die langen Kunstgespräche, wodurch doch keine Kunst entstand. Dabei verkamen Gottes Kunstwerke, die Menschen, in Verwirrung und Elend. Immer wieder dachte sie an Roderich, der gewiß auch verkommen war mit seiner Wildheit und seiner großen Begabung. Einmal sah sie im Traume Gunther, der ihr zu zürnen schien. Vielleicht der späte Nachklang eines Kinderzwistes: sie bezog es auf Roderichs Untergang. Auch von ihm konnte sie zu niemand mehr sprechen, seit ihr Corinna fehlte, denn Egon, obgleich über den blutigen Vorgang aufgeklärt, mochte seinen Namen nicht mehr hören. Er war ein Toter für ihn, und von den Toten sprach er nicht gerne.

 

Der Frühling war schon im Februar eingezogen und bestickte alle Wiesen um Florenz mit Krokus und Anemonen und mit den zarten gelben Frühtülpchen, die so rührend hinfällig aus dem Grase nickten. Vanadis ging jetzt viel allein spazieren. Einen Strauß Wiesenblumen nach Hause zu tragen, nachdem sie dem Bauern ein kleines Schmerzensgeld für ein paar Fußbreit zertretenen Grasgrunds gegeben, das freute sie mehr als alle Blumenpracht in den Gewächshäusern von Casteldimonte und konnte sie auf Augenblicke wieder jung und froh machen. Als jedoch der Frühling fortschritt, wurden ihre Wangen schmaler und blasser. Egon fragte oft, was ihr fehle, aber da war nichts zu klagen. Draußen wuchs der Zauber immer mächtiger und drängender, die Blumen blühten und dufteten zu ihrem Fenster herauf, Ströme von warmer Luft trugen das Übermaß des Wohlgeruchs. Und die Unzahl der Nachtigallen, wer konnte da noch schlafen! An der unendlichen Weite des Abendhimmels leuchteten die großen Wintergestirne ihr Letztes und versanken eins hinter dem andern. Vanadis streckte oft die Arme aus, wie um etwas Fernes, Unerreichbares an sich zu ziehen. – Was willst du denn, du Unzufriedene? Du hast ja alles, bist vor Tausenden bevorzugt, sagte sie zu sich selbst. Aber eine ganz leise Stimme antwortete: Du hast nichts! –

Rastlos ging sie von Saal zu Saal, stellte sich vor Bilder und Büsten, vor die marmorne Selene in der Nische und vor den undurchdringlich lächelnden Buddha, was sie ihr zu sagen hätten, aber sie blieben alle stumm. Nur eine Tätigkeit gab es, die sie zu beschwichtigen vermochte: des Nachts in den seidenen Kissen ihres einsamen Lagers reihte sie Zeile an Zeile wie in ihren frühen Mädchentagen und fügte sie zum Gedicht. Kostbarer als Perlenschnüre schienen ihr diese Versreihen. Aber wenn sie sie am Morgen niedergeschrieben hatte, wußte sie nicht, was sie taugten, und zerriß sie wieder. Sie Egon zu zeigen, scheute sie sich, sie hatte ihn einmal sagen hören: »Das Weib soll den Dichter begeistern, nicht selber dichten wollen.« Es war nicht auf sie gemünzt, denn er wußte nichts von ihren Versuchen. Aber sie sah darin einen Ausdruck jener Rückständigkeit, deren er sich selber zuweilen anklagte und die mehr Gefühls- und Gewohnheitssache als Überzeugung war, doch gerade darum schwerer aufzugeben. Und weil sie sich ohne ihn doch nichts getraute, blieb es bei scheuen Anläufen, die wieder zu Boden sanken.

Ihr Gatte sah ihre Unrast und schlug ihr eine Reise vor. Aber auch das Reisen war ihr jetzt lästig, dieses Reisen mit Egon nach einem festgelegten Plan, wo nichts dem Zufall überlassen blieb, wo jeder Tag im voraus seine Bestimmung hatte, von der niemals abgewichen wurde, wo man immer in den ersten Gasthöfen abstieg, die sich alle gleich waren. Niemals wieder ein Kind der Erde sein, nie die Vogelsprache verstehen, die Edwin sie lehren gewollt! Dürfte sie doch wieder einmal planlos leben, dem Ungefähr preisgegeben, nicht wissen, was der nächste Morgen bringt. Und wie ein weidendes Füllen ausschlagen gegen jeden Versuch, sie in die Hürde zurückzuführen. Aber umsonst, sie war Egons Geschöpf, er hatte sie geformt, er hatte sie geprägt, sie konnte aus dieser Formung nicht mehr heraus. Mitunter tauchte sie ihre heißen Hände tief in die Juwelenschale, die auf dem Mosaiktisch in ihrem Schlafzimmer stand, und ließ die leuchtenden, ungefaßten Steine kühlend durch ihre Finger fallen. Es waren edle und halbedle, ein ganzes Leben hindurch gesammelt, die Egon ihr eines Tages alle zumal geschenkt hatte. Er kannte jeden einzelnen und seinen Wert, aber sie standen offen, und es fehlte niemals einer, denn die Dienstboten auf Casteldimonte waren strengste Auslese, von Carlo an ihren Platz gestellt und immer unter seiner Aufsicht.

 

Auf der Piazza alla Croce nahe beim Arno war hinter Bretterwänden eine Arena von ungewöhnlichem Ausmaß aufgetan: Buffalo Bills Wild West. Grelle Indianerkämpfe und Cowboys mit langen Lassos, auf die äußeren Bretterwände gemalt, verkündeten den Gegenstand der Darbietung. Egon hätte seiner Frau gerne den Wunsch, einer Vorstellung anzuwohnen, ausgeredet, denn er fürchtete das Erwachen schmerzhafter Erinnerungen. Aber gerade das war es, was sie wollte, lieber eine Wunde aufreißen und noch einmal den Blutstrom rinnen fühlen als gar nichts mehr empfinden in Dumpfheit und Stumpfheit. Doch sie hatten beide die Macht der Erinnerung überschätzt. Als sich die wildschönen Kampfszenen aufrollten, wobei die Indianer im rasenden Lauf, nur noch mit einem Bein am Rücken des Tieres haftend und mit dem ganzen Leib zur Seite herunterhängend, ihre Flinten unter dem Pferdebauch hindurch abfeuerten, dachte sie wohl, daß Bilder wie diese das Auge ihres sterbenden Kriegers umgeben hatten, und sie fragte sich, ob nicht einer von diesen vielleicht an dem Schreckenstage zugegen gewesen. Aber das blieb in der Sphäre der Vorstellung und brachte den Herzschlag nicht mehr zum Stocken, die Zeit hatte den Stachel der Wirklichkeit weggenommen. – Ich bin alt und kalt geworden, dachte sie traurig bei sich selber. Beruhigt durch ihre Ruhe, stieg Egon nach Schluß der Vorstellung mit seinem leichten Schritt und seinem schönen Anstand in die Arena hinunter und näherte sich seinem alten Bekannten Buffalo Bill, im täglichen Leben Oberst Cody, der eben bei einem Zelte stand und mit einem am Boden hockenden schlaffhaarigen und schlaffbusigen Indianerweib sprach. Vanadis war ihrem Gatten bis zur untersten der steinernen Sitzreihen gefolgt, ohne die Arena zu betreten. Sie sah, wie die beiden ungleichen Männer sich freundschaftlich begrüßten, denn Egon, der Bürger aller Welten, war auch mit dieser Berühmtheit des öfteren zusammengetroffen, erst in den Prärien des Westens, später in Londoner und Pariser Salons. Sie sah, wie der große wohlgeformte Mann mit dem langen Haar unter breitrandigem Hut, mit bunter flatternder Schärpe, ihrem Gatten folgte, um sie zu begrüßen. Eine kurze Vorstellung, ein kräftiges Händeschütteln und eine Einladung auf einen der nächsten Abende nach Casteldimonte.

Vor dem exotischen Gast verblaßten die Mantegnas und die Lippis an den Wänden, und selbst der Buddha schien nicht mehr recht zu wissen, was er wollte, so füllend waren Erscheinung und Stimme des Obersten in dem Raum. Dieser schöne Mensch mit dem Wuchs und der Stahlkraft eines antiken Ringers war ein vollendeter Weltmann und in allen Sätteln gerecht: Cowboy mit Cowboys, unter Parisern Pariser. So schien er auch auf Casteldimonte völlig an seinem Platz, und wo sich ein geistiger Abstand hätte zeigen können, da deckte ihn Egon, der wieder einmal ein bezaubernder Wirt war, mit feinstem Entgegenkommen zu. Die Herrin des Hauses gab ihrem Gatten an Verbindlichkeit nichts nach und wollte den Gast, der einer der verwöhntesten Männer und, wo er ging und stand, von Huldigungen der Frauen überschüttet war, immer selbst mit ausgesuchten Bissen bedienen. Sie verfolgte aber dabei eine besondere Absicht. Als sie ein paar Minuten mit ihm allein blieb, nahm sie ihr Herz in beide Hände und fragte den Oberst, ob er vielleicht bei seinem langen Aufenthalt im Westen einen Rittmeister Leo kennengelernt habe. Sie mußte den Namen zweimal nennen, weil er gewohnt war, ihn anders auszusprechen und weil ihre Stimme geschwankt hatte.

»Ob ich Captain Leo gekannt habe? Der am Bighornriver fiel? Er war mir einer meiner liebsten Waffenbrüder. Solch ein wackerer Kamerad, solch ein glänzender Reitersmann. Und wie er die geraubten Frauen heraushieb, es war ein Glanzstück. Wir haben keinen zweiten mehr wie ihn gehabt.«

Vanadis strahlte, alle Jungmädchengefühle wachten in ihr auf. Cody wollte wissen, ob sie mit dem Verstorbenen verwandt sei. Sie antwortete, daß sie von klein auf mit der Familie Leo befreundet gewesen.

Egon war wieder eingetreten, hörte noch den Namen, den er vermied, und suchte das Gespräch zu wenden. Aber der andere war jetzt im Zug:

»Und wie er den Mädchen gefiel! Es war außerordentlich – allen. Davon ließen sich Geschichten erzählen.«

Der Hörerin erstarrte das Herz. Sollte auch hier noch eine späte Enttäuschung kommen? Egon entfernte sich leise.

»Ja«, fuhr der Oberst fort, »aber in seinem letzten Lebensjahr änderte sich das, er wurde plötzlich ernsthaft, es hieß, er habe eine Braut in Deutschland gelassen.«

Egon legte mit leiser Hand ein wildphantastisches, maskenartiges Gebilde vor den Sprecher, das er soeben aus seiner Wunderkammer, wie Vanadis sein kleines ethnographisches Museum nannte, geholt hatte. »Halten Sie diese Indianermaske für echt, Oberst Cody?«

»Echt«, erklärte dieser, indem er die Maske ergriff und weit hinaushielt wie ein Medusenhaupt. »So echt, wie sie nur je ein Dakota zum Kriegstanz getragen hat.«

Er verbreitete sich über Geistermasken und Kriegstänze und ließ den vorigen Gegenstand fallen. Die Gelegenheit, den geliebten Namen noch einmal zu hören, war der jungen Frau unwiederbringlich genommen. Wenigstens blieb er vor jedem Makel und Zweifel rein. Aber sie grollte Egon, der ihr, wie sie glaubte, nicht einmal das Labsal des Erinnerns gönnte. Sie tat ihm unrecht, er hatte nur die Erschütterung abkürzen wollen.

Bald danach brach Egon wieder einmal zu einer Begegnung mit seinen »Alten« auf. Seine Frau fragte niemals, wer diese Freunde wären, von denen er zu niemand sprach, sie war von je an ihr unsichtbares Dasein gewöhnt, und sie schwebten ihr gar nicht als Personen, sondern als geheimnisvolle, wohltätige Mächte vor. Während er ferne war, wurde ihr eines Tages ein überraschender Besuch gemeldet: Fräulein Jeanne Latour. Dieser in Florenz vielgenannte Name war ihr erst seit kurzem bekannt, da unter Freunden zufällig der hochherzigen Philanthropin gedacht wurde, die ihr ganzes Leben an die Aufgabe gesetzt hatte, entlassene jugendliche Sträflinge sittlich zu heben und sie der menschlichen Gesellschaft wiedereinzugliedern. Noch gab es ja keine soziale Fürsorge für Ausgestoßene: jene Unglücklichen verfielen nach Verbüßung ihrer Strafzeit der öffentlichen Ächtung und wurden mit Notwendigkeit auf den Weg des Lasters zurückgetrieben. Von dem fast übermenschlichen Opfersinn und höchsten persönlichen Mut war die Rede gewesen, den ein solches Unternehmen von Seiten einer alleinstehenden Frau erforderte. Egon, der nur das Kostbare und Außerordentliche fördern mochte, hatte geäußert, daß Elend und Verbrechen ein Weltgesetz seien, gegen das sich zu stemmen, noch gar mit den Kräften eines einzelnen, eine erhabene Torheit sei. Seine Gattin aber, sonst immer durch sein Urteil bestimmt, hatte den Wunsch ausgedrückt, einmal die Anstalt zu sehen, wo die tapfere Frau ganz allein, ohne anderen Schutz als einen alten, zuverlässigen Hausdiener wohnte, inmitten ihrer bedenklichen Zöglinge, die sie ihre ragazzi nannte. Das war vor wenigen Tagen gewesen, und nun stand durch die merkwürdige Anziehungskraft der Gedanken die Besprochene vor ihr. Vanadis traute ihren Augen nicht, als sie statt der ältlichen Person von geschlechtlosem Äußern, die sie erwartete, eine noch jugendliche Gestalt erblickte, eine Schönheit, die in asketischem, ganz der Karitas gewidmeten Leben leise verblaßt, aber nicht verwelkt war. Edlere Gesichtszüge hatte sie niemals gesehen, noch Augen von schönerem Schnitt und tieferem Glanz. Welche Macht über die Umgebung mußte diese Frau besitzen, die es wagen konnte, allein und schutzlos in einem Hause voll jugendlicher Missetäter zu schlafen, nur beschirmt durch die Andacht, die sie einflößte, und durch die gewiß fanatische Anhänglichkeit der besseren unter ihren Schützlingen. Bevor sie den Mund öffnete, war Vanadis bereit, ihr jeden Wunsch, den sie nur äußern konnte, zu erfüllen, und sie schämte sich, ihr nicht zuvorgekommen zu sein. Die Besucherin, die sich so warm empfangen sah, äußerte lächelnd, wenn Baronin Solmar nur die gefeierte Herrin dieser schönen Besitzung wäre, so würde sie sich besonnen haben, mit ihrem Anliegen vor sie zu treten. Aber sie wisse, daß sie jahrelang Krankendienst getan habe und also menschliche Not kenne und gewiß auch verstehe, daß von der Not zur Entgleisung nur ein kleiner Schritt sei. Und nun rückte sie mit ihrem Anliegen hervor. Unter ihren Schützlingen liege ihr einer besonders am Herzen, ein guter Mensch und zu allen Verrichtungen geschickt, der nur einmal in unbedachter Jugend durch schlechten Umgang, in den er geraten, veranlaßt worden sei, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen. Niemals, seit sie ihn kenne, habe er sich das geringste wieder zuschulden kommen lassen, und wenn sich je unter den minder zuverlässigen ihrer Schafe so etwas wie eine Widersetzlichkeit rege, sei er ihre beste Stütze. Ihn in einem guten Hause unterzubringen, damit ihm von da aus als einem Gereinigten die Welt wieder offenstehe, sei ihr stündliches Denken. Nun habe sie erfahren, daß auf Casteldimonte der Kutscher erkrankt sei und der Stalljunge für den Dienst der Pferde nicht ausreiche. Darum bitte sie, ihren Schützling Matteo, der unter Pferden aufgewachsen sei, wenigstens probeweise, wäre es auch nur zur Aushilfe, einzustellen, damit hernach sein Weg leichter würde. Hingerissen von der Hoheit dieser Erscheinung und entzückt, ihr gefällig sein zu können, sagte Vanadis ohne weiteres zu. Erst als die Besucherin gegangen war, fiel es ihr auf die Seele, daß sie ihre Rechte überschritten und in ein Gebiet eingegriffen hatte, das Egon für sich selber wahrte, denn er war es, der unter Carlos Mitwirkung Dienstboten dang und entließ und überhaupt alle Einzelheiten der großen Wirtschaft regelte, während sie ja doch nur wie ein Gast im eigenen Hause lebte. Bestürzt über das, was sie getan, und über die möglichen Folgen, zog sie Carlo zu Rate, der ihr fast ebenso anhing wie dem Herrn. Dieser begab sich sogleich in die Stadt, um Erkundigungen über den Empfohlenen einzuziehen, denn er hatte von seinem früheren Beruf her noch überall Auskunftsquellen. Bis er aber mit seinen Ermittlungen, die zum Glück günstig waren, zurückkam, war deren Gegenstand schon im Stall wie zu Hause und eben samt dem Stalljungen beschäftigt, die Tiere, die das lange Stehen unruhig machte, auszuführen. Matteo rechtfertigte das Lob seiner Beschützerin, indem er seine Arbeit geschickt verrichtete und sich dem Hausstand so einfügte, als ob er immer nur in guten Häusern gewesen wäre. Die andern Dienstboten, die nichts von seiner Vergangenheit ahnten, behandelten ihn ganz als ihresgleichen. Als Egon zurückkam, schien er das neue Gesicht zunächst gar nicht zu sehen, und Vanadis verschob die Erklärung, bis der Neuling Zeit gefunden hatte, sich durch seine Haltung selber zu empfehlen. Aber die Tage vergingen, ohne daß eine Bemerkung fiel, nun wurde sie befangen und wußte nicht, wie zu ihrer Beichte gelangen. Es war ihr übel zumute, den gütigsten und hochherzigsten Menschen hintergangen zu haben, und doch wollte sie Matteos Zukunft nicht aufs Spiel setzen, bevor er Gelegenheit gehabt hätte, sich unentbehrlich zu erweisen. Da machte Egon selbst dem peinlichen Zustand ein Ende, indem er ganz nebenbei einmal fallenließ, Mrs. Burney habe auf Bitten Fräulein Latours einen ihrer ragazzi als Diener angestellt, der Mensch aber lasse sich nicht zur Zufriedenheit an, und nun sei sie durch den gewagten Schritt in der Klemme, da sie ihn weder zum Schaden der Gesellschaft auf die Straße setzen noch auch anderswohin empfehlen möge.

Vanadis stockte der Atem, als er von dem »gewagten Schritt« sprach, jetzt war der Augenblick zu reden, wenn sie sich nicht einer Hintergehung schuldig machen wollte, aber gerade jetzt hatte sie das Wort nicht zur Hand. Sie faltete nur bittend die Hände und sagte: »Sei nicht böse, Egon, sei mir nicht böse.«

»Ich böse?« antwortete er. »Du holder Missetäter, bin ich denn ein Wüterich?«

»Aber du weißt nicht«, sagte sie, »daß du selber einen solchen ragazzo im Dienst hast.« – Und nun erzählte sie von Fräulein Latours Besuch und was sich daraus entwickelt hatte und daß sie seitdem in inniger Freundschaft zu dieser Wohltäterin der Menschen stehe.

Egon lachte leise: »Als ob mir das neu wäre. Meinst du, Carlo habe Geheimnisse vor mir wie du, kleiner Heuchler.«

Sie wollte sich reinigen, aber er hielt ihr schnell den Mund zu: »Es ist schon zuviel darüber gesprochen. Wo ich Herr bin, da bist du Herrin. Wenn ich dir bisher nicht ausdrücklich die Schlüsselgewalt übertrug, so war's, weil du in der Tat noch zu unerfahren warst. Aber jetzt bist du kein Kind mehr, wenn ich dich auch immer so nenne. Was du künftig anordnest, das trägt schon meine schweigende Gegenzeichnung in sich.«

Vanadis war wieder einmal überwältigt von seiner Großmut und begriff nicht mehr, daß sie ihm hatte grollen können wie aus Anlaß der Indianermaske. Matteo blieb im Dienst, den er weit besser als sein Vorgänger versah, er saß mit der ernsten Würde eines herrschaftlichen Kutschers auf dem Bock, und niemand konnte ihm ansehen, daß er einmal Anstaltskleider getragen hatte. Die verwöhnte Donna Eugenia schloß einen Herzensbund mit Jeanne Latour und machte ihre Freuden und Sorgen zu den eigenen. Diese merkwürdige Frau lebte in einer so vollkommenen Hingabe an das Amt, das sie sich geschaffen, daß sie gar keine Furcht für ihre Person kannte. Wenn gelegentlich ein paar ihrer Schützlinge auskamen, um sich heimlich mit Würfeln oder Dirnen zu vergnügen, so zauderte sie keinen Augenblick, mutterseelenallein, auch in dunkler Nacht, die verirrten Schafe aus Kneipen und verrufenen Häusern heimzuholen, und die Schuldigen knickten vor ihr zusammen wie vor einem höheren Wesen. Ebenso sicher fühlte sie sich in den Händen der Vorsehung, wenn ihr die Mittel zum Unterhalt ihrer Herde völlig ausgingen, denn seit ihr eigenes Erbteil in ihrem Werk aufgezehrt war, mußte sich dieses aus Zuwendungen der Nächstenliebe erhalten. Völlig sorglos verteilte sie am Abend das mit dem letzten Geld gekaufte Brot, in der Gewißheit, daß am andern Tag das versiegte Bächlein wieder fließen werde. Von nun an half die Vorsehung durch Donna Eugenias Hände. Da diese nichts Eigenes besaß und den ihr geschenkten Schmuck nicht verkaufen durfte, brachte sie als Beisteuer ihr Nadelgeld. Das konnte nicht lange vor Egons Augen verborgen bleiben, der daraufhin ihre Einnahmen erhöhte, denn er ertrug es nicht, wenn die Gestalt, in die er seinen ganzen Ehrgeiz verlegte, nicht auch äußerlich alle anderen ausstach. Auch dieser Zuschuß flog in die Hände von Jeanne Latour, während die laufenden Bestellungen bei den großen Modehäusern zurückgezogen wurden. Egon wurde verstimmt und schwieg. Da übernahm es Carlo, der gnädigen Frau in aller Ehrerbietung nahezulegen, daß der gnädige Herr die Hand des Herrn Worth – so hieß der große Pariser Schneider – an ihr vermisse. Vanadis antwortete, daß sie einmal ihren Vater habe sagen hören, was man für einen höheren Zweck geopfert habe, dürfe man sich niemals erstatten lassen, deshalb habe sie das zum Ersatz empfangene Geld gleichfalls weggegeben.

»Ich verstehe«, sagte das alte Faktotum mit feingespielter Anpassung, »die gnädige Frau verkürzt nur darum den gnädigen Herrn an der Freude seiner Augen, weil sie vor sich selber noch schöner sein will.«

Vanadis fühlte den Stich, der in diesen Worten lag, und bemühte sich wieder wie ehedem, den Geschmack ihres Gatten zu befriedigen.

Um diese Zeit erschien auf Casteldimonte ein Gast, den niemand gebeten hatte, den man aber auch nicht abweisen konnte: Märchen. Durch Jahre hatte sie es vermieden, die Verwandte und einstige Freundin wiederzusehen, der sie den Bruder geraubt hatte, wenn auch niemand ahnte, wie es dabei zugegangen war. Aber die Neugier überwog, nun endlich einmal alle die Wunder von Casteldimonte, von denen in der Verwandtschaft gesprochen wurde, in Augenschein zu nehmen. So hatte sie eines Tages angekündigt, daß sie nach Florenz komme, und im Ton der Selbstverständlichkeit um Gastfreundschaft gebeten. Als sie vor dem schloßartigen Bau aus dem Wagen stieg, verschlug es ihr den Atem, und beim Durchwandern der hohen feierlichen Prachtsäle, vor denen ihre selbstgebaute oberitalienische Villa ins Nichts versank, blieb sie stumm. Es war ihr weh zumute, als ob sie plötzlich beraubt und ganz verarmt sei. Erst nach dem Abendbrot, zu dem sich Vanadis auf Egons Wunsch festlich gekleidet hatte, fand ihre Mißgunst das Wort. Sie faßte die lange Perlenkette der jungen Base, die wohl zweimal so lang und kostbar war wie ihre eigene, ein Erbstück des Hauses Solmar, mit den Fingern und sagte: »Freilich, um solchen Perlenschmuck zu besitzen, muß man schon einen Baron Solmar heiraten. Dagegen kommt unsereins nicht auf.«

»Ich wollte ihn dir ja einmal abtreten«, scherzte Vanadis. »Warum hast du ihn nicht genommen?«

Märchen glaubte sich durch einen Hinweis auf ihre seinerzeit erlittene Schlappe verspottet und sagte schnippisch: »Warte, bis mein Schmuck hier ist, dann zeige ich dir ein Stück, wie Baron Solmar dir noch keins geschenkt hat.«

Zwei Tage später kam die englische Governess mit dem Stammhalter des Hauses Wehl, dem achtjährigen Albert, den die Äfferei seiner Mutter »Bertie« nannte. Als das Kind ins Zimmer lief, war es, als schiene eine neue Sonne. Es war nicht nur die gelöste Anmut des schmalen Kinderleibes, es war ebensosehr eine von ihm ausströmende innere Holdseligkeit, die dem Kleinen sogleich alle Herzen zuwandte. Er machte drolligschnell die ihm vorgeschriebene Reverenz mit Handkuß vor der neuen Tante, dann schob er ohne Scheu seinen Arm durch den ihren und sah sie forschend an mit einem langen Blick, der zugleich etwas Schmeichelndes hatte, als wollte das Kind in die innerste Herzkammer aufgenommen sein. – »Ein köstlicher Junge«, sagte Egon später, »aber ein kleiner Verführer, wie ich noch keinen gesehen habe. Die Frauen mögen sich später einmal vor ihm in acht nehmen.«

Der Kleine glitt spielend und beweglich wie eine Eidechse von einem zum andern, machte mit allen unbefangen Bekanntschaft und griff ohne Scheu nach jedem Gegenstand, der sein Auge anzog, doch nicht mit der Gier des Habenwollens wie andere Kinder, sondern mit einer sachlichen Aufmerksamkeit, an der man sah, wie begabt und frühreif der Knabe war. Und bei jeder Wendung seines Körpers entzückte er die Augen der Anwesenden. Dann kehrte er zu Vanadis zurück und sah wieder mit dem langen und tiefen Blick zu ihr hinauf, daß es sie wie das erstemal überlief: Diese Augen! Diese Augen! Die Großmutter hatte recht, das waren Gunthers Augen – an Farbe und Glanz und an Vergeistigung, nur ohne das Starre und Gequälte, das ihres unglücklichen Bruders Augen zuweilen hatten.

Da kam seine Mutter und holte ihn weg: »Das ist der Schmuck, von dem ich dir sprach«, sagte sie triumphierend.

Solange der Kleine im Hause war, gehörte ihm ganz Casteldimonte: er war mit den Gärtnern in den Gewächshäusern und bei den Knechten im Stall; alles mußte mit ihm spielen, Menschen und Tiere. Die Governess mochte ihm nachlaufen und rufen, wie sie wollte, er tat, was ihm einfiel, aber mit solcher Liebenswürdigkeit, daß niemand schelten konnte. In der Begabung dieses Kindes begegneten sich zwei ganz verschiedene Anlagen, eine künstlerisch verträumte und eine praktisch wache, er betrachtete jedes Bild an den Wänden mit inniger Aufmerksamkeit und tippte an jedem Musikinstrument, untersuchte aber auch jeden Gegenstand, der ihm auffiel, nach seiner Beschaffenheit und Zusammensetzung. Er sprach das Deutsche wie das Englische vollständig geläufig und machte in beiden Sprachen, wie Märchen versicherte, kleine Verschen. Jetzt lernte er mühelos im Stall und in der Küche das Italienische dazu. Seine Mutter, die sehr stolz auf ihn war, ohne sich mit ihm beschäftigen zu können, und die Governess mühten sich, ihm eine Erziehung zu geben, die nichts als eine Abrichtung war. Er entlief ihnen glatt und geschmeidig, und ehe sie ausgeredet hatten, saß er wie ein kleiner Sylphe in den Ästen einer Pinie oder Steineiche. Am liebsten war er bei der neuen Tante, die er vom ersten Blick an liebte. Oft ließ er plötzlich Spielzeug und Spielkameraden stehen und warf sich in ihre Arme. Oder er stellte sich still neben sie, einen Arm um ihren Leib gelegt, so hoch er reichen konnte, und sah sie mit dem seltsam dringenden Blicke an, worin zugleich ein Verlangen nach ihrer Zärtlichkeit und die Gewißheit der eigenen Unwiderstehlichkeit lag. Seine Mutter und die Governess hielten ihn an, die neue Tante »Auntie« zu nennen. Das klang ihm nicht, er machte Vantje daraus. Er hatte die Gewohnheit, alles, was ihm gefiel, umzutaufen, und Namen, die Bertie gab, hafteten. Bald hieß sie auch bei den Großen Vantje. – »Ganz wie du in deinen Kindertagen«, bemerkte Egon. »Auch du machtest es wie Adam im Paradies und gabst jedem Ding einen Namen.«

Vanadis vergötterte den Knaben. Sie erzählte seiner Mutter, daß die Großmutter geäußert habe, er schlage in das Folkwangsche Geschlecht und seine Augen erinnerten sie an Gunthers Augen.

»Das kann ich nicht finden«, antwortete Märchen kühl, »für mich ist er ganz und gar sein Vater.«

Märchen war noch immer sehr schön. Nur der poetische Anflug, den ihr Gunthers Nähe einmal auf kurze Zeit gegeben hatte, war verschwunden. Aber Vanadis, die jene schönere Wandlung nicht miterlebt hatte, fand sie doch sehr gehoben gegenüber der Hohlheit ihrer Mädchentage und sprach es gegen Egon aus. »Findest du?« sagte er zerstreut. Und wie aus einer inneren Schau zurückkehrend, fügte er kopfschüttelnd hinzu: »Als Geist unter Geistern ist sie kein schöner Anblick.«

Wenn Märchen sich auch mit Takt in der verfeinerten Luft von Casteldimonte bewegte, so hatte sie doch ihre Gewohnheit, vor nichts Ehrfurcht zu zeigen, mitgebracht, denn das war die geistige Haltung der Gesellschaft, in der sie lebte. Aus der Verwandtschaft holte sie sich das Recht, einen zwanglosen Ton gegen Egon anzuschlagen, einen zwangloseren als die junge Gattin selbst, was dieser mißfiel. Wenn der Alternde ein Wort der Erfahrung in das Gespräch der Jungen warf, so nannte sie ihn neckend Sarastro in Erinnerung ihrer Mädchentage, aber es klang etwas leise Spöttisches durch. Er hatte einst ihren grünen Unverstand abgewehrt, sie rächte sich, indem sie seine Altersweisheit belächelte. Eine heimliche Unzufriedenheit mit ihrer Ehe und mit den äußeren Verhältnissen, die sich doch nicht so glänzend gestalten wollten, wie sie erhofft hatte, gärte unter ihrer lächelnden Maske. Auf Casteldimonte steigerte sich die Unzufriedenheit durch den Vergleich. Und da war noch etwas, das ihr Inneres verbitterte: Gunthers Tod – nicht die Trauer um ein reiches, vorzeitig geknicktes Leben und um ihre eigene Verschuldung, sondern ein Groll, mitunter fast ein Haß auf den Toten, der ihr mit seinem Sterben ein Verdammungsurteil hingeschleudert hatte; und sie überdies bloßgestellt, daß ihr ganze Klugheit nötig gewesen war, den Argwohn ihres Mannes zu beschwichtigen, der doch nicht völlig einschlief, so daß sie sich jetzt viel weniger frei bewegen konnte als vor diesem Trauerspiel. Sie erzählte ihm bei geschickten Gelegenheiten kleine Anekdoten von der Verstiegenheit ihres verstorbenen Vetters, die ihn so halb und halb in das Licht einer komischen Person rückten. In Zeiten, wo ihr der Groll plötzlich zu Kopf stieg, war sie imstande, ihren Knaben zornig der Schwester des Toten aus dem Arm zu reißen oder ihn empfindlich auf die Hand zu klopfen, die sich nach seiner neuen Freundin ausstreckte. Das Kind sah sie dann nur ruhig und ohne zu weinen aus seinen großen Augen an, schüttelte sich ein wenig und kam aufs neue zu Vanadis.

Wenn Egon seine Frau so hingegeben an das fremde Kind sah, beschlich ihn die bittere Frage: Warum bin ich nicht aus aufrichtigem Gemüt ihr Vater gewesen? Warum habe ich sie nicht ausgestattet und in die Welt geführt, daß sie den ihr genehmen Gatten gefunden hätte? So hielte sie jetzt eine eigene Puppe im Arm. Oder warum habe ich nicht lieber jenen wackeren, mir immer etwas langweiligen Oskar Wittich studieren lassen, daß er hätte um sie werben können? – Aber er scheuchte solche ihn umlauernde Gedanken wieder zurück und drehte die Spitze um: Das Weib blühte auf, heiratet, gebiert Kinder, verwelkt und stirbt wie die Blumen des Jahres. Aber konnte ein Geschöpf wie dieses nur gewollt sein, um den Stammbaum der Wittichs fortzupflanzen, der ohne sie weiterwächst? Von solchem Los ist sie befreit, um selbst Krone und Wipfel des Baumes zu sein. Mit derlei Gedanken, wie sie schon Vater Folkwang gedacht, brachte er seine Zweifel zur Ruhe.


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