Isolde Kurz
Wandertage in Hellas
Isolde Kurz

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Letzte Tage in Athen

Seid mit Andacht geschlürft, ihr letzten Tage in Athen, wie die letzten Tropfen eines Götterweins, ihr vielleicht nimmer kehrenden! Auch in Delphi und auf dem Peloponnes, in der Stadt der sieben Tore und am Strande des Euripos haben wir mit den Göttern gelebt. Aber was wäre Griechenland ohne Attika, und was wäre die Menschheit? Man steht nicht leichten Herzens vom Mahle der Unsterblichen auf, um heimzugehen. Und auch das neue Athen ist uns ins Herz gewachsen, wenngleich seine Marmorbauten antiken Stils denen der Akropolis gleichen wie eine Griechentragödie von Voltaire dem »König Oedipus«. Seit wir dem Gasthof mit seinen zeitraubenden Tafelstunden entronnen sind und durch die freundliche Aufnahme im Deutschen Archäologischen Institut die Freiheit gefunden haben, umherzustreifen, wie es uns beliebt, sieht uns die Hauptstadt des neuen Griechenland mit viel ausdrucksvolleren Augen an. Ungern werden wir sogar von unserem Stammtisch im nahen Attikón scheiden, wo wir so rücksichtsvoll bedient werden und wo der 238 gefällige Kellner meinen Sprachversuchen immer so hilfreich entgegenkommt. Es soll unvergessen bleiben, wieviel Takt und Feingefühl wir in der griechischen Bevölkerung gefunden haben. Und keine schlechte Erfahrung in all den Wochen (den einzigen Wirt von Delphi ausgenommen). Kein Misston, der die reinste Stimmung getrübt hätte. Keine zudringliche Dienstfertigkeit mit gierig nach Trinkgeldern ausgestreckten Händen. Ruhe und Ordnung im Verkehr, vor allem auf der Eisenbahn und auf der Post. Wie oft hat mir der kundige athenische Schalterbeamte, noch bevor ich Zeit hatte, nach Briefen aus Deutschland zu fragen, sein bedauerndes »Nix!« entgegengerufen. Und was das Leben so patriarchalisch leicht und arglos macht: man hat ein Gefühl von persönlicher Sicherheit, wie es keine andere Grossstadt gewährt. In den volkreichsten Strassen von Athen trage ich unbesorgt mein Geld in der äusseren Jackentasche, was mir in Europa nirgends einfallen würde. Welch ein Wandel seit der Zeit, wo ihr grösster Freund, der für die Griechen sein Leben liess, über dieses Volk das vernichtende Urteil fällte:

Without even savage virtue blest,
Without one free or valiant breast
usw.

Wer im Giaur die schrecklichen Worte nachlesen will, der freue sich mit mir, was die wenigen Jahrzehnte Freiheit aus dem griechischen Volke gemacht haben. Der Hauch der Freiheit hat auch die Landschaft wieder erweckt und vergeistigt, in der Byron nur noch einen schönen ausdruckslosen Leichnam gesehen 239 hatte, denn zwischen dem Menschen und dem Boden, der ihn trägt, geht ein verborgenes Weben hin und her, das beide einander angleicht.

Was übt doch dieser griechische Boden für eine geheimnisvolle Macht, dass es mir auf Schritt und Tritt zumute ist, als wäre es mein Heimatboden, und dass ich wie von einem Gotte geführt, die unbekannten Wege gehe, ohne mich zu verirren? Habe ich wirklich vor Tausenden von Jahren hier gelebt und folge den Spuren einer unbewussten Erinnerung? Oder liegt es an der edlen Einfachheit und Durchsichtigkeit der Landschaft, deren Gliederung in Nähe und Ferne sich dem Auge sogleich mitteilt? An ihrer Knappheit, bei der jede verwirrende Weitläufigkeit und Wiederholung, jeder unnütze Prunk vermieden und doch alles gesagt ist, was die Landschaft sagen kann, wie die griechische Poesie in ihrer gedrängten Sprache das erste und letzte Wort in allen menschlichen Dingen gesprochen hat? Und vielleicht nicht zuletzt an ihrem glücklichen Grössenverhältnis zu der menschlichen Gestalt, die sich nicht darin verliert, sondern mit dazugehört, wie auch die Maße der Bäume dem Menschen gerecht sind und der Himmel mit Sternen und Göttern näher ist?

Griechische Landschaft! Ich glaubte etwas von ihr zu ahnen, als ich am tyrrhenischen Meer mit Nymphen und Tritonen lebte. Aber es ist ein Unterschied wie zwischen der himmlischen und irdischen Liebe. Dort tummelt sich nur das niedere Göttergelichter, das dem Naturleben gehört. Die hohen Olympischen haben nie den Boden von Hellas verlassen.

240 Ein geistvoller Mund sagt mir unter den Ruinen der Akropolis: »Die griechische Landschaft ist doch noch schöner als die griechische Kunst.« Nein, muss ich antworten, so ist das Verhältnis nicht. Die griechische Landschaft und die griechische Kunst sind ein Ding wie Baum und Blüte. Der allmächtige Eros brachte diesen Berg zum Blühen, und der Berg trieb den Parthenon und die Propyläen hervor samt der goldelfenbeinernen Athene. Ebenso erzeugte der Boden die göttlichen Zwillinge Mythos und Poesie und mittelbar durch sie, die das Leben regierten, die ganze griechische Kultur. Nichts Fremdes gab es da; was von aussen eindrang, wandelte sich nach der Umgebung und wurde bodenständig. Die gewaltigste Stileinheit verband alles Aeussere und Innere zu einem untrennbaren Ganzen. Darum kann Griechenland nicht mit den Augen allein genossen werden; es gibt ja so viele Dinge auf griechischer Erde, die noch gegenwärtig, aber nicht mehr sichtbar sind. Das beweisen die Klagen enttäuschter Reisender im Fremdenbuch des Hôtel du Chemin de fer in Olympia. Ein Amerikaner hat die seinen in launige Verse gebracht, womit er von dem Land der Götter und Geissen (of gods and goats) Abschied nimmt: For me the west! Jawohl, wer nicht Griechenland mit allen Poren seines Wesens trinken kann, für den ist der Westen mit seiner Buntheit und Neuheit besser. Wer aber mit der grossen Liebe kommt und alle Sinne aufs höchste spannt, der findet die alten Götter wieder im ganzen Glanz ihrer Frühzeit, so wie sie in den homerischen Gesängen leben. Wie hatten 241 sie es nur verschuldet, die Feurigen, dass sie erst zu kalter Repräsentation nach Rom verschleppt wurden, dann durch den Mummenschanz und Trödelkram der Renaissance hindurchgehen mussten, bis sie schliesslich zu faden Ehrenpräsidenten unserer Kunst- und Industrieausstellungen verblassten? Wahrlich, das frühe Christentum, das sie zu bösen Geistern und Kobolden umschuf, hatte von ihrer Macht und Würde noch einen besseren Begriff gehabt. Nun aber setzt den Fuss auf ihre Heimaterde: hinter den Dunstmassen, die heute den Oros von Aegina umhüllen, seht ihr die schwarzwolkige Stirn Kronions, und die Blitze, die eben niedergehen, sind von seiner höchsteigenen Hand geschleudert. Wenn der Himmel sich nach den Regengüssen noch einmal aufhellt, so wird vielleicht vom Parnassos das Angesicht des Fernhintreffers noch rasch im Sonnenuntergang nach der Burg seiner hohen Schwester herüberschauen, und gleichzeitig überblickt Poseidon von seinem Tempel auf Sunion freudig sein weites Reich. Nicht einmal ihre Namen haben sich abgenützt, sie waren ja so weise, für den entwertenden europäischen Alltagsgebrauch lateinische anzunehmen.

Aber was hilft's, sich noch mit allen Fasern anklammern! Die Schiffsplätze sind belegt und die Koffer gepackt. Nur zweierlei will uns die kurze Stunde noch verstatten: einen Abendgang nach Kolonos und dann einen langen letzten Abschied von der Akropolis.

Die Geburtsstätte des Sophokles, deren Lieblichkeit in einem seiner schönsten Chorgesänge verherrlicht ist, sahen wir in der ergreifenden Stunde des 242 Sonnenuntergangs. Aber keine Nachtigallenchöre flöten mehr auf dem Hügel von Kolonos, und was heute dort schimmert, sind nicht seine Heiligtümer, noch die Silberzweige des hochgepriesenen Oelbaums, es ist sein kahler, aus mächtigen Steinplatten gewölbter Buckel, der sich fast unheimlich ansieht, als ragte die nackte Hirnschale eines Riesen aus dem Boden, völlig haar- und fleischlos. Man möchte eine ungeheure Ladung Erde aufführen können, um das unwürdig blossliegende heilige Gebein damit zu bedecken. Oben stehen zwei umfriedete Stelen über den in den Stein gehöhlten Gräbern zweier Griechenfreunde, Ottfried Müllers und des Franzosen Lenormant. Der unbetretbare Hain der Eumeniden ist verschwunden, wo Oedipus den letzten Schutz fand, und der Tempel des Poseidon, in dem der fromme Theseus jenes Tages opferte. Aber jenseits der Talsenke, über der Antigone die Türme von Athen sich erheben sah, liegt auch heute die sanft ansteigende Stadt (die Türme sind es leider, die kräftigen senkrechten Linien, die jetzt fehlen) und die Akropolis, schon zu geisterhaften Umrissen entkörpert, blickt von ferne herein. Im Rücken von Kolonos grünt noch der Demeterhügel, wo den Grossen Göttinnen unterm Tau des Himmels der heilige Kranz von Narzissen und Krokus blühte, und der steile Absturz zu unseren Füssen, der jetzt mit widrig riechendem Kehricht angefüllt ist, war vielleicht der Erdschlund, der den erlösten Oedipus aufnahm.

Und nun ist der letzte Tag aufgegangen. Unterhalb des Niketempels habe ich die Opuntien abgeschnitten, die ich mit mir nehmen und auf eigenem Grunde 243 anpflanzen will. Wir haben auch zu guter Letzt noch am Nordhang der Akropolis die altheilige Burgquelle Klepsydra aufgesucht und die Grotte, die die Athener dem Pan für sein persönliches Eingreifen in die Schlacht von Marathon weihten. Leider ist die liebenswürdige Kinderwelt, die uns hier am ersten Tag entzückte, durch den Besuch der Orientalisten und das unter sie gestreute Kupfergeld unterdessen ganz verwildert. Auch lässt die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Ortes stark zu wünschen übrig: der Schmutz, der vor der Grotte aufgehäuft ist, macht sie beinahe unzugänglich. Ueberhaupt wird diese Seite des Burgbergs zur Kehrichtablagerung benutzt. Auch ein Ziegenaas mit langen Hörnern lag zu dem Müllhaufen hingeworfen. Doch kein übler Geruch ging davon aus, es dorrte in Sonne und Wind. Die ewigen Götter machen das Tote, das sie berühren, unverweslich, wie jene Kriegerleiche im Doppeldach des Heretempels von Olympia, von der Pausanias erzählt.

Mit unnatürlicher Geschwindigkeit fliegen heute die Stunden, und von morgen an wird alles nur noch Erinnerung sein. – Aber eine fast unbegreiflich hohe Gunst hat uns das Schicksal doch gewährt. Ich denke an all die nachgeborenen Griechenseelen, an die Dichter, die Künstler, die Seher, die nie die Heimat ihres Geistes betraten, vor allen an den einen, den die Sehnsucht verzehrte und der noch in der Nacht des Irrsinns geheimnisvoll von Hellas weitersang. Unglücklicher Hölderlin, hätte er nur einmal auf der Akropolis stehen und auf das heilige Land hinunterblicken dürfen. In welchem Wahrtraum hatte der Sohn des Neckartals 244 diese Inseln und Berge mit solcher Deutlichkeit geschaut, dass man in Griechenland auf Schritt und Tritt an ihn erinnert wird? Nur eines kannte er nicht, das Licht von Hellas, das strahlende und doch so milde Licht, das den Schatten die wunderbare Leichtigkeit gibt. Und vielleicht war es gut, dass er es nicht kannte, denn es hätte ihm die Schwermut genommen, die der tiefste Born seiner Dichtung war, ohne ihn doch zum athenischen Vollbürger zu machen, es fehlten ja wie heute die verstehenden Genossen:

»Denn zur Freude mit Geist wurde das Grössre zu gross
Unter den Menschen, und noch, noch fehlen die Starken zu höchsten
Freuden, aber es lebt stille noch einiger Dank.«

Den wollen wir jetzt, da wir keine andere Gegengabe bieten können, für alles Empfangene an den Stufen des Parthenon niederlegen. Er gilt nicht nur den Göttern und Heroen, er gilt auch dem neuen Volke, das auf diesem Boden lebt mit dem Streben, seiner würdig zu sein; möge es glücklicher werden als seine grossen Vorfahren. Er gilt den Landsleuten und den Fremden, den bekannten und unbekannten Reisegenossen, die uns hilfreich waren, und all den Händen, die uns, wohin wir kamen, so verschwenderisch mit Blumen beschenkten. Ihr Blumen von Hellas, noch lange werdet ihr nachleuchten in meiner Erinnerung, wer euch gesehen hat, dem scheinen alle anderen glanzlos.

Zum letztenmal tun sich die Propyläen vor uns auf. 245 Wie leicht sie im Lichte des Spätnachmittags dastehen; die verschobenen Säulentrommeln glänzen in ihrer edlen Bräunung wie mattes Gold. Zum letztenmal ersteige ich das Haus der Jungfrau und grüsse das Erechtheion, die Blume jonischer Baukunst. Beide sind sie mir der reinste Ausdruck des menschlichen Idealismus. Es fehle das Mystische, höre ich sagen, der Jenseitsgedanke, und das ist wahr, denn der Olymp ist selber auf die Erde entrückt. Wer seinen Lebenstag mit den Göttern verbracht hat, der hat das Seine dahin und mag unerwecklich in der attischen Erde schlafen.

Ob es jemals eine solche Kunst wieder geben wird? – Da blicken mich aus dem Azur die blausten Augen an, und eine Stimme, die nicht menschlich ist, weht mir aus der Luft des Landes zu:

Dann wird es eine solche Kunst wieder geben, wenn das zersplitterte Leben wieder einmal zu einer Einheit zusammenwächst. Der einzelne mit seinem Talent ist dazu nicht vermögend. Erst muss wieder ein Geschlecht geboren werden, das mit der Kraft des Genius auch die Seelengrösse der Kämpfer von Marathon und Platää in sich trägt. Die Griechen haben nicht für die Kunst gelebt. Was du von ihnen siehst, ist zerbrochene Schale. Edel zu leben und zu sterben war ihnen mehr. Aeschylos wollte keine andere Grabschrift, als dass er in Marathon tapfer mitgekämpft habe. Die Olympiasieger waren die Marksteine der Zeitrechnung. Das Grösste, was den Griechen gelang, und das Schönste, was sie hinterliessen, sind sie selbst mit ihrer Kraft und ihren Schwächen und ihrer allumfassenden Menschlichkeit.

246 Und was hat die Griechen so gross gemacht bei ihrer Menschlichkeit ? wage ich zu fragen.

Dass sie keine Freude kannten, die nicht vom Geiste gewürzt war. Dass sie nicht das Tier im Menschen fütterten, damit es stark sei, sondern weil das Tier in ihnen stark war, ihm Bande, aber goldene Bande, anlegten. Das war ihre eine Grösse. – Ihre andere Grösse war ihre Ehrfurcht. Ehrfurcht, die sie trieb, ihre Abgeschiedenen zu Heroen zu machen und die vergöttlichten Gestalten als Vorbilder aufzustellen. An der Spitze jedes edlen Hauses stand ein Unsterblicher, und man wusste genau, durch wie viele Geschlechter die Ahnenreihe zum Gott hinaufführte. Da galt es sich des Stammvaters würdig zu zeigen. – Ihre dritte Grösse aber war ihr Glaube, ihr tiefer Glaube an alles Göttliche.

Mit einem Male zerreisst ein Schleier, und ich erblicke Sie, sie selbst, nicht als strenge Promachos, sondern ganz von siegreicher Anmut umflossen. Ich sehe das liebliche Wangenrund, die zaubervollen Lippen, aus denen die süssen Sophokleischen Gesänge gequollen sind, und die strahlenden Augen, die am tiefsten in alles Leben geblickt haben. Eine Jungfrau-Mutter der herrlichsten Heldensöhne und so liebenswürdig wie in ihrer Frühzeit, wo sie sich nicht zu gut dünkte, ihrem Freunde Herakles mit eigener Hand den Peplos zu weben. Gleich darauf ist sie verschwunden. Aber doch nicht verschwunden, denn wohin ich die Blicke wende, strahlt aus dem attischen Land ihre Götteranmut wieder, und alle Dinge sehen mich mit ihren Augen an.

Das ist der rechte Augenblick, um zu scheiden.

Die Korenhalle des Erechtheion

 

Am Morgen des 7. Mai trägt uns die »Peloponnesos«, die kleine Nussschale der Gesellschaft Gudis, in Ermangelung der Lloyddampfer, die noch in Konstantinopel festliegen, zum Piraeus hinaus. Athene hat uns schon ihr Angesicht entzogen: die Akropolis verbirgt sich hinter leichtem Dunst. In zwei Tagen werden wir in Brindisi landen und werden im Flug das glückliche Kampanien durcheilen, ich aber werde auf der Durchfahrt die Augen schliessen, um das Bild einer höheren, stolzeren und zarteren Schönheit festzuhalten.

 


 


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