Isolde Kurz
Vanadis
Isolde Kurz

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Zweites Kapitel. Wende

Bei Barbarino di Mugello, auf einer freien Vorhöhe im Vordergrund der Kastanienhügel, war ein schmucker kleiner Landsitz aus dem Boden gestiegen. Eine herrliche Piniengruppe ragte dort seit langer Zeit wie ein Wahrzeichen über der Gegend. In ihrem Schutze hatte sich das neue Wohnhaus niedergelassen und sah aus grünen Läden heiter in die heitere Landschaft hinaus. Völlig schlicht in ländlich toskanischem Stil aus Stein gemauert, mehr breit als hoch, mit rotem Vordach über der Eingangstür und kleiner seitlicher Loggia, vor die ein rostroter Zeltstoff als Sonnenschutz gezogen wurde, stand es da, kaum anspruchsvoller als das tiefer unten zwischen Obstbäumen liegende derbere Bauerngehöft. Das Haus mit dem bis ins Tal hinabreichenden Landgut gehörte Vanadis. Aus dem Überschwang ihres Parks und ihrer Gewächshäuser, wo sie selbst wie eine Fremde umherging, aus dem immer Fertigen heraus, hatte sie sich von Jahr zu Jahr brennender nach einem Stück jungfräulicher Natur, das sie selbst bebauen und bepflanzen könnte, gesehnt, wäre es nur so groß wie das Gartenland, wo sie als Kind ihre Lilien zog. Jetzt war ihr Traum erfüllt, das Grundstück samt der mitübernommenen Landwirtschaft und bäuerlichen Ansiedlung war Egons jüngstes Geburtstagsgeschenk, ihr zur eigensten Ausgestaltung übergeben. Er selber mischte sich in nichts. Nach ihren Plänen wurden das Haus gebaut, die Räume verteilt und eingerichtet. Aller Überfluß war verbannt, jedes Gerät mußte einfach sein wie der Stil des Ganzen. Nicht einmal ein Stück Porzellangeschirr durfte ins Haus, nur die schöne ländlich bemalte Töpferware bei Cantagalli ausgesucht oder nach eigener Angabe in Montelupo gefertigt. Als der Bau im Groben dastand, wurde ein Hof- und Gartenraum abgegrenzt und mit Thujahecken umzogen, auch hinter dem Haus noch ein Wiesengrund geebnet und besät. Laubwechselnde Bäume, Birken und die schnell wachsenden Silberpappeln, wurden schon groß mit ihrer Scholle gepflanzt, Beete angelegt, die gleich von ländlicher Flora dufteten. Schnell wie durch Zauberei, aber immer noch langsam für ihre Ungeduld, wuchs und wurde alles. Im fertigen Zustand mit dem hellen Anstrich und den grünen Spalieren, an denen später wilde Rosen und Glyzinien ranken sollten, glich das Haus einer ländlichen Schönheit, die mit einer Schürze voll Waldblumen aus dem Dickicht tritt und jubelnd in das lichte Tal hinunter grüßt. Die Besitzerin nannte es La Giojosa.

Dort wohnten die Solmars seit Eintritt der heißeren Jahreszeit und hatten Bertie mit sich, den ihnen die Mutter trotz ihrer Eifersucht überließ, weil die Miss auf Urlaub war und ihr selbst das Kind in Rom, wohin sie mit ihrem Gatten reiste, eine Fessel gewesen wäre. Der Kleine half der geliebten Vantje pflanzen, bewässern, Beete abstecken, zog eifrig die schwere Walze, um den Boden zu glätten, oder setzte einen der kleinen Bauernjungen darauf und fuhr als Rossegespann umher. Es war die glückliche Jahreszeit, wo die Tage kein Ende nehmen und jeder dem Dasein eine unabsehbare Dauer zu verbürgen scheint.

Das Abendläuten hatte über dem Tale ausgeschwungen, aber es war noch völlig taghell, da kam ein Mensch von verwildertem Aussehen, in einer Hand einen Vogelbauer, in der anderen einen derben Knotenstock, den Hügel herauf gehumpelt. Er schlug von der Fahrstraße ab den schmalen und steilen Fußweg ein, der teilweise von Stufen unterbrochen war und den Vanadis vor kurzem eigenhändig rechts und links mit einer langen Reihe junger Zypressen bepflanzt hatte. Als er fast auf der Höhe des seitlich liegenden Bauerngehöftes war, das zu dem Gut gehörte, fuhren zwei kleine, aber bissige Kläffer auf ihn los und suchten ihm den Paß zu verlegen. Der Bettler, oder was er war, kümmerte sich nicht um sie. Ohne den Stock zu erheben oder sie kuschen zu heißen, nur immer den Käfig vorsichtig vor sich hin tragend, stieg er gleichen Schrittes weiter. Egon, der nach dem Abendbrot in der kleinen Loggia eine Zigarre rauchte, hatte ihn schon vom Tale an beobachtet, wie er mühsam, aber wie vom Magneten gezogen, hügelan klomm. Er war der erste Landfahrer, der den Weg in diese Einsamkeit fand, und die Zielsicherheit, mit der er sich heraufwand, machte den Beobachter stutzen. Er sagte über die Zeitung weg in den Hof hinunter: »Matteo, geh dem Menschen entgegen, sag ihm, daß ich keine Vögel kaufe, gib ihm etwas Kleingeld und heiße ihn umkehren.«

Der flinke Matteo lief hügelab und kam laufend zurück: »Er nimmt kein Geld, und unsere Sprache versteht er nicht. Aber er hat ausgedrückt, daß er hier herauf will.«

»Unverschämt!« sagte Egon vor sich hin, aber er sagte es außer Hörweite, denn er nahm niemals in Gegenwart der Dienstboten ein stärkeres Wort in den Mund. Er legte die Zeitung weg und stieg in den Hof hinunter, während der Mensch, einen Fuß nachziehend, aber unaufhaltsam wie das Schicksal, höher und höher heraufkam. Egon sah ihm mit unbegreiflichem Mißgefühl entgegen. Er hätte am liebsten das Torgitter vor seiner Nase schließen lassen, wenn er sich nicht geschämt hätte. Als der Fremde den Hof betrat, wurde der Wächterhund, der frei neben seiner Hütte gelegen, unruhig und konnte nur durch ein wiederholtes »Kusch dich!« seines Herrn abgehalten werden, daß er nicht an ihm hochsprang. Es war ein häßlicher untersetzter Mensch, mager und verkommen, seine Kleider waren über und über bestaubt, ein Schuh war aufgeschnitten. Nur die Augen blickten ungemein hell und scharf aus dem jungen verwitterten Gesicht. Egon trat ihm entgegen und fragte: »Was suchen Sie hier? Ich kaufe Ihren Vogel nicht.« Er sagte es in deutscher Sprache, dunkel fühlend, daß er einen Landsmann vor sich habe.

Der Strolch nahm mit einer Gebärde zwischen Trotz und Ironie den Hut ab. »Ich will ihn nicht verkaufen«, sagte er und stellte den Käfig wie selbstverständlich auf den Marmortisch vor dem Hause. Darin saß geduckt ein fast unwahrscheinlich schöner und großer Papagei, an Pracht der Schwingen und der langen Schwanzfedern einem Paradiesvogel ähnlich. Egon wurde blaß vor Zorn.

»Mensch, wer sind Sie, daß Sie sich unterstehen, hier einzudringen?« – »Roderich«, antwortete der andere stumpf. Dabei gingen seine Augen der jungen Frau entgegen, die gerade mit Bertie aus dem Hause trat.

Egon hob empört den Arm, um den Landstreicher hinauszuweisen. Das hielt der Hund für ein Signal zum Angriff und fuhr auf den Vermessenen los. Vanadis hatte gerade noch Zeit, das Tier, das ihr Eigentum war, am Halsband zu packen und festzuhalten. Bertie sprang herzu und hielt von der anderen Seite. Der Hund riß und zerrte unter wütendem Gebell, die beiden stemmten sich, wie sie konnten, und wurden von dem aufgeregten Tier schrittweise dem Eindringling entgegengeschleppt.

»Matteo!« schrie Vanadis durchdringend. »Nimm mir den Hund ab, binde ihn fest!« Und freigekommen stürzte sie dem Kömmling entgegen, den sie schon an der Gebärde erkannt hatte: »Roderich! Es ist Roderich!«

Egon hielt sie mit schnellem Griff zurück. »Ich war längst darauf gefaßt, daß mir einmal ein Vagabund mit diesem Anspruch daherkommt. Man weiß ja leider, daß wir mit einem verlorenen Sohn geschlagen sind.«

»Ich kann also wieder gehen, Herr von Solmar?« fragte der Landstreicher in hoffnungslosem Ton, in dem doch wieder etwas wie Spott mitklang.

»Es scheint so«, war die kühle Antwort.

»Egon, Egon, was machst du?« rief die junge Frau außer sich. »Es ist Roderich! Es ist unser Sohn! Ich kann mich nicht täuschen!«

Bertie hatte wie verzaubert auf den wunderschönen Papagei hingestarrt. Jetzt stellte er sich herzhaft vor den verwilderten Fremden, sah ihn eine Weile aus seinen seltsamen Augen an und sagte mit der liebenswürdigen Anmaßung des verwöhnten Kindes: »Der Mensch soll bleiben.«

Der Hund hörte zu bellen auf. Eine Zeitlang standen sich die drei Großen schweigend gegenüber, während das Gesinde neugierig hinter der Hausecke vorlugte. Der Kleine ergriff von dem Fremden Besitz, indem er die Hand an den Stock legte, worauf jener sich stützte. Er schien sehr erschöpft, man merkte, daß er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. »Wer Sie auch sein mögen«, sagte Egon schneidend, »wenn Sie mit einem solchen Anspruch auftreten, so müssen Sie Beweise bringen. Ich vermag Sie schlechterdings nicht zu erkennen.«

»Das nennt man die Stimme der Natur«, sagte der Fremde wieder in dem gleichen Ton zwischen Ironie und Verzweiflung.

»Wie also wollen Sie sich als Roderich von Solmar ausweisen?«

»Laß ihn doch erst sitzen und sich stärken«, bat Vanadis. »Du siehst ja, er taumelt.«

»Er wird getrunken haben bei der Hitze«, warf ihr Gatte finster hin.

»Ja, ich habe getrunken, Herr von Solmar. Wasser habe ich getrunken. Seit zwei Tagen ist Wasser meine ganze Nahrung. Es ist das einzige, was man ohne Geld bekommt. – Ja so, mein Ausweis. Kleiner, willst du mir ein Stück Kohle bringen?«

Das Kind sprang fort, als ob es verstünde, um was es ging. »Dein Sohn, Vanadis?« fragte der Fremde, ihm einen langen Blick nachsendend. »Er gleicht dir sehr!«

»Nicht meiner. Er ist Märchens.«

»Märchens! Ach Märchens!« Er schlug sich plötzlich die Hand vor den Kopf. »Also daher die Ähnlichkeit!«

»Ja, Roderich, er ist vom Blute der Folkwangs.«

Das Kind kam zurück mit einem Stück länglicher Holzkohle, wie man sie zum italienischen Herdfeuer verwendet.

»Paß auf, mein Junge, und sag mir, wer das ist.«

Er zeichnete mit schnellen Strichen einen schönen jugendlichen Frauenkopf an die Mauer des Hauses.

»Meine Mutter?« fragte der Knabe verwundert und zweifelnd.

»Du siehst, Egon, das kann nur Roderich.«

»Er kann noch mehr«, sagte der Landstreicher und zeichnete einen Jünglingskopf daneben.

»Den kenne ich nicht«, sagte der Knabe.

»Aber ich!« jubelte seine Vantje. »Es ist mein Bruder Gunther.« Die Züge waren nur angedeutet, aber Haltung und Bewegung überzeugten ohne weiteres. »Es genügt«, sagte Egon überwunden. Aber jener fuhr fort und umriß schnell noch den edlen Kopf einer alten Frau unter der Schnebbenhaube und daneben ein spaßig langgezogenes, grobknochiges Gesicht, die arme Fanny in Karikatur. Der Knabe drängte sich an den Zeichner heran und sah mit atemlosem Anteil zu.

»Genug, Roderich«, wiederholte Egon und legte ihm die Hand auf die abgemagerte Schulter. »Der Beweis ist zureichend. Du bleibst bei uns. Geh jetzt mit Matteo, daß er dir ein warmes Essen gibt und dir neben dem Gesinderaum, wo noch Platz ist, ein Bett aufschlägt. Du scheinst sehr müde zu sein. Morgen wollen wir deine Schicksale hören.«

»Egon, wenn dieses Haus wirklich mein ist, das deine Güte mir geschenkt hat, dann darf unser Sohn nicht bei dem Gesinde schlafen. Oben steht das Gastzimmer leer, das ich für Märchen gerichtet habe. – Matteo, führe den Herrn in das blaue Zimmer und setze ihm vor, was es in der Küche noch Gutes gibt. Richte ihm auch ein warmes Bad, bevor er zur Ruhe geht. Dann schaffe Wäsche und Kleider her. Er ist der Sohn des Hauses, er bleibt hier.«

»Er kommt von der See und hat eine schwere Krankheit durchgemacht«, setzte Egon erklärend gegen das Gesinde hinzu.

Bertie ersah den Augenblick, um schnell den Käfig zu ergreifen, der noch immer unbeachtet stand, und ihn auf sein eigenes Zimmer zu tragen, trotz des kreischenden Widerspruchs des Insassen, der zu wissen schien, daß er für andere Hände bestimmt war.

 

Als der Heimgekehrte unter seiner seidenen Decke erwachte und um sich her Wände mit Spiegeln, auch einen Teppich am Boden und Vorhänge an den Fenstern sah, fragte er sich, ob er vielleicht einer der glücklichen Narren sei, denen der Wahnsinn aus dem tiefsten Elend heraus feenhafte Zustände vorgaukelt. Allein er spürte sogleich einen rasenden Kopfschmerz und ein Seitenstechen, das ihm jeden tieferen Atemzug behinderte. Da konnte er nichts Besseres tun als die Augen wieder schließen. So bemerkte er nicht, daß sich ein kleiner blonder Kopf durch die Türe schob, der fragen sollte, ob Onkel Rodi sein Frühstück auf dem Zimmer wolle. Das Kind lief zurück und sagte zu seiner Vantje eilig und wichtig: »Der Mensch ist krank!«

Als sich das ereignete, war der Herr des Hauses schon nicht mehr in Barberino. Ihm war eine Botschaft Carlos, der eines angefangenen dringenden Neubaus wegen seine Gegenwart erbat, zu Paß gekommen, und er ließ sogleich anspannen. In Barberino war es ihm auf einmal zu eng geworden. Er hatte zunächst nur den dunklen Drang, sich diesem Zusammensein zu entziehen; sein bewußtes Ich formte ihn um in die Einsicht, daß es so besser sei. Er war ja zu gerecht, um dem Heimgekehrten, der von der Blutschuld gereinigt war, die Aufnahme zu verweigern, aber ein Gefühl der Freude vermochte er nicht aufzubringen. Es eilte ihm auch nicht, Erlebnisse zu erfahren, deren Ausgang er vor Augen sah. Gewiß wollte er freundlich und nachsichtig sein, schon seiner Frau zuliebe, die nun einmal an dem Ziehbruder hing. Aber die unüberbrückbare Fremdheit stand zwischen ihnen. Und der andre Teil tat ja gleich alles, um die Annäherung zu verhindern. Es gab vorerst keine Erdensprache, in der Vater und Sohn sich hätten verständigen können. Wenn er nur nicht so abstoßend aussähe – und nun schleppte er gar noch ein Bein nach, was ihn ganz teuflisch erscheinen ließ. Daß Vanadis kein Grauen vor ihm empfand! Und was nun gar den verwöhnten Knaben zu dem häßlichen Bettler zog? Wie merkwürdig das alles! Nein, Frauen und Kinder sind dem Mann doch immer eine verschlossene Welt!

Ein dauerndes Zusammensein mit Roderich war ihm unausdenkbar. Aber so stehenden Fußes konnte er keinen Entschluß fassen. Er mußte die Lage allein und ruhig in seiner Seele klären, dazu war die Abwesenheit günstig. Inzwischen konnte das verlorene Schaf ausruhen und in Frauenhänden sich erst wieder etwas zivilisieren, bevor es zwischen ihnen zur Aussprache kam. Über die Ungezogenheit der ersten Begegnung hatte er schon verzeihend hinweggesehen: Art läßt nicht von Art. – »Sag ihm, ich würde in einigen Tagen zurück sein, und wir würden dann von seiner Zukunft reden«, hatte er beim Abschied seiner Gemahlin aufgetragen.

Währenddessen stand der Landarzt, Dr. Bonanno, am Bette Roderichs, maß die Fieberhöhe, behorchte und beklopfte die Brust des Patienten. An den Tätowierungen auf Brust und Armen erkannte er, daß er mit einem Seemann zu tun hatte. Mit dieser Menschenart war er vertraut, er hatte in jüngeren Jahren als Schiffsarzt gleichfalls die Meere befahren. Er fragte zunächst heraus, daß der Kranke mit dem Schiff in Hamburg angekommen war und danach mit wenigen Mitteln den Weg erst nach Florenz, dann hier herauf gefunden hatte. Als Mittlerin diente die junge Stiefmutter, die dem Arzt mit sicheren Griffen zur Hand ging, etwas Spanisch, das dem Landstreicher auf seinen Irrfahrten angeflogen war, unterstützte die Verständigung. Er lag tief erschöpft und zeigte wenig Lust zu Mitteilungen. Zunächst wurde eine Ausschwitzung in der Brusthöhle, von trockenem Husten begleitet, bei hohem Fieber festgestellt, Chinin und Wicklungen verordnet. Das Fieber stieg noch im Laufe des Tages, vorübergehend umflorte sich das Bewußtsein. Eine spätere, genauere Untersuchung ergab noch seitlich am Rücken eine kleine Narbe, der Form nach von einem Messerstich herstammend, bei deren Berührung der Kranke zusammenzuckte. Über ihren Ursprung war nichts zu erfahren, als daß es eben einen Streit und eine Stecherei gegeben hatte, es war schon Jahre her. Den Verdacht des Arztes, ob nicht vielleicht ein Splitter zurückgeblieben sei, der sich jetzt wieder rühre, konnte der Kranke nicht beantworten, er erinnerte sich nur, daß er eine Zeitlang mit einem Pflaster auf dem Rücken und mit schmerzendem Kopf, auf den er gefallen war, in der Schiffskoje gelegen und daß die Wunde dann restlos verheilt war. Später wollte er nichts mehr gespürt haben als nur in den letzten Tagen leise Stiche beim Husten und Atemholen. Der Arzt beschloß in der Stille, die Narbe im Auge zu behalten.

Egon kam eilfertig in Begleitung der ersten klinischen Größe von Florenz zurück. Um in diesem schwierigen Augenblick recht als Vater zu handeln, hatte er den Berühmtesten aufgesucht, der in alle vornehmen Häuser zur Beratung gerufen wurde und die größten Rechnungen schrieb. Daß Ernsterdenkende seine Größe nicht ganz für voll nahmen und daß über seine Eignung zum Leiter einer bedeutenden Anstalt verschiedene Stimmen laut waren, wußte er nicht oder ließ es auf sich beruhen. Unterwegs besprach er mit ihm das Was und Wie der Überführung seines kranken Sohnes, denn daß dieser in einem städtischen Spital gepflegt werden müsse, stand ihm von Anfang an fest und floß von seiner Willenssphäre in die des Professors über. Er machte ihn gleich darauf aufmerksam, daß es vielleicht Mühe kosten werde, die zweite Mutter des Kranken, die zugleich seine Ziehschwester sei, von der Notwendigkeit dieses Schrittes zu überzeugen, weil sie in einer angeborenen Überspannung des Pflichtgefühls dahin neige, sich mehr aufzubürden, als ihre zarte Gesundheit auf die Dauer leisten könne, und erbat sich im voraus die Unterstützung des Professors für diesen Fall.

Eine Salongröße! dachte Vanadis enttäuscht, als der Berühmte ins Zimmer trat, und war von vornherein gegen seinen Befund auf der Hut. Sie wunderte sich, wie Egons Kennerblick sich so irren konnte. War es nicht, als müßte er in allem fehlgreifen, was seinen Sohn betraf? Der Professor, ein Verehrer schöner Frauen, war seinerseits so auf die Begegnung mit der gefeierten Donna Eugenia gespannt gewesen, daß er beim Anblick der weißen Schwesternschürze, wie er sie in seiner Klinik jeden Tag vor Augen hatte, und des kunstlos unter ein Tuch gebundenen Haares aus den Wolken fiel. Aber als Mann von Welt küßte er ihr verehrungsvoll die Hand und sprach ihr seine Bewunderung für ihre besonnene und opferwillige Haltung am Krankenbette aus, wobei er etwas verfrüht die Bemerkung einfließen ließ, daß es nun mehr an der Zeit sei, die zarten Hände von der ungewohnten Mühsal zu entlasten. Vanadis begriff, daß man ihr den Kranken nehmen wollte und ihren Einspruch von vornherein durch das Gewicht seines Namens beugen. Sofort erklärte sie mit höflichem Nachdruck, daß sie Krankenschwester von Beruf und langer Erfahrung sei, die Pflege eines nahen Angehörigen sei für sie keine Last, sondern ihr natürliches Amt. Niemand kenne den Kranken besser als sie, weil sie in einer Kinderstube groß geworden seien, sie würde sich nie dazu verstehen, den Tieferschöpften in fremde, gleichgültige Hände abzugeben.

»Auch nicht um seines eigenen Besten willen?« fragte der Professor mit einem Lächeln, hinter dem sich Schärfe barg.

Ob der Herr Professor die Verbringung aus den waldigen Höhen von Barberino in die staubige, glühende, von Krankheitskeimen geschwängerte Stadtluft für eine zum Besten des Kranken dienende Maßnahme halte? fragte sie ebenso zurück. Der Professor war nicht gewohnt, daß ihm widersprochen wurde, am wenigsten von seiten einer Frau, denn verehrende Damen waren es, die seinen kurulischen Stuhl umgaben und denen er seinen Ruhm zumeist verdankte. Er antwortete trocken: »Nun, wir werden ja sehen.«

In Gemeinschaft mit Bonanno, den die beiden unterwegs im Wagen aufgegriffen hatten, wurde aufs neue untersucht. Die Ausschwitzung hatte sich ausgebreitet, das Fieber war gestiegen, teilnahmslos lag der Kranke, nur von Zeit zu Zeit leise stöhnend. Die Ärzte berieten unter vier Augen. Der Professor, immer der empfangenen Anregung folgend und durch den erfahrenen Widerspruch herausgefordert, sprach die Ansicht aus, die Schmerzen seien höchstwahrscheinlich Ausdruck einer beginnenden Eiterung, und es werde bald Zeit sein, an eine Operation zu denken, wobei der Verbleib in dem abgelegenen Landhaus, weitab von den Hilfsmitteln der Wissenschaft denn doch nicht in Betracht komme. Der Landarzt äußerte mit der Zurückhaltung, die ihm seine bescheidenere Stellung auferlegte, seinen Zweifel, ob wirklich eine Eiterung im Anzug sei, wofür die bisherigen Anzeichen ja noch nicht sprächen, und wies dabei auch auf die Narbe, hin, die dem berühmten Kollegen entgangen war, indem er der Mutmaßung Raum gab, daß vielleicht eine abgebrochene und unbemerkt zurückgebliebene Messerspitze durch Verschiebung Anlaß zu den Schmerzen gebe. Der Professor behandelte die Mitteilung als unwesentlich und begehrte auch die Narbe nicht zu sehen. Ein Splitter, sagte er, hätte niemals unbemerkt bleiben können, sonst würde die Verschmutzung, die ihm notwendig anhaften müßte, gleich die schwersten Erscheinungen hervorgerufen haben. Dagegen machte Bonanno geltend, daß er auf seinen Fahrten manchen wilden Vorgang miterlebt habe, dessen Folgen nicht nach den Lehrbüchern verlaufen seien, und erzählte von einem dahin gehörenden merkwürdigen Fall, über den jedoch der Professor lächelnd hinwegging. Dann faßte dieser der Familie gegenüber seine Beobachtungen in einem eleganten Resümee zusammen, ohne der Messerspitze die Ehre einer Erwähnung zu tun, wies nochmals auf die vielleicht in Bälde bevorstehende Notwendigkeit eines chirurgischen Eingriffs hin, und nachdem er den Wunsch ausgesprochen hatte, daß der hochherzige Entschluß der zweiten Mutter, den kranken Sohn eigenhändig zu pflegen, keine nachteiligen Folgen zeitigen möge, entzog er sich allen weiteren Erörterungen durch beschleunigte Abfahrt.

Während Egon ihn an den Wagen hinunterbegleitete, blickte Vanadis unter der Tür des Krankenzimmers dem Landarzt forschend ins Gesicht.

»Gnädige Frau«, sagte dieser mit gedämpfter Stimme, »Sie sehen selbst, welche Verantwortung wir auf uns nehmen. Noch ist keine Eiterung der Brusthöhle eingetreten, und es muß nicht dazu kommen, aber wir wissen beide: es kann. Wenn es dann hier oben schiefgeht, so tragen wir den Vorwurf. Andrerseits, wenn wir den Kranken in diesem Zustand abliefern, so ist er nach Lage der Dinge mit Wahrscheinlichkeit – geliefert.«

Sie drückte ihm schweigend die Hand zum Siegel ihres Bundes. Das konnte sie ihm nicht sagen, daß sie nur dem Kranken und sich selbst verantwortlich waren, weil der Vater nicht mit dem Herzen beteiligt war. Aber sie weihte den Helfer so weit wie nötig in die Verhältnisse ein, um ihm das Verständnis der Lage zu erleichtern.

Als die Gatten allein waren, fragte Egon: »Nun –?«

Zum erstenmal seit ihrer Ehe kam es zu einem Streit zwischen beiden. Sie wies auf die Angriffe hin, die gerade damals von jüngeren Ärzten in der Presse gegen das städtische Spitalwesen gerichtet wurden, und als er von einer gut geführten Privatklinik am Viale gehört haben wollte, hielt sie ihm die Hitze und den Brodem der wasserlosen Stadt, die Länge und Schwierigkeit des Weges und daß der Kranke sich nicht verständlich machen könne, entgegen.

»Hier ist sein Platz«, sagte sie, »hier ist er im Elternhaus. Wir haben die reinste Waldluft, hohe kühle Räume, Hände genug zur Hilfe. Warum das Schlechtere wählen, wenn man das Bessere hat!«

Egons kühle Antwort, daß er nicht nur Vater, sondern auch Gatte sei und daß ihr ständiger Aufenthalt am Krankenbette weder ihrer Gesundheit zuträglich sei noch auch vor der Welt das richtige Ansehen habe, entfernte sie noch weiter voneinander. Wo es um Leben und Sterben ging, hatte sie für solche Rücksichten kein Verständnis; Egons Macht über sie war in diesem Krankenzimmer zu Ende.

»Erst gabst du ihn mir zum Bruder, dann gabst du ihn mir zum Sohn, so laß mich auch meine Aufgabe an ihm erfüllen!« rief sie erregt. »Du weißt, ich habe mich dir stets in allem angepaßt, heute kann ich es nicht. Ich werde niemals zugeben, daß man ihn mit Gefahr seines Lebens hinunterschafft. Außer du wolltest Zwang anwenden. Aber dann habe ich als Mutter das Recht, unsern Sohn zu begleiten.«

Egon sah sie groß an und wandte sich zur Tür. Sie kam zu sich und sah ein, daß sie sich im Ton vergessen hatte. Sie eilte ihm reuig nach, aber die Waffen strecken konnte sie nicht, nur bitten, daß er ihre Heftigkeit verzeihe. Er machte mit der Hand die nachsichtige Gebärde des Wegwischens und entfernte sich. Aber jeder Nerv an ihm bebte. Dieses Wesen, das er mit seinen Händen geformt hatte, sein eigenstes Gebilde, aufgebäumt gegen ihn wie gegen einen Feind! Ein Zerwürfnis zwischen ihr und ihm, das Schlimmste, was er sich denken konnte. Durch sie lebte er, durch sie war er jung. Dort in der Ecke lauerte ein grauer Schatten, das Alter, es konnte nicht an ihn heran, solange er sie hatte. Sie verlieren, auch nur innerlich, war der Anfang vom Ende. Darum wandte sich auch seine Empörung gleich wieder von ihr ab und ganz auf Roderich. Der Unglücksmensch, von der Geburt an bestimmt, der Pfahl in seinem Fleische zu sein. Ein paar Jahre hatte man vor ihm Ruhe gehabt, jetzt kam er zurück, und das erste war, daß er ihm die Frau verhetzte! – Jählings brach der Gedanke ab. Tat er das denn wirklich, dieser schwerkranke Mensch, der nur zuweilen durch die zusammengebissenen Zähne stöhnte? – Egon kam zur Besinnung und erschrak, wieweit er abgeirrt war. Nur nicht die Übersicht verlieren, sich nicht in Unrecht verstricken. Sich selbst zur Ehre und um ihren Glauben nicht zu verlieren, mußte er der Gerechte und Überlegene bleiben. Er wurde ruhiger und dachte nach. Es ehrte sie ja, wie sie für diesen verirrten Menschen eintrat, der seinen Namen trug und in dem sie ein Stück eigener Heimat sah. Was war denn geschehen, worüber er zürnen durfte? Der Professor gefiel ihr nicht – nun ja, ihm selber hatte er schließlich auch nicht gefallen mit seinem olympischen Gehabe und dem Phrasendrechseln am Krankenbett. Dieser Naturbursche von Landarzt, der aus dem Leben herkam, war von anderem Korn. Wenn er auch statt der Zigarette, die er draußen lassen mußte, ein Zündholz in den Mundwinkeln drehte, was Egon auf die Nerven ging, so schien er doch in der Tat den besseren Einblick in das Naturgeschehen zu haben. Und vielleicht war in diesen regenlosen Wochen, wo die städtischen Straßenkehrer den nie gelöschten Staub unermüdlich nach einer Seite kehrten und der Glutwind ihn ebensooft wirbelnd an die alte Stelle zurücktrug, in Florenz wirklich nicht die beste Luft für einen Kranken, dessen Brust röchelte. Auch über die Gefahr der Verbringung ließ sich streiten. Auf der anderen Seite freilich standen alle Vorteile der Apparate, der Instrumente, der Chemikalien, der geschulten Wärter. Aber sei es drum, mochte sie ihren Willen haben. Als er sie vorhin gefragt hatte: »Wenn es zur Operation kommen muß, was dann?« hatte sie entschlossen geantwortet: »Dann machen wir sie hier. Der Arzt ist zur Stelle und die Gehilfin ebenfalls.« – Waren in diesen Worten nicht alle Folkwangs, das starke und zarte Geschlecht, dessen Art er liebte, so fern sie der seinigen lag? So wie sie für Roderich kämpfte, würde sie notfalls für ihn selber kämpfen. Er dachte daran, wie ihm die Großmutter einmal kopfschüttelnd gesagt hatte: »Diese Folkwangs sind alle mit Verpflichtungen geboren; wo etwas Schweres verlangt wird, da sagen sie: Ich!« Und wie er selber damals erwidert hatte: »Das sind die Edlen, die mit Verpflichtungen geboren werden, die Unedlen haben nur Rechte.«

Er fühlte sich getrieben, zu ihr zu gehen, den Zwist mit guten, einsichtigen Worten beizulegen. Aber auf ihrem Zimmer fand er sie nicht, sie saß schon wieder bei Roderich. Dieser lag, ohne zu sprechen, sein Atem ging schwer, das Fieber stieg noch immer. Egon trat herein, sie winkte, wie um zu sagen: Er schläft und darf nicht gestört werden! Da erstarb ihm das Wort der Liebe im Mund, er fühlte sich überflüssig und ausgeschaltet und ging still hinaus. Und wieder wurde es ihm in Barberino zu enge, so daß er nicht länger als bis zum nächsten Morgen dort ausdauerte. – Wohl fragte er sich unterwegs: Warum fahre ich denn von hier? Was treibt mich aus der Behausung? Aber ein Unbewußtes war über ihm, daß er sich keine Antwort geben konnte.

Der Kranke verbrachte die meiste Zeit stumm in tiefer Erschöpfung; man wußte nicht, wie weit er sich in seiner Umgebung zurechtfand. Zuweilen gegen Abend wandelte sich seine Teilnahmslosigkeit in Erregung, dann redete er halblaut und hastig vor sich hin: bald fühlte er sich auf dem Deck eines rollenden Schiffs, bald in einem glühenden Heizraum, wo er zu vergehen meinte. Wenn ihn aber das Fieber schüttelnd herumwarf, daß ihm die Zähne aneinanderschlugen und sie ihm die Decke höher zog, murmelte er von Eisbergen, die in Sicht kämen. In solchen Augenblicken erkannte er sie nicht. – Er wird sterben, dachte sie trostlos, und wir werden nie erfahren, wo er sich umgetrieben hat und was mit ihm geschehen ist.

Egon sandte aus Florenz einen jungen Pfleger im Ordensgewand, der den engeren Dienst zu übernehmen und nachts in Roderichs Zimmer zu wachen hatte. Aber der Kranke regte sich auf, wenn er zu lang die gewohnte Hand vermißte, und auch als Dolmetscherin war die Stiefmutter unentbehrlich. O diese weiche, kühle weiße Hand, was war sie dem Heimatlosen für ein himmlisches Labsal. Auffallend viel hatte Egon jetzt auf Casteldimonte zu schaffen. Freilich das Bauen war unumgänglich, weil Märchens Besuch sich als allzu belastend erwiesen hatte und inskünftig wieder bevorstand; da brauchte es schon einen eigenen Gästebau. Auch seine Orchideenzucht, bei der schon die kleinste Unachtsamkeit beträchtlichen Schaden stiften konnte, forderte das Auge des Herrn. Dann gab es wieder Abrechnungen mit den Bauern. So kam er nur ab und zu schnell einmal nach Barberino und blieb nicht länger als eine Nacht. Dieses Haus war nichts mehr für ihn, es roch nach Säuren statt nach Blumen, alles, was seinen Augen lieb gewesen, war nach dem Bedarf der Krankenpflege umgeorgelt. Vanadis ging vom frühen Morgen an in der weißen Schürze durchs Haus. Zwar zu den Mahlzeiten erschien sie wieder so, wie er sie sehen wollte, aber an dem gespannten Gesichtsausdruck merkte er, daß sie über das Gespräch hinweg nach jedem Geräusch aus dem Krankenzimmer horchte. Das verletzte ihn und wies ihn auf sich zurück. Wollte er den Kranken besuchen, so lag dieser mit geschlossenen Augen. Er öffnete sie aber sogleich und noch immer mit einem Ausdruck des Staunens und des Zweifels, wenn die weiße Gestalt an seinem Lager stand. Die Form der Hände, die ihm den Eisbeutel auflegten, tastete er auch im Halbschlaf nach und lächelte, wenn es die rechten waren.

Zuweilen schlüpfte Bertie verbotenerweise mit hinein oder lugte wenigstens von der Tür aus nach dem Kranken. Seit die Vantje keine Zeit mehr für ihn hatte, unterhielt er sich am liebsten mit dem Papagei. Das Kind und der Vogel tauschten Sprachunterricht – das kluge Tier, das eine fast menschliche Stimme hatte, kramte dem Knaben alle seine spanischen Wörter aus, und dieser brachte ihm dafür deutsche und italienische bei. Aber wenn er Roderichs Tür gehen hörte, ließ er den Vogel und huschte schnell hinzu. Die fast unbegreifliche Hinneigung, die den verzärtelten Knaben zu dem häßlichen, verwahrlosten Landstreicher gezogen hatte, wurde auch durch das, wovor Kindern und Tieren sonst am meisten graut, die Krankheit, nicht abgeschreckt. Zuweilen fragte er: »Muß der Mensch sterben?« Denn noch immer, wenn er von ihm sprach, sagte er: »der Mensch!«

Einmal fand Egon doch den Kranken mit offenen Augen. Er war zur Zeit beinahe fieberfrei, dadurch trat die äußere Zerrüttung erst recht hervor, und die vordringenden Bartstoppeln machten ihn doppelt häßlich. Dieser Mensch sein Sohn! Die fast körperliche Abstoßung zwischen den beiden ließ das Gespräch frostig genug ausfallen; es schloß von Egons Seite mit der Frage an den Wärter, ob es nicht bald an der Zeit wäre, den Kranken zu rasieren. Als er gegangen war, fragte dieser plötzlich: »Warum hast du diesen Herrn geheiratet?«

Sie hatte nur einen bittenden Verweis: »Er ist dein Vater, Roderich.«

»Man sagt es«, war die bittere Antwort. »Ich hatte einmal einen besseren.«

»Roderich«, sagte sie flehend, »ich habe auf dieses Wiedersehen jahrelang gewartet. Ich habe es vorbereitet, denn ich habe nie aufgehört, an dich zu glauben. Zerstöre meine Hoffnung nicht. Dein Vater hat dir sein Haus geöffnet, mehr konntest du nicht erwarten. Wir wollen nicht fragen, wo du dich inzwischen umgetrieben hast, wir wollen denken, du habest einen langen Schlaf getan mit wilden Träumen. Wenn du genesen bist, nimmst du dein Werk wieder auf. Die Zukunft ist noch immer dein, ich helfe dir sie bauen.«

»Ich muß also jetzt Frau Mutter zu dir sagen?« antwortete er finster. »Oder nicht? Wie denn?«

Der kleine Junge, der vorhin hinter Egon ins Zimmer geschlüpft war, hatte sich seither still in der Ecke gehalten. Jetzt kam er heran und sagte ganz wichtig und sachlich: »Sie heißt Vantje.«

»Vantje! Ja, das ist hübsch. Das ist neu. Daran hängt keine böse Erinnerung. Darf ich auch Vantje sagen?«

Sie nickte. »Ich bin unter jedem Namen die gleiche für dich.«

Er legte sich in großer Ermattung zurück. Aber nach einiger Zeit fing er wieder an. »Hättest du nur jenen Brief nicht geschrieben.« – »Welchen Brief?« – »Den letzten. Den mit den vielen ›Wir‹. Es ist schrecklich, wenn jemand, mit dem man vertraut war, auf einmal nicht mehr ›ich‹ sagt, sondern ›wir‹, und der andere von den beiden, das ist – ein anderer, das ist der eigene Vater. – Nein«, schrie er plötzlich laut, »höre nicht auf das, was ich sage. Ich bin ja krank!«

»Sei doch ruhig, Lieber«, beschwichtigte sie, »daß du nicht noch kränker wirst. Ich habe nichts gehört. Die Reden der Fieberkranken hört man nicht.«

»So? Hört man die nicht?« fragte er, auf einmal nachdenklich geworden. »Ich habe wohl schon viel durcheinander geredet?«

»Gar nichts hast du geredet.«

Aber die Erinnerung an jenen Brief ließ ihm keine Ruhe. Wir erwarten dich! – Wir wollen dein Bestes! – Er lachte bitter in sich hinein: Das Wohlwollen des Herrn von Solmar! – Als der Knabe seine Vantje traurig sah, hob er sein Fingerlein und sagte warnend: »Mensch!«

Das sah so drollig aus, daß Vanadis ihn zwischen Lachen und Weinen in die Arme nahm. Auch der Kranke erhellte sich plötzlich und sagte: »Diesen Ehrennamen muß ich mir verdienen.«

Von den Erlebnissen des Heimgekehrten in all den Jahren wußte man auch jetzt so gut wie nichts. Das Reden war ja nie seine Sache gewesen, und jetzt wirbelte sein geschwächter Kopf alle Erinnerungen durcheinander. Aus abgerissenen Äußerungen zu schließen, mußte er die meiste Zeit auf See verbracht haben. Daß er auf der Flucht erst Kohlenschipper gewesen, später Matrose, daß er mit Walfischjägern gefahren war, in kalifornischen Urwäldern Holzfäller geworden, das trieb zusammenhanglos in ungreifbaren Bildern vorüber. Erklären konnte er nichts und sie wollte ihn nicht beunruhigen. Die stolze Herrin von Casteldimonte, die ihre fiebernden Hände in Edelsteinen kühlte, hatte sich in die dienende Schwester Eugenie zurückverwandelt und dachte an nichts mehr als an ihren Pflegling. Einst in Jugendtagen hatte sie in jedem Kranken Edwin Leo gepflegt. Hier war mehr als Edwin Leo, hier war der Genius, der mit dem Tode rang und den sie der Welt und sich erhalten wollte. Die Ausschwitzung in der Brusthöhle breitete sich noch weiter aus, und nach jedem Fieberrückgang schnellte die Kurve wieder hinauf. Dieser arme Körper war schon zu lange von Strapazen verrackert und der Ordnung und Pflege entwöhnt. – Wird die Ausschwitzung eitrig werden? Muß es zur Operation kommen? Wird die Natur siegen? – Dr. Bonanno verfolgte wachsam alle Schwankungen, sie vermied es, ihm ihre Zweifel zu zeigen und ihn mit Fragen zu bedrängen; sie sah ja selber, wie es stand. Nur einmal machte sich ihre Angst in der Bemerkung Luft, sie begreife jetzt, warum Ärzte so ungern die eigene Familie behandeln, es sei eine schwere Sache um das Wissen; worauf er antwortete: »So ist es. Aber das Wissen soll uns nicht zum Alpdruck werden. Noch ist Raum zur Hoffnung – und ich hoffe!«

Roderich hatte am Fuß eine Blutgeschwulst, die seinen hinkenden Gang verursacht hatte und die trotz der Behandlung nur sehr langsam wich. Vanadis fragte ihn in einer fieberfreien Stunde, wie er nur mit diesem Schaden den weiten Weg von der Bahnstation habe gehen können.

»Ich ging ja nicht, ich fuhr«, sagte er. »Bauern ließen mich aufsitzen.«

»Du konntest doch nicht mit ihnen sprechen.«

»Die Armen verstehen sich in allen Ländern. So einem verhungerten Lump hilft jeder. Es ist nicht wahr, daß die Menschen schlecht sind. Sie sind gut.«

Sie fragte weiter, woher er die Beule habe. – »Von einer Kohlenschaufel.« – Nun drang sie in ihn um das Wie und Wo. – »Das war im Heizraum.« – »Wie kamst du in diese Hölle?« – »Als Heizer.« – »Du Heizer!« rief sie entsetzt. – »Ich mußte wohl. Hatte ja kein Geld zur Überfahrt.« – »Bist du denn nicht Matrose gewesen?« – »Das war ich freilich. Aber wie willst du da so schnell eine Heuer finden? Ich hatte Eile.«

Er Heizer! Ein nackter, schweißbedeckter Kuli drunten im Höllenraum! Und sie saß unterdessen hier oben in Waldeskühle, umgeben vom Reichtum, dessen Erbe er einmal sein sollte. Das war schlimmer als ihre schlimmsten Vermutungen. Er nahm es sehr einfach: »Man muß überall zugreifen können. Ich habe Schlimmeres erlebt.« – Dann lag er still, wie von bösen Erinnerungen heimgesucht.

Um ihn zu zerstreuen, erzählte sie ihm eine Spukgeschichte: »Denke dir, eine meiner Bäuerinnen ist schon zum zweitenmal schreiend am hellen Mittag aus dem Kuhstall gelaufen, weil sie einen durchsichtigen Schemen gesehen haben wollte, der an den Kühen trank. Die Bauern lauerten dem Schemen mit einem Prügel auf, aber unsichtbar ging er an ihnen vorüber und trank die Milch.«

Diese Geschichte belustigte den Kranken.

»Bringt mir alle bösen Jungen der Nachbarschaft her, so mache ich euch den Milchdieb ausfindig.«

Vanadis zuckte die Achseln: »Es gibt doch Dinge, die unaufgeklärt bleiben. Denke an das Fallgespenst in unserm alten Hause.«

Er wurde noch heiterer: »Gunther hatte es wohl aufgeklärt, aber er schonte den Täter, er war so ein treuer Kamerad.«

Sie staunte. »Warst denn du der Täter?«

»Wer sonst? Bei welcher Missetat war ich's nicht?«

Die späte Enthüllung war so überraschend, daß sie die Möglichkeit gar nicht zugeben wollte.

»Erinnere dich doch – die Tür zu der großen Holzlege unten im Keller, die war unverschlossen. In der Holzlege aber stand die Rückseite der Treppe auf. Da brauchte es nichts als ein Scheit, eine Rolle und eine Schnur und einen bösen Jungen, der zog, so rumpelte das Scheit die Stufen herunter und blieb dann friedlich liegen.«

»Wir standen aber doch alle herum und du mitten unter uns.«

»Denk an die schlechte Beleuchtung und daß nur erschrockene Frauen und Kinder da waren. Als Vater heimkam und die Treppenlampe anbringen ließ, blieb der Spuk weislich aus.«

»Und das tatest du? Der arme Großvater! Ein solcher Hohn auf den Toten! Hat dir denn nicht selber gegraut?«

»Später tat es mir leid, es war abscheulich. Aber damals war ich so voll Gift und Wut, daß ich nichts anderes dachte als dich erschrecken und quälen.«

»Aber warum denn, Roderich, diese Wut? Und gerade auf mich?«

»Begreifst du es nicht? Wegen der Affenkomödie mit dem Brautschleier.«

Sie war tief betroffen. So lebt man nebeneinander hin, ohne sich zu kennen. Und sogar in der Kindheit, wo man sich am besten kennt!

Den Kranken hatte die Erinnerung sichtlich ermuntert. Deshalb forschte sie weiter:

»Nach dieser Beichte mußt du mir auch sagen, was es mit dem Brand der Fehringerschen Fabrik auf sich hatte. Hast du sie angezündet?«

»Nein, angezündet habe ich sie nicht.«

Sie sah ihn erwartungsvoll an, was weiter kommen würde, aber er schwieg.

»Warum läßt du die Frage halb offen?«

»Weil ich, was man so sagt, der moralische Urheber war. Ich und Onkel James.«

»Onkel James?«

»Jawohl, wir beide wünschten der Fabrik den roten Hahn. Aber jetzt sage ich nichts weiter.«

»Jetzt mußt du aber, Roderich, es hat ja nichts mehr auf sich.«

»Weißt du nicht mehr, wer in jener Nacht vor Aufregung krank wurde? Und die Kiefersperre bekam von dem, was nicht zwischen den Zähnen herausdurfte?«

»Doch nicht Häschen? Unser armes Häschen?«

Roderich nickte. »Ich sagte ihm die Tat auf den Kopf zu. Als er bekannt hatte, löste sich der Krampf. Du erinnerst dich, als der Doktor kam, war der Anfall schon halb vorüber. Er meinte, Vater einen Dienst zu erweisen, und bedachte nicht, in welche Gefahr er Großmutter stürzte, und daß es ein Verbrechen war.«

»Ihr wart schreckliche Jungen, Roderich.«

»Bis auf einen, der für die Erde zu gut war.«

 

Drei Wochen vergingen in ständigem Auf und Ab der Fieberkurve, die Krankheit änderte oft mehrmals am Tag ihr Gesicht. Bonannos Stimme behielt den zuversichtlichen Klang, aber seine Miene wurde unleserlich, und er drehte kein Zündholz mehr zwischen den Zähnen – ein beklemmendes Zeichen. Vanadis lebte in einem Krampf der Angst. Nächtelang quälte sie sich schlaflos mit dem Zweifel: Läge er nicht doch besser in der Klinik am Viale? Aber was könnten sie dort für ihn tun, das nicht auch hier geschehen wäre? – Und endlich kam der Gedanke: Wenn er sterben muß, dann lieber hier, von meinen Armen gehalten! Aber damit schien dem Tod schon ein Spalt geöffnet, und sie stemmte sich aufs neue mit allen Willenskräften gegen das Tor, an das sie ihn pochen hörte. Ihr Gatte las in dem immer schmaler und blasser werdenden Gesicht ihre wachsende Not und fragte nichts, um sie nicht zu vermehren. Er machte sich bei jeder Abreise darauf gefaßt, daß ihm die Todesbotschaft folgen werde, und überlegte nur, wohin er dann das geliebte Wesen führen solle, um sie über das traurige Erlebnis wegzubringen.

Roderich hatte eine Nacht besonders schlecht geschlafen und nie die richtige Rückenlage finden können. Am Morgen machte der Barmherzige Bruder den Arzt darauf aufmerksam, daß der Kranke sich aufzuliegen beginne, was bei seiner großen Magerheit zu erwarten stand. Die Signora wisse es noch nicht, er habe sie nicht damit erschrecken wollen. Bonanno fand am Rücken einen roten entzündlichen Fleck, nicht weit von der alten Narbe, dessen Entstehen er zuvor schon beobachtet hatte, der aber unterdessen gewachsen war. Er beschäftigte sich eingehend mit dem Fleck, empfahl dem Kranken, sich auf die andere Seite zu legen, und ging. Auf der Treppe aber flüsterte er Vanadis, die eben mit einer Tasse Kraftbrühe heraufstieg, in freudiger Erregung zu:

»Donna Eugenia, ich darf Sie auf ein frohes Ereignis vorbereiten, in zwei bis drei Tagen wird es reif sein. Ich sage nichts weiter.«

Des andern Tages war der entzündliche Fleck noch größer und die Freude des Doktors ebenfalls. Das gleiche war am dritten Tag der Fall. Jetzt aber zeigte sich in der Mitte des Flecks eine leichte Vorwölbung, hinter der ein kleiner harter Fremdkörper zu fühlen war. Dieser schob sich binnen kurzem noch weiter vor, eine winzige Öffnung bildete sich, der Doktor half nach und zog mit einem Zänglein die kleine abgebrochene Messerspitze heraus.

»Hier ist sie«, sagte er entzückt wie beim Anblick von etwas sehr Schönem. »Ich habe so fest an sie geglaubt: mir scheint, sie hätte werden müssen, wenn sie nicht gewesen wäre. Das kleine Ding – es hat all die große Not verschuldet. Jahrelang hat es an seinem Platz verharrt, ohne eine Störung zu verursachen. Dann kam die harte Fron unseres Patienten im Heizraum; durch die starke Bewegung rührte sich der Splitter, er schmerzte, er begann zu wandern, und alle die bösen Erscheinungen waren sein Werk. Aber welche Kraftnatur gehörte dazu, das alles an seinem Leibe zu haben und doch den langen Weg nach Hause zu finden, um erst hier oben zusammenzubrechen. Es ist ein ergreifender Beweis von dem, was der Wille über den Körper vermag.«

Der Kranke hörte aufmerksam dem Gespräch der beiden zu, er verstand nicht die Bedeutung der Worte, aber die des Vorgangs und sagte zuweilen »Si« – es war das einzige Italienisch, das er bis jetzt gelernt hatte.

Bonanno hielt noch immer den Splitter in der Hand: »Ich hätte große Lust, ihn dem Herrn Professor zu schicken. Aber lieber noch reihe ich ihn unter meine Trophäen ein. Er soll mich immer an die Tage unserer gemeinsamen Sorge erinnern, Donna Eugenia. Es war eigen: ich mußte an diese Messerspitze glauben von allem Anfang an, sie stand mir zwangsmäßig vor Augen. Wenn wir uns getäuscht hätten, wenn sie nicht gewesen wäre, dann, ja dann . . . Freilich auch sie hätte können verhängnisvoll werden. Aber unsereiner muß auch wundergläubig sein: wen das Leben weit herumgewirbelt hat, der hat viele Wunder gesehen. Es war eine große Sache, daß Sie mit mir einig gingen, Donna Eugenia.«

»Was wäre geworden, wenn ich Sie nicht gehabt hätte, lieber Doktor? Mein Mann und ich werden nie vergessen, was Sie unserm Sohn gewesen sind.«

»Sie werden jetzt sehen, wie schnell es aufwärtsgeht«, sagte Bonanno, sich von dem Kranken und seiner Pflegerin verabschiedend. »Füttern Sie Ihren Pflegling gut« (er brachte es nicht über sich, »Ihren Sohn« zu sagen, es war ihm zu fremdartig), »bringen Sie ihn jeden Tag ein paar Stunden ins Freie, auf den Liegestuhl. In acht Tagen steht er auf den Füßen, und in einem Monat, wenn ihm nichts Besseres einfällt, kann er wieder nach Herzenslust Kohlen schippen.«

»Ich hoffe, es fällt ihm etwas Besseres ein«, antwortete sie in stiller Freude glänzend.

Diesmal erkannte Egon auf der Herfahrt schon von weitem, daß in der Giojosa wirklich die Freude eingekehrt war. Denn auf dem freien Vorsprung, der das Wohnhaus überhöhte, sah er eine helle Sommergestalt stehen, die ihr Tüchlein gegen ihn wehen ließ und dann herabgeeilt kam, ihn vor der Einfahrt zu begrüßen. Sie trug ein zartes blumiges Gewand und am Hals den kostbaren Jadeschmuck, den er ihr zuletzt geschenkt hatte. Sie hatte auf ihn gewartet. Das war ihm seit langem nicht geschehen. »Gute Kunde?« fragte er, leicht aus dem Wagen springend.

»Sehr gute. Unser Sohn ist gerettet.«

Er küßte sie zärtlich auf die Stirn und führte sie am Arm ins Haus.

Roderich lag unter dem Zeltdach auf der Wiese, die jung und lichtgrün mit vielen gelben und blauen Blumen aufgegangen war. Sein Gesicht, frisch rasiert, von allen Stoppeln und Entstellungen befreit, war klein geworden und hatte nichts Abstoßendes mehr. Durch die noch vorhaltende Schwäche und die große Magerkeit sah er hilflos, beinahe rührend aus. Der Vater gab ihm die Hand und erkundigte sich freundlich nach seinem Ergehen.

»Du siehst jetzt aus wie ein Mensch«, sagte er scherzend. »Es fehlt nur noch, daß sich der Schneider deiner annimmt. Unterdessen versuche es mit einem Rock von mir, daß du mit bei Tische sein kannst. Wir wollen deine Genesung feiern.«

So saß er denn mit bei Tische in einem weißen englischen Flanell, denn Egon selbst trug auf dem Land nur weiß, den kranken Fuß auf einen Schemel gestützt, und Vanadis legte ihm die zartesten Bissen auf den Teller. Als der Wein eingeschenkt war, neigten sich die drei Gläser zusammen zur stummen Feier des Tages. Nachdem der Genesende zeitig wieder auf sein Zimmer gebracht war, sagte Egon: »Es tut mir leid, gerade heute deine frohe Stimmung stören zu müssen. Aber du mußt es wissen: Corinna ist zurück, es scheint ihr nicht gut zu gehen. Sie hat lange Zeit das Römische Fieber gehabt und sieht elend aus. In der Stadt ist es noch immer sehr heiß. Ich wollte sie bereden, für die letzten Sommerwochen nach Barberino heraufzuziehen; es hätte auch dir gutgetan, sie um dich zu haben. Aber sie machte Ausflüchte: sie habe dringende Arbeit und so weiter. Du kennst sie ja, sie läßt sich niemals helfen.«

»Und selber hilft sie allen«, setzte Vanadis hinzu.

Corinna! Sie hatte in diesen Wochen nur wenig und zufällig an sie gedacht, so wie die Gedanken jeden Tag aber unabsichtlich durch den Besitzstand der Freundschaft schweifen. So selbstisch macht der Reichtum. Denn trotz allem, es war Reichtum, was sie in dieser Zeit besessen hatte; das Sorgen, das Hoffen, die Herzensangst und Selbstvergessenheit, der immer zitternde Herzschlag, alles war Reichtum, denn es war Leben, das sich plötzlich in ihre Dürre ergoß, jede öde Stelle überströmend, wie wenn ein Meer in die Sahara geleitet würde. Und über dieser Fülle hatte sie Corinna vergessen. Was war mit der Armen geschehen?

Unauffällig erkundigte sie sich nach Goffredi. »Oh, dem ging es nach Wunsch, er hatte Arbeiten verkauft, war in Rom mit den Wehls zusammengetroffen und ihnen nach Capri gefolgt, wo er Märchens Büste zu machen hatte. Der junge Mann kam vorwärts.«

Märchens Büste? Vanadis wußte genug. Das konnte sie freilich nicht wissen, daß dem badenden Jüngling dort im Klippenwasser bei tiefer Einsamkeit eine wunderschöne nackte Nymphe erschienen war, die vor seinem Anblick erschrocken in die verborgenste der Grotten floh, wohin der Beherzte ihr nach eines Pulsschlags Zaudern nachdrang. Sie konnte es nicht wissen, aber etwas Ähnliches schwante ihr. Arme Corinna!

Es ging nun, wie Bonanno verheißen hatte, mit Roderich jeden Tag aufwärts, die Krankheitserscheinungen bildeten sich zurück. Er hinkte am Arm seines Wärters oder in glücklicheren Augenblicken an dem seiner Wärterin mit dem noch immer schmerzenden Fuß auf den nahen unebenen Waldwegen umher, von Bertie wie von einem Schmetterling umflattert. Wurde er müde, so legte er sich unter sein Zeltdach auf den Liegestuhl und bosselte in Wachs kleine Figürchen für den Knaben: seltsame Tiere, Menschen mit Vogelköpfen oder Vögel mit sonderbarer Menschenähnlichkeit; und Vanadis staunte über die Fülle von Phantasie und Leben, die aus den breiten, hart gewordenen Händen quoll.

»Wie hieltest du es nur so lange aus ohne deine Kunst?« fragte sie.

»Du weißt, ich hatte kein Geld, und ich fühlte mich auch unwürdig. Aber wenn ich einmal zufällig über einen Pinsel geriet –! In den Matrosenkneipen habe ich alle Wände vollgemalt, wo nur Platz war. Dafür bekam ich umsonst zu trinken. Und die Mädchen, die wollten kein Geld von mir, nur gemalt sein. Aber«, er schlug sich vor den Mund, »so etwas dürfte ich vor dir nicht erzählen. – Matrosen, siehst du, wenn sie in den Hafen kommen, da reitet sie der Teufel.«

»Nun, sprich nur, du weißt, Mütter sind nachsichtig.«

Er verdüsterte sich bei dem Wort und schwieg. Dann fing er wieder an: »Einmal lernte ich einen reichen Yankee kennen, der sich für mich begeisterte. Er nahm mich in sein Haus und war sehr stolz auf mich, denn er meinte, ich sei Anstreicher gewesen und er habe meine Begabung entdeckt. Da hätte ich es gut haben können und mein Glück machen, was man so in Amerika Glück nennt – das heißt Geld. Aber da war seine Frau, ein wüstes, üppiges Tier – ich mußte machen, daß ich ihr aus den Augen kam. Und dann – ich hatte ja keine Ruhe. Es saß mir etwas im Nacken, das mich hetzte. Du mußt nicht meinen, es sei ein leichtes Gefühl, einen Menschen erschlagen zu haben, wenn auch in gerechtem Zorn – Blut ist Blut. Am wohlsten war mir auf der See, da gab es keine Gespenster.«

Er redete stotternd und mühselig. Sie sah, daß die Erinnerungen ihn angriffen, und ließ das Gespräch fallen. Ein anderes Mal sah er von seinem Sonnenzelt aus zu, wie die Mägde auf der Wiese ihre Wäsche aufhängten. Da bat er Vanadis um einen Seilstumpen:

»Heut will ich euch lehren, wie man Schifferknoten macht, damit ich doch zu etwas gut bin. Das ist eine nützliche Kunst, ihr könnt sie vielleicht einmal brauchen. Zuerst den Circeknoten. Kennst du die Geschichte vom Odysseus, Bertie?«

Der Knabe strahlte: »Die Vantje hat sie mir erzählt.«

»Solltest du es glauben, Vantje, daß ich auf die See kommen mußte, um die Herrlichkeit des Homerischen Gedichts zu verstehen? Was mir Herr Wittich davon vorpredigte, war mir leerer Schall.«

»Weil du, Bösewicht, die Fliegen fingst!«

»Die waren mir selbst zuwider. Aber ich wollte dir doch eine Aufmerksamkeit erweisen, weil du so geduldig daneben saßest. – Also, diesen Knoten zeigte die Circe dem Odysseus, als sie seine Schiffskiste verstaute. Schaut her, so lege ich die Enden, und so ziehe ich die Schleifen durch. Versucht einmal und macht mir's nach.«

Vier ungeschickte Hände stümperten nach, was zwei geschickte vormachten. Es gab Lachen und scherzhafte Schelte, endlich gelang es. Die beiden wurden gelobt, worauf er ihnen noch ein paar andere Knoten beibrachte. Aber er hatte sich ermüdet und mußte wieder stilleliegen. Nur seine Augen wanderten in zärtlicher Befriedigung über das Antlitz seiner Pflegerin und über ihr blumiges Gewand, das auch Egon gefiel. »Das ist schön«, sagte er.

»Ich war auch in Griechenland«, begann er nach einiger Zeit wieder, ihre Hand in der seinen haltend und streichelnd.

»Du – in Griechenland?«

»Ja, denke dir, so ein Auswürfling, und hat doch den heiligen Boden betreten.«

»O Roderich, du sagst wahr. Es ist dreimal heiliger Boden. Wann verschlug es dich dorthin?«

»Im Herbst vor drei Jahren. Das waren noch Tage in einem verlorenen Dasein, die es der Mühe wert machten zu leben. Im Piräus ging ich an Land und saß lange auf den Stufen des Parthenon. Ich schämte mich nicht zu weinen. Oh, die Wunder des zerschlagenen Giebels und die Schiffsladungen Marmor auf dem Grund des Meeres! Soll da nicht auch ein verwilderter Kerl, wie ich einer war, weinen?«

»Um ein paar Monate, so wären wir uns dort begegnet. Auch ich war in Athen, im Frühling des gleichen Jahres.«

»Ich war darauf gefaßt, dir zu begegnen. Ich sah jede schöne junge Frau darauf an, ob nicht du es seist. Aber ich hätte mich nicht zu erkennen gegeben. Ich wäre gleich wie ein böser Seedämon ins Meer zurückgeflohen.«

Endlich wagte der Genesende die Frage, die er immer wieder verschluckt hatte: »Lebt Vater noch?«

»Sein Körperliches lebt, wiewohl im Abbruch, sein Geist ist rege wie zuvor. Er überdenkt immerfort aus weiter Ferne das Leben. Nicht mehr das Leben selbst, nur seine gedachten Bezüge. Wir, seine Kinder, sind nicht mehr. Er selbst ist nicht mehr. Nur zu Gunther, der ihn nicht hören kann, spricht er noch immer. Gerade in diesen Tagen hat mir der Arzt wieder ein Bündel Papiere gesandt, die ihm der Kranke zur Besorgung an den Toten übergeben hat. Daß ein Buch von ihm auf Betreiben der guten Fanny gedruckt worden ist und daß es in Fachkreisen die Anerkennung gefunden hat, die dem Verfasser vorenthalten wurde, solange er im Leben stand, berührte ihn nicht mehr. Er drehte es in der Hand, besah den Titel und sagte bloß: ›Heinrich Folkwang? Ja, den habe ich auch gekannt, wir studierten zusammen. Ist schon vor Jahren gestorben. Sein Sohn setzt die Arbeit fort.‹ Dann legte er das Buch weg und fragte kein zweites Mal danach. Aber sein Selbstgespräch in Briefform geht weiter und bewegt sich wie immer um die höchsten Gegenstände. Soll ich dir etwas von seinen Papieren zeigen?«

Er besah lange die Handschrift, die er liebte: »Wie schön, wie geschwungen, nicht anders als in seinen guten Tagen. Kein Zeichen von Erkrankung. Ja – doch – sieh: Buchstaben fallen aus der Reihe, andere springen plötzlich hoch hinauf. Der Herzmuskel zuckt, aber der Gedanke schwebt sicher darüber. Welch ein Mann! Darf ich lesen?« – »Wenn es dich nicht anstrengt.« – »O nein, heute bin ich frisch.« Er las:

»Wer das Glück gehabt hat, mit großen Menschen zu leben, der weiß, wie die Umwelt ihre Worte mißverstand und verketzert weitergab, Freunde und Widersacher, alle fassen daneben. –

Historische Bildnisse können nicht anders als falsch sein, der Urheber bringt sein eigenes Ich mit hinein. Wenn er Tizian ist und Karl den Fünften malt, kann er nur Karl den Fünften plus Tizian malen. Ist er ein kleinerer, so malt er sein Minus. Und wie die Gesichter, so verwandeln sich die Worte. – Notwendig muß in jedem kleineren Geist ein verzeichnetes Bild von jedem größeren wohnen. –«

Es kamen zwei Reihen Gedankenstriche, dann ging es weiter:

»Die Frage ist: Was hat Jesus gesprochen? Und was haben die armen galiläischen Fischer daraus gemacht?«

Roderich gab das Blatt zurück: »Aus jedem Wort von ihm kann man lernen. Heut wie früher.«

»Seine Gedanken kreisen immer um denselben Pol. Wer könnte dabei an Irresein denken?« fragte Vanadis. »Lies noch dieses.«

»Wenn du einen neuen Namen hörst, mein Sohn, höre nicht auf Ruhm noch Verwerfung, die sich daran hängen, bis dir eigenes Erkennen reift. Gab es nicht auch in unserer Zeit Neuerer, geistige Aufrührer? Und wir mißkannten sie, wir halfen vielleicht mit, sie verfolgen und kreuzigen. Es muß das Licht von Damaskus auf unseren Weg fallen, bevor wir umkehrten. Aber es war zu spät. Wir konnten keines Lebendigen Hand mehr fassen. Das Licht fiel auf ein Grab.«

»Von wem spricht er nur?« fragte der Leser, das Blatt sinken lassend.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Er liest und liest, da mag ihm mancher anders erscheinen, als er ihn zu kennen glaubte. Es gibt so viele Verkannte. Vielleicht denkt er an sich selber mit. Es ist ein alter Gegner, der an ihm zum Paulus wurde und die Gedanken, um die er ihn verketzert hat, ausbreitete.«

Er nahm das Blatt noch einmal auf und las es zu Ende.

»Hoffe nie auf Verstandensein, du Sohn und Erbe meines Geistes. Wenn dein Herz zu voll in dir wird, halte es fest und schweige. Höre, mein Sohn, dieses letzte Wort deines Vaters: Jedes Leben, das Erkenntnisse gereift hat, endet in Schweigen!«

»Dieser Mann und dieses Schicksal«, sagte Roderich und fuhr sich abgewendet mit dem Handrücken über die Lider. »Daß ich unter seinen Augen aufwachsen durfte, das hielt mich über der Gemeinheit, in der ich umtrieb, und riß mich wieder herauf, wenn ich versinken wollte. Ich vergesse nie eine Sturmnacht am Kap Hoorn. Es war um die Weihnachtszeit, das Schiff lag schief, und der Ausguck, wo ich saß, hing weit außenbords über dem nachtschwarzen brüllenden Wasser. Am Himmel fuhren zerfetzte Wolken, und dann und wann schienen die südlichen Sternbilder durch. Wie ich so verloren hoch, hoch da oben saß, überkam mich ein furchtbarer Jammer – um meine verlorene Kunst und daß ich nicht einmal dieselben Sterne mehr sah wie ihr. Und ich fragte mich, ob es nicht vielleicht das beste wäre, ich ließe mich ganz still hinuntersinken in den tobenden Schwall. Schon den Tag zuvor war ein Mann über Bord gegangen. Einer mehr, einer weniger, was macht's? Da mitten in der Verlassenheit kam die Erinnerung an jenen Christabend, du weißt, wo Vater mir sagte, daß auch ich ihm sei wie ein leiblicher Sohn. Und mit einem Male war da wieder ein Licht. Es war keine Hoffnung und war kein Vorsatz, ich kann nicht sagen, was es war, aber ich konnte wieder leben.«

Allmählich, wenn sie beisammensaßen, tauchten immer mehr Bilder aus seinen Seemannsjahren auf:

»Zwei Freunde hatte ich in meinem Leben. Den einen kennst du. Seinesgleichen gibt es nicht wieder. Von Janek spreche ich nicht, er war ein treuer Hund – ich wollte, ich hätte ihn noch. Aber da war Albert. Er hätte dir gefallen. Er war nur ein Matrose, aber ein ganzer Mann. Ein Herz voll Treue. Mut für eine ganze Schiffsmannschaft. Und immer fiel ihm das Rechte ein. Dazu die herrlichste Laune von der Welt. Wir zwei hielten zusammen. Er war mir vom ersten Augenblick an gut und half mir bei dem harten Anfang, wo er konnte. Wer's mit dem einen hatte, fand auch den andern. Wo er sich anmustern ließ, da auch ich. Wo ich nicht bleiben mochte, da auch er nicht. Er hatte eine gute Erziehung gehabt, war von Hause weggelaufen, weiß nicht, warum. In seiner Kiste hatte er ein ganz zerlesenes Büchlein liegen, das war der Homer. Aber er brauchte ihn nicht; wenn wir zusammen auf der Rahe saßen, war er imstande, mir halbe Gesänge aus der Odyssee auswendig vorzusagen. Unter uns sang und heulte das Meer. Das war anders als in der Schulstube.«

Seltsam, Roderich so sprechen zu hören. Da war es ja wieder, das wilde Lied von Freiheit und Gefahr, das ihre Jugend berauscht hatte. Aber der es jetzt sang, war mit ihr an einem Kindertisch gesessen, sie hatten zusammen gerauft, die gleichen Kinderkrankheiten durchgemacht, ihres Vaters Hand hatte auf seinem Haupt wie auf dem ihren geruht. Da saß er jetzt als ein völlig Neuer und hatte doch die frühesten und zärtlichsten Erinnerungen mit ihr gemein. Aber wäre er auch nie ihr Bruder gewesen und nicht ihr Sohn geworden, für das, was er unterdessen durchgemacht, würde sie ihn lieben. Wie eine zitternde Welle des Verstehens ging es zwischen ihnen hin und her.

»Erzähle mir noch mehr von deinem Freund Albert.«

»Einmal hingen wir zusammen an einem Rettungskissen, viele Stunden lang. Das Schiff war in Stücken, nur die Mastspitze noch oben, alle Boote überfüllt. Ich hielt es vor Kälte nicht mehr aus. ›Ich kann nicht mehr, ich muß loslassen‹, sagte ich. ›Goodbye‹, antwortete er obenhin. Das gab mir einen solchen Stoß, daß ich augenblicklich losließ und versank. Aber ich tauchte wieder auf unter Alberts Arm, und er verknüpfte mich mit dem Kissen. Daran hingen wir bis zum Morgen. Dann wurden wir aufgenommen.«

Das war die Form, wie Roderich erzählte. Er nannte das in seiner Seemannssprache »ein Garn spinnen«. Aber das Garn, das er spann, fiel immer sehr kurz aus.

»Was ist aus deinem Freund geworden?« forschte sie weiter.

Sein Gesicht wurde tiefernst. – »Da war die ›Sister Ellen‹ mit einer Ladung Wolle und vieler Mannschaft, auch einer Anzahl Passagiere, unterwegs nach England. In Marseille hatten wir schon gelöscht, da entzündete sich auf der Weiterfahrt ein Teil der übrigen Ladung.«

»Ein Schiffsbrand!« rief sie entsetzt.

»Im unteren Schiffsraum, weißt du, wo die Ballen lagen. Im Anfang schwelte es nur, die Passagiere merkten noch gar nichts. Da versagten auf einmal die Pumpen. Der Brand fraß um sich, oben begann es aus den Luken zu rauchen. Wir hatten schon seit Tagen hohe See, und wie der Satan es wollte, springt plötzlich der Wind um, der Großbaum haut von Steuerbord nach Backbord und fegt den Kapitän, der eben da stand, hinunter. Kein Kommando mehr an Bord. Der Steuermann war wieder einmal schwer betrunken und lag am Boden wie ein Toter. Eine Panik brach aus, Schiff, Mannschaft, Passagiere, alles schien verloren. Die Fahrgäste rasten und wollten in die Boote, die leck waren, wir mußten sie einsperren, denn sie hinderten überall. – Grausam, sagst du? Ja, aber anders ging es nicht. Am Achterdeck schlug es schon rot aus der Luke. Dort stand Albert am Rad, er wußte die Fahrrinne, denn er hatte die Strecke schon früher befahren, und hielt auch ohne Steuermann den Kurs. Er schrie in den Tumult: ›Hier gibt es nur eines. Das Schiff auf den Sand setzen, so schnell wie möglich. Seid ihr einverstanden?‹ – ›Ja, Albert soll führen!‹ schrie es wie aus einem Mund zurück. Er wendete das Rad und hielt auf die Küste. An der Rhônemündung, weißt du, ist der Strand weit hinaus flach und sandig. Dorthin nahm er den Kurs. Wir andern bedienten die Segel. Der Brand kam immer mehr auf, achtern war es nicht mehr auszuhalten. Albert hatte die Hölle im Rücken, brennende Fetzen flogen umher, aber er stand am Rad, Stunde um Stunde. Bei Aigues Mortes fuhren wir in den Sand. Der Aufprall war so ungeheuer, daß die Masten zerkrachten. Die stürzende Gaffel erschlug den Mann am Rad. Wir trugen ihn über die schwelenden Planken an Land und anderntags auf den Friedhof. Alle Menschenleben gerettet, bis auf das seine.«

Eine Weile wurde es ganz still im Zimmer. Vanadis standen die Tränen in den Augen, der Knabe weinte leise.

Dann fing Roderich halblaut wieder zu reden an: »Nicht weit von unserer Landungsstelle steht eine uralte burgartige Basilika: Saintes Maries à la mer, die älteste romanische Kirche in Frankreich. Eine Zigeunerin wird dort als Heilige mit verehrt, von der sie sagen, daß sie die Muttergottes über das Meer geleitet habe, sie und noch eine andere Maria, daher heißt die Kirche nach den beiden Marien. Der Legende zu Ehren strömen dort die Zigeuner jährlich zu einem großen Fest zusammen. In der Nähe dieser Kirche, unter der einzigen windzerzausten Pinie, mit dem Blick aufs Meer, begruben wir Albert und stellten zum Wahrzeichen einen Anker auf sein Grab. Die Stelle ist schön, ich habe sie gemalt und die Kirche im Hintergrund. Wenn er sie sehen könnte, würde er sie lieben, denn er liebte das Schöne.«

»Wo hast du das Bild?«

»In meiner Kiste, die ich in München ließ.«

»Warum ließest du sie dort?«

»Weil ich nicht wußte, ob ich bleiben kann.«

»Du sollst für immer bleiben, Roderich.«

»Ich fürchte, das hängt weder von dir noch von mir ab«, murmelte er bedenklich.

Der Knabe drängte sich nahe heran, er wollte endlich auch wieder beachtet sein. »Auch ich heiße Albert«, sagte er.

»Ich weiß es. Vergiß nie, daß es eine Ehre ist, so wie er zu heißen.«

Bertie wartete, bis die Vantje einen Augenblick das Zimmer verließ, dann fragte er schnell: »Gehst du wieder zur See, wenn du gesund bist, Onkel Rodi?«

»Es will mir fast so scheinen«, war die düstere Antwort. – »Dann nimmst du mich mit, ich will auch Seemann werden.« – »Willst du denn deine Vantje verlassen?« Darauf hatte er keine Antwort. Er wiederholte nur: »Ich will Seemann werden.«

Bei Tag und Nacht gingen Roderichs Geschicke durch die Seele der jungen Frau, die jetzt seine Mutter hieß. Wie anders klangen doch seine Abenteuer, als was Edwin Leo ihr seinerzeit erzählt hatte. Wenn jener sprach, sah man immer ihn selbst, den schönen, kecken Reiteroffizier; ohne Ruhmredigkeit stand er doch mitten im Bilde. Roderich sprach nie von sich, der Held seiner Geschichten war immer ein anderer, dem rühmte er die Eigenschaften nach, die er selbst besaß. Das Herz weinte in ihr um dieses reiche verirrte Leben, und ein Gefühl wie von eigener Schuld mischte sich darein. War nicht sie es, die ihm von klein auf die Liebe des Vaters vorweggenommen hatte? Warum war all die Güte von Anfang an auf ihren Scheitel gehäuft statt auf den seinigen? Gunther hatte es ihr einmal gesagt, was sie ihm schuldig blieb. Aber in der harmlosen Selbstsucht der ersten Jugend hatte sie nicht verstanden, hatte noch gar geglaubt, ihn durch ihre Fürsprache verpflichtet zu haben. Im Grund müßte ihm alles gehören, was Egons Großherzigkeit mit ihr teilte. Statt dessen saß er als nur eben geduldeter Gast im Vaterhaus!

Als die Genesung fortschritt und der Pfleger entlassen war, erkannte Egon die Notwendigkeit, selber wieder den Platz des Hausherrn auszufüllen. Jetzt hieß es Wunder an Takt und Einfühlung vollbringen, um die beiden Männer, die von Natur wie Wasser und Feuer auseinanderstrebten, sich anzunähern und zusammenzuhalten. Auch für Egon war die Lage nicht leicht; er fühlte sich einer stillen dreiseitigen Seelengemeinschaft gegenüber, zu der ihm der Schlüssel fehlte. Bei den Mahlzeiten würde ohne des Kindes fordernde Gegenwart ein beklemmendes Schweigen geherrscht haben. Vanadis beobachtete mit Angst, ob ihr Stiefsohn sich keinen jener Verstöße gegen die Tischregeln zuschulden kommen lasse, die in seines Vaters Augen schlimmer waren als sittliche Entgleisungen. Roderich bewies jedoch, daß gute Erziehung unverwischbar ist.

Schließlich war es doch Egons Weisheit, die auch ohne Liebe die Brücke zu dem verlorenen Sohn schlug, nachdem Vanadis fraulich-klug den Weg geebnet hatte. Sie verstand es, in der Gegenwart des Sohnes dem Vater seine Geschicke so mitzuteilen, wie sie ihr durch ihn selber bekannt waren, und den Stummen zu Berichtigungen und Ergänzungen zu nötigen, die allmählich das Eis brachen.

Allein es saß wie ein Verhängnis in Roderichs Zunge: von den Dingen, womit er sie und den Knaben zu Tränen brachte, konnte er in seines Vaters Gegenwart, den sie doch wohl auch ergriffen hätten, nicht reden, er brachte da, wenn er sein »Garn« spinnen sollte, nur tolle Streiche und Matrosenspäße, oft recht läppische, vor: wie Albert einmal der Heilsarmee die große Trommel stahl und an Bord brachte, um Unfug damit zu treiben, oder wie sie eines Tages alle als Weiber verkleidet an Land gingen, jeder mit einem Wickelkind im Arm, das Roderich verfertigt hatte, wie sie dann am Hafen in eine Rauferei gerieten, wobei die angeblichen Weiber mit ihren Säuglingen dreinschlugen und am Ende allesamt unter teuflischem Gebrüll ins Meer sprangen. Dabei glitten die Blicke des Erzählers immer gern von dem stillen vornehmen Gesicht, das sich ihm von je verschlossen hatte, auf ein blondes Knabenköpfchen ab und auf die Frau, die ihm, soweit er zurückdenken konnte, die eine gewesen in Haß und Liebe und die jetzt die Gattin dieses kühlen Herrn, seines Vaters, war. Je schwerer es diesem fiel, ein Lächeln aufzubringen, desto derber trug er die Farben auf:

»Soll ich euch erzählen, wie Albert im Einverständnis mit dem Koch Pistolen schmuggelte, die er in Southampton für fünf Schilling das Stück gekauft hatte und in Santos in Brasilien zu zwanzig wieder verkaufte? Er hielt sie in seiner Kiste verwahrt. Als aber im Hafen die Zollwächter kamen und schon auf der Schiffstreppe auftauchten und Albert nicht mehr wußte, wohin mit den Pistolen, sagt er zu dem Koch, der eben die Suppe rührt: ›Schnell hinein in den siedenden Topf!‹ Ein Dutzend Revolver verschwinden in der Suppe. Und wie die Zollwächter in die Küche kommen, rührt der Koch gemütsruhig mit dem Politikus – so hieß bei uns Matrosen der Kochlöffel – in dem dampfenden Topf, versucht auch und spuckt aus, denn es schmeckte nach Eisen und Maschinenöl.«

Gleich folgte, vom Chianti, den die Vantje einschenkte, befeuchtet, eine neue Tollheit, deren Held gleichfalls Albert war:

»Wir hatten uns beide in New York auf einem Bremer Schiff anmustern lassen. Das führte außer Eisen und Zement auch eine große Anzahl Kisten mit Whisky, die der Kapitän zu schmuggeln gedachte. Der Zement und das Eisen waren so im Schiffsraum verstaut, daß sie die Whiskykisten zudeckten. Die Matrosen wußten von der Sache, aber sie konnten den Kisten nicht beikommen. Da verschworen sich ihrer Zwölfe unter Führung Alberts und stiegen in einer furchtbaren Sturmnacht in der Nähe des Kap Hoorn in den unteren Schiffsraum mit Laternen, deren Schein nach oben abgedämpft war. Kameraden standen an Deck Wache. Wir hoben die schwere Eisen- und Zementladung ab; im Augenblick, da das rollende Schiff sich zur Seite neigte, schoben wir nach und warfen die Ladung an die Wand. Der brüllende Sturm verschlang das Gepolter. So wurden die Whiskykisten frei gemacht. Aber sie waren gezählt, es durften keine entwendet werden. Es blieb nichts übrig, als sie an der Wand zu zerschlagen und den durchsickernden Whisky reinlich in einem großen Eimer aufzufangen. Gegen fünfzig Kisten wurden dem Kapitän auf diese Weise geleert, und sie wiesen keine andere Beschädigung auf, als sie das Stampfen und Schlingern des Schiffs erklärlich machte.

Eine besonders große und schöne Kiste trug die Aufschrift Apollinaris. Das hielten ein paar junge Leute für eine besonders feine Weinsorte und spuckten dann entrüstet das Mineralwasser aus. In einer anderen fanden sich Flaschen mit einer dunklen, porterähnlichen Flüssigkeit. Einer tat einen guten Schluck, da war es Tinte. Auch eine Ladung Kinderspielzeug förderten wir ans Licht. Da waren kleine Schäfchen, die konnten, wenn man sie drückte, bäh machen, Puppen und dergleichen. Denk dir, Vantje« – er richtete die Rede immer an sie, denn sein Vater hatte sich mit der Zeitung an den Nebentisch gesetzt, doch ohne zu lesen, er hörte zu –, »denk dir das furchtbare Heulen des Sturms und die zwölf schmierigen Teufel bei abgeblendetem Laternenschein, zu einer Hälfte weiß von Zement, zur andern schwarz vom Kohlenstaub, die sich ihre Taschen mit Puppen vollstopften und sich an blähenden Lämmchen vergnügten, während die schweren Seen über Deck gingen. Denn Albert hatte die Losung ausgegeben, daß die Puppen und die Lämmchen auch nicht zu verachten wären. ›Man kann alles gebrauchen‹, sagte er. ›Wenn wir in den Hafen kommen, hat gewiß der Wirt eine Tochter und die Tochter hat Kinder, da können wir uns Gunst erwerben!‹ So steckten wir unsere Kisten voll Spielwaren, die uns späterhin an Land manchen guten Schluck eintrugen. Als wir wieder an Deck stiegen, hatte der Sturm nachgelassen, und der Tag brach an. Der Alte stand mit armlangem Fernrohr da und sagte: ›Was ist das für eine Insel, die ab und zu sichtbar wird, die hab' ich noch nie gesehen.‹ – ›Oh‹, antwortete Albert, ›die kenn' ich wohl, die heißt Mount Apollinaris.‹ – ›Unsinn‹, antwortete der Kapitän ahnungslos. ›Warum nicht gar Old Scotch Whisky!‹ Denn er dachte an seine Ladung. Wir lachten wie unsinnig, daß er es in aller Unschuld so gut getroffen hatte. – ›Sie heißt Steffens Double Black‹, murmelte der Matrose, der die Tinte gekostet hatte.«

Vanadis und der Knabe lachten. Egon stand leise auf und ging hinaus. Eine Zeitlang hatte er aufmerksam zugehört, dann war es ihm zu töricht geworden. – Ach die Jugend, dachte er, als er Vanadis lachen sah, nichts ist ihnen zu albern, um sich nicht daran zu vergnügen. Wie sie noch lachen kann, das Kind, das sie geblieben ist. Wenn sie nur beisammen sind, das allein schon macht sie froh. Er dachte es mit Schmerz, doch ohne Bitterkeit. Ich bin zu alt geworden, das ist's.

Als Vanadis ihn so leise von dannen gehen sah, hörte sie zu lachen auf und erhob sich gleichfalls. Sie wollte ihm nacheilen, aber er hatte schon sein Studierzimmer erreicht, das niemand außer ihm betrat. Von plötzlicher Traurigkeit erfaßt, setzte sie sich still in ihr eigenes.

Roderich scherzte noch eine Weile mit Bertie, lehrte ihn Kopfstehen und Grimassenschneiden und zeigte ihm die blauen Tätowierungen seines Armes, die den Kleinen immer aufs neue beschäftigten. Dann aber fühlte er sich plötzlich einsam, und mit jener Weichmütigkeit, die oft bei starken Naturen im Gefolge der Genesung auftritt, begab er sich auf sein Zimmer, um still zu weinen. Was tat er nur hier, wo der Boden unfest war unter seinen Füßen und wo unausgesprochene Dinge bänglich in der Luft hingen? Lebte nur Albert noch, dann hätte er seine Jugendzeit vergessen und sein Talent dazu, er wäre Seemann geblieben, und eines Tages fänden sie zusammen den Seemannstod. Er dachte an eine Tropennacht, als er mit ihm in der Rahe gesessen wie in einer schaukelnden Wiege und als ihm aus halben Worten des Freundes ein Herzensschicksal aufgegangen war. Nach Alberts Tod, als sie seinen armen Nachlaß musterten, fanden sie im Grund der Kiste das Bild eines schönen Mädchens, das Roderich heimlich an sich nahm. Albert tot. Gunther tot. Der treue Janek tot. Seine Einzigen. Er noch so jung und schon von allen Lebenskameraden alleingelassen. Er legte den Kopf in den Arm und schluchzte.

Bertie hatte indessen eine seiner genialen Herzensregungen, womit er zuweilen, ohne sich selber zu verstehen, den Großen eine Wohltat erwies. Er klopfte mit seiner Selbstherrlichkeit an die Tür, an die niemand zu klopfen wagte, und stand zu Egons Erstaunen vor diesem. – »Warum kommst du zu mir, mein Junge?« – »Ich will bei dir sein.« – Egon nahm ihn entzückt und gerührt in die Arme. Vor diesen zwei wunderbaren Kinderaugen, die so tief und zugleich so lachend waren, verflüchtigte sich die Schwere. Aber er hatte den Umgang mit Kindern verlernt, seitdem die Folkwangschen groß waren, darum wußte er bald nichts mehr mit ihm anzufangen. Als schlechter Erzieher, der er war, schenkte er ihm die ganze Schachtel Karamellen, die er für ihn mitgebracht hatte, auf einmal und schickte ihn zu seiner Vantje.

Auch diese saß bekümmert und in sich gekehrt. Die zarte Gewissenhaftigkeit der Folkwangs war über ihr und ließ sie alles fühlen, was Egon im stillen litt und was sie nicht ändern konnte.

»Alles Leben ist an sich schon Schuld. Jede Inkarnation eine Vermessenheit, ein Emporwollen aus der unbewußten Natur, das seine Strafe in sich trägt.« Solche Worte hatte ihr Vater einmal zu seinen Kindern gesprochen, sie vergaß es nie. An ihm selbst und ihr hatte sich sein Wort bewährt, denn ihr Dasein war ihm zum Verhängnis geworden. Sollte sie auch ihrem zweiten Vater, ihrem Retter und Beschirmer, zum Verhängnis werden?

In diese traurigen Gedanken brach Bertie jubelnd mit seinen Karamellen herein. Er warf sich in ihre Arme und steckte ihr eine gewaltsam in den Mund, und auch von ihr wich die Schwere, als sie den Kleinen an sich drückte. Sie wußte jetzt, was es war, das sie unwiderstehlich, wie Blutsbande ziehen, zu dem Knaben zog. Roderich hatte es ihr in einer Stunde der Schwäche verraten und hatte ihr, da sie weiter und weiter fragte, von jenen trostlosen Nachtstunden in der Fehlhalde erzählt, als er bei dem toten Gunther saß, Papier sichtend und vernichtend. Schwach und durchrüttelt, wie er war, klagte er sich der Mitschuld an dem Geschehenen an. Er hatte es gesehen, wie die Verderberin nächtlich durch Gunthers Tür schlüpfte. Statt ihr Beisammensein zu stören, hatte er es heimlich behütet, in der Hoffnung, den Freund, der sich verzehrte, durch dieses letzte Mittel geheilt zu sehen. Was ihn retten sollte, hatte ihm den Tod gebracht.

Aber weil sie Bertie hatten, konnten sie seiner Mutter doch nicht völlig gram sein.

»O Roderich, welch ein Geheimnis ist doch das Dasein. Der arme Gunther mußte sterben, damit dieses Wunderwesen werden konnte. Gewiß, das kleine Quecksilber war es selbst, das ins Leben wollte und die beiden zusammenschmeichelte. Nun ist aus den zwei ungleichen Hälften ein einziges Ganzes geworden. Von Gunther das Geistige und das Edle, Feine, aber die Selbstsicherheit und das Einschmeichelnde, das kommt von der Mutter. Ob der arme Gunther jetzt sehen kann, was ihm sein Ende vergüten würde?«

»Wir wissen nichts«, antwortete Roderich.

Egon erfuhr nichts von dem, was Berties Geburt betraf. Ihr bedrängte es zwar das Gewissen, mit dem Stiefsohn ein Geheimnis zu teilen, das sie dem Gatten vorenthielt. Aber je weiter er sich von der eigenen Jugend entfernte, desto schwerer fiel es ihm, das Walten der Leidenschaft zu verstehen, und sie wollte nicht, daß er hart über ihren geliebten Bruder denke. Der Neubau und die Orchideen riefen ihn auch bald wieder in die Stadt. Aber er ließ nicht die heitere Luft zurück, die er gefunden hatte. Aus mancherlei Anzeichen ging hervor, daß er nicht die Absicht hatte, den Sohn in seiner Nähe zu behalten. Die Furcht, den Heimgekehrten wieder hergeben zu müssen, enthüllte ihr erst, wie nötig sie beide einander brauchten. Sie sah die Leere des Todes vor sich, wenn er ging. Und sie sah ihn selbst ins Leere stürzen. Vielleicht ging er, losgerissen von ihr, wieder zur See. Solche Worte waren ihm entfahren. Sie traute ihm zu, daß er sie verwirklichte. Und doch war er bei all seiner Wildheit nur ein armer kleiner verstoßener Junge, dem sie ansah, daß er am liebsten seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hätte, um sich einmal ganz satt zu weinen.

Endlich erfuhr sie auch, wie es auf seiner Heimreise zugegangen war und wo ihr Ruf ihn erreicht hatte:

Trieb sich da einmal ein Matrose, der wegen Rauferei und Totschlag aus dem Vaterland und aus seiner Laufbahn geflohen war, in ganz verkommenem Zustand im Hafen von New York umher. Er war lange mit Malaria im Spital gelegen, hatte dann in den Urwäldern Kaliforniens als Holzfäller gelebt unter einem Menschenschlag, der sich in einer Kultursprache nicht beschreiben läßt. Als er diesen Umgang satt hatte, schlug er sich quer durch die Vereinigten Staaten durch, nahm da und dort Dienste, lief weg, in Wirtshäusern und Spelunken zeichnete er den anwesenden Gästen ihre Mädchen und den Müttern ihre Kinder und geriet allmählich wieder nach New York. Es zog ihn etwas dorthin, er wußte selbst nicht, was es war. Er wollte wieder zur See. So ließ er sich für einen amerikanischen Segler anmustern, der »Alaska« hieß und des andern Tags nach Portugal abgehen sollte. Etwas Geld hatte er in der Tasche, da fiel ihm plötzlich ein, daß er nicht immer ein Lump und Strolch gewesen, sondern in guter Familie aufgewachsen war, in was für einer Familie! Und statt in seine Matrosenherberge zurückzukehren, ging er in einen anständigen Gasthof, um noch einmal in einem guten Bett zu schlafen. Er kannte den Wirt von früher her. Als er in der Gaststube vor einem Glase Grog saß, kam ein Fremder an den Tisch und grüßte: »Ich heiße Floßmann.« Er hatte ein hageres Gesicht und einen langen Bart, der aussah, als ob Algen darin wüchsen. Ein zweiter kam herein und setzte sich gleichfalls: »Mein Name ist Nasse.« Dieser sah fahl und seltsam verschleiert aus wie ein Leichengesicht unter Wasser. Jetzt erschien ein dritter, Aufgedunsener, der sagte nichts als »Wellenberg«, und nahm neben den anderen Platz.

»Puh, eine wässerige Gesellschaft: Floßmann, Nasse und Wellenberg«, sagte der Matrose. »Trinken wir eins auf den Schrecken.« Er bestellte ein zweites Glas Grog, die anderen bestellten das gleiche.

»Du scheinst schon mehr dabeigewesen zu sein«, bemerkte der eine.

»Jawohl, und heute hab' ich mich wieder anmustern lassen. Morgen geht's fort mit der ›Alaska‹.«

»So, mit der ›Alaska‹, Captain Williams«, sagte der Bleiche und lachte unangenehm. »Mit der fahren wir auch.«

»Wir sehen uns wieder«, setzte der Aufgedunsene hinzu. Gleich darauf waren die drei weg, er wußte nicht, wohin sie gekommen waren. Er rief den Wirt: »Warum sind die drei Herren so schnell verschwunden? Ich sah sie gar nicht fortgehen. Wissen Sie vielleicht, wer sie waren?«

»Hier war niemand im Zimmer außer Ihnen«, antwortete der Wirt verwundert. Und da jener darauf bestand, daß er nicht geschlafen und mit den dreien gesprochen habe, setzte er hinzu: »Mein Grog ist stark.«

Der Matrose beschrieb die drei aufs genaueste und erzählte auch, daß sie gesagt hatten, sie würden auf der »Alaska« mitfahren.

»So, sagten sie das? Das nimmt mich wunder«, bemerkte der Wirt. »Sehen Sie, die ›Alaska‹ ist ein altes Fahrzeug und längst nicht mehr recht seetüchtig, ich begreife nicht, daß man ihr noch Menschenleben anvertraut. An Ihrer Stelle ginge ich den drei Herren mit den wunderlichen Namen aus dem Wege.«

Den Burschen ließ die Mitteilung völlig kalt, er fragte nichts nach seinem Leben, noch wann und wie er es verlieren konnte. Er hatte in der Heimat eine Blutschuld gelassen – so meinte er wenigstens –, und da waren auch noch andere Dinge, die ihm nicht paßten. Die meisten Dinge hatten ihm schon von Kindheit an nicht gepaßt. Das war nun so. Aber er mußte doch immer an die Alte Welt zurückdenken. Darum hatte es ihn auch wieder nach New York gezogen, ob ihm nicht dort einer begegnete, der was von drüben wüßte. Und weil er sich für diesen Abend als Gentleman fühlte, griff er nach einer Nummer des »Herald«, die ein früherer Gast zurückgelassen hatte. Da las er die Worte: »Komm zurück, Roderich, du hast keine Blutschuld. Komm zu deinen Eltern. Im Auftrag: Dein Häschen.« – Du verstehst, es hätte auch können eine Falle sein, um ihn zurückzulocken. Aber daran dachte er nicht. Es war ihm auf einmal alles so deutlich, er hörte den Tonfall der Stimme, die ihn rief. Nicht Häschens, du begreifst. – »Da ließ ich die ›Alaska‹ ›Alaska‹ sein und fuhr nach Europa. – Und siehst du«, sagte er leiser, als ob er sich schämte – »nicht aus Aberglauben, aber sagen will ich es doch: Auf der Überfahrt, die stürmisch war, stießen wir auf Schiffstrümmer von unbekannter Herkunft, die weit über den Ozean verstreut waren, und endlich auch auf einen Rettungsgürtel mit dem Namen ›Alaska‹. Da dachte ich an die, die mich durch ihren Anruf erhalten hat.«

Vanadis weinte leise vor sich hin, der Knabe desgleichen. Roderich wollte ihr mit seiner derben Faust die Tränen abtrocknen, aber sie entfernte sie mit zartem Druck. – »Warum gingst du nicht in Hamburg zu Häschen, der immer Geld für dich bereithielt?«

»Ich tat es, aber er war auf der Hochzeitsreise, und Onkel James mochte ich mich in der schlechten Verfassung nicht vorstellen, ich erfuhr nur im Hause euren Aufenthalt. Dann lag ich ein paar Tage im Gasthof und pflegte meinen Fuß. Von einem Schiffskameraden übernahm ich den Papagei, ich dachte, er würde dir gefallen. Ein anderer pumpte mich an, so war mein Verdientes schnell alle. Seeleute können nicht sparen! Nun hieß es abermals sich durchschlagen, ich habe ja Übung darin. Und die stete Furcht, ob ich mich denn wirklich frei bewegen durfte wie ein Unbescholtener. Erst in München, wo ich mich bei meiner alten Hauswirtin einschlich, erhielt ich die Gewißheit, daß ich kein Mörder bin. Sie führte mich auch an das Grab meines Janek, das sie betreut, und erzählte mir, wer ihr die Mittel dazu gibt. O Vanadis, liebe Schwester!« Da liefen die Tränen über das grobe Matrosengesicht und wollten nicht mehr versiegen. »Weißt du, wenn man von einem solchen Dasein herkommt, weint man nicht mehr über das Schlimme, nur noch über das Gute. Ich wollte der Frau den gefährlichen Hausschlüssel zurückgeben, den ich noch immer mit mir führte zur Warnung gegen den Jähzorn, aber sie wollte, daß ich ihn behalte, damit ich immer gefeit sei. Sie pflegte mich, stärkte mich und gab mir, soviel sie hatte, zur Weiterreise. Das reichte wohl zum Fahren aber nicht zum Essen. Und in Florenz, wo ich dich nicht fand, schlugen sie mir die Tür vor der Nase zu. Ich hatte noch eine Lira und einen einzigen Soldo. Für den Soldo kaufte ich mir Brot, von dem auch der Papagei bekam, und schlief auf einer Bank im Freien, für die Lira aber sah ich die Giorgiones im Pitti. Da schwankte mir der Boden unter den Füßen mehr als auf einem Schiff. Dann kam Barberino und du und die Krankheit, und weiter weiß ich nichts mehr.«

In Roderichs Geschichte war ein Punkt, über den Vanadis nicht mit sich zurechtkam. Wie ging es zu, daß er mit so hemmungsloser Eile von dem Schauplatz der Schlägerei geflohen war, ohne nur sichere Nachricht über den Ausgang abzuwarten? Er hatte ihr mit lobenden Worten für Goffredi den Hergang so erzählt:

»Ich hatte nie viel auf ihn gehalten, denn er schien mir falsch und eitel. Aber jenes Tages hat er sich als echt erwiesen. Er riß mich mit sich auf sein Zimmer und schloß mich dort ein, damit niemand mich finde. Dann ging er in das Krankenhaus, wohin sie die zwei Verwundeten gebracht hatten. Dort gaben sie ihm die falsche Auskunft, daß beide tot seien und ich als Mörder verfolgt. Ich verlor den Kopf. Gefängnis, Prozeß, der Name Roderich Solmar geschändet vor der ganzen Welt, vor ihm, den ich doch einmal hatte zur Achtung zwingen wollen – und vor dir, das war schlimmer als alles. Fort, augenblicklich fort bis ans Ende der Welt. Am Bahnhof konnte man mich erkennen und fassen, ich lief zu Fuß bis zur übernächsten Station, er begleitete mich, nahm mir eine Fahrkarte bis Hamburg und gab mir an Geld, was er bei sich trug. Ich mochte ihn nicht, aber wer kennt den anderen? Er war ein Freund.«

Das Gehörte gab Vanadis noch mehr zu denken. Ein Freund! War er das wirklich? Sie hatte den Lucchesen nie für Roderichs Freund gehalten. Eitel und falsch. Ja, so war er auch ihr erschienen, seitdem er sich aus dem liebenswürdigen kleinen Gipsfigurenhändler in einen erfolgreichen Künstler zu verwandeln begann. Wie war sein Eifer zu deuten? Als treue Kameradschaft kaum. Dafür waren die beiden zu verschieden. Wollte er sich seinem Gönner dienstfertig erweisen, indem er ihm den Sohn zu retten glaubte? Aber wozu diese kopflose Eile? Konnte er nicht genauer forschen, ehe er den andern vom Schauplatz trieb? Den Mitringer, neben dem er als der viel kleinere stand? Vor diesem Abgrund machten ihre Gedanken halt. So tief mochte sie doch den Mann nicht herabwürdigen, den Corinna ihrer Liebe wert hielt und dem sie die seligsten Stunden ihres Lebens dankte, wenn sie vielleicht auch jetzt durch ihn elend war. Er hatte sie doch verstanden, das bewies der große Zug in ihrer Büste, die bei Kennern für seine beste Arbeit galt. Dennoch wollte der Argwohn sich nicht verscheuchen lassen. Goffredi war es, der Roderichs Tat zuerst nach Florenz berichtet hatte, die erst durch das Zeugnis seiner Wirtin ein besseres Gesicht gewann. Keinesfalls durfte Roderich ihre Zweifel ahnen, wenn sie wieder zusammentrafen. Der Hausschlüssel war gegen seine Heftigkeit keine genügende Beschwörung.

 

Das Haus in Barberino hatte eine durchgehende Dachstube mit sanft abfallenden Wänden und ovalen Fenstern, die so hoch angebracht waren, daß sie nicht in den Hof und Garten blicken ließen, sondern nur in das Grün der Waldung und in die Bläue des Himmels. So war man vom Rest des Hauses abgeschnitten und konnte sich auf einem Schiffe glauben, das über eine grüne leichtbewegte Fläche hintrieb. Besonders war dies auf der nördlichen Seite der Fall, zu der die dichten Kastanienwipfel näher heranrückten. Diesen Raum hatte sich Roderich zu seinem Reich erkoren, seit ihm mit fortschreitender Besserung bei Seidendecken und Mullvorhängen nicht mehr wohl war. Eine Staffelei nebst aufgespannter Leinwand und eine Unzahl von Farbentuben, Pinseln, Paletten hatten dort ganz geräuschlos den Augenblick herangewartet, wo es den Genesenden von selbst zu ihnen hinziehen würde. Das erste, was entstand, war das Köpfchen Berties. Dann sollte Vanadis an die Reihe kommen, aber ihr Bild mißlang. Er wollte zu viel hineinbringen, das verdarb die Ähnlichkeit. Wütend zerstörte er das Gemalte, schalt sich einen Stümper, lief in den Wäldern umher, fing von vorne an und verwarf die Arbeit abermals: Ich kann nichts mehr. Ich bin kein Maler. Ich war nie einer. – Aber ein paar Tage später stand auf der Rückseite des Kartons ein bäumendes Pferd, worauf sich eine nackte Amazone zu schwingen suchte, in Umrissen voll Kraft und Adel.

»So stiegst du auf den Falada«, sagte er, »ich habe die Bewegung noch gut im Kopf.«

Aber es war noch zu frühe, die Aufregung des Schaffens warf ihn in Fieber und Schwäche zurück, und mit der Müdigkeit kamen die Zweifel. Um ihn vor sich selbst zu heben, erzählte sie ihm, was der greise Böcklin von seinem zerstörten Bild gesagt hatte. Roderichs Augen strahlten auf. »War er dabei?« fragte er. (Wenn er »er« sagte, meinte er immer seinen Vater.)

»Er war nicht dabei, er hat das Bild nie gesehen.«

Roderich lag eine Weile still und nachdenklich. Dann begann er forschend: »Sagtest du mir nicht, das Bild hänge in deinem Schlafzimmer?«

»Ja, aber verhüllt. Er rührt nie an Verhülltes. – Jetzt aber sprich nicht weiter, suche zu schlafen.«

Sie erhob sich fast schroff und ließ ihn in dunkler Grübelei zurück.

In seinen gezwungenen Mußestunden schnitzte er nun für Bertie ein Vollschiff mit Masten, Rahen und Takelwerk, spannte Zeugfetzen als Segel auf, die er ihm alle mit Namen nannte, und knetete kleine Wachsfigürchen mit Matrosenmützchen, die er in die Strickleitern setzte. Der Knabe war außer sich vor Glück, er suchte das Schiff in den gemauerten Becken der Wäscherinnen schwimmen zu lassen, rief den kleinen Matrosen Kommandoworte zu und fühlte sich als Kapitän. Roderich war sein Vorbild und der Gegenstand seiner glühenden Bewunderung. Er ließ sogar die geliebte Vantje im Stich, wenn Onkel Rodi rief, gar nicht zu reden von der Governess, die aus England zurück war und das fünfte Rad am Wagen bildete. Wenn Roderich erzählte, drängte er sich nahe heran mit verhaltenem Atem, der sich nach Beendigung der Geschichte zur Heiterkeit der Großen in einem langen Seufzer entlud. »Onkel Rodi, du warst ein sehr böser Junge zu deiner Zeit?« fragte er einmal beklommen, denn er hatte den Eindruck, daß man ein Tunichtgut gewesen sein müsse, um auf die See zu kommen, und er selber war doch weich und schmiegsam.

»Ja, Bertie«, war die Antwort. »Frage die Vantje, die kann es dir sagen. Einmal gab sie mir eine Ohrfeige, eine gepfefferte, sie muß es noch wissen.«

»Ach laß«, antwortete die ehemalige Spielgesellin verwirrt. »Wir waren beide unartig.«

»Nein, du nicht, du warst im Recht. Denke dir, Bertie, so bös war der Junge, daß er sogar Tiere quälte, die sie liebhatte, bloß, um die arme Vantje mitzuquälen. Aber die Ohrfeige, die hat er später weitergegeben.« – Er lachte zu einer aufsteigenden Erinnerung, indem er von neuem ihren Kopf auf dem Karton umriß.

»An wen gabst du sie weiter?« fragte sie.

»Du kennst die Insel Tristan a Cunha – wenn du sie nicht kennst, so schadet es nichts. Sie liegt im Atlantischen Ozean zwischen Südamerika und Südafrika. Also dort war es. Eigentlich nicht dort, sondern auf einer kleineren Nebeninsel, die Nightingale heißt. Die Kameraden gingen früher als ich an Land. Als ich nachkam, fand ich sie bei einer teuflischen Unterhaltung. Sie hatten eine Möwe gefangen und sie mit verbundenem Schnabel wieder fliegen lassen, damit sie verhungern sollte. Sie setzte sich von Zeit zu Zeit und suchte sich zu befreien, aber je mehr sie an dem langen Bandende zerrte, desto fester zog sie es zu. Ich wollte sie beschleichen, um sie zu retten, aber der Mensch, der es getan hatte, scheuchte sie lachend mit einem Steinwurf, sooft ich in die Nähe kam. Es war ein Neapolitaner, der behauptete, die Tiere spürten nichts, er hielt sie für eine Art lebender Automaten. Weil ich ihr nicht helfen konnte, schoß ich sie herunter. An den Kerl aber gab ich die Ohrfeige weiter, die ich von dir wegen des armen Falada empfangen hatte, und, wie du dir denken kannst, mit Zinsen. Das trug mir den Messerstich ein und dazu noch Strafe wegen unerlaubten Waffentragens. Aber das arme Tier war erlöst, und der Rohling hatte einen Zahn weniger.«

»Also daher der Messerstich?«

»Daher. Du warst in allem, was mich betraf.«

 

»Du warst in allem, was mich betraf.« Das schüchtern gesprochene Wort verließ sie nicht mehr. Es stand da wie eine plötzlich sichtbar gewordene Gefahr. Man mußte sich's umdeuten, sollte es sich nicht wie ein Abgrund zwischen sie und ihn schieben. Aber wie den Ton seiner Stimme überhören, wenn er »Vantje« sagte, dem Knaben nach, der auf diesem Namen bestand. »Vantje« mit einem Unterton von altem langverhaltenem Leid und neuem Dank und Vorwurf und Zärtlichkeit. Vorsichtig und lind wie über eine Wunde gingen ihre Worte über seinen Zustand hin und lösten nur immer mehr von dem, was da verhärtet und verkrampft am Grunde stak. So schwach und schutzbedürftig hatte ihn die Krankheit gelassen, daß ihm zuweilen bei dem tröstlichen Klang ihrer Stimme die Tränen kamen. Aber als die Kräfte wuchsen, brach neben der Weichmütigkeit plötzlich der alte Vulkan wieder hervor. Dann konnte er den Pinsel, mit dem er eben noch ihren Zügen auf der Pappe nachgegangen war, zornig an die Wand werfen: »Umsonst! Es geht nicht. Es ist alles umsonst. Ich glaubte dein Gesicht zu kennen wie kein anderes auf der Welt. Aber da ist etwas, das ich nicht treffe – etwas, das ich nicht verstehe – das Leben – dein Leben – ich weiß ja nichts davon.«

Wenn sie dann vor die Staffelei trat, was er ungern gestattete, so mußte sie zugeben, daß etwas fehlte. Er hatte, seit er zu malen begann, einen erstaunlichen Fleiß entwickelt. Jeder fesselnde Kopf, der ihm in den Weg kam, Bauern und Bäuerinnen, Kinder, Mägde, Mummelgreise, alle mußten ihm aufs Papier, alle sprachen. Nur das einzige Gesicht auf der Welt, das er liebte, gelang ihm nicht, es wollte unter seinem Pinsel nicht reden. Zuweilen näherte er seinen Kopf dem ihren, wie um ihn ganz einzusaugen, pinselte eine Zeitlang fort und bekam dann einen neuen Anfall von Entmutigung. In einem solchen Augenblick setzte er sich auf den niedrigen Schemel zu ihren Füßen und sagte finster:

»Wüßte ich nur das eine, ob du glücklich bist.«

Sie wollte auffahren, beherrschte sich aber: »Wie kannst du fragen? Siehst du nicht, mit wieviel Liebe ich umgeben bin, daß mein ganzes Leben nicht ausreicht, um dafür zu danken.«

»Wofür danken? Hat er denn nicht dich? Kann dich täglich sehen, deine Stimme hören. Ist das nichts? Sieh ihn dir an, seine aufrechte Haltung, wie er leicht und schwingend geht. Das hat er nicht aus sich, aus seinen sechzig oder mehr Jahren. Aus dir, aus deiner Jugend hat er es. Er weiß, warum er dich hütet. Ohne dich ist er eine leere Hülle, die in sich zusammensinkt.«

»Er hütet mich nicht!« rief sie entrüstet. »Was sind das für Reden? Du hast ja keine Ahnung von seiner Großmut und Zartheit.«

Sie war um so unwilliger, als ihr selbst mitunter heimliche Stimmen, die sie abwies, zuflüstern wollten, daß sie in diesem Verhältnis nicht die am meisten Empfangende sei. Aber aus anderem Munde zu hören, daß das Spiel ungleich stand, war ihr für den Mann, den sie immer verehrte, beleidigend. Roderich jedoch, in dem das alte Weh mit der alten Wildheit durchging, achtete nicht auf den Schrei der verletzten Seele, sondern verlor auf einmal die Zügel:

»Da ist etwas undurchsichtig, und das ist es, was mich nicht zu deinem wahren Gesicht kommen läßt. Das Geheimnis, das davor steht. Das Geheimnis, besser gesagt: die Lüge deiner Ehe.«

Sie sprang vom Stuhl, wollte etwas Zerschmetterndes sagen, aber sie fand keine Worte. Nur eine Flamme lief über ihr Gesicht, das gleich darauf totenblaß wurde. Dann wandte sie sich stumm zur Tür. Aber er, noch immer sinnlos, stellte sich davor: »Geh nicht, ehe ich die Wahrheit weiß. Die Wahrheit über deine Ehe.«

»Unwürdig! Unwürdig!« schrie sie auf. »Ein Sohn, der nach der Ehe seiner Eltern fragt!«

»Sohn! Eltern?« gab er verbissen zurück. »Seitdem ich denken kann, sagt mein Herz zu dieser Vaterschaft nein. Meine Mutter war eine Dirne. Ich weiß nicht, wo sie mich aufgeladen hat, aber der feine Herr von Solmar war nicht dabei. Und so gut ich weiß, daß ich nicht sein Sohn bin, weiß ich auch, daß du« – er senkte seine Stimme zum Raunen – »nicht seine Gattin bist.«

Vanadis zitterte vor Empörung, wie wenn ein Windstoß sie gefaßt hätte: »Ja, jetzt glaube ich dir, daß du nicht aus seinem Blute kommst. Er würde eher sterben, als mit so unzarten Händen an das Zarteste rühren. Wenn du mir zeigen wolltest, wie hoch er über dir steht, konntest du es nicht besser angreifen.«

Er stand mit gesenktem Kopf, ohne sich zu rühren. »Es war roh von mir«, sagte er nach einer Weile dumpf. »Aber was kannst du nach einem solchen Leben Besseres von mir erwarten?«

»Du warst nicht immer in einem solchen Leben. Unser Vater hat dir ein edleres vorgelebt. Laß mich jetzt gehen, ich habe genug gehört. Du hast mich sehr traurig gemacht.«

Sie wollte an ihm vorüber und hinaus. Aber er warf sich mit ausgebreiteten Armen vor der Tür auf die Knie.

»Verzeih mir, verzeih mir doch. Wer bin denn ich, daß du um mich traurig sein sollst. Ein roher Mensch bin ich geworden, da hast du recht. Ein gemeiner Matrose, ein Holzfäller unter Affen und Halbtieren. Du sollst mich auch gar nicht mehr pflegen und liebhaben müssen. Ich will auch wieder gehen, sobald ich nur fest auf den Beinen stehen kann. Ich will untertauchen, daß du meinen Namen nicht mehr hörst.«

»Das ist eine unedle Drohung. Dafür hab' ich dich nicht gesund gepflegt, daß du ohne Namen untergehst.«

»Ach, ich drohe ja nicht. Ich bin ja so arm. Gibt es etwas Ärmeres als mich? Was bin ich, wenn du dich von mir abkehrst?«

»Steh jetzt auf, Roderich, und laß es gut sein. Wir wollen das Gesprochene vergessen. Nur falle mir nie in diesen Ton zurück. Dein Vater ist das Heiligtum meines Lebens. – Komm, steh auf. Ich will dir Bertie schicken, daß du nicht allein bist.«

»Willst du zu Tisch kommen, Onkel Rodi?« tönte gleich danach die Stimme des Knaben. »Wir essen heut allein, die Vantje hat sich mit Kopfweh zu Bett gelegt.«

»Du mußt dich mit der Gesellschaft der Miss begnügen, lieber Bertie. Auch ich habe Kopfweh und muß schlafen.«

Später schlich er leise aus dem Haus. Stundenlang strich er laufend, stolpernd, fallend und wieder aufstehend durch die nachtdunklen Wälder. Ein paarmal stieß er wilde Schreie aus wie ein Überfallener oder Verwundeter und erschreckte einsame Wanderer, die nicht allzu mutig waren, daß sie sich hastig davonmachten, bis er zuletzt entkräftet am Fuß einer Kastanie liegenblieb und in den hellen Morgen hinein schlief. Vanadis aber lag jene Nacht schlaflos, sie hatte sein Wegschleichen, so leise es war, gehört, und die Beängstigung war über ihr, er könnte gehen, für immer verschwinden, sich vielleicht gar ein Leides tun. Es riß sie auf, ihm nachzustürzen, aber was durfte und konnte Egons Gattin ihm noch weiter sagen! Sie horchte auf das leise Anschlagen des Hundes und das Knirschen der Kieselchen im Garten, und als es stille ward, drückte sie den Kopf in die Kissen, von Herzstößen erschüttert. Am Morgen kehrte Roderich zurück, als hätte er nur eben einen Frühspaziergang gemacht, schloß sich auf der Bodenkammer ein und begann zu malen. Der böse Geist war von ihm gewichen, und sein Herz voller Freude. Und die Vantje lächelte wieder, als wäre die Störung nichts als ein Fieberrückfall gewesen.

 

Ein Eilbrief von Egon kam: »Ich muß Dich stören, liebes Kind. Ein Inder, Brahmane von hohem Rang in der geistigen wie in der gesellschaftlichen Welt, erweist uns die Ehre, auf der Durchfahrt für ein paar Tage unser Gast zu sein. Ich lege Wert darauf, daß Casteldimonte durch die Anwesenheit seiner Herrin geschmückt sei. Du wünschtest einmal dem indischen Geist in seinem Ursprungsland nahezukommen. Unser Gast erspart Dir die Reise, Du kannst ihn nach allem fragen, was Dir am Herzen liegt, es gibt zur Zeit keinen, der tiefer schaut. Ob Du Bertie mitbringen oder mit der Miss dort lassen willst, steht in Deinem Ermessen. Ich bitte Dich nur, sogleich aufzubrechen.« – Dann kamen ein paar Winke über die gegen den exotischen Gast zu beachtende Etikette und zum Schluß die eiligen Worte: »Noch eins: Deine Freundin Jeanne Latour ist krank. Es soll ernst sein. Sie haben aus dem Marienheim, wo sie liegt, schon zweimal nach Dir geschickt. Der Wagen erwartet Dich an der Bahn, Du kannst gleich am Marienheim halten lassen.« – Darunter stand als Nachschrift noch ein der widerstrebenden Feder abgerungener Gruß an ihren Pflegling, der ihrer ja nicht mehr bedürfe.

Mein Sommer ist vorüber, sagte sich Vanadis, denn so unbedingt hatte Egon noch nie zu ihr gesprochen, hier hieß es ohne Verzug gehorchen. Die Begegnung mit dem Inder versprach ihr nichts. Freilich war es ehedem ihr Wunsch gewesen, an stillen Strömen Indiens aus Jogimund Worte uralten Geheimwissens zu vernehmen und darin den Schlüssel zu den Rätseln alles Lebens zu finden. Aber dieser Wunsch war vergessen. Jetzt konnte ein Licht, das in ihre aufgestürmte Seele fiel, nur flackernd darin auf- und niedertanzen. Auch die kranke Freundin entglitt ihren Gedanken, wie ihr Corinna entglitten war. Da gab es nur Roderich und die Furcht, wie er ihr Gehen aufnehmen würde. Sie schrieb ein paar Zeilen an ihn, die ihn unter dem Frühstücksteller erwarten sollten, denn er schlief lange in den Tag hinein. Dann gab sie den Frauen im Hause Anweisungen, kleidete sich um und ging stille hinaus. Im Hof sprang ihr Bertie mit einem kleinen, aus dem Nest gefallenen Vogel entgegen und wollte mitgenommen sein. Aber als er hörte, Onkel Rodi bleibe und er dürfe ihm Gesellschaft leisten, glänzte er vor Freude, den Gegenstand seiner Bewunderung für sich allein zu haben.

 

Über Florenz lag schwüle, süßlich fade Sommerluft. Blumendüfte begegneten sich darin mit dem Pferdedunst der Fiakerstände zu jenem ganz besonderen Aroma, das nur dieser Stadt eignete. Vanadis liebte sonst diesen Duft wie alles Florentinische. Aber auf der Fahrt zum Marienheim dachte sie an Jeanne Latour. Es schwebte ihr vor, nach Abreise des indischen Gastes, wenn es der Freundin besser ginge, sie mit sich in die Waldluft der Giojosa zu nehmen. Für diesen Plan konnte sie von Egons Güte leichter die Zustimmung erhoffen als für ihre alleinige Rückkehr, es lag also ein Stück unbewußter Selbstsucht dahinter. Aber beim ersten Schritt in das Krankenzimmer sah sie den Tod zu Füßen des Bettes.

»Es begann mit Lungenentzündung«, sagte die Schwester, die sie eingeführt hatte, »jetzt ist eine Hirnhautentzündung dazugekommen. Fräulein Latour hat sich schon immer zu viel zugemutet, in der letzten Zeit soll sie große Sorgen gehabt haben, wie ihr Liebeswerk weiterführen. Alles tat sie selbst, Kochen, Waschen, Nähen, nur die ragazzi halfen mit. Die neue Nähmaschine, die ihr die Frau Baronin noch vor ihrer Abreise geschenkt hat, war ihr letzte Freude.«

Die Besucherin blickte auf die fein- und edelgeformten Hände, die zuckend über die Decke fuhren; wie waren sie abgearbeitet, hart wie die einer Magd. Aber das schöne Gesicht war jetzt ergreifend jung ohne die entstellende Tracht, die sie ihren gefährlichen Zöglingen geschlechtslos machte. Vanadis beugte sich über sie:

»Ich bin's, Jeanne. Kann ich dir einen Wunsch erfüllen?«

Jeanne redete, redete immerfort mit geschlossenen Augen. Aber es waren Worte ohne Sinn, die niemand haschen konnte. Die Besucherin wiederholte ihre Frage, indem sie der Kranken zärtlich ihre immer kühle Hand auf die Stirn legte. Da öffnete diese die Augen, es ging wie ein Strahl des Erkennens hindurch. Weide meine Schafe, meinte die Freundin zu verstehen. Aber vielleicht war es verhört, denn das Hirn formte schon keine klaren Gedanken und der Mund keine gegliederten Silben mehr.

»Da stirbt eine Mutter«, sagte Matteo, als Vanadis wieder in den Wagen stieg. Durch die förmliche Haltung des herrschaftlichen Kutschers schütterte das Schluchzen.

 

Der Inder war ein schlanker, noch jüngerer Mann, von jener fernöstlichen Schönheit, die als Erbe urlanger Züchtung fast nichts Persönliches mehr hat. Edle, strenggeschlossene Formen und jene großen dunklen Augen, die seit Jahrtausenden nur ein Blickfeld haben, das jenseits der Sinne liegt. Gekleidet war er in ein weißes flutendes Gewand mit weißseidenem Turban. Er zeigte sich jedoch als Mann von umfassender Bildung, der die europäischen Verhältnisse kannte und das Englische zur Vollkommenheit sprach. Nur mit seinen Wirten zu Tische zu sitzen, verbot ihm das Gesetz seiner Kaste; er wohnte in dem zum erstenmal bezogenen Neubau drüben, wo sein brahamischer Koch ihm die Speisen bereitete und auftrug. Bei seinen Gesprächen, die ausnahmslos um Übersinnliches gingen, saß die junge Schloßfrau stumm und geistesabwesend. Nur als zufällig ein Wort über die Baghavad Gita fiel, ein Gedicht, das sie liebte, ohne es tiefer zu verstehen, warf sie ein paar Fragen ein.

»Wir Inder lesen das Gedicht auf dreifache Weise«, sagte der Gast. »Auf die historisch-poetische, deren Sinn klar liegt, und auf die symbolische, die sich deuten läßt; außerdem hat es noch einen mystischen Sinn, der nur den Eingeweihten zugänglich ist und nicht gelehrt wird.«

Sie blickte auf Egon, in dem sie den Eingeweihten ahnte, der als schonender Führer ihre Jugend nicht mit zu schweren Erkenntnissen belasten wollte. Wie bewundernswert er nun aufs neue war in seiner Weisheit und Güte. Wie hoch über ihr und der Sturmzone ihres Herzens. Fern von ihr wie die Gestirne der Milchstraße und ebenso verbindungslos. Ihre Gedanken sprangen ab und eilten nach der Giojosa zurück, wo einer ohne alle Weisheit noch Überlegenheit sich nach ihr verzehrte.

 

Lange Züge von Männern und Frauen, meist den niederen Ständen angehörig, schoben sich zum protestantischen Friedhof, als die große Menschenfreundin Jeanne Latour der Erde übergeben wurde. Ihre ragazzi trugen den Sarg.

»Hier stehen die Waisen von Jeanne Latour«, begann der waldensische Geistliche, dessen Gemeinde die Verstorbene angehörte. »Schwerer ist nie eine Mutter von ihren Kindern gegangen, und keine hat ärmere zurückgelassen.« – Ein Schluchzen ging durch die Reihen der Zöglinge und pflanzte sich auf die anderen Anwesenden fort. Vanadis zerriß es das Herz. Was sollte aus den Unglückseligen werden? Sie fühlte sich hilflos. Die man da hinuntersenkte, war ihr im Leben nahegetreten, sie selbst hatte ihrem Werk glühend verdankte Hilfe gebracht, jetzt wuchs die Schöpferin dieses Werkes riesengroß über sie hinaus ins Reich der Helden und der Heiligen, wo nur die ganz Seltenen, die ganz Erwählten atmen können. Tief ging es ihr auf, wie weitab persönliche Hingabe an geliebte Wesen von solchem sozialen Opfermute steht. – So ihr liebet, die euch lieben, dachte sie, was werdet ihr für Lohn haben? – Weinend zerstreute sie den Riesenstrauß herrlicher weißer Nelken, der einem Brautgebinde glich, über den hinabgelassenen Sarg und sprach lautlos: Verzeih mir, Jeanne Latour, Geliebte, ich kann deine Herde nicht weiden, ich vermag es nicht. Ich bin zu schwach und zu klein, ich reiche nicht hinauf zu deiner Höhe. – Dennoch wuchs ein Segen aus ihren Tränen. Egon, der mitgekommen war, drückte leise ihre Hand: Wir sprechen uns nachher. Auf dem Heimweg sagte er: »Ich habe schon gestern mit einigen Herren Rücksprache genommen. Unter den ragazzi sind ein paar brave Burschen, bei denen die Erziehung angeschlagen hat. Für die ist Unterkommen in Aussicht, ich werde es nicht aus den Augen lassen. Was die andern, die Untauglichen betrifft – er zuckte die Achseln –, wir sind nicht die Vorsehung.«

Auf jauchzte das Herz der jungen Frau. Das war Egon! Endlich sah sie ihn wieder nahe und richtig. Und noch einmal kniete sie in Gedanken vor ihm nieder. Am Abend schrieb sie an Roderich:

»Mein lieber großer Junge! Laß Dir die Zeit nicht lang werden ohne die Vantje. Und wisse, daß ich für die vielen Ängste, die Du mir bereitet hast, ein Gastgeschenk von Dir erwarte. Ich hörte Dich ehedem sagen, es gebe in unserer Zeit für Maler keine Aufgaben mehr, weil ihnen die Wände fehlten. Auf der Giojosa sind Wände genug, und alle sind sie mein, das heißt: zu Deiner Verfügung. Nimm den Pinsel voll und laß die Giojosa aufleuchten in Farbenlust. Male, male! Jeder Gegenstand soll mir recht sein, ob Du mir den Tanz der Horen malen willst oder eine Piratenschlacht. Was ist ein Haus ohne Bilder? Laß keine Wand ohne Deine Spuren, daß ich Dich künftig immer dort wiederfinde. Nur die Räume deines Vaters nehme ich aus. Du begreifst: er könnte sich ihren Schmuck anders gedacht haben.

Denke für jetzt nicht daran, Barberino zu verlassen. Zwar auf Casteldimonte läßt sich's atmen, aber es ist noch sehr heiß, und Du hättest hier oben doch keine Ruhe, es triebe Dich hinunter in die glühende Stadt, wo noch vieles zu sehen ist außer den Giorgiones. Du brauchst Deine volle Kraft, um diesem Anprall gewachsen zu sein. Und hab mir ein Auge auf Bertie, bis ich kommen kann und Euch beide holen.«

Sie hoffte, indem sie Roderich in Arbeit stürzte, ihn an die Stelle zu bannen, daß er ihr nicht verfrüht folgte, und zugleich sein Heimweh zu beschwichtigen. Aber wie mit ihrem eigenen fertig werden, das über dem Schreiben an ihn mit erneuter Gewalt sie anfiel! Die Nächte waren noch schwül, in dem goldenen Bette gab es keinen Schlaf. Wie eine aufgestaute Welle kam das Verlangen nach den grünen Wäldern von Barberino zurück und nach den Gestalten der Frühzeit, die durch die Gespräche mit Roderich heraufbeschworen, jetzt geistweise dort umgingen. Vor allem seine eigene, jetzt seltsam umgeformte, der frühere Roderich neben dem jetzigen, dem er nun ähnlich sah. Nicht mehr der schnöde Bengel, der er gewesen, sondern durchschienen von dem Höheren, das er in sich trug. Und nun mußte sie sich die Vergangenheit umdenken, jedes herbe Wort, das sie ihm einst gegeben hatte, rückgängig machen. Wenn sie ihm nur so viel gewesen wäre wie Estherchen. Von ihr hatte er eine Anzahl kleiner Briefchen durch alle Schrecken seines Lebens in der Brusttasche mit sich getragen. Sie waren von Seewasser durchweicht, unleserlich, aber er besaß sie noch. Was besaß er von ihr, das er hätte mit sich tragen können?

 

Corinna kam nicht zum Vorschein. Sie hatte eine andere Wohnung bezogen und war unauffindbar. Aber der Zufall führte die Freundinnen eines Tages doch zusammen. In der Via de' Fossi befand sich ein Kunstladen, wo die Fremden ihre Reiseandenken auszuwählen pflegten: Kopien nach Meistergemälden, Mosaikarbeiten und dergleichen. Vorn in der Auslage standen marmorne und bronzene Kleinplastiken, die bequem in den Koffer gingen, Spielereien und Nichtigkeiten, wie sie dem Durchschnittsreisenden gefielen. An diesem Laden ging Vanadis mit einigen Päckchen am Arm vorüber, als Corinna aus der Tür trat. Sie bemächtigte sich der Freundin. Aber tief erschrak sie über ihre Veränderung. Was Egon für Folge des Römischen Fiebers hielt, das erschien ihr wie eine Zerrüttung durch inneren Einsturz. Die Malerin ließ sich auch jetzt auf keine Einladung ein, sie schien jedes vertrauliche Gespräch vermeiden zu wollen und schützte die Kürze des schwindenden Tageslichts vor, das sie für ihre Arbeit nutzen müsse. Sie bat nur eine Strecke weit in dem Solmarschen Wagen, der auf einer Piazetta jenseits des Arno wartete, mitgenommen zu werden. Armes gequältes Frauenherz! In diesen Tagen jährte sich das erste Wiederbegegnen der Freundinnen, Corinnas strahlendes Glücksbekenntnis. Kein volles Jahr hatte dieses Glück gedauert. Vanadis brauchte nicht zu forschen, wie es gekommen war. Sie kannte Corinna und hatte auch Goffredi zu kennen geglaubt; jetzt, durch Roderich, kannte sie ihn noch besser. Er war so seicht wie jene tief, so leicht wie sie schwerblütig. Sie liebte spät zum erstenmal, er hatte seine Jugend durchgeliebelt und liebelte weiter. Das erklärte, was sie vor sich sah, aber vielleicht nicht ganz. Denn augenscheinlich lebte Corinna schlechter, ihr Anzug war minder gepflegt, ihre neue Wohnung mußte der Lage nach eine billigere sein. Vor Goffredis Werkstatt, wozu sie den Schlüssel besaß, wollte Corinna abgesetzt sein, sie hatte dort im Auftrag des Inhabers etwas zu suchen, das sie in ihren Umhang verhüllt hinwegtrug. Sie allein wußte und wußte es mit zerreißendem Schmerz, daß Giulio seit einiger Zeit sein Talent verriet, um besser zu leben: er fertigte heimlich Nippsachen nach dem Geschmack der Zeit, die in vielen Abgüssen an die Fremdenindustrie gingen, und sank so innerlich auf die Stufe des kleinen Gipsfigurenhändlers zurück. Mit Widerstreben, aber sklavisch, wie sie nunmehr an ihm hing, half Corinna die Ware absetzen. Vanadis war mit eingetreten und stand lange vor der herrlichen Corinnabüste, die jetzt in Bronze gegossen die klassische Geschlossenheit der strengen Züge noch stärker betonte. Der ganze Raum, den sonst nur schwächliche Gipsgüsse bevölkerten, lebte geistig von diesem Werk. – »Wenn er doch nur einen Käufer dafür fände«, seufzte Corinna, die sich gleichfalls vor die Büste stellte.

»Denkt er denn daran, sich von diesem Werk zu trennen, das jeder Ausstellung Ehre machen würde?«

»Es war schon ausgestellt und wurde gelobt, aber nicht gekauft. Der Gegenstand ist zu wenig anziehend.«

»Er ist mehr als das, er ist erhaben. Ich will meinen Mann bitten, daß er mir die Büste zu Weihnachten schenkt, dann kann er sie jederzeit aufs neue ausstellen.«

»Aber es ist noch lang bis dorthin«, wandte Corinna schüchtern ein.

»Ich werde ihn veranlassen, daß er sie gleich bezahlt. Bist du's zufrieden?« – »Und wie!« sagte Corinna aufatmend.

Der Grund von Goffredis Geldverlegenheit lag nicht nur in seinem Bedürfnis nach vornehmem Auftreten, sondern vor allem in dem leidigen Umstand, daß er für Märchens Marmorbüste nichts bekam. Das hing mit seiner veränderten Stellung zu dem Urbild zusammen: der Bildhauer hatte den Auftrag empfangen, der Liebhaber konnte nicht auf Bezahlung dringen, doppelt nicht, weil er im Vertrauen auf die Großzügigkeit des Wehlschen Paares versäumt hatte, von vornherein einen Preis festzusetzen. Nun fand es Märchen selbstverständlich, daß derjenige, dem sie ihre Reize schenkte, ihr dafür sein Werk zu Füßen legte, und dem Gatten Wehl fiel nichts dabei auf, weil er nicht einmal vom Werte des Steins, geschweige von dem der Arbeit eine Vorstellung hatte. Corinna, die immer opferbereite, sollte Rat schaffen. Die Ärmste, die nicht wußte, daß er sie mit Märchen betrog, wenn sie auch das Welken des Liebesfrühlings mit täglich neuer Qual erfuhr, gab, was sie hatte, und als ihr die Mittel ausgingen, fuhr sie halbkrank, wie sie noch war, nach Florenz, um einen schon früher übernommenen Auftrag, der ihr bisher zu langweilig gewesen, die Kopie der Madonna della Sedia, auszuführen. Weil sie nun schon dabei war, malte sie das Bild gleich doppelt. Die eine, schon fertige Kopie hatte sie soeben in den Kunstladen gebracht, ob sie dort schneller abgesetzt werde, an der andern, die für Deutschland bestimmt war, arbeitete sie noch. So blieb keine Mußestunde für Casteldimonte.

 

Gelegentlich überließ Egon seiner Frau die Unterhaltung des indischen Gastes, während er dessen europäischem Begleiter seine Stiche und Kleinplastiken wies, wofür dem andern der Sinn gebrach. Dadurch wurde sie genötigt, sich dieser fremden Welt zu nähern. Die Rede kam auf die Unrast des europäischen Geistes im Gegensatz zu den gleichschwebenden Schalen morgenländischer Seelenstille. Sie wollte wissen, wie diese erworben werde.

»Soweit ich sehe«, sagte der Inder, »lebt der Durchschnitt der Abendländer in der Trübe der Peripherie. Da sucht er und will ihr entreißen, was sie niemals geben kann. Weil er nichts findet, durchrast er immer aufgeregter den Kreis und findet immer weniger. Im Zentrum liegt alles bereit: wer eintritt, findet, aber wenige treten ein.«

»Wo ist das Zentrum?« fragte sie. »Ist es in uns oder außer uns?«

»Da wo innen und außen eines sind«, lächelte er mit seinem weltenfernen Lächeln.

Dann, als ein Mann, der viel gereist war, erzählte er ihr ein Gleichnis. Er war einmal in einem russischen Dorf Zeuge gewesen, wie ein hungriger Wolf den Bauern in die Falle ging. Sie pflockten ein Lämmchen an und umgaben es im Kreis mit einem Zaun, diesen mit einem zweiten, dessen Eingang offen stand. Das Lämmchen zog mit seinem ängstlichen Blöken den Wolf herbei. Auf der linken Seite sperrte eine kleine Tür den Rundgang. Der Wolf rennt nach der anderen, sieht, daß er nicht an das Lämmchen gelangen kann, und kommt im Rundlauf an die Tür, die er mit der Nase aufstößt. Damit verschließt er den Ausgang, rennt weiter immer in der Runde, immer wieder die Tür aufstoßend, die hinter ihm in ihre alte Lage zurückfällt. Wenn er umkehrte, könnte er hinaus, aber Gier und Wut und zuletzt die Angst machen ihn blind und toll, daß er nur immer im engen Kreise rast, bis er todmatt niederfällt und der Bauer ihn mit dem Knüttel erschlägt. »In diesem Wolf«, schloß der Inder, »meinte ich den Geist des Abendlandes zu sehen, wie er weder an sein Wunschziel kommt noch den Rückweg aus seinem hoffnungslosen Rennen findet.«

»Sie haben recht«, sagte sie nachdenklich. »Aber wie gewinnt man den Zustand, der von dem Rennen erlösen kann?«

»Das erste ist: die unreinen Geister abwehren, die bei Tag und Nacht scharenweise um uns sind, um uns durch Einflüsterungen in ihr Elend nachzuziehen.«

Sie sah befremdet in die seltsam schauenden Augen des Gastes, die, was ihr Symbol war, leibhaft zu erblicken schienen: »Was macht man, um die unheiligen Geister abzuwehren?«

»Konzentration und Meditation vermögen viel.«

»Die sind wohl schwer und langsam zu erlernen?«

»Schwer und langsam, ja, aber wert, daß man sie übe. Ihr Gatte kennt den Weg, er ist von den Unsern.«

»Gibt es einen kürzeren, um sich zu schützen?«

»Ein Mittel wird genannt, der Geistesjünger braucht es nicht. Wer seinen Schlaf rein erhalten will, der ziehe vor dem Einschlafen in Gedanken einen Kreis um sich und wiederhole die gedachte Bewegung, bis er einschläft. Kein unheiliger Geist, so heißt es, könne den magischen Wall durchbrechen.«

Egon hatte im Hereintreten die letzten Worte gehört. »Es ist ein mechanisches Mittel«, sagte er warnend, »nur der geistige Weg führt in die Klarheit.«

»Nur der geistige Weg«, bekräftigte der Gast.

Wieder eine schlaflose Nacht, erfüllt von sehnender Unruhe. Wie gut war es doch droben auf der Giojosa. Dort strömte zu den weitoffenen Fenstern die herbe Nachtluft herein mit dem Harzgeruch der Pinien und mit den tausend Naturstimmen der nächtlichen Campagna, alle zusammengeflossen in die eine leise Musik, die den Gang der Sternenstunden begleitet. Hier hatte man die Wahl, ob man die Fenster schließen oder sich unter dem Moskitonetz bergen wollte gegen die nächtlichen Blutsauger, die das große Wasserbecken im Park ausspie. In beiden Fällen war das Atmen erschwert. Vom Tal herauf schimmerten fern die Lichter der entschlafenen Stadt. Ringsum tiefe Stille. Aber in der Stille begannen innere Stimmen zu sprechen: Ist es dein Zimmer, was dich hier umschließt? Die goldenen Gitterstäbe der Balustrade, die von der Ampel schwach beleuchtet sind, und die goldene Decke, die sich hinaufwölbt? Das ein Zimmer? Es ist ein goldener Bauer wie der, worin Bertie seinen Papagei füttert, nur größer, weil für einen größeren Vogel gebaut. Wann kommt der Tag, wo der Käfig offen bleibt und der Vogel hinaus kann in die Freiheit? –

Unerträglich, diese Gedanken. Vielleicht waren es gar nicht ihre eigenen. Vielleicht waren es die Stimmen jener unreinen Geister, von denen der Brahmane gesprochen hatte. Fort mit ihnen! Sie stand auf und zündete Licht an. Aber gleich schwirrten die Moskitos herbei, die, einmal eingedrungen, nicht mehr zu entfernen sind. Schnell wieder löschen! Was jetzt? Schlafmittel hatte sie stets verschmäht. Aber halt, war da nicht ein Weg zur Gewinnung der Nachtruhe, von dem der östliche Gast gesprochen hatte? Und noch ein einfacher dazu. Er hatte ihn nicht empfohlen, nur genannt, aber er konnte ja nicht schaden. Ins Bett zurück und die Kreisbewegung in Gedanken ausgeführt!

Nur zwei Minuten und sie war jählings ihrem Bett, ihrem Zimmer, der Erde entrückt, in einer Höhe, die höher war als der höchste Berg, unausdenkbar hoch. Ein unsichtbarer Raum, durch nichts gegliedert noch begrenzt. Auf der höchsten Spitze stand ein Tempel mit Vorhallen, den sie nicht sah, nur mit dem Geist erfühlte. Unterhalb seiner gefühlten Stufen, auf gefühltem Vorraum stand sie. Aber nicht allein. Ungesehene Gestalten umdrängten sie nahe, unhörbare Worte sprachen auf sie ein. Nein, Worte waren es nicht, es waren Lichter, wie durch Spiegel in ihr Inneres geworfen. Ein ungeheurer Inhalt, weit über Menschenwissen, sollte sich ihr offenbaren: sie sah, sah greifbar, sinnlich, was keine Form und keine Grenze hat. Sie wich zurück, hart zugreifende Hände rissen sie, zerrten sie nahe heran an die unendliche Hellung. Was waren das für Wesen gewaltsamen Willens, die ihr aufzwangen, was sie nie begehrt hatte? Sie meinte zu spüren, daß es die Lösung vom irdischen Wollen und Leiden war, was sich ihr darbot. Aber dann war es aus mit allem, was sie liebte. Dann war die Erde nicht mehr grün für sie, kein Lied würde sie mehr singen, Roderich und Bertie würden vergebens auf sie warten. Laßt mich, schrien ihre Gedanken, ich will keine Eingeweihte sein, ich bin irdisch und will es bleiben. Heftiger redeten die lautlosen Stimmen, sie fühlte die zornigen Griffe an Schultern und Armen. Sind göttliche Meister so grausam? In einer Vergewaltigung ohnegleichen strömten Erleuchtungen auf sie ein, ein Wissen wie von Eisfeldern her, wie aus luftleeren Räumen, Wissen, das niemand je gewußt hatte außer ihr, lautlos, wie ihr schreiender Widerstand lautlos war. Noch immer hielten sie die gewalttätigen Hände, bis es ihr mit äußerstem Kraftaufwand gelang, ein hallendes Nein! auszustoßen. Es war ein menschlicher Laut, und er füllte die ganze Welt. Im gleichen Augenblick wurde sie mit wilder Kraft emporgerissen, ein rauher, körperlicher Stoß warf sie hinaus, hinunter. Zerschmetternd? Mitnichten. Sie fand sich in ihrem Bette wieder, aber noch völlig durchrüttelt von dem Sturz. Ihr Nein! bebte noch in seinen letzten Schwingungen durch die Luft. Was war ihr geschehen? Sie begriff es nie, solange sie lebte. Ein Traum war das nicht, es war Entrückung. Wohin, in welchen gestaltlosen Raum, zu welchen erhabenen, aber zornigen Lehrern, die das Kind, das nicht folgen will, körperlich mißhandeln? Hatte sie etwas Unerhörtes, Unwiederbringliches verscherzt? Was hätte sie geschaut, wenn ihr Nein wie ein Ja geklungen hätte? Aber wer war denn sie, daß sie schauend sein sollte wie Gott?

Noch war die Ekstase nicht ganz zu Ende. Aus dem verebbenden inneren Sturm heraus bildeten sich Töne, hörbare, einer klagenden Musik, sie waren hörbar und sichtbar zugleich, denn wie sie erklangen, nahmen sie Gestalt an, sie schwebten in langem Zug, in schleppenden Floren durch das Zimmer, es ganz erfüllend, bis sie zuletzt in der Ferne verebbten.

Vanadis sprach zu keiner Seele jemals über den Vorgang, auch zu Egon nicht. Es kam ihr vor, als wäre ihr Schweigen auferlegt. Im Augenblick, wo sie sich im Bette wiederfand, hatte sie geglaubt, den Sinn der gehörten Worte noch zu verstehen. Aber beim ersten Bewußtwerden war er weg. Er hatte irgendwie nach der Baghavad Gita geklungen, nicht nach dem offenen legendären Inhalt noch nach dem symbolischen, den sie wohl zu verstehen meinte, also mußte es wohl der mystische sein. Aber wie es mit Dingen geht, die sich dem Kreis unserer Vorstellung auf keine Weise einverleiben lassen, so schob sie das Rätselhafte, das ihr widerfahren war, in ihrem Geiste zurück und gewöhnte sich allmählich, als die Stärke des Eindrucks nachließ, daran, es als einen Traum anzusehen. Später aber, als das Schicksal härter mit ihr verfuhr, ging es zuweilen streifenweise durch ihren Sinn: Habe ich recht getan, eine höchste Lehre und Schutzwehr zurückzuweisen, die mir kein zweites Mal geboten wird? – Andere Male kam ihr der Zweifel, ob es wirklich Geister höherer Ordnung gewesen, die sie so rauh und drohend angefaßt hatten. Es konnten auch Mächte des Bösen sein, die sie zu sich in ihre Eiswüste ziehen wollten. Vielleicht hatte sie jenen gedachten Kreis nicht fest genug geschlossen und durch die Lücke, was sie bannen wollte, hergelockt. Ein Schauder vor den dunklen Gebieten, wo der Eintretende sich vielleicht Gefahren aussetzt, die niemand kennt, blieb ihr von dieser Erfahrung. Niemals wieder versuchte sie den magischen Wall um sich zu ziehen.

Der fremde Gast war mit seinem Gefolge abgereist, Ihr Leben wurde dadurch nicht leerer, als es gewesen. Eines Tages fuhr ein Wagen an und hohe Stimmen tönten durch das stille Haus: die Miss war mit Bertie gekommen, einen Tag auf Casteldimonte zu rasten, ehe sie auf Befehl der Mutter den Knaben nach Rom brachte. Das war ein Schlag für Vanadis, da sie jetzt Roderich ganz allein wußte und gewiß bald eine Beute der Unrast und der Schwermut, die ihm im Blute lagen. Auf ihre Frage nach seinem Ergehen antwortete die Miss gekniffen, der junge Herr habe sich nie herbeigelassen, bei Tisch zu erscheinen, er habe sich das Essen durch den Schieber ins Zimmer stellen lassen, und dieses, der Speiseraum, sei nicht mehr betretbar. Einmal habe sie durch die offene Tür seine Malereien gesehen, nun – ihr gefielen sie nicht sonderlich, und Figuren seien darunter, gänzlich nackte, nicht zum Anschauen.

Anders klang der Bericht aus Berties Mund. »Jetzt weiß ich nicht mehr, soll ich Seemann werden oder Maler«, klagte er. »Ich glaube, ich werde lieber Maler. Onkel Rodi hat dir so wunderschöne Bilder gemacht. Ich darf dir nichts davon sagen, er will dich überraschen. Du wirst es ja selber sehen, wie die Mädchen auf der Wiese tanzen und wie von dem Schiff herunter die Männer springen und sie wegtragen. Und wie die Leute mit Spießen und Stangen gelaufen kommen, aber sie kommen zu spät, denn das Schiff segelt schon in der Ferne.«

Der Hörerin ging bei Berties Schilderung eine Welt von Freude auf. Der aber schloß: »Ich werde doch am liebsten Seeräuber.«

Das Kind war ganz verweint und trostlos angekommen. Es hatte bei der Abfahrt noch einen großen Schmerz erlebt. Den geliebten Papagei hatte es mitnehmen und auf der ganzen Reise selbst tragen wollen. Zu diesem Zweck steckte es ihn in den kleinen Käfig, worin er gekommen war; das zutrauliche Tier ließ sich ohne Sträuben von ihm anfassen. Aber bis die Governess den Kleinen fertig gemacht hatte, war der Papagei verschwunden. Man fand nur noch das Köpfchen und ein paar blutige Federn. Die Katze hatte ihn aus dem schlecht verschlossenen Bauer gerissen. Darum hatte Bertie allen Katzen den Tod geschworen und wollte gleich bei dem schwarzen Angorakater, den Egon liebte, mit Steinwürfen den Anfang machen. Die Vantje mußte ihm aus der Naturgeschichte beibringen, daß die Katze nicht schuldiger ist, wenn sie den Vogel frißt, als der Vogel, wenn er das Würmchen pickt. Egon in seiner Güte wollte dem Trauernden einen neuen Papagei schenken. Aber da zeigte sich die edle Natur des Kindes. Es wollte den neuen nicht, es hatte kein Spielzeug, es hatte einen Freund verloren. Erst als er in dem großen Wasserbecken sein Schiffchen an langem Faden schwimmen lassen konnte, war er wieder Mann und Kapitän.

Spätherbst war eingezogen, es regnete seit Wochen. Nur zwischendurch blies einmal die Tramontana mit eisigem Gepuste die Wolken weg, daß man vorübergehend die Bläue des Himmels wiedersah. Aber Tags darauf war der Regenschleier aufs neue vorgezogen. Vanadis saß in dem kleinen, angenehm durchwärmten Leseraum neben dem Büchersaal und fröstelte bei jedem Windstoß, indem sie an Roderich dachte. Er malte noch immer auf der Giojosa und war jetzt mutterseelenallein, denn den dienenden Geist, der ihm aufwarten sollte, hatte er als überflüssig zurückgeschickt. Aber womit füllte er seine Stunden aus, da der Tag immer kürzer und lichtärmer wurde? Wie war ihm zumute zwischen den kalten Wänden des Sommerhauses, während der Wind die Kastanienwipfel bog? Saß er nicht wieder so verlassen wie hoch oben im Ausguck über dem tobenden Ozean? Sie spürte seine Sehnsucht, spürte sie an ihrer eigenen, aber sie durfte nicht zu ihm eilen, um ihn zu holen. Solange er krank war, ja, da hatte sie um ihn gerungen und den Willen, dem sie untertan war, durchkreuzt. Dem Genesenen konnte sie nur schaden, wenn sie damit fortfuhr. Noch hatte sich Egon in all der Zeit nicht geäußert, was er mit Roderich vorhatte, mitunter war es fast, als hätte er sein Dasein vergessen. Aber durch sein Schweigen vernahm sie weiblich hellhörig die heimlich raunenden Gedanken, die um dieses schwierigste Problem seines Lebens kreisten. Warum nur hatte er seinem Sohn, der sich seiner Welt nicht natürlich eingliedern ließ, seinen Namen gegeben und ihn damit seinem eigenen Dasein verknüpft? Besser, er hätte ihn insgeheim unter fremdem Namen erziehen lassen und stände nur als unbekannter Wohltäter hinter ihm. Jetzt war das einzige Heil für beide: so weit wie möglich auseinanderbleiben. Weil sie die Stimme seines Innern wie mit Ohren hörte, scheute sie sich, den Stein ins Rollen zu bringen, von dem sie nicht sah, welchen Weg er nehmen würde. Sie wußte nicht, daß auch Egon feige war und einer Entscheidung auswich, die zum Zwiespalt zwischen ihr und ihm führen konnte. Noch gestern war ihr durch den Kopf gegangen, ihn zu bitten, daß er ihr gestatte, ins Mugello zu fahren und in Ausübung ihres Hausfrauenamts mit Hilfe eines Dienstboten die Giojosa für den Winter abzuschließen, wobei es sich von selbst ergeben hätte, daß sie Roderich nach Hause mitbrachte. Aber sie fürchtete des schlechten Wetters wegen ein Nein und wollte lieber einen sonnigen Tag abwarten. Heute aber war es zu spät, denn Egon war mit dem Frühzug nach Deutschland abgereist. Einer der zwei Freunde, die er seine »Alten« nannte, war dort plötzlich gestorben, und er mußte zur Feuerbestattung, die damals nirgends stattfinden konnte als in Gotha. Da er auch Testamentsvollstrecker war, hatte er mit einer Abwesenheit von reichlich einer Woche oder mehr zu rechnen. Unterdessen durfte sie nicht wagen, etwas Eigenmächtiges zu unternehmen. Es war zwischen den Gatten Sitte, daß der reisende Teil noch von unterwegs und dann gleich nach der Ankunft schrieb, der zurückbleibende aber einen Gruß schon voraussandte, der den Ankömmling am Bestimmungsort erwartete und dem gleich nach der Abfahrt ein richtiges Schreiben folgte. Diesmal war es so schnell gegangen, daß für den Willkommensgruß keine Zeit blieb, aber sie wollte doch noch nämlichen Tages schreiben. Es gab auch schon eine Neuigkeit, denn wenige Stunden nach Egons Abreise war ein unerwarteter Besuch gekommen: die kleine Alma Lindgren aus der Villa Waldlust, jetzt groß und schön geworden, mit ihrem jungen Gatten, sie Malerin, er Maler. Ihre Mutter war tot, der Vater zum zweitenmal verheiratet, sie selber auf der Hochzeitsreise, übervoll des neuen Glücks. Aber der einstigen Schwester Eugenie hatte sie eine schwärmerische Verehrung bewahrt, die sich angesichts der strahlenden Herrin von Casteldimonte fast in einen Kniefall verwandelte. Weil das junge Paar des Fremdenstromes wegen schlecht untergebracht war, ordnete diese an, den beiden das schönste Gastzimmer herzurichten. Das Pärchen dankte entzückt und fuhr weg, um sein Gepäck zu holen. Unterdessen wollte Vanadis an Egon schreiben. Aber eine Unlust hatte sich ihrer bemächtigt, die sie die rechten Worte nicht finden ließ, kein Buchstabe kam auf das Papier. Sie blickte nur versunken auf ihre beiden Hände, die lässig im Schoße lagen ohne anderen Schmuck als den schicksalsvollen schmalen Goldreif am linken Ringfinger. Daß sie ihn nach Landessitte an der Linken trug, war ihr ein vertieftes Symbol, dessen Bedeutung nur sie selbst verstand: er band an dieser Stelle fester. Sie hatte in beiden Handflächen verschiedene Zeichnung, was schon in ihrer Kindheit aufgefallen, aber niemals gedeutet worden war. Und zwar stammten die vielverzweigten Linien der linken Hand vom Vater, die weit einfacheren der rechten von der Mutter. Vor einigen Jahren aber war ein Gast auf Casteldimonte erschienen, der Jugendfreund Egons mit fremden Namen und Anklang. Carlo, der ihn gleichfalls zum ersten Male sah, hegte die stille Vermutung, daß er einer von den geheimnisvollen »Alten« sei. Er verbrachte nur eine Nacht im Hause. Bei Tisch saß er neben der Schloßherrin, und angezogen von den Bewegungen ihrer Hände, bat er sie beim Aufstehen, ihm auch die Handflächen zu zeigen. Sie reichte ihm die gewünschte Linke. Lange hielt er ihr Handgelenk, indem er aufmerksam das Liniengeflecht verfolgte und dann und wann einen flüchtigen Blick über ihre Züge gleiten ließ.

»Nun?« lächelte sie, als sich die Betrachtung in tiefen Ernst verlor.

»In diesen vielgekreuzten Linien«, sagte der Gast mit leiser Stimme, »sehe ich eine überfeinerte Gemütswelt, voll starker Erlebniskraft, rein im Wollen und streng gegen sich selbst, aber von den Dämonen der Schwermut bedroht. Viel überwundenes Leid, Dornenpfade der Seele, die gegangen sind. Alles in allem: eine Anlage voll Schönheit, aber auch voll Gefahr.«

»Ich danke Ihnen«, antwortete die Überraschte, ihre Hand zurückziehend, die er noch länger durchforschen zu wollen schien. »Sie haben vieles richtig ausgelegt. Aber nicht alles. Betrachten Sie diese.«

Sie wies ihm auch die Rechte, da entfuhr ihm ein Ausruf:

»Das überrascht mich in der Tat! Ihre Rechte widerspricht den Aussagen Ihrer Linken. In diesen Linien, die so einfach sind, ist alles Wille, Mut, schwingende Kraft und Freude. Hier ist der Tag, dort die Nacht. Ich stehe vor einem Rätsel!«

»Die Sache ist einfach«, antwortete sie. »Sie haben die Handlinien meiner beiden Eltern gesehen. In der linken Zeichnung, die vom Vater stammt, steht sein Gemütsleben und sein Schicksal: er ist unheilbar schwermütig. Ich besaß einen Bruder, der die gleichen Linien in beiden Händen trug. Auch ihn zog das Verhängnis hinunter. Aber diese Rechte ist meiner Mutter Hand. Nach ihr müssen Sie Egon fragen, ich habe sie zu kurz gekannt, ich weiß nur, daß sie Licht und Freude verbreitet hat, wo sie erschien. Mir sagt man nach, daß ich von beiden Eltern etwas habe.«

Er hielt ihre beiden Hände in den seinigen und hauchte einen ehrfürchtigen Kuß über jede.

»Zwei ungleiche Führer, aber beide von der guten Art, haben sich zu Ihrem Besten verglichen und verbunden. Zu solcher Führung darf man Glück wünschen.«

An dieses Gespräch mußte sie denken, als sie ihre beiden Hände in der gewohnten Stellung im Schoße ruhen sah, die leidvolle Linke umfaßt von der lebensstarken Rechten. Aber beide, die hochgemute wie die trauernde, bebten von dem versagten Wunsch, sich zärtlich um ein abwesendes Haupt zu schließen, das nicht das Haupt des Ehegefährten war.

Da fuhr ein Windstoß durch das Haus, auf den ein schneller und starker Klingelzug folgte. Sie sprang in die Höhe und zitterte von Kopf zu Fuß, vom Anlauf einer Schicksalswelle berührt. Stimmen, geöffnete Türen, die der Wind wieder zuschlug, dann kam es die Treppe herauf, die Kammerfrau meldete: »Der junge Herr.«

Da stand er mit nassem Haar und durchweichten Kleidern, Roderich.

»Du!« – Sie flog ihm entgegen, und ganz von selbst schlossen sich ihre beiden Hände um das Haupt des Ankömmlings, wie sie es ersehnt hatte. Aber ebenso schnell zogen sie sich zurück, und Stiefmutter und Stiefsohn standen sich in bemessenem Abstand gegenüber, als Carlo, durch ein leises Geräusch vorausverkündigt, die Tür öffnete, um ehrfurchtsvoll zu fragen, wo er den jungen Herrn unterbringen solle.

Der Gästebau, der durch den Brahmanen eingeweiht worden war, nahm jetzt den Sohn des Hauses auf. Es war ein Opfer, das sie sich abrang, ihn außerhalb der Mauern unterzubringen, aber eine andere Möglichkeit, ihn in der Nähe zu behalten, gab es nicht. So waren sich die beiden Männer von vornherein aus dem Wege, und Roderich konnte sich in den fast leeren Räumen nach Bedarf einrichten. Unwirtlich sah es zu dieser Jahreszeit dort aus, nachdem die für den indischen Gast getroffenen Einrichtungen wieder entfernt waren, und kalt war es auch, aber der Ankömmling schlug gleich selbst ein Loch durch die Wand, in das er eine Röhre einfügte, verband diese mit einem kleinen Eisenöfchen, das sich in einem Schuppen fand, und bevor das elegante Paar mit seinen Koffern in einem der Prunkräume des Schlosses eingezogen war, hatte sich's der Landfahrer in der noch öden und unfertigen Villina auf seine Weise heimisch gemacht. Der junge Ehemann und Kunstgenosse half ihm mit Feuereifer mitgebrachte Farbenskizzen an der Wand befestigen und wußte nicht, was er mehr anstaunen sollte, die Kraft der Begabung, die ihm in den Bildern aufging, oder die lebensmächtige Sicherheit dieser derben Fäuste, denen jedes Werkzeug handgerecht war und die im Nu alte Latten für den ersten Bedarf in Staffeleien verwandelten. Die beiden Frauen halfen auf ihre Weise mit, indem sie Decken ausbreiteten, Blumen aufstellten, Felle legten. Roderich, der wie ein Zyklop am Öfchen hantierte, pustete zuweilen in glücklichem Übermut mit dem Blasebalg zwischen sie, daß sie schreiend und scheltend auseinanderfuhren. Sie waren wie ein Häuflein Kinder, und der freudige Klang der jungen Stimmen schien alles Leben aus dem stillen Herrschaftshaus in die entstehende Arbeitsstätte herübergezogen zu haben. Daß es rauchte und zog, während minutenlang der Regensturm ans Fenster prasselte, störte niemand. Aber als sie dann später drüben im gleichmäßig warmen, blumenduftenden Eßraum saßen, war Roderich mit einem Male finster und stumm, und je heiterere Töne Vanadis anschlug, desto düsterer versank er in sich selbst. Es schien ihm, daß er hier zuviel sei oder daß ihr doch die beiden anderen mehr zu geben hätten. Ihr aber bedeuteten die jungen Eheleute nur das Zwischenglied, durch das Roderichs Anwesenheit sich dem häuslichen Dasein leichter einfügte, und ablenkende Vermittlung für das Wiederbegegnen von Sohn und Vater. Wenn Egon, wie er nicht anders konnte, das Paar gastlich begrüßte, so durfte er dem eigenen Sohne nicht den gleichen Willkomm verweigern. Je besser die drei sich bis zu seiner Rückkehr ineinandergefunden hatten, desto leichter wurde hernach das Weiterleben auch ohne die Gäste. Deshalb nahm sie sich vor, dem jungen Paar alles Erdenkliche an Annehmlichkeiten zu bieten, und ließ es sich auch nicht nehmen, sie selbst in ihr Schlafgemach zu begleiten, nachdem sie zuvor dem Stiefsohn gute Nacht gesagt. Aber dieser wich nicht von der Stelle. Bei ihrer Zurückkunft fand sie ihn am alten Platz.

»Noch immer da, du Nachteule?« fragte sie mit erzwungenem Scherz. Der Düstere trat nahe auf sie zu: »Ich bin dir wohl unerwünscht gekommen? Ich kann nicht zur Ruhe gehen, ehe ich das weiß.«

»Roderich!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Warum hast du nur Augen für die zwei anderen und gibst mir kaum einen Blick den ganzen Abend?«

»Denke darüber nach, und wenn du es gefunden hast, dann hilf mir, daß alles gut wird.«

Er verstand nicht, aber es schwante ihm doch, daß ihr Tun irgendwie zu seinem Besten war.

»Du bist mir so fern, Vanadis«, sagte er leise, »Es ist, als ob die Zeit auf der Giojosa gar nicht gewesen wäre. Und du weißt nicht, wie ich nach dem Kommen gebangt habe und es doch immer wieder verschob. Beim Eintritt, ja, da war es wieder wie dort. Ich glaubte sogar, du gäbest mir einen Willkommkuß. Aber der Schleicher kam dazwischen, und seitdem bist du verändert.«

Sie neigte sich ihm entgegen und streifte seine Stirn, die kalt wurde, mit einem Hauch, der kein Kuß war, denn sie zitterten alle beide.

»Sei willkommen im Elternhaus«, sagte sie mit unsicherer Stimme. Dann klingelte sie Carlo, daß er den jungen Herrn mit Licht in seine Wohnung hinüberführte.

Darauf aber setzte sie sich nochmals, um an Egon zu schreiben, und jetzt flog ihre Feder. Doch es war immer nur von der lieblichen Alma und ihrem Gatten die Rede, von der Begeisterung des jungen Paares für Florenz, für Casteldimonte, und welche guten Tage sie für sich selbst von dem Zusammensein erhoffte. Erst am Schluß des Briefs kam in gedämpftem Ton die zweite Neuigkeit:

»Und denke Dir: kaum war dem Pärlein sein Zimmer bereitet, so stand ganz durchnäßt und blaugefroren unser Sohn vor der Tür. Er hatte es vor Kälte in Mugello nicht mehr ausgehalten. Wir haben ihn drüben in der Villina untergebracht, wo er seine Freiheit haben und uns die unsere lassen wird. Skizzenblätter hat er mitgebracht, vor denen sich das Malerpaar vor Bewunderung nicht fassen kann und über die auch Du staunen wirst.«

Als sie den fertigen Brief durchlas, erschrak sie fast über die Geschicklichkeit, mit der sie, ohne ein unwahres Wort zu sagen, das Bild ihres Innern gefälscht hatte. – Lernst du noch den edelsten Menschen belisten, Vanadis? sprach es zu ihr aus den schwermütigen Linien ihrer linken Hand. Ja, wenn es ihm Kummer fernhält, antwortete getrost die Rechte.

Egons Abwesenheit zog sich unerwartet in die Länge. Unterdessen trank Vanadis Jugend und Freiheit. Mit dem Gästepaar, dem sich, ihrem Wunsch gehorsam, Roderich anzuschließen pflegte, durchwanderte sie Museen, Kirchen und Paläste, wo die lange bekannten Gegenstände ein ganz neues Licht empfingen. Denn Roderich, der alles mit der Leidenschaft des jungen Menschen und schaffenden Künstlers sah, brachte keine der kunstgeschichtlichen Wertsetzungen mit, er kannte sie nicht einmal. Er suchte auch nicht allem gerecht zu werden, er faßte nur auf, was ihm gemäß war, aber was er faßte, von dem fiel die jahrhundertealte Schicht verbrauchter Bewunderungen ab, und es trat etwas ganz Frisches, Erstmaliges daraus hervor. Trotz seiner wilden Vergangenheit war er aber in diesen Dingen kein Neuling. Er hatte viel gesehen. Auf allen seinen Fahrten war er an Land gegangen, und während seine Kameraden dem Trunk und Mädchen nachgingen, hatte er die Meisterwerke der Kunst, wo sie erreichbar waren, aufgesucht. Oftmals hatte ihn da sein Freund Albert begleitet, weil er nach solchen Eindrücken mehr als sonst in Gefahr war, der Verzweiflung anheimzufallen.

War der Vormittag zwischen den Schatzhäusern von Florenz gut verteilt worden, so blieb die vierköpfige Gesellschaft gleich in der Stadt, um in einer kleinen, nur den Eingeweihten bekannten florentinischen Trattoria, wo die toskanische Küche so schmackhaft bestellt war und ein reiner Chianti floß, die Mahlzeit einzunehmen. Es war die Garküche, wo ehedem Corinna mit Goffredi zu speisen pflegte. Vanadis hatte sie oft um diesen Genuß beneidet, der in Egons Gesellschaft undenkbar war. Jedesmal erwartete sie, die hohe Gestalt der Freundin mit dem immer strenger werdenden Römerprofil eintreten zu sehen, aber Corinna zeigte sich nicht, sie vermied die Begegnung mit Absicht.

Alma und ihr Gatte erfüllten sich täglich mehr mit Roderichs Anschauungen; wofür er sich begeisterte, das setzte sie mit in Flammen, was ihn kalt ließ, blieb auch ihnen fremd. Sie übernahmen sogar seine Ausdrucksweise mit, so daß Vanadis seine Gedanken immer doppelt und dreifach zu hören bekam. Da entwand sich ihre Seele der bedachten Führerschaft Egons auch auf dem Gebiete der Kunst und begab sich in den Bann eines Stärkeren, mit dessen jugendlichem Überschwang es auch schön war, übers Ziel zu schießen.

Egons Rückkehr, von Woche zu Woche erwartet, verzögerte sich stets aufs neue. Aus seinen Briefen sprach auf einmal die Müdigkeit der Jahre, so schien es der Empfängerin. Aber hätte sie tiefer hineingehorcht und auch die Form seiner Schrift genauer beachtet, so wäre ihr aufgegangen, daß hinter diesen ungleichen, oft zitternden Buchstaben, die sich bemühten, ein ungetrübtes Wohlsein vorzutäuschen, sich noch anderes barg als nur die Trauer um den Verlust des Freundes. Er schrieb von Schwierigkeiten, die beim Ordnen des Nachlasses entstanden seien; daß bei der in eisiger Zugluft stattgefundenen Einäscherung seine bisher unverwüstliche Gesundheit den ersten härteren Stoß erlitten hatte, schrieb er nicht. Und wie konnte sie den Briefen, die mit gewohnter Sorgfalt gesiegelt und gefaltet waren, ansehen, daß sie aus einer Klinik kamen? Er sandte den jungen Gästen seines Hauses freundliche Grüße und ermahnte seine Gattin, ihnen soviel Vergnügen wie möglich zu machen, auch für seinen Sohn hatte er ein gütiges Wort. Daß er sich scheute, vor dieser Jugend und hauptsächlich vor ihr selber, die ihn nur auf immer gleicher Höhe gekannt hatte, mit einem Male als ein gebrechlicher, vom Anhauch des Alters berührter Mann zu erscheinen, blieb sein trauriges Geheimnis. Ihr waren die feinen Fühler gelähmt durch die verwirrende Nähe der zwei Glücklichen, von denen ein süßer Duft erfüllter Liebe ausströmte, und von Roderichs Gegenwart, der ihr wer weiß wie schnell wieder genommen werden konnte. Sie hörte nur die Stimme, die ihr zurief: Pflücke den Tag!, sooft Egons Heimkehr sich wieder um eine Woche verschob.

Wenn der Morgen schön und sonnig anbrach, ließ die Herrin von Casteldimonte anspannen und fuhr mit der »Jugend«, wie sie bemutternd sagte, hinaus aufs Land. Meist wurde dann in irgendeiner kleinen Ortschaft Matteo mit den Pferden zurückgelassen, und man stieg zu Fuß höher und höher, bis unter Zypressenwipfeln die schönste Stelle erreicht war, und eine lichtgebadete, trotz der winterlichen Jahreszeit in vielfältigem Grün leuchtende, edel gegliederte Ferne sich auftat. Dann konnte Vanadis, die diese Landschaft über alles liebte, ihre Arme weit ausbreiten: O Toskana, so schön wie du ist auch das Schönere nicht! Und Roderich, der die halbe Erde kannte, nickte stumm bestätigend. Am Ende kehrte man sonnetrunken in das Dorf zurück und setzte sich an einen roh gehobelten, aber reinlich gedeckten Tisch, den man, wo kein Gärtlein an das Haus stieß, mitten in die Straße oder auf eine kleine Piazzetta herausstellen ließ, um zu tafeln. Und wenn die Strahlen der Januarsonne es allzu gut meinten, richtete Roderich geschickt aus mitgebrachten Schals und Decken mit Hilfe von ein paar Stangen ein Zeltdach über den Genießenden auf. Die gutartige Bevölkerung sah freundlich zu, ohne zu stören. Einmal war das Pärchen von Wein und ungewohnter Südsonne so schläfrig geworden, daß es im kühlen geschlossenen Raume auszuruhen verlangte und die Wirtin ihnen ein Zimmer aufschloß. Dann fragte sie Vanadis, ob sie nicht auch mit dem sposo sich ins Haus zurückziehen wolle.

Schnell antwortete diese: der junge Herr sei nicht ihr sposo, sie sei leider die Mutter dieses großen, schlimmen Jungen. Die Wirtin schüttelte lächelnd den Kopf: »Das müssen Sie andern glauben machen. So sehen Mütter erwachsener Söhne nicht aus.« Aber Vanadis, vom genossenen Chianti übermütig gemacht, blieb dabei, es sei wirklich so, sie habe ihn unter dem Herzen getragen und groß gezogen, und es tue ihr nur leid, daß er der einzige geblieben sei. Roderich, der den Scherz nicht ertragen konnte, sprang auf und lief querfeldein, wie er als Junge getan hatte, wenn ihn ein Wort verletzte. Und jetzt verletzte ihn wieder einmal alles, am meisten das Glück der beiden Glücklichen. Er meinte der einzige zu sein, der bei dem Vergleich leide, und wußte nicht, wie der beherrschten Frau neben ihm zumute war beim Anblick des holden jungen Geschöpfes, das sie in Kinderschuhen gekannt hatte und das jetzt lächelnd die Blumen des Lebens pflückte, eine Wissende des Glücks, während sie selbst, über deren Anfang alle Sterne der Verheißung gestanden, wie in unsichtbare Flore verhüllt ging: verwitwete Braut des Jugendgeliebten, fürstliche Äbtissin von Casteldimonte, Stiefmutter eines Sohnes, nach dem ihr Herz unerlaubt entbrannte wie das seinige nach ihr!

Wurde die Spannung so unerträglich, daß sie nicht länger mit den andern in einem Wagen zu sitzen vermochte, dann stieg sie unter dem Vorwand, die Füße vertreten zu wollen, aus und hieß Matteo weiterfahren. Aber schon nach einer kurzen Strecke sprang auch Roderich heraus. Sie winkte ab, sie wolle keine Gesellschaft, doch er bestand darauf, daß sie in der abgelegenen Gegend nicht allein gehe, denn man war damals in südlichen Landen nicht gewohnt, einer jungen Frau ohne Begleitung zu begegnen, außer vielleicht einmal einer Engländerin, die die Unnahbarkeit ihrer Insel mit sich trug. Aber Vanadis dachte nicht, daß sie sich aussetze, bedrängt wie sie war von der inneren Not.

»Ich will nicht neben dir gehen, wenn es dir lästig ist, nur in der Nähe laß mich bleiben«, bat er.

»Du bist mir nicht lästig«, antwortete sie und begann alsbald Belangloses zu reden, nur um nicht zu schweigen, und er antwortete ebenso, und beide hörten nicht, was sie redeten, denn immer klangen die ungesprochenen Worte »Sohn«, »Mutter« und »Lüge, Lüge« dazwischen. Dabei gingen sie schneller und schneller, als wäre ein Verhängnis an ihren Fersen, bis ihr Gehen zum Laufen wurde, zu einer Art Flucht vor sich selbst, daß ihnen zuletzt die Füße brannten.

Einmal führte sie ihn vor das grünverhangene Bild in ihrem Zimmer: »Sieh deine Tat!«

Er stand bewegt: »Es war mein bester Versuch.« – »Warum tatst du das?« – »Ich will es dir sagen: ich wollte mich selber malen, so wie ich sein müßte, um dir zu gefallen. Also ein völlig anderer. Da malte ich dir den Halbgott unter dem Helm. Und dich selber malte ich in seinen Arm, sterbend, denn ich hatte dich durch ihn getötet. Verstehst du, getötet, weil du nicht leben solltest für einen andern.«

»Du bist furchtbar, Roderich.«

»Ich könnte es sein. Du wußtest nie, welch böses Tier in mir steckt. Schon als Kind, wenn du an mir vorübergingst mit deinem Hochmut und deiner Lumbell, mußte ich dich umrennen, damit du wußtest, daß ich auch da bin. Manchmal lauerte ich hinter einem Zaun, um dich an den Haaren herumzuschleifen und dich schreien zu hören, aber wenn du kamst, warf ich den Stecken weg und lief laut heulend davon, als wäre ich der Geschlagene. Du merktest von all dem nichts, das machte mich noch wütender.«

»Aber warum diese Zerstörung?«

»Begreifst du es noch immer nicht? Der Verlobungsbrief. Die Stiefmutter. Darum zerschnitt ich den Kopf. Ich wollte an seine Stelle eine Fratze kleben und dir ein Hochzeitsgeschenk damit machen. Da kam die Katastrophe.«

»Du machst dich schlimmer, als du bist. Sieh diesen Helden, wie er schmerzlich blickt. Das ist kein Untier und Frauenwürger. Er erinnert mich an das, was Vater einmal sagte, daß der Edle immer ein trauernder Sieger sei.«

Carlo erschien unter der Tür, um zu melden, es sei angerichtet. Seit einiger Zeit fühlte sie ihn immer auf ihren Fersen und zürnte ihm, weil sie sich doch keines Unrechts bewußt war. Daß es nicht im Auftrag seines Gebieters geschah, dafür kannte sie dieses feine Herz.

Alma und ihr Gatte reisten endlich nach Rom weiter, ohne den Hausherrn gesehen zu haben, erbaten sich aber beim Abschied die Gunst, auf der Rückfahrt noch einmal für wenige Tage auf Casteldimonte einkehren zu dürfen. Am letzten Abend ereignete sich etwas Seltsames. Im Kamin brannte ein Holzfeuer, vom Tische her verbreitete eine hohe Stehlampe Helligkeit und zeichnete die Schatten des Hausgeräts auf den Kaminschirm gegenüber. Da entstand ein unbegreifliches Schattenbild wie ein gewollter künstlerischer Entwurf: ein Baum und davor ein Menschenpaar, in dem man Adam und Eva sehen konnte. Der Mann zur Linken des Baumes schien wie ein Taumelnder hinwegzustreben, sein Gesicht in den Händen: das Weib zur Rechten erhob mit geschwungener Hüfte einen Fuß wie zum Tanz. Doch über ihnen wuchs ein mächtiges Haupt mit Haaren wie Flammen aus dem Baum, und zwei gewaltig große Flügel umschlossen wie ein Rahmen das ganze Bild. Vanadis war die erste, die die Erscheinung wahrnahm, konnte sich aber schlechterdings nicht erklären, wie dieser Schattenwurf zustande kam. Sie bat die Gäste, sich so wenig wie möglich zu bewegen und ja keinen Gegenstand zu verrücken, damit das Bild sich nicht verschiebe. Dann schickte sie zu Roderich, der sich schon verabschiedet hatte, und ließ ihn bitten, noch einmal mit seiner Zeichenkohle zu erscheinen. Der sah staunend, was der Zufall da geschaffen hatte, und zeichnete auf einem großen Stück Papier die Gruppe nach, indem er mit verbindenden Strichen ergänzte, was dem Umriß noch zu einer »Vertreibung« aus dem Paradies fehlen mochte. Nur kurze Zeit war das Schattenbild sichtbar, die geringste Veränderung im Zimmer machte es unkenntlich, und plötzlich war es verschwunden und nicht mehr herzustellen. Roderich nahm sich vor, es als Gemälde auszuführen für sie, die es zuerst entdeckt hatte. Ihr und ihm enthielt es noch eine tiefere Bedeutung, denn die Gestalt des erschütterten, wie vom Blitz getroffenen Mannes erinnerte nach Haltung und Umriß an Gunther – Roderichs Kohle hatte hier dem Zufall nachgeholfen; in dem Weib, das mit unfaßbarem Leichtsinn aus dem Garten der Unschuld hinaus tanzte, sahen sie die seelenlose Zerstörerin dieses edlen jungen Lebens. Roderich dachte sogar, um eine späte Rache zu nehmen, einen Augenblick daran, die Ähnlichkeit auch in den beiden Gesichtern anzudeuten, wurde aber durch Vanadis von dem schiefen Vorsatz abgebracht. Darüber verschob sich ihm die erste Vorstellung von dem Bilde. Indem er Äußeres änderte, wurde auch seine innere Auffassung eine andere, Verführerin und Verführer verschwanden, und beide, Mann und Weib, wurden zu Opfern einer höheren Macht. Er ließ alle anderen Entwürfe ruhen und versenkte sich tief in diesen einen, worein sich alles, was in ihm wühlte, entladen konnte. Aber er sprach nicht mehr zu Vanadis darüber, er wollte sie mit dem fertigen Bild überraschen.

Noch war die Rückkehr des Hausherrn in der Schwebe, als ein neues Paar in dem eben geräumten Gastzimmer einzog, Enzio und seine junge Frau. Wieder ging ein Strom von Glück und Jugend durch das Haus, und wieder sollten Stadt und Umgegend den Gästen gezeigt werden, denn die neue Schwägerin kam zum erstenmal nach Florenz. Aber diesmal hielt Roderich sich fern und war nicht von der Arbeit wegzulocken. Er konnte in dem sehr gepflegten Prokuristen der Firma James Folkwang & Co. sein gutes Häslein mit den flinken Füßchen und dem schnuppernden Schnütchen nicht wiederfinden. Frau Annie Folkwang, eine feine und kühle Erscheinung, Großkaufmannstochter aus Bremen, rückte ihm durch ihr Dazwischenstehen den Jugendgenossen noch ferner. Diese beiden brachten eine ganz andere Luft ins Haus als das erste, nur in künstlerischen Freuden schwelgende Pärlein. Enzio hatte gar keine künstlerischen Bedürfnisse und Annie nur, soweit es der gute Ton verlangte. Dagegen mußte ihr zuliebe die Schloßfrau ihre fürstlichen Säle öffnen und Gäste empfangen, wobei musiziert und sogar getanzt wurde. Ihr war die laute Geselligkeit ein Vorhang, hinter dem sie vor Annies kühl forschenden Augen ihre Herzensnot um den Stiefsohn verbarg. Aber dieser grollte, er kam nicht herüber und ließ sich das Essen bringen oder speiste in der Stadt. Er verbohrte sich wieder in Mißmut wie in seiner Knabenzeit. Er wußte nicht, daß da eine war, die von oben auf das Freudengebell des Hundes horchte, wenn er ihm bei der Heimkehr entgegensprang – das Bellen des Tieres, das er von der Giojosa zurückgebracht hatte und das nunmehr ihm allein anhing, klang dann anders als bei jeder anderen Begrüßung – und daß diese eine nach seinem Anblick krank war wie er nach dem ihren. Oft, wenn der Lärm der Gäste sich erst in später Nachmitternachtsstunde verlor, stand sie noch lange an ihrem Fenster und spähte nach den seinigen, die Stunde um Stunde erhellt blieben, weil er die Unrast, die in ihm war, mit Nachtarbeit übertäubte. Und wenn sein Schatten vorbeiglitt, so strömte ihre Sehnsucht hinüber und suchte die seinige. Tödlich langsam und doch viel zu schnell verstrichen beiden diese Tage, an denen sie einander nichts sein konnten und deren nahes Ende vielleicht schon das Ende ihres Zusammenseins brachte. Denn jetzt kündigte Egon mit Bestimmtheit seine Rückkehr an. Er schrieb von einer überstandenen Unpäßlichkeit und bat, ihm Carlo zu schicken wegen des Gepäcks. Dieser fuhr sogleich bekümmert ab, es war noch niemals vorgekommen, daß der Herr ihn von unterwegs gerufen hatte. Auch die Herrin erschrak, aber aus anderer Ursache. Jetzt stand die Entscheidung über Roderichs Zukunft unmittelbar bevor, und gerade jetzt war er wieder der Wilde, der Querkopf und Sondergänger, der sich dem Familienleben nicht einfügte. Als sie ihn in den Wintergarten bitten ließ, um allein mit ihm zu reden, fand sie ihn schon vorbereitet, denn er hatte Carlos Abreise mitangesehen. Aber er litt zu tief, um die Fortdauer dieses Zustandes noch länger zu wünschen. Ihre Bitten, aus der kommenden Begegnung alles Störende fernzuhalten, fanden ein ganz verschlossenes Gesicht.

»Du mußt den Weg in sein Vertrauen suchen, ich allein reiche da nicht aus. Zeige ihm unaufgefordert deine Bilder, frage ihn um Rat.« –

»Ihn um Rat!« entfuhr es Roderich.

»Andere Künstler haben es getan. Laß ihn wenigstens fühlen, daß du Wert auf sein Urteil legst.«

»Sein Urteil!« sagte er achselzuckend. »Er bewundert Giulio Goffredi. Da werde ich es ihm niemals recht machen.«

»Ich weiß, du hältst nichts auf sein Verständnis, weil ihr Künstler anders fühlt. Aber gib ihm das nicht zu kosten, wenn dir das geringste an meiner Seelenruhe liegt.«

»Er versteht genug für einen sogenannten Kunstkenner. Aber was man selber nicht machen kann, in das soll man andern nicht dreinreden. – Und dann, siehst du, die Abhängigkeit von ihm ist für mich zu demütigend! Wir wissen ja beide, daß wir einander von Bluts wegen nichts angehen, und der Schleicher Carlo weiß es auch. Es ist mir immer, als ob ich den Betrug fortsetzte, den meine edle Frau Mutter augenscheinlich an ihm begangen hat. Daß wir uns nicht lieben und daß ich doch von ihm lebe, das erdrückt mich und läßt auch kein Gefühl der Gerechtigkeit in mir aufkommen.«

»Aber du trägst doch seinen Namen, bist Sohn und Erbe vor dem Gesetz.«

»Das bin ich ganz und gar nicht. Er gab mir das Almosen seines Namens, nichts weiter. Später, als ich unter fremde Menschen kam, fügte er noch sein ›Von‹ hinzu, um kniffligen Fragen auszuweichen, weil man doch einmal wußte, daß ich zu ihm gehöre. Damals schrieb er mir, wenn ich so einschlüge, wie er von mir erwarte – was ich hernach nicht tat –, würde er mich im Testament sicherstellen. Aber ich brauche keine Erbschaft und will auch seinen Namen nicht, seinen Titel noch weniger. Ich will mein eigener Vater sein. Sehe ich aus wie ein Baron Solmar? Ich heiße Roderich Solm. Der Name ist mein, den will ich zu Ehren bringen, und ich weiß, ich kann es. Sprich du mit ihm. Er soll mir für zwei Jahre die Mittel geben, daß ich gehen und mich selbständig machen kann, und dann soll er seiner Vaterschaft für immer los und ledig sein.«

»Du willst gehen, Roderich?« fragte sie blaß. »Und ich als deine Schwester habe nicht mitzureden?«

»Du kannst auch ›Mutter‹ sagen, wenn es dir besser gefällt«, antwortete er schneidend.

Sie ging darüber weg und fuhr fort:

»Ich muß damit rechnen, daß er selber dich in eine andere Umgebung versetzt, die ihm am zweckmäßigsten scheint. Aber daß du aus freien Stücken gehen willst, nachdem du kaum eine Heimat gefunden hast . . .«, sie brach ab und vollendete in anderem Ton: »Man verbessert sich nicht, wenn man von der Heimat scheidet.«

»Mag sein«, antwortete er, »aber da ist noch mehr, weshalb ich hier nicht bleiben kann, du weißt es. Dieses Leben ist für mich nicht tragbar.«

Sie sah wohl, daß es für ihn nicht tragbar war, es war auch nicht mehr tragbar für sie selber, und wenn der dritte Teilhaber dieses Schicksals zurückkam, war es für ihn ebensowenig tragbar. Aber sie hatte nicht die Kraft zu sagen: Es ist so, geh! Schon einmal hatte sie einen von sich geschickt, den sie liebte. Damals in der Vollkraft der Jugend, die für alles Ersatz hat, war es nicht allzuschwer gewesen. Jetzt hieß es den Lebensnerv töten. Sich noch dieses Letzte, Schwerste auferlegen, das vermochte sie nicht mehr; sie ließ das Steuer fahren und trieb mit der Strömung.

»Wohin denkst du denn zu gehen, Roderich?« fragte sie mit schwachem Ton.

»Ich sprach mit Böcklin darüber, der mir wohl will, du weißt es ja. Er hat mich ganz in der Stille hier oben besucht. Er rät zu Rom oder Neapel. Aber ehe ich gehe, will ich unser Bild fertig malen. Du warst lange nicht drüben, du mußt hinüberkommen und es dir anschauen, damit ich weiß, ob es dir so gefällt, ehe ich weitermache.«

»Du sagst ›unser Bild‹?«

»Ich hätte sagen müssen, das deine, denn du sahst es zuerst im Schattenspiel. Ich hab' es als dein Werk tief in mir herumgetragen. Jetzt steht es auf der Leinwand, und du sollst mir sagen, ob ich es dir recht gemacht habe. Kommst du mit hinüber?«

»Natürlich komme ich, aber nicht jetzt. Sobald die Tischgäste gegangen sind – du hörst sie wegfahren –, dann erwarte mich.«

Langsamer, schien es ihr, waren nie die Gänge gereicht worden, oder war noch nie die Unterhaltung geflossen. Enzio und Annie genossen sie nichtsdestoweniger, und das Gespräch dehnte sich endlos über den Nachtisch hin, bis die Hausfrau die Tafel aufheben und im Nebensaal den Gästen den türkischen Kaffee bereiten, die Zigaretten und den Likör herumreichen konnte. Wie viel öder mußte es werden, wenn drüben die Villina geschlossen war, Roderich fort und der Leerlauf ihres Lebens aufs neue begann. Wieder zog sich die Stunde hin, denn es mußten die Bilder an den Wänden bewundert, die aufgelegten Kunstbücher durchgeblättert werden, und unterdessen ging mit jeder Minute Unschätzbares, Unwiederbringliches verloren. Ihre Ungeduld wurde allmählich zur Angst, indem sie an die noch größere Ungeduld des Einsamen drüben dachte. Jetzt setzte sich gar noch Annie auf Enzios Bitte ans Klavier, er hielt ihr Spiel, das ganz dilettantisch war, für eine Meisterleistung. Dies hatte jedoch die glückliche Folge, daß nunmehr ernstlich an den Aufbruch gedacht wurde. Die Geladenen fuhren ab, Vanadis überlegte, wie sich von den Geschwistern lösen, als diesen der Gedanke kam, schnell noch den sinkenden Tag zu einer Korsofahrt zu benutzen; das Treiben, das zu dieser Stunde am Lungarno und in den Cascinen flutete, hatte Annie gar zu gut gefallen. Kaum daß das Rollen der Räder parkauswärts verhallte, warf Vanadis, ohne sich mehr umzukleiden, einen dunklen Kragen über und huschte durch Wintergarten und Hof nach der Villina. Roderich im weißen Malerkittel empfing sie an der Haustür, sein verstörtes Gesicht sagte ihr, wie er gewartet hatte.

»Es nahm heute kein Ende«, erklärte sie entschuldigend.

Im Untergeschoß brannte der große, jetzt ausgebaute Kamin und wärmte wie mit Luftheizung das kleine Haus von unten bis oben. Auf einem Drehstuhl stand eine Tonfigur, in nasse Tücher verhüllt, Roderichs neuester Versuch, denn als sie zum letztenmal mit Alma hier gewesen, gab es das noch nicht. Feuchte Tonbrocken, Wasserkübel und anderer Werkstattbedarf verstellten den Raum. Vanadis blickte betreten: das war nicht der Gebrauch, wozu der Erbauer die edel gedachte Halle bestimmt hatte, wenn auch Steinboden und getünchte Wände keinen Schaden nehmen konnten.

»Wo hast du unser Bild?« fragte sie eifrig, um dem Leichtverletzten ihre Zweifel, wie Egon das aufnehmen werde, zu verbergen. Er wies nach oben und wollte sie an der Hand die enge und etwas steile Steintreppe, die noch ohne Geländer war, hinaufführen, aber sie entwand sich und lief schnell voran. Oben war es jetzt aufgeräumt und tadellos sauber: Malerwerkstatt und Schlafstätte in einem, daneben ein kleines Badezimmer und ein Wohnraum, der von Roderich für seine einsamen Mahlzeiten benutzt wurde, alles von der an strengen Seemannsdienst gewohnten Hand in Ordnung gehalten. Vasen voll Blumen standen umher, die der Gärtner auf Befehl der Herrin täglich frisch wie in ihre eigenen Zimmer lieferte. Das rohe Öfchen war entfernt, das Loch wieder zugeklebt und mit einer Farbenskizze verhängt. Die Menge der an allen Wänden lehnenden oder auf Gestellen erhöhten Skizzen und angefangenen Bilder zeugte von ununterbrochenem Fleiß.

»Was willst du, ich habe viel verlorene Zeit einzubringen. Aber ich bereue sie nicht. Auch Nichtstun fördert, wenn es mit innerem Reifen verbunden ist, man weiß nicht wie. Mit einem Male kann man, was man zuvor nicht konnte.«

Er nahm ihr den Umhang von den Schultern und hängte ihn über die Stuhllehne. – »Wie eine Sultansbraut«, sagte er düster, das schwarze goldgestickte Gesellschaftskleid aus weicher, fließender Seide musternd, aus dem sich Gesicht und Nacken mit ihrer Opalfarbe wie der gestielte Kelch einer seltenen, blassen Blume hoben. »Für wen hast du dich so schön gemacht?«

»Rate«, versuchte sie zu scherzen.

»Wie kann ich raten, wenn ich deinen Umgang nicht kenne?«

Finster klang das, beinahe drohend.

»Und warum kennst du ihn nicht, du Höhlenbär?«

Sie wollte einen unbefangenen Ton herstellen, aber das lange Warten hatte eine Spannung zwischen beiden erzeugt, durch die er zum Mißton wurde.

Er antwortete bitter: »Was soll der garstige Knirps an deinem Hof, du Königin von Saba?«

Ach, warum quälen wir uns gegenseitig, dachte sie, und sind doch schon genug gequält. Wir täten besser zu weinen. – Aber sie versuchte es noch einmal mit der Heiterkeit: »Das war ja wie ein Ton aus den Tagen der seligen Lumbell.«

»Ich bin unglücklich«, antwortete er kurz.

»Und ich nicht auch, Roderich?« entfuhr es ihr.

»Du?« – Er faßte die lange Perlenkette an, die ihren Hals umwand und ihr fast bis zu den Knien hing: »Mit solchem Schmuck, den er dir schenkt?«

»Der Schmuck macht nicht glücklich, Roderich. Übrigens sind die Perlen nicht mein. Dein Vater wünscht, daß ich sie anlege, aber sie sind Familienbesitz, Carlo verwahrt sie. Ich möchte nicht ein Vermögen wie dieses als Eigentum am Halse tragen.«

»Wer soll das Schöne tragen, wenn nicht du, sie stehen dir wunderbar«, sagte er, sie fest mit den Augen umfassend.

Ich hätte nicht kommen dürfen, heute nicht, dachte sie beklommen und wußte doch, daß sie hatte kommen müssen kraft eines Zwanges, gegen den sie nicht mehr kämpfen konnte. Die Wände waren auf einmal zu eng, sie nahmen ihr die Luft. Ihr Herz zog sich wie im Krampf zusammen. Noch strebte sie, die Unbefangenheit zu wahren. »Wo ist unser Bild?« wiederholte sie, sich der Inständigkeit seiner Blicke entziehend.

Er führte sie vor die Staffelei am Fenster, die noch das letzte Tageslicht empfing. Das Bild, das mancherlei Umwandlung im Geiste des Künstlers erfahren hatte, entsprach nur noch in der Anordnung dem rätselhaften Schattenwurf, der ihm zum Anlaß geworden war: In der Mitte der Baum, dessen obere Äste im Bildrand verschwanden, um den glatten Stamm das Geringel einer Schlange, die sich in menschliche Schultern und Arme auswuchs und mit herrschgewaltigem Antlitz aus den Zweigen sah. Lange, flammende Haare wie elektrisch geladen bäumten sich um das Gesicht, über der Stirn kamen zwei kleine Hörner zum Vorschein. Das übernatürliche Wesen hielt die Hände über die zwei untenstehenden Gestalten ausgestreckt, und seine Flügel umspannten die ganze Breite des Bildes. Nicht lockend noch drohend, nur unbezwinglich ehern wie mit göttlicher Vollmacht gerüstet blickte es auf das Menschenpaar herab mit auswärts gestellten Augen, die gleichzeitig auf beide gerichtet waren. Diese abweichenden Augen gaben dem menschenähnlichen Angesicht das unheimlich Außermenschliche, und die Strahlen, die daraus niederschossen, verstärkten die Unwiderstehlichkeit des Blicks. Auch das Paar entsprach nicht mehr der überkommenen Auffassung des Sündenfalls: Hier gab es keine Verführung, kein Vergehen, nur die Unerbittlichkeit des Naturwillens. Der Mann erinnerte noch in der gebeugten Haltung an den Schattenwurf, und seine über die Augen gepreßte Linke drückte seine Erschütterung aus, aber die Rechte suchte schon die Hand der Gefährtin, um sie den gemeinsamen Schicksalsweg zu führen. Diese war zu reinster Höhe emporgewachsen. Da war kein lüsternes Weibchentum, kein Apfel, keine Schuld, die sich vor der Strafe duckt. Wie aus einem Traum erwacht, reckte sie sich beinahe feierlich auf als bewußt gewordenes Gefäß aller Menschheitszukunft und blickte mit Augen voll abgründiger Tragik gehorsam in das große, flammenumwogte Angesicht, aus dem sie ihr Gesetz empfing.

Atemlos, Schulter neben Schulter, doch ohne sich zu berühren, stand das lebende Paar vor dem gemalten. Aber das Maß der Pein war heute voll, ein kleiner Anstoß, und es mußte überfließen. Der Anstoß kam aus dem Bilde. Es war wieder einmal etwas unter Roderichs Händen entstanden, dessen Tragweite über seine eigene Erkenntnis hinausging. Oder doch nicht? Als die Besucherin, bezwungen von der Übergewalt des Flammenhauptes, leise sagte: »Solche Schönheit gabst du dem Bösen?« schüttelte er den Kopf: »Hier ist kein Böses. Es ist der Engel des Lebens. Er sagt: ›Geht hin, es gibt keine Schuld, ich bin die Notwendigkeit.‹«

Sie staunte, sie begriff. Das Flammenhaupt aus dem Baum schien auch zu ihr zu sprechen: »Sei endlich frei, du Arme, du hast genug gekämpft!« Sie schluchzte auf, der Krampf ihres Herzens löste sich. Der Damm, den sie selbst errichtet hatte, war eingestürzt, sie ließ die Fluten darüber hingehen. Ihre Knie bogen sich, das Haupt, dem Freunde zugekehrt, glitt wie hilflos an seiner Wange herab und legte sich auf seine Schulter. Er richtete es auf und blickte in ihre Augen, eine stumme Frage fand eine stumme Antwort. Vier Arme umstrickten sich in unausweichlichem Muß, zwei Erliegende suchten eins beim anderen Entlastung von der nicht mehr tragbaren Schwere.

Sie saß auf der Ruhebank, er kniete vor ihr, den Kopf in ihren Schoß gewühlt, ihre Knie an seine Brust gepreßt. Er küßte ihre Handflächen, die zwei ungleichen Ratgeber, die heute verstummten, küßte inbrünstig ihre Füße, die ihm einst im kindischen Streit um die Lumbell manch zornigen Tritt versetzt hatten. – »Geliebte, Geliebte, kann es Wahrheit sein, daß ich dich so umfassen darf, oder bin ich plötzlich irrsinnig geworden?«

Sie zog ihn in den Armen empor und flüsterte nahe an seinem Angesicht: »Ich beraube niemand, wenn ich mich verschenke.«

Der Engel mit dem Flammenhaupt blickte von Funken umknistert nieder: »Liebt euch, besitzt euch. Ich bin die Notwendigkeit, Qual und Wonne der Sterblichen. Indem ihr gehorcht, helft ihr einander sie ertragen.«

 

Es dunkelte tief – denn sie hatten aus Vorsicht kein Licht gemacht –, als Vanadis, ihre Finger in die Roderichs verschränkt, die Treppe herunterstieg, die sie, seine Hand verschmähend, erflogen hatte. Als sie an der Tür den Umhang fester um die Schultern ziehen wollte, vermißte sie die Perlenschnur. Sie kehrten um und suchten beim Schein eines kleinen Wachskerzchens. Vor der Staffelei lagen die Perlen am Boden. Es fiel ihr jetzt ein, daß sie im Augenblick, wo er ihren Kopf von seiner Schulter aufrichtete, an einem Knopf seines Kittels hängengeblieben war, der dicke Bodenteppich hatte das Geprassel der fallenden Perlen erstickt. Sie sammelten sie sorglich in eine Schale, die ganz voll davon ward, die gerissene Schnur fand sie gleichfalls. Aber als sie sich in ihrem Schlafzimmer entkleidete und das leichte Festgewand aufhängen wollte, fiel aus einer gerafften Falte noch eine Perle. Sie schüttelte das Kleid, es blieb die einzige. Aber hatte sie alle? Sie hatte sich nie um die Zahl der Perlen gekümmert, von denen jede einzelne einen beträchtlichen Wert darstellte, wußte aber, daß sie von Carlo gezählt waren. Das konnte nun doch am Ende mißlich werden, um so mehr, als sie ihr ja nicht eigentlich gehörten. Sie legte die zarten Gebilde auf dem langen Tische aus und die zerrissene Schnur daneben, die etwas länger war als die Perlenreihe. Also fehlten doch einige. Oder hatte sich die Schnur gedehnt? Es gebrach ihr aber an Ruhe zum Überlegen und Prüfen. Sie war noch mit allen ihren Sinnen drüben in der Malerwerkstatt, in dem seltsamen, verwirrenden, aus Blumenduft und Farbengeruch gemischten Aroma, das schwer und tief in sie eingedrungen war. Und ein goldener Nebel trennte sie von der Außenwelt. Sie fand sich jetzt anders, als sie sich zu kennen glaubte. Kein Selbstvorwurf stieg in ihr auf. Sie war ein Kind der Notwendigkeit wie alle Sterblichen und hatte getan, was sie mußte. Und keinem Dritten hatte sie genommen, was ihm gehörte. Ihr darbendes Leben war in Roderich erfüllt. Aus dem tiefen, mütterlichen Erbarmen, womit sie den Verirrten auf der Giojosa empfangen hatte, war Bewunderung und williges Überwundensein geworden, so etwas wie Schrecken vor einer größeren Kraft. – »Der häßlichste Vulkan hat sich die schönste Göttin geholt«, hatte er wonneglühend gesagt. »Aber er schwört, daß er sein Glück abverdienen will. Sollte ich je entdecken, daß du dich einem Stümper geschenkt hast, so würde ich den Kerl mit diesen Händen töten.« – Er war dazu imstande. – Sie aber, beide Arme um seinen Hals verschränkt, hatte geantwortet: »Schrecklicher Mensch, du wirst niemals diese Entdeckung machen. Du wirst wachsen und werden, was dir große Meister deiner Kunst prophezeien. Und wenn ich Stufe deines Aufstiegs werden kann, so hat mein zweckloses Dasein einen Sinn gefunden.«

Tief gestillt entschlief sie, und ihre Seele schwebte flügelleicht auf Wiesen und Seen des Traums. Und beim Erwachen setzte sie das flaumenleichte Schweben fort, ein Falter, der den Flammentod gestorben und neu geworden war.

Auf dem Tisch lagen die Perlen noch ausgebreitet, die sie am Abend vergessen hatte. Sie schob sie zusammen und verschloß sie in der Lade mit der Absicht, sie noch vor Carlos Rückkehr selber zu Settepassi, dem ersten Juwelier auf dem Ponte vecchio, zur Instandsetzung zu bringen. Aber heute war Sonntag und das Geschäft geschlossen; dieser Tag durfte ungeteilt dem Glücke gehören. Sie hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt, der ihr die größtmögliche Freiheit gewährte. Weil die Dienstboten den Sonntag für sich hatten mit Ausnahme des immer willigen Matteo, beredete sie die Geschwister zu einem Ausflug auf den Monte Senario, der seine vier Kuppen damals noch bewaldet trug, wodurch er mit starkem Eindruck das Landschaftsbild beherrschte. Um nicht mitzumüssen, schützte sie selber eine Einladung bei nahe wohnenden Bekannten vor. Unter dem gleichen Vorwand entließ sie auch die Köchin, der sonst die Freiheit erst nach Tisch geblüht hätte. So blieb nur die alte, ganz alte Weißzeugbeschließerin im Haus, der für diesen Tag das Pförtneramt zufiel, und ihre Enkelkinder, die vorn auf der Parkwiese spielten. Vor ihren Augen verließ auch die Herrin durch die Pforte neben dem Einfahrtstor das Haus, ging eine Strecke weit die Fahrstraße zwischen den Mauern hinab und bog zum Schein in den von Zypressen begleiteten Seitenweg nach dem befreundeten Landsitz ein, der tiefer als Casteldimonte und eine Strecke links vom Fahrweg lag. Sie ließ jedoch das Parktor liegen und folgte einer Kehre, die an anderen Villen vorüber viel weiter unten auf die Fahrstraße zurückführte. Rasch durchquerte sie diese, trat in ein unverschlossenes Bauerngehöft, das einem Gutsnachbarn gehörte, und stieg aus dem fremden Landgut über ein niederes Grenzmäuerlein ungesehen in das eigene. Auch ihre Bauern feierten wie die des Nachbarn den Sonntag in der rauchigen Küche und bemerkten die Herrin nicht, wie sie eilenden Fußes unter den Oliven den Abhang von Casteldimonte erklomm und mit pochendem Herzen vor dem Hoftor stand, das vom Podere ins Schloß führte. An verborgener Stelle hing ein Strick herab, durch den der große hölzerne Riegel von außen aufgezogen werden konnte. Von dort war es nur ein Schritt an die Rückseite der Villina, die hier heraus keine Tür, nur ein niedriges Küchenfenster hatte. Beide Hände auf das Außengesimse gestützt, schwang sie sich hinauf, innen zogen sie zwei Arme vollends herein, trugen sie im Flug die Treppe hinauf und legten sie behutsam auf die niedere, fellbedeckte Ottomane. Da kniete er jetzt neben ihr am Boden und sah verzückt in ihr Gesicht, als sähe er es zum erstenmal.

»Jetzt weiß ich erst, wie du aussiehst, ich habe mich lange darum gequält, seit gestern sehe ich dich richtig. Aber warum bist du heute so blaß? Du drückst die Hand an die Brust? Hast du einen Schmerz?«

»Es ist nichts. Ich bin zu schnell gelaufen.«

Sie wollte sich aufrichten, aber er hielt sie zärtlich fest.

»Bleib still, daß ich dich anschauen kann und dein Gesicht küssen, damit ich es noch immer besser verstehe. Du glaubst nicht, wie ich gedarbt habe, viele Jahre lang, als ich es nicht mehr sah und mir deine Züge immer wieder im Gedächtnis zusammensetzen mußte.«

Er bedeckte ihr Gesicht mit leisen, kleinen Küssen, wie um seine Linien mit den Lippen abzusuchen, daß kein Teil davon ungeküßt blieb. Alle Leidenschaft war aufgelöst in Innigkeit, in stilles, leises Hingegebensein an das einzige Wesen, das er liebte und dem er Liebe bezeigen durfte, nach lebenslangem Liebeshunger. Er gab ihr hundert Schmeichelnamen, selbst erfundene, wie im Traum gehörte, und wenn ihm nichts mehr einfiel, sagte er: »Heimat! Heimat! Endlich gefundene, meine!« War das der rauhe Roderich, der so zarte Worte fand? Ach, wie hatten sie ihn doch alle verkannt! Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und gab ihm reuig, selig weinend seine Zärtlichkeit zurück. Er weinte gleichfalls lange zurückgepreßte Tränen:

»Nein, du kannst es dir nicht vorstellen. Als ich mich drüben im Elend herumtrieb, war es das Schlimmste, daß ich von dir nichts mehr wußte. Wenn ich ›Europa‹ sagte, so dachte ich nicht an den alten Kontinent, ich dachte an dich. Alles was drüben fehlt, war mir in dir verkörpert. Wer mir damals gesagt hätte, daß einmal ein solcher Tag kommen würde!«

Tiefbeseligt lehnten sie Wange an Wange, bis sie sich aus seinen Armen löste, denn sie wollte sehen, was er heute geschafft hatte. Auf der Staffelei stand zu ihrer Überraschung ein anderes Bild, ihr eigenes. Er hatte die vorige Arbeit zurückgestellt, um sie später mit frischen Augen zu prüfen, und hatte ganz früh am Morgen in einer plötzlichen Ekstase das Gesicht, das ihm so oft mißlungen war, auf den Karton gebracht. Diesmal war sie es selbst in einer ganz neuen Auffassung, ohne ängstliches Nachbuchstabieren der Natur, aus einer Vision hervorgegangen. Sie blickte es lange ergriffen an: einer, der sie so sah, liebte sie nicht nur mit Herz und Sinnen, er mußte in einer Entrückung ihr höheres Ich, das Urbild ihrer selbst, gesehen und es mit sich auf die Erde herabgenommen haben. Voll Andacht faßte sie die Hand, die das gekonnt hatte.

»Du hast mich so gesehen, wie ich sein sollte, aber nie gewesen bin.«

»Ich sehe dich so, wie du immer warst, aber nicht sein durftest. Du weißt, daß mir dein Gesicht lange unzugänglich war. Jetzt hat es keine Geheimnisse mehr vor mir, und es ist noch viel schöner, als ich wußte. Man kennt sich nur, wenn man sich ganz besitzt.«

»Nein, deine Augen sind's, die mich so verschönen.« – »Und von dir sagten sie, daß du das Schöne hassest.«

Er schüttelte träumerisch den Kopf: »Ich liebte immer das Schöne, denn ich liebte ja dich. Aber ich haßte es auch und mußte es kränken und verfolgen, wie ich dich kränkte und verfolgte. Denn in allem Schönen sah ich dich. Dich, dich, immer dich in Haß und Liebe. Ach, du weißt es ja nicht, wie voll von dir mein Leben war. Du warst mir das Maß der Dinge, und an diesem Maß gemessen fand ich mich abscheulich. Darum war ich dir feind und allem, was du liebtest. Die Ohrfeige, die du mir gabst, brannte mir auf dem Herzen, denn sie war im Zorn gegeben, und doch hätte ich sie nicht um den Kuß einer Houri vertauscht. Ich war nur ein Junge, ein böser, dummer Junge, aber ich fühlte die Liebesschmerzen eines Mannes.«

Sie legte abbittend den Kopf an seine Brust: »Verzeih mir, daß ich dir keine bessere Schwester war.«

»Wärest du eine bessere Schwester gewesen, so könntest du keine so süße, süße Geliebte sein.«

»Aber Esther war es.«

»Sie war es. Wenn sie noch lebte, würde ich ihr auf den Knien danken. Aber ich würde nicht sterben nach einem Kuß von ihr.«

Im Park und im Schlosse drüben regte sich nichts, der Kinderlärm war verstummt, und auch aus dem Podere herauf kam kein menschlicher Laut; die beiden konnten sich ganz allein auf der Erde fühlen. Der Vormittag verging, sie zählten wie Geizhälse die Stunden, die ihnen bis zu Egons Rückkehr blühten; in jeder war noch Raum zur Seligkeit. Mehr als vierundzwanzig waren schon verstrichen, aber man reiste damals noch langsam. Carlo konnte nicht vor dem nächsten Morgen am Bestimmungsort eintreffen. Dann würde ihm, weil er auch nicht mehr jung war, sein rücksichtsvoller Gebieter gewiß einen Rasttag gönnen. Am folgenden würden sie aufbrechen, doch würde Egon, der sich zu schonen hatte, zweifellos auf einer Zwischenstation übernachten und auch anderntags nicht mit dem Frühzug abfahren. Die Rückfahrt brauchte also wesentlich länger als Carlos Hinfahrt. So blieb der Liebe noch eine Frist, die so restlos wie möglich auszunutzen und vor Störung zu behüten alle Frauenklugheit und Voraussicht erforderte. Was jenseits dieser Frist lag, das schien den vom Augenblick Trunkenen jenseits des Grabes zu liegen. Mit größerer Unruhe als der Ankunft Egons sahen sie der Carlos entgegen, denn Carlos Augen waren neuerdings überall. Bei dieser Gelegenheit kamen auch die Perlen zur Sprache, Roderich meinte, es sei sehr wahrscheinlich, daß die Schnur sich in die Länge gezogen habe. Doch versprach er für alle Fälle noch zu suchen; es jetzt gemeinsam zu tun, hieße die Stunde, die zu Besserem gegeben war, vergeuden.

Allmählich kam der Mittag heran, und Roderich bestellte den Tisch. Er war schon in der Frühe drunten gewesen und hatte außerhalb des Stadttors, wo ein paar Läden mit Eßwaren für den Bedarf der Vorstadt sorgten, den ganzen Imbiß fertig zusammengetragen. Am liebsten hätte er ihr selbst etwas Schmackhaftes zubereitet, denn er verstand sich darauf und hatte oft zur Freude der Kameraden den Koch gemacht, aber es durfte heut kein Rauch aus dem Küchenschornstein steigen, wie auch der große Kamin an dem milden Tag nicht angezündet war. Dennoch genossen die zwei eine erlesene Mahlzeit wie am Tisch der Himmlischen, von Liebesgöttern bedient. Dazu brachen sie den runden, duftenden Kranz des toskanischen Weizenbrots. Auch Früchte durften nicht fehlen: neben den Orangen gab es noch späte Trauben und Birnen von wunderbarer Größe und Süßigkeit. Aber als sie sich gegen ihre Gewohnheit nötigen ließ, von dem schwärzlichen Chianti zu trinken, weil jetzt die Welt von vorne beginne und keine Vorsätze mehr gültig seien, war die Folge, daß sie sich an ihn lehnte und entschlief. Er wiegte das geliebte Haupt eine Zeitlang an der Schulter und küßte sie leise auf die geschlossenen Lider. Aber als sie erwachte, lag ihr Kopf auf einem Polster, und der Unermüdliche stand schon wieder vor seiner Staffelei. Sie wollte ihm über die Schulter sehen, aber er legte ihr die Hand über die Augen: »Es ist mir etwas Frisches an dir aufgegangen, als du schliefst. Ich muß es sogleich festhalten, aber zusehen darf man mir nicht.«

Er pinselte noch ein wenig weiter und kehrte dann das Bild um, das er jetzt fest hatte, um es später allein fertigzumachen. Aber nun kam er mit einer Bitte heraus: die sterbende Amazone suchte ihn neuerdings wieder heim, er wollte ihr anders und besser beikommen; aber dafür mußte er sich seine lebende Amazone aus den Hüllen holen: »Du wirst mir doch die Liebe tun, ich kann ja kein gemeines Modell für diesen Gegenstand gebrauchen.«

»Wie kannst du fragen? Es ist für dieses nutzlose Gebilde eine Ehre, der Kunst zu dienen, ehe es vollends verblüht.«

»Vollends? Du hast dich erhalten wie Alpenblumen unter dem Schnee. Und das Leben hat dir neue Schönheit dazu geschenkt. Nicht allein in das Gesicht schreibt der Geist seine Züge, auch die Körperformen haben an der höheren Entwicklung teil. So wie jetzt sahst du noch nicht aus, als du aus unserem Flüßchen stiegst.«

»Und du mich mit deinem Pansgebrüll erschrecktest, du Bösewicht. Warum doch nur?«

»So ein dummer Junge weiß nicht, was in ihm wühlt. Es riß mich etwas, daß ich dich belauern mußte, schon eine Reihe von Malen, und ich hatte doch nicht recht den Mut, dich anzuschauen; es war mir, als ob ich einen Tempelraub beginge. Als ich dich ganz nahe erblickte, da faßte den dummen Buben der Schreck und eine Art von Zorn. Du hast recht, es ein Pansgebrüll zu nennen. Es war grundlos, ein Urschrei, der sich losriß. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu erschrecken.«

Die Stellung des hinsinkenden Amazonenkörpers ohne den Arm des Gegners, der ihn stützen sollte, nur gehalten durch ein Holzgestell, das die Last aufnahm, war äußerst anstrengend: »Verzeih mir die Plage«, sagte er. »Ich werde dich nicht oft in Anspruch nehmen, du weißt ja, ich mache meine Sachen von innen heraus. Nur diesen Gliederschwung muß ich der Natur unmittelbar abnehmen. Ich will etwas ganz Großes, Heroisches, aus dir machen. Wenn es mit einer solchen Vorlage nicht gelingt, bin ich ein Stümper und nicht wert zu leben.«

Nur der heilige Stolz, diese unberührte Schönheit dem einzigen darzubringen, den sie ihrer wert hielt, gab ihr die Kraft, in der unleidlichen Stellung auszuharren, denn der Maler, einmal im Zug, war unbarmherzig. Erst als er mit der Skizze fertig war, bemerkte er ihre Erschöpfung und daß sie in dem ungeheizten Raum, der nur durch die offenen Fenster etwas Sonnenwärme empfing, fröstelte.

»Du frierst, ich habe dich zu lange stehenlassen. Verzeih, das Auge kann sich nicht sättigen. Komm, ruhe dich aus und decke dich zu. Ich braue schnell auf Spiritus einen heißen Kaffee, der wird dich erwärmen.«

Sie zog die Decke über sich, die nicht ausreichte. Da kam er und wickelte sie sorglich in den Pelz. Bei dieser Gelegenheit beachtete er erst ein kleines blaues Mal auf der Weiße ihrer rechten Brust: »Wie kommst du zu diesem Flecken?«

Sie gestand zögernd, daß sie sich am Morgen, als er sie durchs Fenster hob, an einem harten Gegenstand, den er in der Brusttasche trug, verletzt habe.

»Du Arme!« – Er zog aus der Tasche seines Kittels eine scharfkantige metallene Zigarrenbüchse und warf sie entrüstet auf den Boden. »Diese war's. Hat es sehr weh getan?«

Sie gab zu, eine Minute wie betäubt gewesen zu sein. Aber es sei nur billig, daß auch sie um ihn leide, da sie ihm in ihrem Leben so viel Leides zugefügt habe.

Daß der Schmerz noch wie ein Messer in ihr wühlte, konnte er aus den halb scherzhaften Worten nicht erkennen. Er blies über die gequetschte Stelle hin und sagte einen zärtlichen Heilsegen darüber, wie man ein gefallenes Kind tröstet. Dann brachte er ihr den heißen Kaffee und zog ihr kniend Schuhe und Strümpfe an. Doch zuvor küßte er noch andächtig die geschickten Zehen, die einst die Spottverse auf ihn geschrieben hatten.

»Sind sie noch immer im Dienst der Muse?« – »Ach nein«, seufzte sie, »das haben sie seit langem verlernt.«

Sie saßen Hand in Hand und Kopf an Kopf, bis die Dämmerung sank und plötzlich vom Parktor her die Klingel ertönte. Während die alte Frau, die nicht die Kraft hatte, das Tor von oben aufzuziehen, über den Kiesweg humpelte, glitt eine dunkle Gestalt ungesehen aus der Tür der Villina und huschte ins Haus. Und als die Geschwister die Treppe heraufgeeilt kamen, saß Vanadis bei angezündeter Lampe tief in ein Buch vergraben.

Enzio und Annie hatten den Tag gut verwendet und brachten einen Plan für den nächsten mit. Sie hatten zufällig unterwegs einen deutschen Herrn getroffen, der ihnen so viel von Siena vorschwärmte, daß sie meinten, sie wären gar nicht in Italien gewesen, wenn sie Siena nicht gesehen hätten. Vanadis segnete diesen Herrn im stillen und bestärkte die Geschwister in ihrer Begeisterung für Siena, riet aber, den Rückweg über San Gimignano zu nehmen, um auch diese Hochburg des unverfälschten Mittelalters kennenzulernen, über die noch kein Hauch der Neuzeit gegangen. Sie berechneten die Zahl der Tage, die der Ausflug erfordern würde, und es fand sich, daß sie gerade die Zeit bis zu Egons mutmaßlicher Ankunft ausfüllten. Das gute Glück wollte also der Liebe hilfreich sein. Während des andern Morgens der Wagen die Gäste zur Bahn brachte, eilte die Liebende in die Arme des Geliebten. Um die Aufmerksamkeit der Dienstboten zu beschäftigen, hatte sie ein mehrtägiges Reinemachen für die Ankunft des Hausherrn angeordnet, obgleich Carlo nichts verstauben ließ. Teppiche wurden abgenommen und im Hinterhof geklopft, Schreiner und Tapezierer besserten Schäden aus, das ganze Haus stand auf dem Kopf. Dennoch war die winzige Entfernung, die sie von dem Geliebten trennte, nicht so unbemerkt zu überwinden, daß sie die Stunden hätte bei ihm verbringen können. Sie richteten es ein, sich auswärts für lange einsame Spaziergänge zu treffen; daß die Herrin sich dem lauten häuslichen Umtrieb entzog, konnte nicht auffallen. Sie fuhren mit der Bahn oder im Mietwagen eine Strecke weit hinaus aufs Land, erstiegen da und dort ein abgelegenes Wäldchen, um im Schutz der immergrünen Bäume zu rasten, oder saßen am Rand eines stillen Wässerleins ungesehen unter dem hohen flüsternden Röhricht. Egons heilig anbetende Liebe versank vor der Allmacht des Flammenhauptes, das über ihr war. Sie wollte nichts mehr als bewußtlos im Strudel treiben. Jeder Tag war ewig und das Ende solchen Glückes fern wie der Tod. Bis eines Morgens Vanadis mit einem Telegramm in der Hand offen an Roderichs Tür klopfte:

»Von heute abend an bin ich wieder deine Mutter.«

Das Wort verletzte ihn nicht mehr.

»Sei Mutter, Göttin, Geliebte, Braut, sei was du willst, sei alle Frauen, aber bleibe die Meine!«


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