Isolde Kurz
Vanadis
Isolde Kurz

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Drittes Kapitel. Das Recht der Dämonen

Vanadis stand am Parktor, als Egon anfuhr. Er stieg aus dem Wagen, nicht ganz so leicht wie sonst, aber ohne Hilfe, und führte sie am Arm durch den Zypressengang ins Haus. Er war ein wenig magerer, das Haar ein wenig grauer, doch sonst war ihm nichts Besonderes anzumerken. In der Vorhalle, wo er den Mantel ablegte, schloß er sie zärtlich in die Arme und küßte sie auf die Stirn.

»Ich wußte gar nicht mehr, wie schön du bist.«

Sie senkte die Augen, ihren allzu starken Glanz verschleiernd, was er mißverstand: »Du darfst dich wohl von deinem allerfrühesten Verehrer bewundern lassen.«

Dann sprach er von dem Verstorbenen: »Er war der Jüngste von uns dreien und der Beste. Du kanntest ihn auch, wiewohl nur kurz, und er war dir ein warmer Freund.«

Der Ankömmling war aufgeschlossener als sonst und schien zu erwarten, daß sie ihn ausfrage. Aber ihre Gedanken waren verstört und zur Hälfte abwesend. Sie sagte leise: »Bleibe nur du gesund!«

»Das hoffe ich«, antwortete er, sich einen heiteren Ton gebend. »Es ist ein Unsichtbarer in uns, der unsern Lebenslauf nach seiner Weisheit regelt. Solange er die Erhaltung will, ist das Erlöschen ferne.«

Das war ein Teil seiner Lebensansicht, zu der sich auch der Verstorbene bekannt hatte. Daß dieser mit dem Leben fertig war und der Tod nur der Stempel der Natur auf die innen getroffene Entscheidung, ging aus den Nachlaßpapieren hervor.

Enzio und Annie, eine Stunde früher angekommen, eilten die Treppe herab, den Hausherrn zu begrüßen, und traten zwischen das erste Wiedersehen der Gatten. Man begab sich in die oberen Räume und blieb noch eine Weile beisammen, aber als Carlo, schon wieder in seinem häuslichen Amt und formgerecht von Kopf zu Fuß, das Abendbrot ankündigte, erbat sich der Hausherr Urlaub von Gattin und Gästen, weil er auf seinem Zimmer speisen und dann gleich zur Ruhe gehen wolle. So fiel auch die Begegnung zwischen Vater und Sohn für diesen Abend aus, und die Mahlzeit dauerte nur kurz, weil auch die Gäste reisemüde waren.

»Welch heiße Liebe zu dem alten Mann«, sagte Annie beim Schlafengehen. »Deine Schwester war die Zeit her so matt und blaß. Seit seiner Rückkehr ist sie wie verwandelt.«

»Du hast recht, ihr Frauen bemerkt doch alles«, antwortete Enzio. »Sie hat ihn schon seit ihrer frühesten Kindheit geliebt.«

Des andern Tages fühlte sich Egon munter. Er erschien zu Tisch, wohin auch Roderich eigens gebeten wurde, und die Wiederbegegnung zwischen Vater und Sohn vollzog sich in freundlicher, von Egons Seite beinahe herzlicher Weise. So blieb es auch fernerhin, nur die Räume, wo Roderich malte, betrat der Heimgekehrte nicht und äußerte auch keinen Wunsch, seine Arbeiten zu sehen. Schon am ersten Tag vermißte er am Hals der Gattin die Perlenkette, die er an ihr liebte. Sie erklärte, daß die Schnur zerrissen sei, sie habe die Perlen zu Settepassi gebracht, der noch nicht dazu gekommen sei, sie neu zu fassen. Egon beauftragte Carlo, noch im Laufe des Nachmittags bei dem Juwelier nachzufragen. Diesmal waren sie bereit, aber Carlo zählte nach und vermißte drei Perlen. Der Juwelier bewies ihm aus dem Schein, daß er die gleiche Zahl erhalten habe, die er zurückgab. Die Sache war dem Diener ärgerlich, man konnte ja denken, sie hätten schon früher gefehlt. Er fragte die Herrin, als er ihr den Schmuck überbrachte:

»Wo hat die gnädige Frau denn ihre Perlenkette zerrissen, daß man suchen könnte?« – »In meinem Zimmer«, antwortete sie mit Überwindung. »Dort fand sich in der Nacht noch eine.«

»Man muß alles ausräumen und suchen.«

»Wir haben in den letzten Tagen das ganze Haus ausgeräumt und sämtliche Teppiche geklopft, da hätten sich die Perlen finden müssen«, bemerkte die Zofe, die bei dem Gespräch anwesend war.

Egon nahm sein altes Leben wieder auf, aber es war nicht mehr völlig das alte. Er ritt wieder in vollendeter Haltung über die Colli und seine Amazone mußte ihn ebenso vollendet begleiten, wobei ihr Roderichs durstige Augen den ganzen Parkweg hinab folgten. Doch war er nicht mehr der unermüdliche Reiter, der jeden Tag einen anderen Hügelweg suchte, sondern kehrte meist schon am Piazzale Michelangelo wieder um. Auch die gymnastischen Zimmerübungen kürzte er ab, um desto länger bei seinen Meditationen zu verweilen. Es war etwas Ergreifendes in seinen Bemühungen, sich so wie ehemals zu geben, aber sie hatten keinen Zuschauer als Carlo. Vanadis ging noch wie in goldenen Träumen. Sie vernachlässigte keinen der kleinen Dienste, die er am liebsten von ihr empfing, aber ihre Seele war abwesend, sie horchte nach der Villina hinüber, von wo unsichtbare magische Wellen zu ihr drangen. Er fühlte, daß ihm etwas abging, und hätte doch nicht sagen können, woran sie es fehlen ließ.

Da übernahm es Carlo, zu der jungen Herrin zu reden:

»Der Herr Baron will nicht wissen lassen, daß er ernstlich krank war, aber die Frau Baronin muß doch erfahren, wie es steht. Der Arzt hat die größte Schonung anbefohlen, damit der Anfall sich nicht wiederhole.« – »Der Anfall?« fragte sie betreten. – »Näheres ist auch mir nicht bekannt«, war die ausweichende Antwort. »Aber man sieht ja, daß der Herr gelitten hat.«

Diese Nachricht gab ihr einen Stich ins Herz und drehte ihr ganzes Fühlen um. Ein Anfall? Etwas Ernstes? Gerade jetzt? – Es wurde ihr weh zumute, als hätte sie mit dem, was sie getan, einem ihm feindlichen Dämon die Tür geöffnet.

»Glauben Sie, daß der Zustand des Herrn bedenklich ist?«

Carlo zuckte die Achseln. »Vor allem«, sagte er, »sollte man ihm die viele Unruhe, die im Haus ist, fernhalten.«

»Wie kann das geschehen? Sie wissen ja, daß der Herr meine Geschwister selber eingeladen hat. Sie wurden ja schon im Sommer auf der Giojosa erwartet.«

»Ich weiß, aber jetzt ist es zuviel.«

Carlo hatte richtig gesehen, die fröhlichen, aber leeren Gespräche seiner jungen Gäste strengten Egon an, daß er sich zeitiger als sonst von Tische erhob. Sie standen auch zwischen ihm und Vanadis und ließen keine vertraute Aussprache der Gatten aufkommen. Wäre ihre erste Wiederbegegnung unter vier Augen verlaufen, so wäre sie zärtlich bei seinem Stuhle niedergekniet wie so oft um Kleineres und hätte, seine Hand ergreifend, gesagt: »Vergib mir, ich habe einen Geliebten.« Er hätte nicht gefragt: »Wer ist es?« Er wäre wohl etwas blasser geworden, aber er hätte geantwortet: »Es ist gut.« – Enzios und Annies Gegenwart aber hatten eine andere Luft geschaffen. Und nachdem der erste Augenblick, an dem ihr das Geständnis noch leichter von den Lippen gekommen wäre, verpaßt war, fand sich kein zweiter günstiger. Seit sie nun gar von dem erlittenen Stoß wußte, dessen Folgen sich nicht übersehen ließen, erkannte sie, daß die Enthüllung gefährlich werden konnte. So hob die Heimlichkeit an und mit der Heimlichkeit, was sie nie für möglich gehalten hatte, Verstellung und Unwahrheit. Die Verstellung war mit Schuldbewußtsein gepaart, und ihr Recht, noch eben sonnenklar, färbte sich mit einem trüben Schatten. In der großen Amnestie, die er vorauserteilt hatte, war kein Raum für ihre Liebe zu Roderich. Seit Egon zurück war, gütig und gehalten wie immer, wurde wieder etwas von dem Zauber wirksam, den er von je auf sie ausgeübt hatte, und die Gewohnheit, mit seinen Augen zu sehen, zeigte ihr plötzlich das Geschehene in anderem Licht: Stiefmutter und Stiefsohn in Schuld verstrickt! Daß diese Schuld vor der Wahrheit der Natur keine war, sondern nur im Geiste der Menschen, das verlor jetzt an Überzeugungskraft. Sie dachte an einen von Egon gehörten Ausspruch: »Was alle glauben, wird am Ende zur Wirklichkeit. Gedanken, lange gedacht, werden zu Dingen.« Sie selber fühlte sich wieder im Bann der zu Dingen gewordenen Gedanken. Dennoch – es gab kein Zurück. Das Flammenhaupt war über ihr, sie spürte das elektrische Knistern seiner Haare. Und drüben in dem kleinen Nebenhause saß einer, der auch ein Recht an sie hatte und der ohne sie verging wie sie ohne ihn. Schon empfand sie seine wachsende Verlassenheit und Entbehrung an der eigenen. Keine Möglichkeit mehr, ungesehen zu ihm zu gelangen. Auch auf der Rückseite war der Zugang versperrt. Da waren jetzt Arbeiter am Werk, das alte einfache Tor aus hölzernen Bohlen durch ein schönes, schmiedeeisernes zu ersetzen und zugleich die Mauer auszubessern; künftig gab es keinen hölzernen Schieber mehr, der einen flink und heimlich von außen hereinlassen konnte. Roderich ließ sich schon nach den ersten Tagen nicht mehr blicken, er ertrug es nicht, ihr nahe und doch so fern zu sein. Er malte, warf den Pinsel weg, stürmte durch die Felder oder ging zwischen seinen Wänden wie ein gefangener Löwe hin und her. Es war nicht nur die verzehrende Sehnsucht, die ihn umtrieb, ihn quälte ebenso seine falsche Stellung zu dem Manne, den er Vater nennen sollte und nicht konnte und vor dessen Anblick er hätte weit hinwegfliehen mögen, wäre er nicht wie mit Stricken an dieses Haus gefesselt gewesen. Denn was niemand erwarten konnte, geschah. Egon hatte sich mit Bezug auf Roderich umgestellt, er behandelte ihn dauernd mit dem freundlichsten Wohlwollen und deckte, was ihm nicht gefiel, mit Nachsicht zu. Das wurde ihm leichter, seitdem Roderichs Äußeres sich durch Pflege und Kleidung vorteilhaft gewandelt hatte. Er bemerkte auch mit Befriedigung, daß sich der junge Mann jetzt gewählter und zusammenhängender ausdrückte als nach seiner Ankunft auf der Giojosa, beides Dinge, die sich im Luftkreis einer feinen Frau von selbst ergaben. Zwar mischte sich auch jetzt nichts Väterliches in seinen Ton, es war die selbstbeherrschte Haltung des Edelmannes dem Träger seines Namens gegenüber und gastfreundliche Zuvorkommenheit, wie er sie auch Enzio und Annie erwies. Aus diesem Zusammensein ein dauerndes machen zu wollen, kam ihm auch jetzt nicht in den Sinn. Er war wieder der Überlegene, vor dem sich die Wellen legten und aus Wirrsal Ordnung wurde. Aber er war es nur äußerlich, in seinem Innern ging es stürmisch auf und nieder. Beim ersten Schritt in sein Haus wußte er, daß er die Dinge nicht fand, wie er sie verlassen hatte. Das Geständnis, das ihm das geliebte Wesen erst machen wollte, dann unterdrückte, hatte er auch aus ihrem Schweigen vernommen, denn zwischen eng verbundenen Menschen sind die seelischen Wellen, die ungewollt vom einen zum anderen gehen, oft bessere Träger der Mitteilung als die Worte. Nur wer der Mann war, der sich sein Kleinod angeeignet hatte, ahnte er nicht. Es ist gegangen, wie es gehen mußte, beschwichtigte er sich selbst. Es war unausweichlich, es stand von Anfang an auf der Rechnung. Durch besondere Gnade hat sich der Schlag, der mich treffen sollte, bis jetzt verzögert. Ich habe geschworen, nichts zu sehen, nichts zu wissen, und ich will es nicht, solange ich nicht wissen muß. Was habe ich eingebüßt? Nichts, das mir gehört hätte, nichts, das ich für mich gefordert hätte. Sie ist noch aufmerksamer und liebevoller als zuvor. Das mahnende Gewissen macht sie weicher, zärtlicher, denn sie ist gut. Ich habe nicht zu klagen, und wenn ich die Kraft habe, einsichtig zu bleiben, so werde ich auch nichts verlieren. – Seine Vernunft überredete sich selbst, sein Wille sagte ja, aber das Herz in ihm zuckte und weinte wie ein Kind. War er nicht doch ein Tor gewesen, daß er nicht ergriff, was ihm in den ersten Jahren süßduftend aus ihr entgegenblühen wollte und was sie fester an ihn gebunden hätte? Zu später Zweifel, der zur Verzweiflung führen konnte. – Aber wie? Hätte es denn in seiner Macht gestanden, ein anderer zu sein? War nicht das Nein die Stimme seiner letzten Tiefe, der er niemals ohne Strafe ungehorsam gewesen? Gibt es überhaupt zwei Wege, zwischen denen der Mensch zu wählen hat? Ist nicht jede Wahl ein Wahn? – Es war sein alter Glaube, daß, wo wir zu beschließen meinen, unser Tun, durch die Mischung unseres Blutes magisch herangezogen, völlig fertig zu uns kommt aus dem Reich der Notwendigkeit, wo Anfang und Ausgang beieinander wohnen. Leise sprach er vor sich hin:

»Wir sind nicht wir und unser Werk nicht unser.
Denn über uns ist die Notwendigkeit
und unter uns die Gräber. Aus den Gräbern steigt's hervor
als eine zweite stärkere Notwendigkeit,
die unser Tun regiert: es sind die Geister
der Väter, die im Unsern wirksam sind,
und ihren Willen tun wir, wenn wir glauben
den unsrigen zu tun.«

Es war ein Bruchstück aus einem dramatischen Versuch, dem ersten und einzigen, den er gewagt und den er wieder aufgegeben hatte, weil er selber sah, daß alle seine Figuren nur halbverkörperte philosophische Gedanken waren. Auch hier hatte er aus besserer Erkenntnis entsagt. Oh, er war ein Meister im Entsagen! Schon bei Eugenie van der Mühlen hatte sie begonnen, diese Meisterschaft, als er die Braut dem Freunde in die Arme legte. In Vanadis war sie vollendet. Dieses holde Geschöpf, das er sich so, gerade so erschaffen hätte, wäre er ein Pygmalion gewesen, mit all ihren Besonderheiten, mit ihrer schönen Ruhe in der dauernden Bewegtheit, die ihm so notwendig geworden war. Nun gehörte sie einem anderen.

Nein, er hatte doch das Richtige gewählt. Einem überalterten Liebhaber hätte sie können gram werden im Aufruhr junger Leidenschaft. Der selbstlose zweite Vater lief keine Gefahr, sie zu verlieren, er blieb ihr Schutz und ihre Zuflucht, wenn die Enttäuschung kam, die kommen mußte, denn im ganzen Umkreis sah er keinen, der ihrer würdig war.

Sie war schöner als je, denn das Glück hatte sie geküßt. Erfüllung strahlte von ihrer Stirn. Mußte er es ihr nicht gönnen? Welche Stürme waren schon über das junge Leben hingegangen, wieviel Leid, wieviel Kampf, wieviel Entbehren. Und nun war alles weggewischt. Da stand sie wie ein neuer Frühling. Sie war die Tochter, er der Vater. Es war alles gut. So meinte er. Aber ach, es war ein Punkt in ihm, der nicht fühlen wollte, daß es gut war. Immerfort fragten seine unwillkürlichen Gedanken: Wer? Flüchtig ging ihm Roderich durch den Sinn. Dieser Argwohn hatte ihn auf der Giojosa gepackt, jetzt warf er ihn weit hinweg als eifersüchtigen Wahn. Erst Geschwister durch Gewohnheit, dann Mutter und Sohn vor dem Gesetz. Daß sie vor dieser Schranke zurückschrak, dafür meinte er sie zu kennen. Und dabei ließ er es bewenden. Ihr nachspüren, solche Schmach ihr und sich selber antun, nimmermehr!

 

Lichtmeß war vorüber, die Tage längten sich, der Frühling schickte seine allerfrühsten Boten, Krokus und kleine weiße Margeritchen, die auf der Wiese zu blühen begannen, voraus. Die Liebenden blieben durch die Gegenwart so vieler Menschen geschieden, kaum daß sie sich flüchtig einmal im Garten treffen konnten, um sich im Schutz einer Baumgruppe Brust an Brust zu werfen in einer fliehenden Umarmung, die die Sehnsucht nicht stillte. Du liebst mich nicht mehr, sagte sein vorwurfsvoller Blick, wo immer sie sich fanden. Eine verabredete Begegnung am andern Stadtende mißlang, weil der ahnungslose Enzio sich zu der Schwester in den Wagen drängte und sie dadurch nötigte, einen anderen Weg zu fahren, während Roderich am Treffpunkt in Erwartung verging und ihre eigene Unruhe und Enttäuschung kaum geringer war. Wie sie voraussah, kam er desselben Tages aus Schmerz und Wut nicht mehr zum Vorschein, in der Nacht erhellten sich seine Fenster nicht, und auch am folgenden Tage blieb er unsichtbar, was im Hause nicht auffiel, weil er sich ja selten zeigte.

Wo ihn suchen, wie ihm den Vorfall erklären, daß ihn nicht Erbitterung und sein schnell erwachtes Mißtrauen in irgendein gewaltsames Abenteuer trieben? Am Morgen des dritten Tages kam eine Karte von seiner Hand mit einem entlegenen Poststempel, diplomatischerweise an Enzio gerichtet, worin er diesen bat, sein Ausbleiben im Hause zu entschuldigen, er habe das dringende Bedürfnis, Kopf und Glieder von der langen Stubenhockerei zu lüften, man möge sich über sein Fernesein keine Gedanken machen. Leer und langsam gingen die Tage hin, sie dehnten sich zu Wochen. Niemand fragte nach dem Abwesenden. Er war wie vom Boden verschluckt. Auch Vanadis brachte den Namen nicht über die Lippen, den ihr Herz immerzu rief. Sie mußte sich den Geschwistern widmen, die nicht ahnten, wie ihr zumute war. Wie ferne fühlte sie sich von diesen satten Glücklichen, die die schnell verwelkten Blumen von der Freudenwiese pflückten und sich sorglos in den Alltag hineinliebten, der schon nahe auf sie wartete. Nicht einmal die Erinnerung an den Geist des Vaterhauses hatte sie mehr mit Enzio gemein, der ihn freilich als Jüngster auch am kürzesten genossen hatte. Einzig Roderich war es, der diese Andacht mit ihr teilte. Welchen Weg jetzt ihre Gedanken nahmen, jeder führte zu ihm zurück. Wenn sie nicht mehr konnte, schloß sie sich in ihrem Zimmer ein und wühlte ihre Angst und Sehnsucht lautlos in die Kissen. Wenn er vielleicht ganz fortblieb, wenn er dem unhaltbaren Zustand ein schnelles Ende machte! Ihre Vernunft hätte es gutheißen müssen, aber es schien ihr, daß sie es nicht überleben könnte. Noch einmal sandte er ein Lebenszeichen, eine Ansichtskarte aus dem Umbrischen, dann wurde es wieder stille, der März zog ein, ohne ihn zurückzubringen. Ihr Geburtstag, der gerade in diesen Tagen mit dem gewohnten Gepränge gefeiert wurde, machte ihr das schwere Herz noch schwerer.

 

Durch die offenen Fenster strich der schon frühlingslaue Abendwind, und die Pracht der großen Wintergestirne, die sich zum Abstieg rüsteten, blickte von oben herein. Vanadis stand vor dem Spiegel und bürstete ihr Haar. Da verdunkelte sich plötzlich die Fensteröffnung, ein Körper wand sich von außen um den steinernen Pfeiler und glitt zu Boden. Sie wollte vor Schreck aufschreien, aber ein Mund, auf den ihren gepreßt, erstickte den Laut. »Was tust du?« stammelte sie. »Bist du wahnsinnig? An der nackten Mauer heraufklettern!«

»Sie hat einen Blitzableiter, fast so bequem wie eine Treppe«, lachte lautlos der Eindringling. »Und wie freundlich von dem alten Baumeister, daß er vor vierhundert oder mehr Jahren sein Mauergesimse gerade unter deinem Fenster vorbeigelegt hat.«

»Ach, Roderich, ich war auf etwas Unsinniges gefaßt, aber du machst es noch ärger, als ich erwartet hatte. Wie willst du wieder herunterkommen? Du brichst den Hals.«

»Vorerst denke ich hier zu bleiben«, antwortete er, selig in ihrer Haarflut wühlend. Aber als er ihre Beängstigung sah, sagte er: »Wo ich heraufgekommen bin, komme ich auch wieder hinunter. Diese zwei Zeuglappen« – er deutete auf zwei wollige Tücher, mit denen seine Hände umwickelt gewesen – »helfen mir. Niemand hat mich gesehen, niemand wird mich sehen. Nur der Schein deines Lichtes war gefährlich.«

Die Kerzen waren gelöscht, sie lag an seiner Brust, und die lange Gepreßtheit löste sich in leises Schluchzen:

»O du Unhold, wo hast du dich all die Zeit herumgetrieben?«

»Frag mich nicht, ich weiß es nicht, ich mußte mich ausstürmen. Ich suchte dich an allen Orten, wo wir zusammengewesen sind. Überall fand ich mehr von dir als hier, wo du mir auswichst. Zuletzt verschlug mich's auf die Giojosa. Die ist ja dein, dort bat ich mich in deiner Abwesenheit bei dir zu Gaste, die Bäuerin gab mir die Schlüssel. Ich steckte rings um die Beete kleine Kerzen an, daß es ins Tal hinunterflammte, so feierte ich Verstoßener deinen Geburtstag. Zu Tisch saß ich mit den Bauern, sie sprachen nur immer von dir und was du ihnen Gutes getan habest. Da fand ich dich endlich in mir selber wieder und schlich mich ungesehen in der Dämmerung zurück. Nur der Hund wollte Laut geben, aber ich brachte ihn zum Schweigen. Dann saß ich drüben im Dunkeln und wartete, bis das ganze Schloß zur Ruhe war.«

»Aber morgen zeigst du dich offen und bleibst wieder bei uns?«

»Weiß ich's? Der Alte will mich nach Paris schicken. Er meint, es sei für einen jungen Künstler besser, mit den Neuen zu suchen und zu irren, als zeitlebens den alten Meistern die Schleppe zu tragen.«

Sie antwortete betreten: »Das klänge von jedem andern natürlicher als gerade von deinem Vater.«

»Es ist auch nur ein Vorwand. Um zu suchen und zu irren, braucht man nicht nach Paris zu gehen. Die Kunst ist kein Massenaufgebot, wo in Schritt und Tritt marschiert werden muß. Die besten Dinge sind immer in der Einsamkeit entstanden.«

»Hast du ihm das geantwortet?«

»Nein, ich sagte bloß, daß ich meine angefangenen Sachen fertigmachen wolle.«

»Hat er denn die gesehen? Er sprach mir nie davon.«

»Er kam einmal in deiner Abwesenheit mit Enzio herüber. Ich zeigte ihm ein paar Entwürfe. Mein Bestes durfte ich ihm ja nicht zeigen, er hätte überall dich erkannt. Er sprach über die Sachen, nun, wie eben ein Kenner spricht. Er will mich auch nicht fortdrängen, er rät nur. Du hast ja gesehen, er ist wohlwollend.« – Roderich sprach das letzte Wort mit einem Unterton von Ironie. Wohlwollend, ja! Sie selber kannte diese Güte, die erdrückte, wenn man ihr kein reines Gefühl entgegenzusetzen hatte.

»Ach, Roderich, wie soll sich das alles lösen?«

»Das Leben besteht aus Augenblicken«, sagte er. »Dieser ist unser. Wer weiß, ob wir den nächsten erleben, und dann wird es auch nur einer sein. Und in hundert Jahren – sind wir gewesen.«

»Oh, warum können wir nicht zwei Verschlagene auf einer vergessenen Insel sein: nichts Lebendes dort als du und ich und vor uns der Untergang. Dann wüßten wir, daß wir ein Recht haben, beisammen zu sein.«

»Ich kenne solche Inseln. Du darfst nur wollen, so führe ich dich hin und verbrenne das Boot und erwarte mit dir den Untergang. Ich spreche im Ernst, Geliebte.« – »Und deine Kunst, Roderich?« – »Sie soll mich nicht halten, nichts soll mich halten, wenn du mich rufst. Dann kommt vielleicht in hundert Jahren ein Forscher auf die Insel und findet in einer Höhle ein Menschenpaar, ganz frisch erhalten wie schlafend – ich habe Höhlen gesehen, wo die Körper so erhalten bleiben. Und er staunt über die Frau, wie schön sie war und daß ihr solch ein häßlicher Kerl gefallen konnte.«

Sie schloß ihm den Mund mit der Hand, und das Geflüster der Hin- und Widerrede ging unter in einer endlosen Umarmung. Sein schwerer Kopf mit dem Bürstenhaar wühlte sich in ihren Busen und suchte da seine entbehrte Heimat, bis sie ihn sacht zur Seite schob.

»Was ist dir? Belästigt dich der Kürbiskopf?«

»Nein, aber du weißt ja –«

»Noch immer der Schmerz von dem Stoß? Ich Unglücklicher, daß ich dir das antun mußte! Solch ein Kleinod zu verletzen! Es ist doch nichts Schlimmes?«

»Es gibt nichts Schlimmes, wenn ich dich nur wieder habe.«

Im Schloß war alles still. Nach dieser Seite heraus schlief nur Egon, dessen Licht schon lange gelöscht war. Hätten die zwei gewußt, daß Carlo diese Nacht bei seinem Herrn wachte, der beim Entkleiden von einem leichten Schwindel befallen worden war, so hätten sie sich nicht so sicher gefühlt. Der aufmerksame Diener, fast das zweite Ich seines Gebieters geworden, hatte wohl ein Geräusch an der Außenmauer vernommen, aber Egon war eben eingeschlafen, eine hastige Bewegung nach dem Fenster hätte ihn geweckt. Als Carlo sich vorsichtig heranschlich, war nichts mehr zu sehen, auch wußte er, daß in den alten Schießscharten sich Nachtvögel niederließen, also blieb es bei einem dunklen Argwohn. Doch findig, wie er von seinem alten Beruf her war, untersuchte er in der Morgenfrühe die Stelle unterhalb der Fenster. Da war kein niedergetretenes Gebüsch, kein Fußabdruck. Aber hoch oben auf der Höhe des zweiten Stockwerks – hing da nicht am Blitzableiter etwas winziges Weißes? – ein Flöckchen Zeug in die Rohrschelle verfangen? Es konnte vom Wind dahergetragen sein. Aber es war so verdächtig nahe dem steinernen Gurt, der die Mauer in der Quere teilte. Hier konnte ein gelenker Körper sich auf das Gesimse geschwungen und sich mit den Händen an dem rissigen Quaderwerk bis zum Fenster getastet haben. Je länger er hinaufschaute und sich den Weg im einzelnen vergegenwärtigte, desto einfacher schien ihm die Unternehmung. Er mußte an einen Vorfall denken, der sich kurz vor seiner Abreise ereignet hatte. Die junge schwarze Angorakatze, die sein Herr liebte, hatte sich unbesonnen auf die höchste Zypresse verstiegen und getraute sich nicht mehr herunter. Ihr angstvolles Miauen dauerte stundenlang und zog die ganze Hausgenossenschaft herbei. Aber niemand wagte, eine Leiter anzulehnen, denn der Baum war schon lange morsch und zum Fällen bestimmt und dankte nur der Schönheit seines Wuchses die ihm gewährte Gnadenfrist. Das dauerte so lange, bis Roderich von einem Ausgang zurückkam. Bevor man sich's versah, hatte dieser sich an einem Ast der Zypresse hochgeschwungen und mit affenähnlicher Geschwindigkeit die Stelle erklettert, wo das verängstigte Tierchen saß, mit dem er gleich darauf wieder heil am Boden stand. Carlo hatte wohl während des Vorgangs in den nach Möglichkeit beherrschten Mienen der jungen Stiefmutter die Spannung der Angst und die Freude über den glücklichen Erfolg der Verwegenheit gelesen. Wer den morschen Baum erklettert hatte, der trug gewiß kein Bedenken, durch das Turmfenster einen Besuch zu machen. Als dann im Laufe des Tages der Bewohner der Villina wieder zum Vorschein kam, wurde dem besorgten Wächter seine Befürchtung zur Gewißheit. Carlo liebte seinen Herrn abgöttisch, ein Leid, das diesen traf, widerfuhr ihm selbst, aber er liebte auch die junge Herrin, die er von Kindheit an kannte, er sah erbarmend, was ihrem Leben fehlte, und wollte sie gerne schonen; nur seinem Herrn die letzten Lebensjahre verbittern, das durfte sie nicht. Darum mußte das Ärgernis vom Hause ferngehalten werden, was dann außer dem Hause geschah, das konnte er nicht abwenden, nur beklagen. Gegen Roderich allein hegte er ein Übelwollen, das aus einem belasteten Gewissen kam. Er war der einzige, der um seine Mutter näheren Bescheid wußte. Die Frau, die Egon mit diesem Geschenk bedachte – sie hieß Fiammetta und stammte aus Dalmatien –, hatte vorzeiten in Florenz eine Rolle gespielt. Viktor Emanuel der Zweite – er hieß bei seinem Volke »der König, der die Frauen liebt« – nahm sie aus einem Zirkus weg, und als er ihrer satt war, gab er sie einem Reitknecht mit einem Vermögen als Mitgift unter dem Beding, sich fern von Rom niederzulassen. Sie gingen aber nur bis Florenz und taten da einen Reitstall auf. Egon war zu jener Zeit schon Witwer, ein eleganter noch jugendlicher Diplomat. Er besuchte die Reitbahn und ließ sich von der blendenden Schönheit der Frau fesseln. Sie gab sich als große Dame, ihn täuschte sie natürlich nicht, aber sie beherrschte ihn längere Zeit. Als ihr Mann starb, wollte sie Baronin Solmar werden, sich den Eintritt in die Gesellschaft erzwingen. Gerade um diese Zeit lernte Egon die schöne Eugenie van der Mühlen kennen, da drohte die Fiammetta, wenn es zur Heirat käme, die Rivalin mit Vitriol zu begießen. Carlo mußte sie stündlich überwachen, denn sie raste. Später reiste sie ihm durch alle Länder nach und spielte ihm großes Theater vor, bis er ihr in einer schwachen Stunde aufs neue verfiel. Das gab ihr Anlaß, ihn für Roderichs Vater zu erklären. Carlo hegte noch stärkeren Zweifel als der Baron selbst an dieser Vaterschaft, denn er wußte genau, daß sie immer einen ihrer Liebhaber mit dem andern betrog. Aber er hatte vorübergehend selber ihre Gunst besessen und war überdies von ihr durch eine ansehnliche Summe zum Schweigen verpflichtet worden, zu einer Zeit, da er noch neu in Egons Dienst war und da eine an dem reichen Fremden verübte Täuschung ihn kalt ließ. Erst mit den Jahren entwickelte sich in ihm die tiefe Hingebung an seinen Herrn, von dessen Wesen etwas auf ihn überging und ihn über seinen Stand emporhob. Aber das empfangene Geld und seine eigene Beziehung zu der Frau banden dem Mitwisser die Zunge. Mit der Zeit ging sein Argwohn noch weiter, indem er sogar eine Kindsunterschiebung vermutete, weil die Fiammetta nie zuvor ein Kind geboren hatte und weil Roderich ihr so wenig ähnlich sah wie dem Baron. Die Abenteurerin fand keinen Vorteil bei ihrem Betrug, wenn es einer war, als daß sie noch einmal eine große Abfindung erlangte, die ebenso wie das Königsgeld zerrann. Bald danach starb sie an einem Sturz vom Pferd, und Egon war von seiner Peinigerin erlöst. Aber der Schwachheitsbeweis, den er gegeben hatte, brachte einen Bruch in sein inneres Leben, der niemals heilte, und Carlo trug vor sich selbst den Vorwurf, seinem Herrn nicht zeitig die Augen geöffnet zu haben. Er nahm jedoch an, daß dieser das zweifelhafte Geschenk irgendwo in der Stille unterbringen würde, und war wie vor den Kopf geschlagen, als der Baron unter dem moralischen Druck der Freunde, seiner »Alten«, dem Knaben seinen Namen gab und ihn als seinen Sohn erziehen ließ. Ihm selber fiel das Amt zu, den Kleinen, als er ein paar Jahre alt war, nach Deutschland zu bringen und im Hause Folkwang abzuliefern. Von dieser Reise behielt Carlo keine erbauliche Erinnerung. Als er dem Bengelchen eine Unart wehren wollte, bekam er einen Biß in die Hand wie von einem wilden Affen und hätte ihn am liebsten unterwegs irgendwo auf Nimmerwiedersehen abgesetzt. Auch später, wenn er gelegentlich mit seinem Herrn das Folkwangsche Haus besuchte, konnte er dem heranwachsenden Knaben und seinem gerühmten Talent keinen Geschmack abgewinnen, wobei es unklar war, ob seines Gebieters Empfindung auf ihn oder die seine auf jenen mit abfärbte. Und als Roderich nach der blutigen Schlägerei in München vom Schauplatz verschwand, dünkte ihn dies für die Ruhe seines Herrn die beste Lösung, sein Wiederauftauchen nach Jahren als eine neue Bedrohung. Scharfäugig beobachtete er, wie seit der Einkehr Roderichs auf der Giojosa Egons bisher unverwüstliche Lebenskraft leise zu sinken begann, und schrieb diesen Vorgang dem unerwünschten Zusammenleben zu, das in ein bisher reibungsloses häusliches Verhältnis immerzu kleine Erschütterungen brachte. Nach seiner letzten Wahrnehmung war er nun gar mit sich einig, daß es an ihm sei, diesem Zustand ein Ende zu machen.

Er äußerte zunächst gegen seinen Herrn das Bedenken, ob nicht die ständige Unruhe durch aus- und eingehende junge Gäste – jetzt war auch Alma mit ihrem Gatten wieder in Sicht – für seine noch schonungsbedürftigen Nerven zuviel sei. Egon, der gegen Carlos Leitung nachgiebiger geworden war, hakte gleich in den Gedanken ein. Er zeigte dem Faktotum einen Brief von Herrn James Folkwang, worin dieser schrieb, daß er gleich nach der Rückkehr seines Prokuristen die oft verschobene Reise nach Italien anzutreten denke und daß er für die Zeit seines Aufenthalts in Florenz mit seiner Gemahlin die rühmlich bekannte Gastfreundschaft von Casteldimonte anzusprechen sich gestatte.

Das werde nun des Guten wirklich zuviel, erlaubte sich Carlo zu bemerken. Da bleibe kaum etwas anderes übrig, als die neuen Gäste drüben in dem ohnehin zu diesem Zweck bestimmten Gästehaus unterzubringen. – Egon gab zu, daß es das beste wäre, aber man könne doch den Sohn des Hauses nicht hinaustreiben. – Oh, da wollte Carlo schon Vorsorgen: man suchte dem jungen Herrn ein schönes großes Studio mit dazugehörigem Wohnraum in der Stadt; bei diesem Wechsel konnte er nur gewinnen, da ihm drüben doch manches fehlte und er am Familienleben ohnehin nicht gerne teilnahm. Der Ausweg war überzeugend. Damit der junge Mann sich nicht als Ausgestoßener empfinden sollte, wurde seine Beschützerin selber beauftragt, ihm diesen Beschluß seines Vaters, der in Wahrheit ein Beschluß Carlos war, so sänftlich wie möglich einzugeben. Damit wurde nur beschleunigt, was Roderich schon selbst beschlossen hatte, denn so, wie es war, konnte es ja nicht weitergehen. Nur Carlos Obsorge verbat er sich: er wußte schon selber, wo er wohnen wollte. Er kannte ein Haus in einer alten Straße am Arno, das es ihm durch seine Lage angetan hatte. Es war ein schmaler, zweistöckiger Bau in der Via de' Bardi, wovon das erste Stockwerk mit Einrichtung abgegeben wurde; er hatte sich schon früher einmal, einem plötzlichen Triebe folgend, die unvermietete Wohnung aufschließen lassen, und die hohen Nordfenster, die über den Arno weg nach Fiesole schauten, sowie die sonnetrinkenden Südfenster nach der Straße mit dem Blick in die köstlich verwilderten Hügelgärten gegenüber waren ihm als Inbegriff alles Wünschenswerten erschienen. Dorthin zog er jetzt mit seinen Arbeiten und seinem Malbedarf; die Tonfigur, die er nicht mitnehmen konnte, zerschlug er, um sie einmal anderswo wieder aufzubauen.

Egon war betreten, als ihm der nicht minder betretene Carlo die Wahl Roderichs mitteilte. Das Haus war das gleiche, in dem er seine ersten Lebensjahre verbracht, nachdem sein Vater ihn der Fiammetta um eine starke Summe abgenommen und einer braven Frau aus dem florentinischen Kleinbürgertum zur ersten Pflege übergeben hatte. Eine bewußte Erinnerung konnte es nicht sein, was ihn gerade in dieses Haus zog, denn er war noch zu klein gewesen, als ihn Egon aus den schwachen Händen der Ziehmutter nahm, bei der er verwilderte, um ihn der Hut Vater Folkwangs und seiner Schwester Fanny zu übergeben, und der Wechsel war ein viel zu einschneidender, als daß die früheren Eindrücke ihn in dem Kinderhirn überdauert hätten. Aber irgendein unbewußter innerer Zug mochte doch dabei mitgespielt haben. Wie es auch merkwürdig war, daß sich Roderichs ungelenke Zunge schnell genug an das fremde Idiom gewöhnte, in dem er seine ersten Laute gesprochen und das er dann völlig vergessen hatte.

Nach seinem Wegzug begann unter Carlos Augen ein gewaltiges Stöbern und Umräumen in der Villina drüben, wofür fremde Kräfte herangezogen waren. Am Abend lag dann auf dem Putztisch der Herrin ein festverschnürtes und versiegeltes Schächtelchen: darin befanden sich die vermißten Perlen ihrer Perlenschnur. Jetzt wußte sie, daß Carlo wußte, wachte, warnte. Sie wußte auch, daß er sie deckte um Egons willen. Aber er hatte sie schweigend überführt, sie stand jetzt in ihrer Blöße vor ihm, und seine ehrerbietige Haltung verschleierte eine Nachsicht, die ein Schlag ins Gesicht ihrer ganzen Vergangenheit war. So Tag für Tag unter diesen wissenden Augen zu leben, war ihr härter als die härteste Buße.

 

In einem mehr als bescheidenen Zimmer der Via Guicciardini mit dem Blick auf einen von Spatzen und Wäschestücken beflatterten Innenhof, der wenigen verkümmerten Kübelbäumen den Ehrennamen eines Gartens dankte, stand Corinna am Fenster und malte. Sie war erschreckend verändert. Der ausdrucksvolle weiße Streif, der ihr von der Stirn über den Scheitel lief, hatte sich fast um das Doppelte verbreitert und dabei seinen schönen Silberschimmer verloren, in dem abgemagerten Gesicht traten die großen, männlichen Züge noch stärker hervor, und ein harter Ernst lag darauf. Der Staffelei gegenüber hing ein Spiegel: sie malte ihr Selbstbildnis. Indem sie mit dem Pinsel jedem Zug des Grams und der Jahre nachging, brachte sie ein erschütterndes Gemälde zustande, denn sie malte das tragische Weltbild, das sie in sich trug, mit hinein. Aber es wurde trotz der Schonungslosigkeit nicht lebensähnlich, nur ein an ihre Züge angelehntes Gleichnis des Schmerzes wie ein Gedicht von Leopardi. Neben ihr stand Giulio Goffredi, gepflegt und sorgfältig gekleidet, aber mit einem Ausdruck von Mißmut in seinem schönen Gesicht. Es war ihm nicht mehr wohl in Corinnas Gegenwart, die Veränderung ihres Äußeren stieß ihn ab, ihr herbes Auflachen, das jetzt noch herber klang als je, und die Unbeweglichkeit ihrer wie erfrorenen Mienen waren ihm unheimlich. Dennoch war er ihr auf eine gewisse selbstische Weise anhänglich, auch nachdem die seltsame Trunkenheit, welche die zwei ungleichen Menschen in der südlichen Luft zusammengeführt hatte, von seiner Seite verflogen war. Er hatte sich gewöhnt, diese starke, im Lebenskampf gehärtete Frau als eine von der Vorsehung eigens für ihn geschaffene Einrichtung zu betrachten, die ihm den Kampf erleichterte. Denn ihrer späten Leidenschaft mischte sich aller Opfersinn, alles Gebenmüssen mütterlicher Liebe, während er der immer Bedürfende und immer Fordernde war. Im Vertrauen auf diese starke Stütze war er mehr und mehr in unbedachtes Geldausgeben geraten, wofür sie immer wieder den Ausgleich fand, indem sie ihm Gönner warb, Käufer und Bestellungen vermittelte. So führte ihn Bedürfnis und Berechnung stets aufs neue zu der Frau zurück, deren sinnlicher Reiz geschwunden war und deren Charakterüberlegenheit ihn drückte und heimlich beleidigte. Denn ach, sie konnte nicht schmeicheln, sie besaß keinen Liebesschmelz, zuzeiten erschien sie ihm in ihrer Trockenheit als die Richterin, die ihn durchschaute und die er dafür haßte, eine Frau Justitia mit den harten, unbewegten Zügen und der Waage in der Hand. Als ihm jedoch die Eingebung kam, sie gerade so als Modell zu benutzen, lernte er sie wieder schätzen. Denn wieder gelang ihm mit diesem Kopfe etwas Gutes, womit er auf der Ausstellung in Venedig Glück hatte und das für einen neuerbauten Gerichtshof angekauft wurde. Corinna war zu aufrichtig gegen sich selbst, um sich über sein Gefühl zu täuschen. Sie zwang sich zur Mutterrolle, während Herz und Sinne, aus langem Schlaf geweckt, die Süße vergangener Stunden nicht vergessen konnten. Und er verschärfte die Pein, indem er sie in seine Liebschaften einweihte, wohl wissend, daß er ihr damit das Herz zerriß. Der schwere Kampf, den sie gegen sich selber kämpfte, nahm ihr noch die letzte frauliche Anmut. Das Bild, das sie malte, war das Gericht, das sie über sich selber hielt, es sollte ihr durch seine harte Mahnung helfen zu überwinden und ihr die verlorene Selbstachtung zurückgewinnen. Mit dem kategorischen Imperativ, welcher der Nerv ihres sittlichen Wesens war, wollte sie innere Dinge zurechtstellen, die nur mit einem Flügelschlag abgeworfen und tief unten gelassen werden können. Die Ärmste kannte kein Sicherneuern. Das »Stirb und Werde!« vereinfachte sich ihr ins »Stirb«. So starb sie nun täglich, stündlich, und malte ihr Sterben. Giulio aber, dem ihre tiefste Art immer unverständlich gewesen, sah in dem Bild einen gegen ihn gerichteten Vorwurf, und weil er sich bewußt war, ihn zu verdienen, nahm er ihn übel. Er machte abfällige Bemerkungen über die Arbeit, die auch das Urbild selber trafen. Corinna schwieg und malte fort, prüfend, vergleichend, ohne auf seine Einwände zu achten. Sie war es schon gewohnt, daß er in seinen schlimmen Stunden die Frau in ihr verletzte, und wunderte sich nicht weiter, daß er jetzt auch die Künstlerin angriff. Aber die Künstlerin war seinen Pfeilen unerreichbar: wie sein Talent sich verflacht hatte, war das ihrige tiefer und stärker geworden. Neuer Stachel, der ihn mit dem Gefühl der Unterlegenheit peinigte. Seine letzte Arbeit war von der Jury zurückgewiesen worden, und Roderich, der sie in der Werkstatt sah, hatte ihm unumwunden gesagt, daß sie nichts tauge. Giulio war wütend, obgleich er im stillen wußte, daß jener die Wahrheit sprach. Und bei der Unzufriedenheit, die in ihm wühlte, gönnte er sich den traurigen Genuß, wenigstens die arme Corinna, die an ihm verging, seine Macht fühlen zu lassen.

Diese legte endlich den Pinsel weg und sah ihm ruhig in die Augen. »Willst du mir nicht lieber geradeaus sagen, was dir fehlt, Giulio?«

»Du weißt ja, was mir fehlt«, antwortete er fast roh. »Aufträge fehlen mir und somit Geld. Der alte Geizhals von Solmar hat lange nichts für mich getan, und seit der edle Knabe Roderich zurück ist und gegen mich wühlt, spüre ich bei jeder Begegnung, daß ich nichts mehr gelte.«

»Du irrst dich, Giulio. Es ist nicht Roderichs Art, zu wühlen, und er hat es auch nicht nötig.«

»Warum gehst denn du nicht mehr nach Casteldimonte? Es würde mir nützen.«

»Weil ich nicht mehr unter die Menschen passe.«

»Das ist Unsinn, du bist immer die gleiche. Warum solltest du nicht zu deinen alten Freunden mehr passen?«

»Ich will dir den wahren Grund sagen: ich gehe nicht mehr hin, weil ich dir doch nicht nützen kann.«

Giulio runzelte die Stirn: »Warum nicht?«

»Herr von Solmar findet, daß du nach einem Schritt vorwärts immer zwei Schritte zurückgehst. Daß du den Ernst vermissen lässest und in Gefahr seiest, in eine öde Salonkunst zu verfallen.«

»Er hat seit langem nichts von mir gesehen, wie kommt er zu diesem Urteil?« rief Giulio beleidigt.

»Er hat die Büste Märchens gesehen, mit der dein Rückschritt anfing.«

»Das wagst du mir zu sagen?« brauste er auf.

»Wer soll es dir sagen, Giulio, wenn nicht ich?« fragte sie, eine Hand auf seine Schulter legend, die er zornig wegschleuderte.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und herein trat Frau von Solmar. Sie hatte mehrmals geklopft, war aber nicht gehört worden vor einem Lärm auf der Treppe, der auch die zornige Stimme Goffredis zudeckte. Dieser hatte eben noch Zeit, sich in eine verbindliche Haltung zu werfen: der Besuch eröffnete ihm eine neue Anknüpfung an das Solmarsche Haus. Die Besucherin umfaßte Corinna mit beiden Armen und küßte sie mit großer Innigkeit. Aber ihr Herz erbebte vor dem Ausdruck dieses Gesichts. – Todkrank oder zu Tod verwundet! dachte sie. Ihre Augen gingen von der Freundin zu deren Freund, aber unter Giulios glatter Oberfläche war nichts zu sehen als lächelnde Liebenswürdigkeit. Sie reichte ihm die Hand, die er ehrerbietig küßte. Und ehe sie sich's versah, hatte sie ihn aufgefordert, sich doch wieder auf Casteldimonte blicken zu lassen, obgleich sie damit weder Egon noch sich selber eine Freude machte; mit einer unbegreiflichen Geschicklichkeit hatte er ihr diese Einladung entlockt. Corinna im Arme haltend, betrachtete sie lange das Bild auf der Staffelei, und das Herz erstarrte in ihr. Zufällig fiel ihr Blick in den Spiegel und zeigte ihr den Jugendglanz ihres eigenen Gesichts neben dem strengen Matronenkopfe Corinnas, und sie bemerkte, daß auch Giulio diesen Vergleich anstellte. Sie entzog sich seinem Blick, um nicht durch das Nebeneinander die Unglückliche noch mehr zu benachteiligen. Diese verstand ihre Regung und legte groß und ruhig vor Giulios Augen ihre gefurchte Wange an die blühende der Freundin. Goffredi benützte den ersten Augenblick, sich geschmeidig zu empfehlen, nicht ohne einen raschen Blick zu Corinna hin, der sie ermahnte, das Wiedersehen zu seinen Gunsten zu nützen.

Aber Corinna sprach kein Wort und hob wieder zu malen an. Ihre Starrheit und Stummheit erschütterte die Besucherin, daß ihr der Ausruf entfuhr: »Dahin ist es gekommen?«

»Was willst du«, antwortete Corinna, »man kann nicht immer guter Dinge sein. Und dann die Jahre – du siehst es ja.«

Sie hatte ein seltsam gewolltes Lächeln, wobei die Mundwinkel tot blieben und nur die Oberlippe leicht hinaufgezogen wurde, daß das ganze Gesicht zur tragischen Maske erstarrte. Vanadis konnte nichts antworten als: »Ach Corinna!« – und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Die Armut des Raumes vermehrte den kummervollen Eindruck. Sie dachte an das Rosenhäuschen in der alten Heimat, wo sie die schöne, stolze Künstlerin zuerst gekannt und bewundert hatte. Ach, auch das Rosenhäuschen war nicht mehr Corinnas Eigen, nachdem sie Hypothek um Hypothek darauf genommen hatte, deren Zinsen sie nicht aufbringen konnte, weil der noch immer Geliebte in seiner unbekümmerten Selbstsucht alles verschlang. Ihr Erspartes hatte sie zuvor schon abgehoben, um ihm die Summe zu verschaffen, die er brauchte und nicht zurückgab. Er war in Rom in eine Gesellschaft junger Künstler geraten, denen weniger an einer echten Kunst als an leichtem Lebensgenusse lag und unter deren Einfluß auch seine Kunstgesinnung verkam. Die Wirkung davon zeigte sich in seinen Arbeiten, die ihm Egons schweigendes Mißfallen und Roderichs lauten Tadel eintrugen. Denn er war keineswegs müßig, sondern arbeitete mit großer Leichtigkeit – Dinge, die ihm aus augenblicklichen Verlegenheiten halfen, ihm aber den Weg zu einem tieferen Erfolg versperrten. Hier war die Quelle seines Unmuts und seiner Zerspaltenheit und hier auch der erste Anlaß, der strengen Mahnerin, die er sich aufgeladen hatte, gram zu werden.

»Geh jetzt, Liebste, du betrübst dich ohne Not«, sagte Corinna, als sie die Tränen der Freundin sah. »Es ist ja wahr, ich fühle mich nicht ganz auf der Höhe. Weißt du, ich hatte voriges Jahr das Römische Fieber, das wirkt lange nach. – Aber es wird alles wieder recht werden«, fügte sie hinzu, die Besucherin nach der Tür führend.

So entlassen, konnte diese nichts mehr tun als fragen:

»Wirst du mich droben besuchen?« – worauf Corinna schwieg. – »Darf ich wiederkommen?« fragte sie dann zaghaft. – »Immer, Geliebte, immer«, war die Antwort.

Vanadis eilte die Treppe hinab. Oben stand Corinna unbeweglich an der gleichen Stelle, und dachte nichts als: Abgrund! Ende! –

 

Matteo, der die Herrin gebracht hatte, war unterdessen mit den Pferden weitergefahren, um die ihm aufgetragenen Besorgungen zu machen, und sie setzte ihren Weg zu Fuß fort. Dieser Matteo hing an seiner Herrin ebenso inbrünstig wie Carlo an seinem Herrn. Für die Rückfahrt erwartete er sie stets an Orten, wo sie so wenig wie möglich auffiel, und etwaige Ungeschicklichkeiten, die sie beging, Verspätungen oder dergleichen, bemäntelte er von sich aus mit der größten Gewandtheit. Was er wußte, was er sich dachte, war nicht zu erraten. Er hatte von Carlo das undurchdringliche Gesicht des herrschaftlichen Dieners angenommen. Undenkbar, daß dieser ihm irgendeine verfängliche Angabe entreißen konnte. Auf eine gelegentliche harmlos gestellte Frage antwortete er ebenso undurchdringlich harmlos. Die Frau Baronin war in der Galerie gewesen und hatte mit ihm Besorgungen gemacht. Weiter gab es nichts. Er war ja auch Florentiner und hielt dem anderen Florentiner die Waage. So lohnte er der Herrin seine Rettung ins bürgerliche Leben.

Es gab mehrere Wege, auf denen Vanadis die Wohnung Roderichs erreichen konnte, und sie wechselte damit, um nicht zu oft an der gleichen Stelle gesehen zu werden. Meist stieg sie vor den Uffizien aus, hielt sich aber dort nicht lange auf, sondern durcheilte im Flug den langen Verbindungsgang nach dem Pitti, wo sie gleich die Treppe wieder hinabstieg, um den Weg nach der Via de' Bardi einzuschlagen. Es gab noch einen zweiten Zugang vom Lungarno her. Aber wenn sie von Corinna kam, stieg sie am liebsten ein Stück der steilen Costa Giogio hinauf, deren armer Bevölkerung ihre Persönlichkeit unbekannt war, und durch eine steile Quergasse herunter, die gerade auf Roderichs Haustür mündete. Diese stand immer offen. Der von Roderich bewohnte erste Stock war fast ganz von einem Riesenmalraum eingenommen, dessen durchbrochenen Wänden man ansah, daß er ehemals Familienwohnung gewesen. Durch die großen Nordfenster sah man den Arno unter sich und jenseits die halbe Stadt mit einem Teil ihres Hügelkranzes. Die Südfenster, die der Küche und dem Schlafraum gehörten, blickten auf die Straße hinab, an ihnen stand Roderich, schon immer auf ihr Kommen wartend. Und wenn sie kam, war hier die weltverlorenste Insel. Hier quälte sie ihr Gewissen nicht, hier, wo die Umgebung sie nicht kannte, war sie auch vor sich selbst eine andere, nicht die Gattin Egons, sondern eine Fremde, die harmlos die Malerwerkstatt erstieg. Ganz abgelöst fühlte sie sich von ihrem anderen Ich, das sie auf Casteldimonte zurückließ. Und sie erfuhr an sich die Wahrheit eines Ausspruchs, den sie selbst einmal gegen die Großmutter getan und womit sie der eigenen Erfahrung vorausgeeilt war: daß man, um lieben zu können, an dem Geliebten alles lieben müsse, auch das Häßliche. Sie liebte nicht nur seine kühnen strahlenden Augen, sie liebte auch diese Züge, die so gar nicht nach dem Gesetz des Schönen gebildet waren, und die schweren, fast proletarischen Hände, die so Edles schufen. Sie liebte den derben, aber gelenken Körper, der geübt war, Masten zu erklettern, und sogar den schwankenden Seemannsgang, bei dem sie an rollende Planken auf bewegter See dachte.

Zuweilen brachte sie ein Buch und las ihm, während er malte, aus einem ihrer Lieblingsdichter vor, dessen dunkle Schönheit er vielleicht nicht ganz verstand, aber staunend ahnte. Denn seit sie sich liebten, besaß jedes die Fähigkeiten des andern mit. Immer wieder ergriff sie die Wahrnehmung, welch tiefe Wurzeln das stille erzieherische Wirken Heinrich Folkwangs in dem unbändigen Knabenherzen geschlagen hatte und wie unausrottbar, wenn auch ohne Fortentwicklung, die Bildungsgrundlagen ihres Hauses in ihm hafteten. Nur eines gelang ihr nie: ihn zu einer Einsicht in das Wesen seines Vaters zu bringen.

»Ich kann es ihm nie vergeben, daß er mich verpfuscht hat. Durch Zwang verleidete er mir alles Schöne, das ihr andern liebtet und das auch ich meiner Natur nach geliebt hätte ohne den abscheulichen Zwang. Einen Menschen modeln wollen, den man nicht kennt und den man sich nicht einmal die Mühe gibt zu kennen! Daß er mich zu euch brachte, ist die einzige Wohltat, für die ich ihm verpflichtet bin. Deinem Vater verdanke ich, was an mir Gutes geblieben ist – und dir!«

Nicht einmal Egons hohe Lebenskunst und die geistige Weite, die er um sich schuf, wollte er gelten lassen:

»Nein, glaub mir, er ist ganz und gar unfruchtbar. Ohne dich wäre er nichts als ein alter Sammler und Sonderling, eine lebendige Mumie. Es ist das Schöpferische in dir, das rings um dich Leben erzeugt.«

»Du wirst nie lernen, gerecht von ihm zu denken«, antwortete sie traurig.

Da legte er den Pinsel weg und sagte vorwurfsvoll: »Du liebst ihn mehr als mich.«

»Ja, ich liebe ihn, Roderich«, antwortete sie. »Nicht mehr als dich, aber auch nicht weniger, nur anders. Niemand kennt seine Großmut, wie ich sie kenne. Wenn ich dächte, daß er durch mich unglücklich würde, ich könnte mich nie darüber trösten. Oft ist es, als ob er etwas ahnte. Aber er schweigt. Er fragt mich nicht, wohin ich gehe noch woher ich komme. Aber er ist nicht mehr der alte, sein Leben neigt sich – und vielleicht durch meine Schuld.«

»Ein Greisenleben kann nicht ewig währen«, antwortete er trocken. Sie zuckte zusammen. »Das war ein häßliches Wort«, sagte sie sehr ernst.

Als er sah, daß er sie abgestoßen hatte, faßte ihn die Reue. Er umschlang am Boden kniend ihre Knie und bat um Verzeihung, und da sie ernst und traurig blieb, nahm er ihren Fuß und stellte ihn auf seinen Kopf: »Zertritt den häßlichen Kürbis, daß er dich nie wieder erzürnen kann.« Da mußte sie wieder lächeln und sagte: »Ich bin zu schwach. Ich kann den großen bösen Jungen nicht mehr erziehen, wie es meine Mutterpflicht wäre.« Er sprang auf und erstickte das Wort »Mutter«, das er nicht hören wollte, mit Küssen.

Im zweiten Stockwerk hauste ein altes Schwesternpaar, wovon die eine immer bettlägerig war, die andere, noch rüstigere aber sich Roderich gleich beim Einzug zur Bedienung angeboten hatte, weil sie noch alle Mieter des ersten Stocks betreut hatte. Er war darauf eingegangen, aber nur für die ersten Frühstunden, und auch einen Schlüssel gab er ihr nicht, um die Neugier fernzuhalten. Er konnte aber nicht hindern, daß sie bald vertrauter wurde und, durch den Namen Solmar aufmerksam gemacht, sich an einen kleinen Knaben erinnerte, den vor langer Zeit – wohl einem Vierteljahrhundert und mehr – ein vornehmer Herr dieses Namens bei der damaligen Mieterin hatte aufziehen lassen. Ihr wenig belastetes Gedächtnis brauchte nicht viele Anhaltspunkte, um in dem jungen Mann, den sie jetzt bediente, diesen Knaben zu vermuten. Als dieser ihren Hindeutungen willig entgegenkam, ohne ihr geradezu zu sagen, daß er der Gemeinte sei, brachte sie seiner Nachforschung noch weiteren Stoff zu, nämlich daß eine wunderbar schöne Königsgeliebte für seine Mutter gegolten habe, wobei der Knabe plötzlich in dem Nimbus eines außerehelichen Königssohnes dastand und der vornehme Herr nur als Beauftragter des Königs. Da Roderich auf das Königsmärchen nicht anbiß, brachte die Erzählerin noch einen anderen Umstand zum Vorschein, nämlich eine arme fremde Frau, die öfters das Wägelchen des Knaben umschlichen haben sollte, wenn er ausgeführt wurde, und die sich mehrfach gegen die Amme geäußert, sie sei die wirkliche, eheliche Mutter und habe ihre Rechte an das Kind um Geld abgetreten. Bis dann eines Tages ein vornehmer Diener gekommen sei, den Kleinen mit sich zu nehmen. Danach hatte man im Hause nie mehr von dem Kind vernommen, nur daß seine erste Betreuerin noch längere Zeit eine Unterstützung von dem Baron bezog, damit sie reinen Mund halte. Über die Fremde aber, die sich für die wirkliche Mutter des Knaben ausgab, war gar nichts weiter bekannt, als daß sie die Witwe eines deutschen Malers gewesen. Die Erzählerin schien diese Person für eine Geisteskranke zu halten, die herumschlich, um fremde Kinder zu stehlen. Ihre Angabe, daß sie das Kind um hohen Preis verkauft habe, war ja schon durch ihre Armut widerlegt. Roderich aber nahm die Sache ganz anders auf. Er begann dieser Persönlichkeit nachzuspüren, die ihn von dem Alpdruck befreien konnte, der Sohn eines Mannes zu sein, dessen Gattin er liebte.

Als Vanadis nochmals die Treppe Corinnas erstieg, wagte sie nicht einzutreten, sie blieb an der Tür und horchte. Corinna spielte ihre Violine. Seit langer Zeit hatte sie die nicht gehört. Aber anders klang sie jetzt als seinerzeit im Rosenhäuschen. Es war eine letzte, einsamste Verzweiflung, die keinen Trost will und vor dem Mitgefühl flieht. Vanadis stand lange, lange, auf eine Pause wartend, es kam keine. Plötzlich tauchte aus den wilden Tonwogen ein zärtlich süßes Motiv herauf, das die musikalische Phantasie eingeleitet haben mochte, der erste und einzige Glückstraum dieses gequälten Lebens. Nur einen Augenblick glänzte er auf; gleich verschlang ihn Pfeifen und Wüten des Sturms unter schrillen Dissonanzen. Endlich riß die Wartende sich los. Noch die zwei steilen Treppen hinunter folgte ihr das herzzerreißende Selbstgespräch, das sie nicht zu stören wagte. Sie war gekommen, die Unglückliche, die niemand hatte als sie, noch einmal anzurufen, sie zu ihrem früheren Selbst zurückzurufen. Aber seit sie diese Töne vernommen hatte und sich dazu das bald von schütternden Gewalten zerrüttete, bald im Schmerz versteinerte Gesicht dachte, war ihr die Hoffnungslosigkeit ihres Zustandes klar. Wenn es noch eine Erlösung gab, so konnte sie nicht aus Menschenmund kommen, einzig vielleicht aus ihrer Tonwelt, der die erschütterte Freundin sie still überließ.

 

Ein Unwetter, wie es um diese Jahreszeit unter dem milden toskanischen Himmel eine Seltenheit ist, war mit Regen- und Hagelsturm gekommen und hatte die Liebenden eine Reihe von Tagen auseinandergehalten. In schmutzigem Gelb, hochgeschwollen, wogte der Arno daher und warf sich wild an seinen Ufermauern hinauf. Bei San Frediano war er ausgetreten, und auch sonst standen da und dort die Keller voll Wasser. Roderich hörte Tag und Nacht den Ansturm der Wogen auf die beiden nahen Brücken, ihm ein bekanntes Sturmlied, es störte ihn nicht, so wenig wie das Wasser, das vom Himmel schoß. Im Ölmantel, den er von seinen Matrosentagen her noch besaß, kämpfte er sich durch Wind und Nässe hinaus ins Freie, arnoaufwärts, wo der Sturm die Pappeln niederbog, und sang seine wilde Jugendkraft in die entfesselte Kraft des Elements. Oder er rannte mitten durch die Sintflut in einem Zug den langen Höhenweg hinauf, ohne einer Menschenseele zu begegnen, und stand droben an die nasse Mauer von Casteldimonte angeklebt, um durch das Schlüsselloch in den leeren Park zu spähen, denn seinen Eintritt hätte er ja bei diesem Wetter nicht zu erklären vermocht. Einmal sah er auf dem Heimweg, als er nach der Via de' Bardi einbog, bei der Piazza S. Maria Sopr' Arno eine große schwarze Frauengestalt im Lodenmantel, die Regenkapuze in die Stirn gezogen, an der Kaimauer stehen, das Gesicht den wilden Stromwirbeln zugekehrt, die an dieser Stelle ein prachtvolles Schauspiel boten. Nach Haltung und Silhouette schien es Corinna zu sein. Und welche andere Frau suchte sich ein solches Wetter aus, um ihr Künstlerauge am Aufruhr der Natur zu weiden und den tollen Wettlauf der Wogen zu beobachten, die sich da und dort aufbäumten und sich eine auf die andere stürzten? Es überkam ihn, sie anzureden, da wandte sie sich eben und schlug den Weg nach ihrer Wohnung ein. Des andern Tages war der Fluß gesunken, der Regen hatte aufgehört, und die Sonne schien über der aus Wassern wiedergeborenen Stadt. Sie schien noch durch einen feuchten Schleier und verbreitete in der Malerwerkstatt jenes milde Licht mit den weichen Schatten, das dem Künstler lieb ist. Er holte das Bild der Geliebten hervor und freute sich, daß es standhielt, war aber zugleich begierig, es noch besser zu machen. Da erschien als letzte Wunscherfüllung Vanadis! Sie mußte gleich dem Geschäftigen gegenüber auf dem hochlehnigen Sessel mit den Armstützen, der immer für sie bereitgestellt war, Platz nehmen, und er begann zu malen. In der glücklichen Beleuchtung sah er wieder so viel Neues an ihrem Kopf, daß er im Glück seines Könnens zu phantasieren anfing und ihr von der Galerie des zwanzigsten Jahrhunderts erzählte, wo dieses Bild, an dem er malen wollte, solange er lebte, als eine zweite Mona Lisa hängen würde. Da entdeckte er, daß sie sich entfärbt hatte. Er hörte zu malen auf und sah sie fragend an: »Jetzt schon müde? Was fehlt meinem Lieb?«

»Ich habe schlecht geschlafen und ängstlich geträumt«, erklärte sie, »es muß von dem langen Zimmersitzen gekommen sein. Beim Erwachen war mir so schwer, als ob ein Unglück in nächster Nähe wäre. Das trieb mich so früh zu dir herunter. Ich schützte einen Besuch bei der Schneiderin vor und schickte vor ihrer Tür den Wagen zurück – Matteo brauchte nicht alles zu wissen –, dann nahm ich eine Droschke und fuhr hierher. Auf der ganzen Fahrt war mir sterbensbang, und als ich deine Treppe heraufstieg, zog sich mein Herz zusammen vor Angst, was ich hier finden würde. Erst als ich dich so ruhig malen sah, wurde ich selber wieder ruhig. Aber die schlechte Nacht macht sich noch ein wenig spürbar.«

»Mache ein paar Schritte durchs Zimmer, nimm tiefe Atemzüge«, riet er, »das ruht dich aus. Und verzeih, wenn ich an der Arbeit bleibe. Ich will, was mir aufgegangen ist, schnell auf die Leinwand bringen, solange ich die Augen noch voll von dir habe.«

Sie trat ans Fenster. Über die schmale Blumenterrasse hinweg, die ein paar Stufen tiefer lag als die Werkstatt, fiel ihr Auge auf den Fluß.

»Oh, sieh die vielen Menschen am Lungarno!« rief sie. »Was gibt es nur? Sie hängen alle mit halbem Leib über der Brüstung. Und mitten im Fluß ein einzelner Kahn, der festliegt. Darin ein Carabiniere, groß und unbeweglich. Und andere Kähne, die um den einen herstreichen wie aus Neugier – es kommen immer neue herzu, der Arno wimmelt davon. Jetzt legt einer an, ein Herr, der amtlich aussieht, steigt hinüber. Und unten im Kahn liegt etwas Schwarzes, Verhülltes. O sieh doch, Roderich, was ist es nur?«

»Eine Wasserleiche«, antwortete er ruhig weitermalend.

»Allmächtiger! – Das sagst du so hin?«

»Ich habe viele gesehen, Liebste.«

»O Roderich, mir wird so bang. Das ist das Schwere, das ich kommen fühlte. Eine gräßliche Angst erfaßt mich.«

Er legte endlich den Pinsel weg und nahm sie tröstend in die Arme: »So ist das Leben. Das Unglück hat überall freie Fahrt. Du mußt nicht länger hinschauen. Ich sah es schon lange.«

Er wollte sie wegführen, sie schob ihn zurück.

»Roderich, bei unserer Liebe! Ich bitte dich, ich flehe dich an. Jetzt rudern sie ans Licht. Geh hinunter, geh auf die Brücke, sieh, wen sie da heraustragen.«

»Aber, Geliebte, ich soll gehen und dich hier oben mit deinen erregten Nerven allein lassen? Was geht denn dieser fremde Mensch uns an?«

»Geh, geh, geh!«

Mit einer ärgerlichen Bewegung griff er nach der Mütze und sprang die Treppe hinab. Minuten vergingen. Sie sah, wie er sich unten durch die Menge drängte. Jetzt war er auf der Brücke alle Grazie. Das Boot hatte schon angelegt, er sprang auf die Landungstreppe. Das Verhüllte wurde heraufgehoben, er folgte der herbeigeholten Bahre. Nach längerem Warten, während dessen Vanadis der ihr selber unbegreiflichen Angst beinahe erlag, kam er zurück, sehr bleich und sehr still. Er fand sie auf dem Diwan ausgestreckt, den Kopf in die Kissen gewühlt, wie um einem schrecklichen Anblick zu entgehen, und ließ sich daneben nieder, indem er beide Arme ganz fest um sie legte: »Sei stark, du Geliebtes, es ist Corinna!«

 

Seitlich von San Miniato und höher als Kirche und Kirchhof steht das von Michelangelo erbaute Bollwerk, dessen Brustwehr zu jener Zeit einen wildgewachsenen Garten umschloß; wie ein steinernes Schiff schwimmt es über der Arnostadt im Äther. Der Garten war zum Friedhof für Fremdgläubige und Konfessionslose bestimmt oder für solche, die ihre Konfession ausstieß, und enthielt erst wenige Gräber längs der Mauernischen. Ganz vorn an der Spitze des steinernen Schiffes schlief Corinna unter Sonne und Sternen. Egon hätte ihr gerne einen Platz auf dem geweihten Grund von San Miniato unter Monumenten und Kapellen erwirkt. Aber es ließ sich nicht verhehlen, daß ihr Ende ein freiwilliges gewesen, denn die Sandschipper des Arno hatten sie gesehen und ihr noch zugerufen, wie sie am Morgen von der überfluteten Landungsstufe aufrecht wie eine Statue geradewegs hineinschritt in den Fluß. Und Vanadis freute sich für die Freundin, daß sie hier an der schönsten Stelle, die weihevoller als die geweihte war, so still und einsam lag, wie sie es im Leben gewesen. Fern von der geselligen Öde und dem zudringlichen Pomp auf dem berühmten Friedhof da unten, wo man die lautlose Geschwätzigkeit der Ansiedler unter dem schweren Marmorpflaster hervor zu vernehmen meint. Sie pflanzte eine Zypresse zu Häupten, steil und stolz wie der leibliche und seelische Wuchs der seltsamen Frau, und zu Füßen einen Rosenbusch als Symbol ihres Künstlertums. Bei der Heimkehr vom Begräbnis hatte sie auf dem Schreibtisch einen Brief mit Corinnas Schriftzügen gefunden; zum zweitenmal widerfuhr ihr dies: daß ihr die Post ein Schreiben brachte von einer Hand, die schon im Grabe lag. Sie las unter Tränen:

»Du liebe Einzige, verzeih mir den Schmerz und das Ungemach, das ich Dir bereiten muß. Es ging nicht mehr. Klage Du niemand an. Ich sterbe an mir selbst, an dieser starren nordischen Natur, die sich nicht wandeln, nicht erneuern kann. Wie oft habe ich Dich um Dein beweglicheres, südlicheres Wesen beneidet. Du biegst Dich den Schicksalswinden und stehst wieder auf, ein schlanker Baum. Ich alter verknorrter Stamm kann nur stürzen. – Verzeih auch ihm, er weiß nicht, was er tut, er ist ein haltloses Kind der Stunde. Vielleicht wird ihn dies bessern. Steh ihm bei, wenn Du kannst, er wird Beistand brauchen.

Sieh, Deine starke Corinna war eine Sklavin ihr Leben lang: erst Sklavin der Pflicht und der Verhältnisse und dann Sklavin des Gefühls. Ich hatte geglaubt, daß der Wille das Leben meistere, aber der Wille vermag nichts über das Herz. Es war so süß, unter diesem milden Himmel einmal die Bande der Bewußtheit zu lockern und mit geschlossenen Augen ins Bewußtlose zu tauchen, aber es führt in den Untergang. Nur zu einem habe ich die Freiheit, und daß ich sie haben und furchtlos brauchen kann, das ist mein letzter Stolz. So denke Du an Deine Corinna als an eine Befreite.«

Wer nicht sich fassen konnte, war Giulio; der Widerspruch alles Menschenwesens trat nun auch an diesem Selbstling hervor, in dem plötzlich das Gewissen erwachte. Er nannte sich Corinnas Mörder und konnte nirgends Ruhe finden. Seine Werkstatt wagte er nicht mehr zu betreten, dort mußte während der Gewittertage eine letzte schwere Auseinandersetzung mit der unglücklichen Frau stattgefunden haben, denn zuweilen bildete er sich ein, sie erwarte ihn dort. Roderich nahm sich seiner an und durchrannte halbe Tage mit ihm die Gegend, um durch Ermüdung seine innere Not zu beschwichtigen. Er suchte aus einfältigem Gemüt die Hilfe zu vergelten, die jener ihm seinerzeit aus sehr gemischten Beweggründen geleistet hatte. Da es nicht besser mit ihm wurde, überredete er ihn, nach Rom zurückzukehren und sich am Anblick des Größeren zu erholen. Er gab ihm die Mittel und übernahm dafür von ihm die Werkstatt bei Santo Spirito, wo er wieder etwas Plastisches aufzubauen dachte. Denn sein Trieb wuchs noch immer unter dem Stachel der verlorenen Jahre und wuchs nach allen Seiten; er meinte jetzt alles gleichzeitig meistern zu müssen, Malerei, Bildhauerei, Radierkunst. Sogar das Liebesfieber trat zeitweilig zurück vor dem Fieber der Arbeit. Die Liebende war dessen froh, sie sah voraus in die Zeit, da er ferne von ihr aus eigenem Reichtum würde zehren müssen, und sie wünschte bis dahin seine Schatzkammer so hoch gefüllt wie möglich. Als er zum erstenmal die Werkstatt bei Santo Spirito betrat, hatte der Zufall ein seltsames Spiel getrieben. Die weibliche Figur auf dem Drehstuhl, Giulios letzter Entwurf, war eingetrocknet, aber die vor kurzem erst geschnittenen, noch saftreichen Pappeläste, die das Gerüst bildeten, hatten den vollen Frühlingstrieb in sich und waren ausgeschlagen, aus den zerbröckelnden Armen drangen junge, laubgrüne Blätter hervor. Roderich nahm die Spritze und übersprühte den verlechzten Ton mit Wasser, daß der triefende quoll und zu leben begann, das Laub der Arme funkelte betaut an der Sonne. Es sah so hübsch und eigen aus, daß Roderich den Anblick mit Farbstift auf ein Papier warf und es Giulio schickte zum Zeichen, daß kein feindseliger Geist in seinen Räumen walte. Dieser empfing es schnell getröstet und schrieb zurück, er nehme das grüne Wunder als einen versöhnten Gruß der geschiedenen Freundin und sei so entzückt von der Bildwirkung, daß er sie zur Anregung für eine Daphne genommen habe. Unterdessen hatte Roderich den gleichen Gedanken gehabt und hatte ein großes Tonrelief entworfen: die Nymphe nach rückwärts gedrängt, mit schreckhaft erhobenen Händen, woran soeben die Verwandlung in das Pflanzenleben begann, und zu ihr auf Knien hingewühlt Apoll, der verzweifelnd ihre Knie umfaßt, die schon zum Baumstamm zusammenwachsen. Getäuschte Sehnsucht und brennende Angst, die Verzauberung nicht aufhalten zu können, verklammerten seine Hände um den begehrten Gegenstand. Vanadis war entzückt, alle Freunde des Hauses kamen, um das Relief zu sehen, und Egon selbst erschien in Begleitung eines berühmten Bildhauers, der Roderichs Malerei kannte und von seinem Talent eine hohe Meinung hatte. Dieser betrachtete den Entwurf mit günstigen Augen, er fand das Wollen groß, aber noch ohne die genügenden Mittel zur Ausführung, und empfahl dem jungen Mann strenge und andauernde Aktstudien als Vorübung für jeden neuen bildhauerischen Versuch. Roderich nahm ein schönes männliches Modell und suchte, was er nur aus einem inneren Gesicht so hingeworfen hatte, nach der Natur zu verbessern. Aber indem er nun verschobene oder unproportionierte Gliedmaßen zurechtrückte, verlor das Bildwerk die Frische und das unmittelbar Zwingende, das alle in Bann geschlagen hatte, der junge Künstler sah ein, daß der alte recht hatte, als er ihm sagte, daß er der Aufgabe nicht gewachsen sei, er zerschlug den Entwurf, der so große Hoffnungen erregt hatte, und warf sich mit einer wahren Wut auf Akte. Eines Tages klopfte da ein ungewöhnlich gut gewachsenes weibliches Modell an seine Tür und fragte, ob er sie beschäftigen könne. Er ließ sie sich ausziehen und sah, daß er in der Tat keinen schöneren Körper für seine Nymphe finden konnte, wenn er sie noch einmal vornehmen wollte. Er wußte nicht, daß er eine stadtkundige Dirne vor sich hatte, aber ihre Art und Weise war ihm verdächtig. Auf Umwegen fragte er aus ihr heraus, daß Carlo sie geschickt hatte. Da überkam ihn ein großer Unwille, er gab ihr ein Geldstück und setzte sie unverzüglich vor die Tür.

 

Carlo stand mit einer väterlichen Botschaft vor Roderich. Er hatte dieses saure Amt freiwillig übernommen, um seinem Herrn die Erregung einer persönlichen Aussprache zu ersparen. Es sei dem Herrn Baron zu Ohren gekommen, so begann er, daß der junge gnädige Herr sich neuerdings Gedanken über seine Herkunft mache, die ihm das väterliche Wohlwollen gerne erspart hätte, und daß er begonnen habe, bei fremden Menschen sich nach Dingen zu erkundigen, die zum Besten aller unangerührt bleiben müßten.

»Ich bitte den jungen gnädigen Herrn im Namen des Herrn Barons, diese Nachforschungen aufzugeben«, sagte er. »Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß die Zweifel, ob nicht Ihre Abstammung eine andere sei, als meinem gnädigen Herrn gesagt wurde, auch mich eine Zeitlang bewegt haben und daß ich die Wege, auf denen Sie nach der Wahrheit suchen, schon selber gegangen bin zu einer Zeit, wo sie noch eher Aussicht hatten, ans Ziel zu führen. Aber es waren Irrwege. Die Frau, die Sie aller Wahrscheinlichkeit nach geboren hat, ist tot. Jene andere, die Ihnen in der Kindheit nachgestellt hat und sich für Ihre wirkliche Mutter erklärte, war in Wahrheit eine Geisteskranke, die die gleiche Unterstellung auch anderen Kindern gegenüber gemacht und die schon vor langer Zeit im Irrenhaus geendet hat. Wenn die Frau, von der ich zuerst sprach, wie ich jetzt annehme, Ihre Mutter war, so bleibt bei einer Lebensführung, die Ihnen bekannt geworden ist, die Frage nach der Vaterschaft offen. Aber daß der Herr Baron Sie aufgenommen hat, beweist doch, daß die Möglichkeit dieser Vaterschaft besteht. Bedenken Sie, daß es eine letzte unbedingte Gewißheit auf diesem Punkte nie und nirgends gibt und daß es immer auf den Glauben ankommt. Nehmen Sie also, was Ihnen Gutes geboten ist, ohne Bedenken hin. Der Herr Baron ist tief durchdrungen von den Ansprüchen, die Sie an Ihre Zukunft zu stellen haben, und er bietet Ihnen durch mich die Erfüllung jedes Wunsches an, den Sie bezüglich Ihrer ferneren Ausbildung hegen können. Nur würde er es gerne sehen, wenn Sie Ihren Wohnsitz anderswohin verlegten. Jetzt sind Sie schlechtweg Sohn aus erster Ehe, niemand ist hier, der nach Daten forscht und vergleicht. Aber ihn peinigt der Gedanke, daß bei Ihrem längeren Hiersein und vor allem bei den Schritten, die Sie unternommen haben und die sich leicht herumsprechen können, in der Umgebung, die nichts ahnt, die Frage nach Ihrer Herkunft auftauchen und zum Gesprächsgegenstand werden könnte. Der Herr ist gegen Nachrede empfindlich und wird es mit den Jahren immer mehr. Hören Sie auf den Rat eines treuen Dieners, dessen Zuverlässigkeit Sie schon in Ihrer frühesten Kindheit kennengelernt haben. Geben Sie dem Wunsch eines so gütigen Vaters nach. Er besteht nicht auf Paris, wenn Sie nicht wollen. Auch für Rom oder Neapel wird er Ihnen einen Wechsel zur Verfügung stellen, der Sie instand setzt, mit Ehren als Sohn eines solchen Hauses aufzutreten.«

Roderich antwortete gepreßt: »Sagen Sie dem Herrn Baron, daß ich ihm danke. Ich hoffe, er wird es verstehen, daß mich die Ungewißheit meiner Herkunft umtreibt; seinen Ursprung zu kennen, ist eines jeden Menschen Recht und innerstes Bedürfnis. Da nun aber alle Bemühungen ins Leere gegangen sind, muß ich freilich die Verhältnisse nehmen, wie sie liegen. Ich werde dem Wunsch des Herrn Barons gehorchen und nach Neapel gehen, wohin es mich am meisten zieht. Aber ich bitte den Herrn Baron, mir noch so lange den Aufenthalt hier zu gestatten, bis ich zwei meiner angefangenen Bilder, die wichtigsten, mitnehmen kann. Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern. Unterdessen werde ich mich ganz still an meine Arbeit und meine Studien halten, daß niemand Anlaß hat, sich mit mir zu beschäftigen, und werde nur zum Abschiednehmen noch einmal schnell auf Casteldimonte auftauchen.«

Mit diesem Bescheid mußte Carlo zufrieden sein, er hatte etwas erreicht, aber nur etwas Halbes. Wie lange war es nun schon, daß der junge Herr die Vollendung der Bilder vorschob, er, der von früh bis spät über der Arbeit saß! Waren es überhaupt noch die gleichen Bilder, die er vollenden wollte, oder fing er immer wieder neue an? Es waren die gleichen, mit denen er niemals fertig wurde, an denen er zeit seines Lebens zu malen dachte wie Lionardo an der Gioconda.

 

Die Leuchtkäfer waren versprüht, der Rausch der Glyzinien und Rosen war mit der ersten Blütenfülle vorüber, statt ihrer brachen die Magnolien und Granatblüten auf, und der Duft der Orangengärten überschwemmte die ganze Stadt. Doch war die Hitze noch erträglich, da sie häufige Gewitter kühlten. So konnte Vanadis den Umzug auf die Giojosa hinausschieben wie Roderich seine Abreise. Ihr dienten die Gäste zum Vorwand, die doch vor allem gekommen waren, um die Stadt zu sehen. Zwar hatte James Folkwang zu Carlos Erleichterung seinen Besuch verschoben und dann ganz abgeschrieben, weil sein Teilhaber, Herr von Wehl, nach Amerika gemußt hatte und Enzio nicht ganz allein fertig werden konnte. Aber dadurch war nun Märchen frei geworden, und husch, erschien sie wieder mit Bertie und der Governess in Florenz. Sie mußte diesmal eine eigene Wohnung am Viale beziehen, denn das Schloß nahm keine Gäste mehr auf, und im Nebenhaus war Bruno eingezogen, um seinen Urlaub da zu verbringen. Groß und aufrichtig war die Freude des guten Jungen beim Wiedersehen mit dem verloren geglaubten Roderich; er war nicht wie Enzio in eine völlig neue Haut geschlüpft, sondern hing mit Andacht an den Erinnerungen des Elternhauses. Er war mit einer Generalstochter verlobt, die er samt ihren Eltern gleichfalls nach Florenz gezogen hatte. Sie bewohnten ein Hotel am Lungarno, brachten aber die Abende meist auf Casteldimonte zu. Jedoch in gedämpfter Fröhlichkeit, die Egon nicht beschwerte. Dieser unterhielt sich gern mit dem alten General, der ziemlich belesen und innerhalb der Schranken seines Standes ein feiner Kopf war. Märchen nahm selten teil, sie langweilte sich bei solcher Geselligkeit. Eine große Enttäuschung hatte sie in Florenz erwartet, die Abwesenheit Giulios, mit dem sie sich verabredet hatte und von dem sie dann ganz ohne Nachricht geblieben war. Als sie von Corinnas Tod erfuhr, ahnte sie den Zusammenhang, aber sie fand ihn geschmacklos, und ihr Groll wurde noch größer. Wenn die Narren ihr Leben wegwerfen, sollen sich die Klugen dadurch ihr eigenes verderben lassen? Sie faßte Giulios schweigendes Verschwinden als eine Art Fehdehandschuh auf wie dereinst den Tod Gunthers.

»Also hier unten hat die feierliche Corinna geendigt?« sagte sie einmal gehässig, als sie mit Vanadis über eine Arnobrücke ging. Diese schwieg und streichelte Berties Haupt, dem zuliebe sie seine Mutter mit Mühe noch ertrug. Immer wieder quoll es in ihr hoch: Um dieses Wesen mußte Gunther sterben! Das war seine Göttin! War sein Schicksal! Dieses tödliche Nichts! Was sie heimlich an Corinna gesündigt haben mochte, um ihr den Liebesbesitz zu entreißen, das wurde aus Giulios Verhalten erkennbar. Dafür fand sie jetzt an der Toten die gefährlichere Rivalin. Grund genug, sich auch an Giulio zu rächen: »Ich habe nie begriffen, warum deine Corinna so blind für ihn war. Wir haben ihn immer recht unbedeutend gefunden, den kleinen Gipsfigurenhändler.« – Das geflissentliche Überhören, das sie zur Antwort erhielt, vermehrte noch ihre Erbitterung.

Unterdessen hatte sich Roderich, von Carlo gepreßt, der ihm bald da, bald dort zu begegnen wußte und ihn immerfort ehrerbietig bedrängte, eine Frist entreißen lassen, innerhalb deren er aufzubrechen versprach. Seit das festgesetzt war, duldete es ihn nicht mehr bei der Arbeit, er strich nur noch umher, um irgendwo Vanadis zu sehen, die er bald nicht mehr sehen sollte und die ebenso ihm zu begegnen suchte wie er ihr. Sie hatten ihre Zusammenkünfte jetzt in das ebenerdige Gelaß bei Santo Spirito verlegt, wo sie vor Späherblicken geschützter waren. Dort klammerten sie sich nur noch stumm aneinander, und wenn sie sich nach kurzem Zusammensein losreißen mußten, so war es ein vorweggenommenes Sterben.

 

Arnoaufwärts fuhr ein Boot mit mehrköpfiger Gesellschaft beladen, die Bruno zu einem heiteren Abendfest zusammengebracht hatte: seine Braut mit ihren Eltern, Märchen mit Bertie und der Governess, seine Schwester mit Roderich. Außerdem war noch ein liebenswürdiger junger Mann dabei, der Aussprache nach Franzose, der neuerdings viel an Märchens Seite gesehen wurde und dessen Namen bei der Vorstellung niemand verstand. Er redete wenig, lächelte viel und klimperte leise auf einer Gitarre. Die Generalstochter hatte eine Mandoline auf dem Schoß, der sie vergebens so etwas wie einen Wohllaut zu entlocken suchte. Die Fahrt ließ sich gut an, der Arno führte noch genügend Wasser. Es gab nur einen kleinen Zwischenfall, als Berties Schiffchen, kaum daß er es auf das Wasser gesetzt hatte, von der Strömung entrissen wurde, daß Roderich es mit der Stange wieder fangen mußte. Er und Bruno ruderten. Kamen sie an eine seichtere Stelle, so liefen sie auf dem Bootsrand hin und her und stakten. Ziel des Ausflugs war eine kleine Weinwirtschaft am Fluß, die von der dort befindlichen Fähre von Rovezzano den Namen hatte. Die jungen Leute wollten eine venezianische Nacht ins Werk setzen und hatten zu diesem Zweck farbige Laternen, Blumenkränze und Musikinstrumente mitgenommen. Roderich trug auch Leuchtkugeln bei sich, womit er die Gesellschaft überraschen wollte, denn es war die Nacht des Täufers, die von alters her in Florenz mit Feuergeprassel gefeiert wird. Während über dem Ponto Santa Trinità bei beginnender Dämmerung die Riesengirandolen zum Himmel steigen und die Luft mit ihrem goldenen Regen füllen würden, wollte er zu Berties Lust seine farbigen Kugeln über der Fähre von Rovezzano aufglühen lassen.

Man stieg an Land, die Wirtin säuberte den Tisch, trug Gedecke und Wein auf. Die Damen packten aus und verteilten die Vorräte, während neugieriges Hühnervolk sich gackernd herzudrängte. Ein Hahn von ganz unwahrscheinlicher Größe, der mit aufgerecktem rotem Kamm bis über die Tischplatte heraufreichte, hatte sich neben Berties Stuhl gestellt, ließ sich von dem Knaben streicheln und füttern und schnappte ihm Brocken weg. Bertie wurde von der Governess zur Ordnung gerufen, denn er hatte nur noch Augen für das Tier. Da kam die Wirtin mit dem Tellertuch gelaufen und schlug schimpfend nach dem Hahn, daß er mit Schreckensgegacker und lautem Flügelschlagen über den Tisch entflatterte. »Wart nur, du unverschämtes Tier«, drohte die Frau hinter ihm her, »morgen steckst du am Bratspieß.« Das Kind, sprang vom Stuhl und entlief nach der Wiese, wo es sich weinend zu Boden warf. Die Governess rief ihm streng, die Mutter ärgerlich zu, er solle zurückkommen. Der Knabe gehorchte nicht und weinte immer stärker. Nun setzte sich Vanadis zu ihm und nahm sein verweintes Köpfchen auf den Schoß. »Die Frau hat es nicht ernst gemeint, so alte Hähne kann man nicht mehr braten«, tröstete sie. Bertie sah sie eine Weile an, dann drückte er den Kopf ins Gras und weinte weiter. »Was betrübt dich denn noch immer?« fragte sie.

»Ach laß ihn doch!« rief Märchen. »Je mehr man auf seine Launen achtgibt, desto launenhafter wird er. Wenn sein Vater zurück ist, muß er ihn einmal tüchtig durchklopfen. Das hilft.«

Aber Vanadis zog den Knaben fester an sich und sagte leise: »Der Hahn hat dir etwas ins Ohr gesagt, ich hab' es gesehen. Ist es das, worüber du weinst?«

Der Knabe nickte. – »Willst du mir's nicht sagen, worüber ihr gesprochen habt?«

»Der Gockel ist traurig, daß er einen Schnabel hat, einen harten, langen«, gestand Bertie zögernd.

»Und daß er damit nicht sprechen und lachen und essen kann wie ein Mensch und seiner Gockelfrau einen Kuß geben, war es das?«

Bertie nickte lebhaft: »Und zuletzt rupfen sie ihn doch, und wenn er zu alt ist zum Braten, so sieden sie ihn, ich weiß es von der Köchin«, sagte er und schluchzte aufs neue.

»Jetzt ist es aber genug der Torheit. Er soll sogleich aufstehen und hierher kommen!« rief die vor Unmut schrill tönende Stimme der Mutter herüber.

Vanadis verstand den Kummer des Kindes um das Los der Tiere, es war der ihrer eigenen Kindheit. Aber Märchen verfolgte mit Ungeduld und Bitterkeit jeden zarteren Zug des Knaben, der sie an Gunther erinnerte. Um sie nicht noch mehr zu reizen, hob Vanadis den Knaben auf und führte ihn zu seiner Mutter zurück.

»Dieses Kind scheint viel Phantasie zu haben und von besonders zarter Gemütsart zu sein«, bemerkte der junge Franzose.

»Er kann auch ganz anders sein, er ist ein Chamäleon, das sich nach der Umgebung richtet«, antwortete die Mutter mit einem heimlichen Stich auf Vanadis; es verdroß sie, schon wieder an das erinnert zu sein, was sie vergessen wollte. Aber die Bemerkung des Fremden hatte doch zur Folge, daß sie ihre Eifersucht bezwang und den Knaben nicht weiter schalt.

Die Kränze waren aufgehängt und die bunten Laternen in den Zweigen verteilt, es war aber noch zu hell zum Anzünden. Die Gesellschaft löste sich in lauter Paare auf, die sich im Grünen zerstreuten. Märchen plauderte leise und lustig mit ihrem neuen Verehrer, Bruno hatte bei seiner Elsa eingehakt, die weiterhin die Mandoline quälte, die magere Exzellenz gab steif und würdig der Gemahlin den Arm, weil diese sich mit Gehen etwas schwer tat. Der Knabe, der sich beide Ohren mit dicken Kirschenbüscheln behängt hatte und unter diesem Schmuck in seiner rohseidenen Bluse und ebensolchen Höschen aussah wie ein junger Gott, trieb sich mit dem Hund herum und verjagte die Katze, die nach einem hilflosen jungen Vogel schlich. Plötzlich warf er den Stecken weg und lief seiner Vantje und Onkel Rodi nach, als sie sich eben unter den Pappeln am Arnoufer verloren. Aber diese verlebten ihren letzten Abend zusammen und hatten noch so viel Dringliches zu bereden.

»Nach Florenz komme ich so bald nicht mehr«, sagte Roderich, »hier ist Carlo überall im Weg. Du hast es ja gespürt, wie schwer du in der letzten Zeit loskamst, das ist alles sein Werk. Und auf der Giojosa, wohin ihr jetzt zieht, darf ich mich gar nicht zeigen. Aber am dritten Ort, nicht zu weit von deinem jeweiligen Aufenthalt, muß es wahrhaftig immer möglich sein, daß wir uns treffen.«

»Ja, ich hab' es mir schon selber ausgedacht. Nur daß du jedesmal die weite Reise machen sollst –«

»Wer sagt denn das? Ich brauche ja gar nicht bis nach Neapel zu gehen. Wer forscht denn meinen Aufenthalt aus, wenn ich nur glücklich fort bin? Ich lasse mich zunächst irgendwo im Toskanischen nieder, wo mich niemand kennt und von wo aus ich in ein paar Stunden die Stelle erreichen kann, nach der du mich rufst. Daß du dich nicht weit entfernen kannst, versteht sich. Aber laß mich nicht zu lang auf deinen Ruf warten, du weißt, daß ich sonst nicht leben kann.«

»Ich habe ein Patenkind auf einer Villa oberhalb Signa«, begann Vanadis. Da schob sich ein Kinderhändchen unter ihren Arm.

»Nimm mich mit, Vantje«, schmeichelte das liebe Stimmchen. »Laß mich bei dir und Onkel Rodi sein.« – So zärtlich sie den Knaben liebten, beiden war die Störung unwillkommen. »Aber Liebling, du weißt ja, daß es deine Mutter nicht liebt, wenn du immer von ihr wegläufst. Geh zu ihr, daß sie nicht böse wird«, sagte Vanadis mit ihrer schmeichelndsten Stimme. »Aber nein«, war des Kindes Antwort, »sie hat mich ja selber weggeschickt.«

»Lieber Junge«, sagte Roderich, »ich habe dir etwas sehr Schönes mitgebracht, was dir Freude machen wird. Geh du jetzt, wir kommen dir gleich nach. Ich muß nur noch ein paar Worte mit deiner Vantje sprechen.«

Der Knabe sah ihn einen Augenblick mit großen Augen an. Plötzlich schien er zu begreifen, daß man ihn auch hier nicht wollte. Mit einer halb trotzigen, halb übermütigen Gebärde wandte er sich ab und lief zurück. Die Miss war ihm schon auf halbem Weg entgegengekommen. Das paßte ihm nicht, er riß in weitem Bogen aus und flüchtete zu Bruno, der ihn gleichfalls vom ersten Blick an tief ins Herz geschlossen hatte. Das verlobte Paar nahm ihn bei den Händen und ließ ihn zwischen sich gehen.

Vanadis fuhr fort und setzte Roderich ihren Plan auseinander, wie sie, einen Besuch bei den Eltern des Patenkindes vorschützend, sich, wenn die Sterne günstig wären, einen zweitägigen Urlaub von Hause erbitten wollte, um diese selige Zeit mit ihm ganz allein auf langer Wanderung und in irgendeinem weltvergessenen Winkel übernachtend zu verbringen. Hinter dem Stamm einer Riesenpappel, der die Wandelnden für eine Sekunde den Augen der anderen verbarg, drückten sie ein rasches Siegel auf die wechselseitige Verheißung.

In dem hohen, hellen Blau standen vereinzelt und blaß die ersten Sterne. »Kennst du alle Sterne, Roderich?« fragte sie. »Die Sterne kennt jeder Seemann«, antwortete er lächelnd.

»Nenne mir den einen, ganz hohen, über unserem Scheitel, der zuerst herauskam.« – »Er heißt Arkturus.« – »Er stand auch vor einem Jahr am Himmel, als du auf der Giojosa einzogst.« – »Er mußte wohl, es war die gleiche Jahreszeit und die gleiche Stunde.«

»Wir wollen uns geloben, daß wir von jetzt an jeden Abend den Arkturus am Himmel suchen wollen und bei seinem Schein mit solcher Inständigkeit aneinander denken, daß es eines von dem anderen spüren muß.«

»O Vanadis, wie wenig weißt du von meiner Liebe. Wenn ich in den Tauen Wache hatte und unter mir das Meer heulte, dachte ich an dich, ob es Sterne gab oder keine.«

»Ber-tie!! – Ber-tie!!« tönte ein langgezogener, schriller Ruf herüber. Es war die Engländerin, die rief. Dann schrie Bruno, beide Hände als Sprachrohr benützend: »Hooh, Roderich – Hooh, Vanadis! Ist Bertie bei euch?«

»Schon längst nicht!« schrie Roderich zurück. »Wir sahen ihn ja zuletzt bei dir.«

Bruno wandte sich ab und rannte nach dem Wirtsgarten zurück, wo die ganze Gesellschaft zusammenlief, und immerfort tönte durch Mark und Bein der Ruf: »Ber-tie! Ber-tie!« Die beiden liefen nun auch, so schnell sie konnten. Als sie die Fähre erreichten, hatten sie einen Anblick, vor dem ihnen das Blut gerann. Bruno und der Franzose, vom Wirt unterstützt, fischten mit Stangen im Wasser, und weiter draußen tanzte Berties Schiffchen mit allen seinen bunten Wimpeln langsam stromabwärts.

Mit einem Sprung war Roderich auf dem Steg, riß die Jacke ab und tauchte. Er schwamm gleich unter Wasser weiter, der Fluß mußte ja den Körper des Kindes schneller mit sich getragen haben als das leichte hüpfende Spielzeug. Der Fährmann war auch gekommen und machte mit Hilfe der Wirtin einen kleinen Nachen flott. Aber ehe er zu der Stelle kam, erschien Roderich über dem Wasser mit dem kleinen Körper, der ihm kraftlos über der Schulter hing, und gewann mit ihm das Ufer. Es war ganz nahe von der Stelle, wo er zuletzt mit dem Kind gesprochen hatte. Er riß ihm die Bluse ab, stellte ihn auf den Kopf, daß das Wasser auslief, und säuberte den Schlund vom Sand. Vanadis ging ihm zur Hand, sie war unter den Herzugeeilten die einzige, die bei der künstlichen Atmung helfen konnte. Sie knieten neben dem leblosen Leibe und wiederholten regelmäßig, endlos, die rhythmischen Hebungen und Senkungen der Arme und den Druck auf den Brustkasten. »Fortfahren!« gebot Roderich, sooft seiner Helferin die Arme erschlaffen wollten. Denn er hatte wiederholt mitangesehen, daß bei richtigem Vorgehen auch nach Stunden das schon entschwundene Leben zurückgekehrt war. Märchen stand fassungslos daneben, sie konnte es nicht glauben, daß sie ihren schönsten Schmuck, den von allen bewunderten, verloren haben sollte. Aber irgendeine Haltung mußte sie einnehmen: sie fiel in Zuckungen, und der junge Franzose trug sie mit Hilfe Umstehender ins Haus.

Die beiden Helfer mußten endlich mit zerrissenem Herzen von ihren Bemühungen abstehen. Es war dunkel geworden, sie hatten zuletzt bei Licht geschafft, während unter Geprassel, das man bis Rovezzano hörte, der Feuerregen über der Arnostadt ausbrannte und nur von der Festbeleuchtung der großen Paläste und Kirchen ein blasser Schein am unteren Himmel stand.

»Auch wir sind mitschuldig«, sagte Vanadis leise, als die kleine Leiche weggeschafft war und die Gaffer sich verloren. »Er konnte es nicht erwarten, sein Schiffchen schwimmen zu sehen, und wir ließen ihn im Stich.«

»Niemand ist schuldig, nicht einmal seine Mutter«, antwortete Roderich. »Hast du je geglaubt, daß ein solches Kind zum Leben bestimmt sei? – Sieh dir diesen Kerl an« (er deutete auf seine nackten Athletenarme, auf denen die blauen Tätowierungen durcheinanderliefen); »in allen Meeren hat das Wasser nach ihm geschnappt, mehr als einmal hat es ihn hinabgetrunken, immer gab es ihn heil zurück. Dieser Elfensohn aber braucht sich nur einmal über den Steg zu beugen, und gleich zieht es ihn hinunter. Zufall, sagen da die Menschen. Es gibt keinen. Glaub mir, das war von jeher so geordnet. Kinder wie er haben ein Zeichen an sich, woran sie der Tod erkennt. Ich sah es gleich, als du mir auf der Giojosa mit ihm entgegenkamst. Was hätte er werden können, das er nicht schon war? Sie hätten ihn dir nur verdorben.«

»Ach, Roderich, daß das Schöne nicht leben kann!«

»Lebst du doch!« sagte er innig.

»Zehn Leben hätte ich gegeben, um dieses zu retten«, antwortete sie.

»Meinst du, ich nicht auch?«

Sie drückten sich die Hände zum Abschied und wußten nicht, daß es für immer war.


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