Isolde Kurz
Wandertage in Hellas
Isolde Kurz

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Die Argolis

Am schönsten Aprilmorgen in der Frühe um 6 Uhr sagen wir dem Mégas Aléxandros Lebewohl. Jetzt tut sich der Peloponnes, den ein weitmaschiges Schienennetz durchzieht, mit seiner einsamen Schönheit vor uns auf.

Nach kurzer Fahrt ist schon an der herrlichen Bucht von Eleusis vorüber die Grenze der Megaris mit ihren Felsenzinken, den bekannten Kerata (Hörnern) erreicht; so klein ist Griechenland bei dem ungeheuren Raum, den es in unserm Geiste einnimmt. Die steinige Küste von Salamis drüben überm Meere begleitet uns noch in stolzen, immer wechselnden Gestalten und verlässt uns erst bei Megara, der sonderbaren Hügelstadt, deren Häuserreihen, von der Bahn gesehen, ohne Gliederung wie von Kinderhänden rund um den Berg aufgestellt scheinen.

Die Bahn läuft in immer steilerer Höhe hart überm Meer am vortretenden Fuss der nackten, schroffen Geraneia hin. Durch frisches Grün der Pinien leuchtet das herrliche saronische Meer im blauesten Schmelz 114 zu uns herauf, mit Felseninseln wie mit schimmernden Opalen besät, und von den peloponnesischen Bergen in der Ferne begrenzt. Worte sind zu arm, um diese strahlende und doch so innig ernste Schönheit zu malen, die noch vom spielenden Licht der Mythe verklärt wird. Die Klippen, die so schroff ins Meer hinausspringen, heissen die skironischen, nach dem Räuber Skiron, der hier im Engpass zwischen Fels und Meer auf die Wanderer lauerte, um sie mit einem Fusstritt in den feuchten Abgrund zu schleudern. Bis eines Tages Theseus, der jugendliche Held, des Weges kam, mit dem schmucken Chiton und den bartlosen Wangen einem Mägdlein ähnlich, und dem Wegelagerer, der sich schon auf den leichten Fang freute, mit seiner gewaltigen Kraft ein gleiches tat. Von dem Unhold wären wir befreit, jetzt aber erhebt sich über dem molurischen Felsen daneben eine schattenhafte Frauengestalt mit einem Kind im Arme. Es ist die von ihrem rasend gewordenen Gatten verfolgte Ino, die sich den Zorn der Here zugezogen hat, weil sie dem kleinen Dionysos die Brust reichte. Unglückliche Kadmostochter, dir bleibt keine andre Wahl als der Todessprung von diesem Felsen! Aber sei getrost, Poseidon wird dich dort unten zur mächtigen Meergöttin Leukothea erhöhen, die es sogar wagen darf, dem verstürmten Odysseus ihren rettenden Schleier zu reichen. Dein Söhnlein aber, deinen kleinen Melikertes, werden die Wellen zum isthmischen Ufer tragen, wo ihn die Strandbewohner bestatten und fortan mit frommen Opfern und den isthmischen Spielen als den Meergott Palämon ehren werden.

Die ganze Landschaft gehört der Mythe: kein 115 Dampfschiff auf der träumenden Bläue bis zu den Küsten des Peloponnes hinüber, nur ein paar sonnbeschienene Segel in der Ferne und hart unter uns in dem zartgrünen Klippenwasser ein kleines Boot mit leise eintauchenden Rudern; es erinnert an die grosse robbenfüssige Schildkröte, die jedesmal aus dem Geklüft hervorschwamm, um die Opfer des Skiron mit sich zu schleppen.

Jetzt erweitert sich der Pass, eine Pinienwaldung tritt zwischen Fels und Meer, Steinnelken glänzen an der Erde und schwarze Pinienzapfen im Gezweig. Das sind die berühmten »Fichtenhaine«, wir sind auf korinthischem Boden. Ueber dem Meere, dem wir uns aufs neue nähern, ragen jetzt die hohen Linien der arkadischen Gebirgswelt mit der schneebedeckten Kyllene. Aber was ist das für eine merkwürdige, einzelstehende, völlig eirunde Kuppe, die über den isthmischen Hügeln zum Vorschein kommt? Ein freundlicher Bahnbeamter, der mit im Wagen sitzt, nennt uns unaufgefordert den Namen: Akrokorinthos (mit offenem o gesprochen und das th wie im Englischen). Beim Näherkommen streckt sich das Ding in die Länge – und stellt sich – unser Schiller kommt zu Ehren – als »steiler Bergesrücken« dar, dessen scharfe Ränder so genau von der alten Mauer umsäumt sind, dass sie für das Auge aus der Entfernung eine einzige Masse bilden. Schon haben wir auf der Eisenbahnbrücke den Kanal gekreuzt, der ganz scharf und schnurgerade in den Isthmus geschnitten ist, eine enge blaue Wassergasse, die in ihrer Schmalheit beinahe komisch wirkt.

In Korinth hat der Zug fünfzehn Minuten 116 Aufenthalt. Wie der kleine Bahnhof von Menschen wimmelt. Der Besuch der Stadt liegt nicht im heutigen Tagesplan, denn unser nächstes Ziel ist Mykene. Ein Händler reicht mir eine altkorinthische Münze in den Wagen; wenn ich nur wüsste, ob sie nicht gefälscht ist. Sie näher zu betrachten, verhinderte mich ein drolliger kleiner Zwischenfall. Unser freundlicher Beamter, der sich längere Zeit mit dem Kyrios unterhalten hatte, war schon mit einer Verbeugung verschwunden. Aber beim Einfahren hatte er ihm wiederholt mit Nachdruck gesagt: »Fünfzehn Lepta für ein Glas Wein«, woraus der Kyrios nicht anders verstehen konnte, als der Mann sei durstig und habe kein Geld. Voll Menschenliebe strebte er ihm durchs Gedränge nach, um beizuspringen, ich aber widersetzte mich, da ich den Stolz der Griechen schon kannte, denn ich nahm an, er habe sich verhört. Aber der Kyrios war gewiss, sich nicht verhört zu haben, wir gerieten in einen kleinen Wortwechsel, über dem die Minuten vergingen, der Zug setzte sich in Bewegung, und die Münze entsank unbesichtigt meiner Hand.

Das Wörterbuch entschied zuletzt die Streitfrage: Der Beamte hatte freilich von fünfzehn Lepta gesprochen, nur dass lepton nicht allein die kleinste Münze, sondern auch – die Minute bedeutet. Den viertelstündigen Aufenthalt zu einem Glase Wein zu benutzen, war des Mannes wohlwollender Rat gewesen. Von solchen kleinen Irrungen abgesehen, wundere ich mich doch immer aufs neue, wie glatt sich die Verständigung abwickelt. Ich hatte das Neugriechische nach Aussprache und Grammatik für so schwierig gehalten, dass es mir 117 nutzlos schien, die knappe Zeit vor der Abreise auf Sprachstudien zu verwenden. Wie beneide ich jetzt den Kyrios, dessen frommer Glaube sich über Erwarten reich belohnt.

Die zinnengekrönten Mauern von Akrokorinth blicken uns noch lange von ihren grauen Felsenschroffen nach, während wir auf öder Strecke dem Peloponnes entgegenfahren. Seltsam verkrüppelte Pinien, vom Seewind ganz nach einer Seite gekämmt oder ihrer Wipfel beraubt, stehen auf den Feldern, den Wegrand säumt der goldglänzende Ginster. Allmählich wird die Gegend wild und felsig, wir nähern uns der steinigen Argolis. Auch der Himmel will an der tragischen Stimmung teilnehmen, die über diese Landschaft ausgegossen ist, er zieht ein niederes graues Gewölk vor, zwischen dem das tiefe Blau hindurchblickt, und es wird plötzlich kühl. Rauhe Schluchten mit Blütenbäumen am Rand, trockene Bachbetten, durstige, tiefeingeschnittene Wasserrinnen, eine Herde dickwolliger Schafe auf dem Feld, daneben die junge Hirtin mit dem langen Stab und der schönen breiten Hirtentasche – in der heroischen Zeit, wo das Szepter Agamemnons von seiner Felsenburg bis ans Meer herabreichte, kann der Anblick nicht viel anders gewesen sein. Nur die Häuser des Landvolks, wenn auch noch so dürftig und schmutzig (ich denke an das mykenische Bauernhaus in der »Elektra« des Euripides!), müssen doch irgendwie dem schönen Formensinn der Griechen entsprochen haben. Wie traurig, dass sich nirgends in Griechenland eine bauliche Ueberlieferung wie in Italien erhalten hat. Das lehmfarbene Bauernhaus hart am 118 Bahndamm ist das kindisch unbeholfenste, was sich denken lässt, und nach dem gleichen Muster sind alle Bauernhäuser in der Argolis gebaut. Es ist ein langes, niederes, kistenförmiges Ding mit schrägem Ziegeldach, zwei gleichmässigen Türöffnungen und einem Fenster dazwischen. Zu der äussersten Armut gesellt sich noch die reizlose Nüchternheit; zwei Dinge, die sonst im Süden nicht zusammengehören. Hier ist nur das allernötigste, was der Mensch zum Leben braucht, kein noch so entfernter Versuch zur Verschönerung, nicht einmal ein Scherben, woraus Blumen wachsen. Vor der Tür weidet soeben ein Mann das unvermeidliche, an einem Baume aufgehängte Lämmchen aus, während Ziegen und Kinder sich achtlos daneben herumtreiben.

Bei dem Dörflein Phichtia liegt die Haltestelle Mykene. An dem winzigen Bahnhöflein, das eigentlich nur ein Schuppen genannt werden kann, steigen wir in den vorausbestellten Zweispänner, und auf staubigem Wege geht es durch die argolische Ebene, die bei den Alten die »vieldurstige«, auch die »staubwirbelnde« heisst, die aber heute bei weitem nicht so durstig und staubig ist wie die um Athen. Zwei gewaltige nackte Bergkegel, der Hagios Elias und der Szara, starren uns entgegen; wo sie im Winkel zusammenstossen, liegt eine steile Felsenterrasse zwischen ihnen eingezwängt, auf der, von ferne nicht erkennbar, die Burg von Mykene horstet. Am Fusse des Szara zeigt man uns von weitem die Stelle des altberühmten Hereheiligtums, wo die schöne goldelfenbeinerne Götterkönigin des Polyklet mit Kuckucksszepter und Granatapfel thronte. Dort liess in grauer Vorzeit Agamemnon sich von den 119 versammelten Griechenführern Heerfolge schwören. Und dort war es auch, wo nach der Sage die beiden glücklichsten Sterblichen, die Jünglinge Kleobis und Biton, in sanftem Tode entschliefen, nachdem sie ihre Mutter, die Herepriesterin, in Ermangelung des Ochsengespannes selber im Wagen von Argos nach dem Tempel gezogen, und diese dafür von der Göttin das beglückendste Los zum Lohn für ihre guten Söhne erfleht hatte; – so dachte das göttergeliebteste Volk in seiner glücklichsten Zeit vom Glücke.

Auf einer Brücke mit Eisenschienen rollen wir über ein kleines, wasserarmes, nur wenige Fuss breites Flussbett. Führerin Pallas Athene, sollte das gar der Inachos sein, der gewaltige Stromgott, dem ganz Griechenland huldigte, der Vater der Io, die von Zeus geliebt wurde und auf ihrer Flucht dem grossen Bosporus den Namen gab? Wenn du es versicherst, muss ich's glauben, aber dann glaube ich auch gleich mit, was dem alten Pausanias an dieser Stelle erzählt wurde, nämlich dass der Meergott dem Inachos für den Sommer sein Wasser entzogen hat aus Rache, weil jener als Schiedsrichter das Land Argos nicht ihm, sondern der hohen Gemahlin des Donnerers zusprach.

Die Ebene von Argos ist gut angebaut; wenn auch der Staub um unsere Räder wirbelt, überm Wegrand erquickt sich das Auge am Saatengrün. Auf Weideplätzen ergehen sich kleine zottige Pferde von seltsam plumpem Wuchs, die dem »rossenährenden Argos« keine sonderliche Ehre machen. Menschen aber sieht man unterwegs keine.

Wo die Strasse sich hebt, liegt ein Xenodochion 120 (Gasthaus) mit einladender Gartenschenke, in der Erfrischungen verabreicht und sogar Ansichtskarten verkauft werden. Wir steigen aber nicht aus, um keine Zeit zu verlieren. Jetzt öffnet sich die Talschlucht zwischen dem Hagios Elias und dem Szara, und die eingeklemmte Felsenterrasse mit den kyklopischen Mauern der Atreusburg löst sich von dem mächtigen Hintergrund ab. Im Grase erkennt man Spuren der Häuserzüge und niedrige Mauerreste der Unterstadt. So starr und despotisch blickt dieser Ort, dass man mitten im menschlich milden Hellas ägyptischen Geist um sich zu fühlen glaubt. Man traut ihm zu, dass er die Greuel der Tantaliden ausgebrütet haben könne.

Links von der Fahrstrasse, wenige Schritte hügelan, liegt das berühmte Kuppelgrab, Schatzhaus des Atreus oder Grabmal des Agamemnon genannt. Ein langer gemauerter, nach oben offener Gang führt innerhalb des Hügels vor das gewaltige, mit dem hohlen Entlastungsdreieck gekrönte Portal, das den grossen unterirdischen Rundbau abschloss. Unter der mächtigen Kuppel, die sich spitzig hinaufwölbt wie eine Tiara, herrscht Dämmerung; eine zweite kleinere Tür, vor der zwei Säulen stehen, geht in einen viereckigen Nebenraum, das eigentliche Grabgemach. Doch sind wir nicht mit dem Schatten des Atreus allein. Aus dem Dunkel taucht ein bekanntes Menschengesicht auf, der angenehme junge Pariser, den wir von Aegina her kennen, und der uns jetzt ernsthaft erzählt, dass es in Frankreich ein ganzes Buch über die alten Geschichten von Mykene gebe; er habe es vor der Reise selbst gelesen, und es sei höchst beachtenswert. Wir 121 schweigen betreten zu dieser Mitteilung. Hätten wir ihm gesagt, dass wir unter den Atriden gross geworden sind, so stünden wir wohl als Verrückte in seinem Tagebuch.

Der Wächter zündet einen Strohwisch an und leuchtet an den Wänden umher, damit wir die Höhe der Kuppel und die schöne Arbeit der geglätteten Quadersteine bewundern können, denn von dem reizenden Wandschmuck aus Bronze und Alabaster und all den Herrlichkeiten, deren Spuren den Forscher entzücken, ist für Laienaugen so wenig zu sehen wie von der einstigen Pracht des Portals und seinen reich verzierten farbigen Säulen. Doch kehrt, wer nicht gerade Archäologe ist, aus dem dumpfen Innern des Hügels gerne in den Mittagssonnenschein zurück, den die Insekten mit ihrem Gesumme durchtönen und die Kräuter des Feldes, Minze, Salbei und Asphodelos mit balsamischem Wohlgeruch erfüllen. Wenn der Geruchsinn auf attischem Boden in den zaubersüssen Düften der wilden Blumen wahre Orgien feiert, so strömt die peloponnesische Erde auf Schritt und Tritt einen herbfrischen Kräutergeruch aus, der durch seine unbeschreibliche Feinheit und belebende Kraft nicht minder köstlich ist.

Aufgang zum Löwentor von Mykene

Und jetzt noch einmal eingestiegen und bis zum Fusse des Burgbergs gefahren! Ein steiler Torweg, den die urweltlichen Quadermauern drohend einengen, führt hinauf zum Löwentor. Waren das menschliche Hände, die den ungeheuerlichen Steinkoloss als Torsturz aufgesetzt haben? Scharfer Wind empfängt uns da oben wie der herbe Anhauch der tragischen 122 Muse. Das also war die Atreusburg, vor deren Greueln einmal der Sonnengott seine Rosse rückwärts wandte!

Beim Eintritt fällt der erste Blick auf die berühmten Königsgräber im unteren Burghof, die an der merkwürdigen Doppelreihe der im Kreise aufgestellten Steinplatten kenntlich sind; jetzt nur noch tiefe leere Schachte mit grauem Steingeröll. Ihre ausgehobenen Goldschätze haben wir im athenischen Museum gesehen, wo sie einen ganzen Saal füllen: die wunderbaren Diademe, die auf keine menschliche Stirn passen, die Rosetten, Kreuze und Sterne, die goldenen Grabschmetterlinge, Polypen und Zikaden, mit denen die Toten von Mykene überschüttet waren, und die erstaunlichen Leichenmasken aus Goldblech; die geschnittenen Steine von unbegreiflicher Arbeit mit ganzen Kriegs- und Friedensbildern, wo unter anderen Merkwürdigkeiten mykenische Damen im falbelreichen Hosenrock mit steifer Schnürbrust dargestellt sind, und alle die Hals- und Ohrgehänge, die reichen Becher und was sonst eine kühne und phantastische Goldschmiedekunst hervorgebracht hat. Nichts als Gold und Steine, Steine und Gold in diesem Herrschersitz, der sich in die rauhe Schlucht unter dem starren Berghang einzwängt und von da aus mit wohlgesichertem Rücken fast unsichtbar über der glühenden, baumlosen Ebene brütet.

Es ist billig, über Schliemanns Sagengläubigkeit zu lächeln, weil er den von ihm ausgehobenen Leichen die Namen Agamemnon und Kassandra gab. Ich könnte in Mykene eher an meiner eigenen Wirklichkeit als an der der Atriden zweifeln. Diese Burg hat keine Geschichte, 123 sie ist ein reiner Triumph des Mythos und seiner Dolmetscherin, der Poesie. Der Halbgott Perseus hat sie erbaut, die Nachkommen des Pelops haben sie bewohnt. Sie sah das Mahl des Thyestes und den schrecklichen Blutstropfen auf der Stirne Klytämnestras und den Geifer, der aus dem Munde der Erinnyen träufelte. Und es ist gut, dass sie danach keine Alltagsgeschicke gesehen hat.

Auf verfallenen Steintreppen, die oft an tiefen Abstürzen vorüberführen, steigen wir zu dem oberen Burghof und von da noch höher zu den Grundmauern des Atridenpalastes hinauf. Spuren des Mégaron (Männersaals) mit dem Opferherd in der Mitte sind erhalten. Das ist der Herd, an dem die Erinnyen unsichtbar das grause Lied von dem fortzeugenden Fluche der Pelopiden sangen. Hier oben wird der Wind zum Sturm; es ist unmöglich, den entfalteten Plan der Burg in Händen zu halten, der sogleich zerfetzt und entführt wird, kaum dass man sich selbst auf der luftigen Höhe zu behaupten vermag.

Von hier übersieht man den ganzen in verzogenem Dreieck angelegten Burgbau, der genau der Form des Hügels folgt und mit dem schmalen Ende nach der Talenge zwischen den beiden Bergen gerichtet ist. Tiefe wilde Schluchten umgeben ihn, von oben starrt der kahle Hagios Elias wie eine ungeheure Pyramide von aufgetürmten Steingeröll darauf nieder, so hart und schroff und unzugänglich wie das Geschlecht, das unter seinen Felsen aufwuchs. Keine Farbe ringsum als das tote Steingrau mit dem erbarmungslosen brennenden Mittagsglast. Aus dieser Todeseinsamkeit geht 124 der Blick weit über die Ebene nach der tiefblauen, von wundervollen Bergen umgebenen Bucht von Nauplia. Hier oben stand Klytämnestra, als sie von dorther den Triumphzug des heimkehrenden Agamemnon unter Staubwirbeln herankommen sah, die gefangene Kassandra neben dem Sieger auf dem Wagensitz. Weisser prophetischer Schwan, der sich gleich, vom göttlichen Fieber geschüttelt, sein eigenes Sterbelied singen wird, schönste und edelste von den Töchtern des Priamos! Wie sie stutzt vor diesen Mauern, dem Tor, das so viele Verbrechen stumm verschliesst, vor der kalten gleissnerischen Königin. Wie ihr feiner Sinn durch alle Opferdüfte und verschwenderischen Räucherungen, die ihr entgegenhauchen, die vergangenen und die kommenden Schrecken wittert. Gleich werden deine Ahnungen zur Wahrheit werden, und die Furchtbare wird auf deinen und ihres erschlagenen Gatten Leib wahnwitzig lachend die Füsse setzen. Im Hause aber bleibt ein Rachedämon zurück, er gleicht der Mutter, die er hasst; sein Name ist Elektra. Und weit von hier, am Fusse des heiligen Parnassos, wächst Orestes heran. Unterdessen aber kann alles Gold in ihren Kammern und die ganze Schar ihrer Bewaffneten nicht hindern, dass die Mörderin des Nachts vom Lager auffährt, weil ihr Ohr schon jetzt den Schritt des Rächers vernimmt, der erst nach Jahren kommen und neue Greuel zu den alten häufen wird. Dann aber wird das blutbefleckte Haus veröden, denn der genesene Orestes wird anderswo seinen Herrschersitz aufschlagen. Von Mykene aber wird in aller Zukunft nichts weiter zu singen und zu 125 sagen sein. Bloss seine stummen, halbzerstörten Mauern werden als Wahrzeichen durch die Jahrtausende stehen bleiben. Wer hätte Lust haben können, sie wieder aufzurichten und hier zu wohnen? Nur den Göttern konnte man die verhängnisvolle Stätte weihen, wenn der Phylax recht hat, der es von den Archäologen wissen mag, dass hier in späteren Tagen ein Athenetempel gestanden hat.

Was sich wohl das heutige Volk beim Anblick dieser Trümmer denken mag? Ob nicht die Schatten der Atriden, wenn auch noch so verblasst und entstellt, am Löwentor spuken? In den von Ellisen übersetzten »Neugriechischen Gedichten« findet sich die abenteuerliche Umdichtung der Agamemnonsage durch einen griechischen Mönch, worin die Bestandteile des Mythos zu einem Wust von ausschweifender Romantik zusammengewirrt sind. Dort raubt der »Pallikarenbeherrscher« Agamemnon mit Hilfe seiner zwei dienstbaren Löwen die schöne Helena aus dem Kloster und macht sie wider ihren Willen zu seiner Gattin, allein sie wird ihm untreu und entflieht mit einem heimlich im Hause eingekehrten kleinasiatischen Prinzen, der natürlich ein Bekenner des Islam ist. Unter Strömen von Türkenblut gewaltsam zurückgeführt, erschiesst Helena-Klytämnestra im Einverständnis mit einem verräterischen Vetter Agamemnons ihren Gatten mit dessen eigener Muskete und wird nun selbst von Agamemnons Löwen zerrissen. – Man sieht, die griechische Seele hat sich durch die Jahrhunderte so mit Hass gegen den Halbmond durchtränkt, dass ihr kein Gegenstand schmackhaft wird, ehe sie ihn mit 126 Türkenblut gewürzt hat. Wir wollen nun aber nicht etwa diese Phantasiegeburt des patriotischen und glaubensstarken Mönchs zur Beschämung der Neugriechen mit einer anderen Dichtung vergleichen, die gleichfalls den Titel »Agamemnon« führt. Ich weiss auch andere Völker, die heute keinen Aeschylos haben.

Auf der hinteren Burgseite im Nordosten führt ein zerfallener unterirdischer Gang in tiefer Dunkelheit zu dem engen Brunnenschacht der Perseia hinunter, die mit ihrem Wasser einst die Atreusburg tränkte, aber heutigentags völlig trocken ist. Auf die Frage, wo denn das Wasser hingekommen sei, antwortet der Wächter, es sei schon seit lange durch ein Erdbeben abgeleitet, und er führt uns jetzt durch ein Nebentor, das in allem dem Löwentor ähnlich, nur kleiner und schmucklos ist, zur Burg hinaus. Dort an der Aussenseite des ungeheuren Mauerwerks rinnt ein klares, in Stein gefasstes Wässerlein vorüber und ins Tal hinab. Arbutussträuche und niedere Stacheleichen folgen seinem Lauf mit vielen kleinen Blumen von der holdesten Schönheit. Man fühlt sich von einem Alp erlöst, wenn man die Atreusburg hinter sich hat und sein Auge an dem wenigen, aber herrlich leuchtenden Grün erquicken kann, das am Abhang unterhalb der furchtbaren Kyklopenmauern wächst. Die kleine französische Gesellschaft, die hier im Grünen an der Erde tafelt, hat aber gewiss jenes »höchst beachtenswerte« Buch nicht gelesen, sonst würden sie doch wohl fürchten, dass ihnen plötzlich aus der Luft herunter ein Blutstropfen ins Glas fallen könnte.

Zwischen den Ruinen der Unterstadt weidete ein 127 junger Hirt mit Stab und Tasche wie auf antiken Darstellungen seine Schafe. Das Bächlein, das glashell unter der glühenden Sonne hinfloss, sagte mir der Wächter, sei die jetzige Perseia, und ihr Wasser, das er mir im Becher schöpfte, sei poly, poly kaló (sehr, sehr gut). Die Versicherung klang so innig, dass ich den Becher leerte, es schmeckte fade und laulich, wie bei dem langen offenen Weg in der Sonne zu erwarten war. Aber der Phylax trank mit tiefer Andacht zwei Becher aus, als beginge er eine heilige Handlung. Ueberall in Griechenland sah ich das Volk sein Wasser mit solcher Ehrfurcht behandeln, ein Nachklang der Zeit, wo Flüsse und Quellen göttliche Gewalten waren.

Als wir uns schon verabschiedet hatten, rannte uns der freundliche Mann noch ein Stück weit nach, damit wir ja das Grabmal der Klytämnestra nicht übersähen, das ausserhalb des Burgfriedens liegt, angeblich weil die Mörderin nicht würdig war, im Innern neben ihren Opfern zu ruhen. Aber wir haben Eile, dieser beklemmenden Steinwelt zu entrinnen und werfen nur noch von oben durch die zerstörte Decke einen Blick in den unterirdischen Kuppelbau, der den des Atreus in kleinerem Massstab wiederholt, aber bedeutend schlechter erhalten ist.

Und dann nach Argos aufgebrochen! . . . Auf der ganzen weiten Ebene kein lebendes Wesen ausser uns selbst und einer Herde grosser schwarzer Schweine. Im Feld überrascht uns eine Windmühle, die mit Segeln geht; die flache Gegend wird sumpfig. Wer nur alle die vielgestaltigen Berghäupter, die nahen und fernen, 128 die die Ebene einschliessen, mit Namen kennte. Die arkadische Kyllene ist darunter und der Tafelberg Phuka, der das Tal von Nemea verdeckt. Ueber Argos selber ragt die steile Burghöhe Lárissa und ein schildförmiger Hügel, noch heute wie im Altertum Aspis (Schild) genannt.

Kurz vor Argos überschreiten wir das breite, kiesige, völlig wasserlose Bett des Charadros, der die alte Stadt umgürtete; ein Anblick, der allein schon das Wort Homers von dem »dürstenden Argos« rechtfertigt. Wir fahren durch eine lange, dorfähnliche Gasse mit niedrigen rotgestrichenen Häusern von ärmlichem Aussehen, wo rechts und links den ganzen Weg entlang Schmiedefeuer glühen, die die Erinnerung an die berühmten Rossweiden der alten Argiver wecken. Dann kommen bessere Strassen mit Gruppen schönbelaubter Platanen, auch eine Platía mit Kirche und Rathaus. Aber vom alten heroischen Argos ist keine Spur erhalten. Wo lag das eherne Gemach der Danae, durch das Zeus als goldener Regen drang? Wo der Hügel, unter dem Perseus das Gorgonenhaupt bestattete? Oder das Grabmal des furchtbaren Pyrrhos von Epiros, der hier durch den Steinwurf eines alten Weibleins das Leben verlor? Und alle die anderen Heiligtümer und Gedächtnismale aus mythischer und geschichtlicher Zeit, die weit in unsere Zeitrechnung hereinragten? Auf uns ist nichts gekommen als die in den Felsen der Lárissa gehauenen Sitzreihen des antiken Theaters, wo 1821 die erste griechische Nationalversammlung unter Alexander Ypsilantis tagte.

Eine grosse römische Backsteinruine liegt zu Füssen 129 des Theaters unten im Grünen mit eingebautem kleinem Bauernhaus, von schlankem Eukalyptus umstanden, in unvergesslich schöner Einsamkeit. Hoher Asphodelos wächst im Grase, aus den Trümmern bricht ein Baum hervor, der ganz mit weissen Röschen überschüttet ist, und oben vom höchsten Mauerrand hängt ein tiefblauer leuchtender Blumenteppich von märchenhafter Schönheit nieder. Ob wohl der dunkle Junge mit den strahlenden Augen, der lässig ein paar Schafe bewacht, von der ergreifenden Schönheit dieses Ortes eine Vorstellung hat?

Von hier aus wird das Theater erklommen, dessen steiles Halbrund bis auf den hohen Kamm des Lárissaberges hinaufragt. Die luftige, sagenumwitterte Hochburg selber, die sich des alten Danaos als ihres Gründers rühmt, oder auch nur das weiss schimmernde Klösterlein auf halber Höhe des Berges zu ersteigen, verbietet die knappe Zeit. Denn schon neigt sich der Tag, und unsre Nachtherberge ist in Nauplia bestellt; unterwegs aber haben wir noch vor, die »mauerumgürtete« Tiryns zu besuchen. Also zurück in den Wagen und zwischen gelbgrauen niederen Mauern, die einen Belag von dürrem Heidekraut tragen, durch die weitoffene, teilweise sumpfige Ebene weitergefahren.

Die Burg von Tiryns

Noch rätselhafter und urzeitlicher als die Burg von Mykene blickt uns die von Tiryns an. Die ungefüge Ringmauer und der abgebrochene Turmkoloss aus unbehauenen Riesenblöcken von zwei bis drei Meter Länge, die ein Einschiebsel kleinerer Steinbrocken zusammenhält, erscheinen beim ersten Blick gar nicht wie ein Bauwerk, sondern wie ein seltsames Naturgebilde, eine 130 phantastische Fortsetzung ihres niederen umbuschten Felsensockels, der einsam mitten aus der Ebene aufsteigt. Eine überwachsene steinerne Rampe führt zum ersten Tor, durch das man zwischen engen Mauern zum zweiten Tor und von da zur Oberburg gelangt.

Soviel man von diesen Bauwundern gehört hat, ihr Eindruck ist so befremdend, dass man ihnen völlig hilflos gegenübersteht wie einer Sphinx.

Oben ist der Grundriss eines Palastes aus mythischer Zeit freigelegt, der dem von Mykene gleicht: ein Vorhof mit Rundaltar, ein säulengetragenes Mégaron mit dem Herd des Hauses, ferner ein kleinerer Frauensaal, Schlafgemächer, Bad, mächtige Hallen und Torbauten, Gänge und Kammern, alles nur in den Grundmauern erhalten. Auf einer tiefer gelegenen Terrasse an der Nordseite zeigt man die Spuren der Unterburg, die zu Gesindewohnungen und Stallungen diente. Von der Pracht, die auch in Tiryns geherrscht hat, sahen wir im athenischen Museum die schwachen Reste in dem Stück Wandbekleidung aus Alabaster mit blauem Glasfluss und dem kleinen Freskosplitter, worauf der über einem Stiere schwebende Gaukler dargestellt ist.

Vom Palaste steigen wir auf einer Steintreppe zu den sonderbaren steinernen Galerien mit der spitzigen, durch vorkragende Steine gebildeten Wölbung hinab, dem einzigen, was der Zerstörungswut der Griechen gegen Griechen, die auch hier getobt hat, standhielt. Die ungeheuren Quadern sind stellenweise blank und glatt wie geschliffen – durch Reibung der Schafe, heisst es, denen diese Gänge in ihrem Verfall jahrtausendelang zu Ställen gedient haben. Eine tiefe Bresche gewährt den befreienden Ausblick auf die zauberische Bläue der Bucht von Nauplia mit ihren schönen Inseln und Vorgebirgen, die durch das Grün der Bäume noch zauberischer schimmert.

Wer sind die Herren und Bewohner dieser merkwürdigsten aller Burgen gewesen, in der man sich nur ein Geschlecht von Riesen heimisch denken kann? Bloss die Sage spricht von ihnen. Sie weiss, dass hier der Ururenkel des Perseus, der Schwächling Eurystheus, geherrscht hat und dass der gewaltige Herakles ihm dienen musste, weil er durch einen Kniff der eifernden Hera um eine Stunde zu spät zur Welt kam; hier muss es auch gewesen sein, wo er die Schlangen in der Wiege erdrückte. Die Geschichte schweigt. Nichts weiss man von den Schicksalen der Burg in historischen Zeiten, als dass die Argiver sie ebenso wie die Burg von Mykene zerstört haben aus Eifersucht, weil beide Völkerschaften mit Ehren an dem Freiheitskriege gegen die Perser teilnahmen, die einen bei den Thermopylen unter Leonidas, die anderen mit den Athenern bei Platää, während jene selber in schimpflicher Untätigkeit zusahen, wie die Geschicke sich wenden würden. Rechnen wir den Tirynthern diese eine Ruhmestat für alles andere an, wovon wir nichts wissen können, und freuen wir uns, nichts davon zu wissen, weil so der Boden ungeteilt den Heroen gehört.

Die Mythen anderer Völker pflegen irgendwo in einem mystisch dämmernden idealen Raume zu stehen, den man sich nach Belieben ausmalen kann, die der Griechen sind wunderbar mit den Oertlichkeiten 132 verwachsen. Hier auf dem Peloponnes ist jeder Fussbreit von den Schweisstropfen des Halbgotts besprengt, jenes Christus der Tat, der durch übermenschliches Leisten und Leiden für das Gesamtwohl sich die Vollgöttlichkeit erwarb und dem Griechen das erhabene Vorbild sittlicher Vollendung wurde. Nemea haben wir im Vorüberfahren gesehen, wo er den Löwen bezwang, auch Lerna ist nicht weit von hier, der Wohnort der Hydra, und der stymphalische See, an dem er die menschenfressenden Vögel erlegte. Aus seinen mythischen Taten erwuchsen dann seinen angeblichen Nachkommen die grossen geschichtlichen Rechte, an denen niemand zweifelte, denn die Poesie regierte Griechenland. Was der Dichter sang, hielt er selbst für wahr und das ganze Volk mit ihm; er hatte es ja von der Muse, die nicht lügen kann:

Denn ihr seid Göttinnen und wart bei allem und wisst es,
Doch wir horchen allein dem Gerücht und wissen durchaus nichts.

Darum gehörte der Peloponnes von Rechtswegen den Herakliden.

Blick auf Palamidhi

Mit sinkendem Abend fuhren wir in Nauplia ein, doch säumte das Licht gerade lang genug, um uns noch den vollen Anblick dieser Wunderbucht zu gönnen. In ihrer seligen Bläue, die der steile befestigte Palamidhi und die trotzige Hafenburg Itsch-Kalé umschränken, schwimmt ein verklärtes Inselchen mit Namen Burzi, das einen unheimlichen Bewohner hat, den Scharfrichter, der, selbst ein zum Tode verurteilter und 133 zum grässlichsten Handwerk begnadigter Verbrecher, dort in strengster Abschliessung gehalten und vor der Volkswut militärisch bewacht wird; eine schauerliche Mahnung an die giftigen Schwären der Menschheit in diesem Lande der Götter und Heroen.

 

Eine halbe Tagesfahrt von Nauplia liegt das berühmte Asklepiosheiligtum von Epidauros, unser nächstes Ziel.

Bei der Abfahrt am Morgen hat sich der Himmel leise bezogen, und die Bucht schimmert durch einen silbrigen Schleier, aber die fernen Berge stehen in plastischer Klarheit da: die Lárissa von Argos mit dem weissen Kloster auf halber Höhe und dem Kastell auf dem Gipfel und die kahlen Bergpyramiden von Mykene. Ausserhalb der Vorstadt Pronia ist die von Agaven gesäumte und auffallend gut gehaltene Strasse, auf der unser Wagen hinrollt, noch von Fussgängern und Eselreitern belebt, und schwer mit Heidekraut beladene Maultiere kommen uns entgegen, aber nachdem sie sich östlich gewendet hat, läuft sie in weltentlegener Einsamkeit zwischen hohen, mit Steinen besäten Abhängen hin, an denen nichts als niedriges Heidekraut nebst wilden Rosen wächst. Ein Felsental ums andere, grün aber baumlos, tut sich auf, ohne dass man einer Menschenseele begegnete, man fühlt sich in dem herben Ernst der Landschaft so abgeschieden, als reiste man auf dem Monde. Die Auswanderung ist es, was den Peloponnes entvölkert, doch kommen die Flüchtlinge gerne im Alter zurück, wenn sie draussen etwas erworben 134 haben, um sich auf der heimischen Scholle anzukaufen und da ihr Leben zu beschliessen.

Nur zweimal werden unterwegs die Pferde getränkt: zuerst unten in der Tiefe an der niedrigen, von schönen Platanen beschatteten Herberge, neben der eine Herde dickwolliger Schafe und Ziegen mit seltsam gekrümmten Hörnern weidet, – ein Blick in die Schlafzimmer, den ich mir durch eines der hinteren Fenster erstehle, bestraft mich für meine Neugier – und zum zweitenmal in einem hochgelegenen Dorf, wo uns ein ganzes Rudel Hunde umbellt. Und immer tiefer geht es am Rand einer breiten, bewaldeten Schlucht, der viele tiefeingeschnittene wasserlose Bachrinnen zustreben, in das grüne, gebirgige Oedland hinein. Oberhalb des Weges in der Flucht der jetzt verwachsenen antiken Strasse steht eine uralte, ganz von Heidekraut umwucherte Kyklopenbrücke mit enger, aus gewaltigen Kragsteinen gebildeter Wölbung, durch die sich wie durch ein Tor die Wasser stürzen können. Antike Bergbefestigungen ragen in die Höhe, die unser Kutscher eine wie die andere Kasarma benamst, was er nicht so nennen kann, von dem erklärt er kurzweg: dhen éche onomasían (hat keinen Namen). Nur einen höheren Berg zur Rechten, der unsere Aufmerksamkeit erweckt, weil er von einem dünnen Geflecht von Rinnsalen wie von Spinnenfüssen gezeichnet ist, nennt er Arne, und dabei wird der Schweigsame auf einmal beredt, indem er mir von Feuersignalen erzählt, die einmal in Kriegszeiten auf diesem Berge gebrannt hätten. Da jedoch in diesem Augenblick mein 135 sprachkundiger Reisekamerad die Ohren anderswo hat und ich selbst nur einige Hauptwörter wie Feuer, Berg, Zeichen usw. und dann noch eine malende Gebärde, die »weither von Berg zu Berg« bedeuten muss, verstanden habe, bleibt die Geschichte vorderhand dunkel. Erst am folgenden Tag auf der Rückfahrt über Argos, wo der Berg von der anderen Seite sichtbar ist und mir als der »Spinnenberg« oder Arachnäon der Alten vorgestellt wurde, sollte mir ein Licht aufgehen: der Mann wollte mir von der Flammenpost erzählen, durch die Agamemnon seiner Gattin den Fall Trojas ankündigte. Irgendein Reisender mag ihm von dieser Glanzstelle des Aeschylos erzählt haben, und er hat sicher gewaltig die Ohren gespitzt, wie alle seines Volkes tun, sobald von der grossen Vergangenheit in Dichtung oder Geschichte die Rede ist. Wenn der Hellenismus so weiter wirkt, wird man in hundert Jahren meinen können, es seien lauter unmittelbare Ueberlieferungen.

Um Mittag kamen wir in Epidauros an, nicht in dem Dörflein dieses Namens, das meerwärts an der Stelle der alten Stadt liegt, sondern auf der Trümmerstätte des heiligen Bezirks in einem schönen Tale, das noch jetzt Hieron (Heiligtum) heisst. Hier war der Ursitz des Asklepios, der von der Königstochter Koronis – ihr Name lebt noch in dem nahen Dörflein Koroni weiter – in diesem Tale dem Apollon geboren und oben auf dem Berge Titthion von einer Ziege ernährt wurde; und von hier verbreitete sich sein und der Hygieia Dienst mit den mächtigen Kulturwirkungen, die sich daran knüpften, über die ganze antike Welt.

Theater in Epidauros

136 Dass hier einmal einer der grossen Mittelpunkte des griechischen Lebens war, erkennt man sogleich an dem Umfang der ausgedehnten Trümmerstätte. Schon von weitem kommt das berühmte Theater des Polyklet in Sicht, grau und steil in die graue steile Bergwand des Kynortion eingearbeitet, das besterhaltene, wenn auch vielleicht nicht das allerschönste der griechischen Theater, denn das athenische am Abhang der Akropolis ist mir noch lieber. An seinem Fusse machen die Wagen halt; dem unsrigen haben sich nämlich unterwegs noch zwei andere angeschlossen, die uns in der ausgestorbenen Landschaft die Vorstellung benahmen, als wären wir beide zusamt dem Kutscher die letzten übrigen Bewohner des Planeten. Der alte Herr, der dem ersten Wagen entsteigt und ohne weiteres ein Gespräch anknüpft, erregt meine Neugier; so vortrefflich er sich abwechselnd im Englischen und Französischen ausdrückt, und so verbindlich sein Mund lächelt, aus seinen eiskalten gebietenden Augen und seinem ganzen Gehaben weht mich etwas an, das ich in unserer Kultur nicht unterbringen kann. Wir sollten ihm auf unseren Fahrten noch des öfteren begegnen und entdeckten erst später, dass es ein ägyptischer Pascha war, der mit seinem Gefolge und einem Dragoman Griechenland bereiste.

Ehe wir uns in einer hochgelegenen Laube, auf blumigem, leicht bewaldetem Abhang mit unseren mitgebrachten Vorräten zum Imbiss niederliessen, wurde das Theater nach allen Richtungen durchstreift und bis zu der obersten Stufe erstiegen, die auf der Höhe des Hügels liegt und an Stelle der einstigen Ummauerung reizend 137 mit Buschwerk eingefasst ist. Von hier aus übersieht man das Ganze am schönsten: die völlig erhaltenen Sitzreihen mit dem breit durchlaufenden Mittelgurt, und den steilen Treppen, die grasbewachsene Orchestra mit dem Dionysosaltar in der Mitte, schön mit Steinen eingesäumt, die Säulenstümpfe und die Hinterwand des Bühnenraums, auf dessen Dach zwei steile steinerne Rampen führen, die seitlichen Eingänge für den Chor, wovon der eine wiederhergestellt, der andere in Angriff genommen ist, alles aus einem der Stuckumhüllung entkleideten Muschelkalk, »Poros« genannt, der dem Auge eine phantastische Kleinwelt versteinerter Seetiere darbietet. Die nahen Berge im Hintergrund müssen dem Bühnenbilde einen wundervollen ruhigen Abschluss gegeben haben. Und doch stellt man sich unwillkürlich auf diesen Sitzreihen ein minder kunstsinnniges und feinfühliges Publikum als im athenischen Theater vor, wie die Landschaft selber in ihrem herben Reiz an ein schönes, aber unvergeistigtes Antlitz erinnert, während die attische ganz von innigem Leben beseelt ist.

Amazone vom Giebelfelde des Asklepiostempels in Epidauros

Der heilige Bezirk des Asklepios, wo die Kranken aus der ganzen griechischen Welt durch Traumorakel Genesung suchten, breitet sich mit einer grossen Zahl von Gebäuden, die einst inmitten eines schönen Haines lagen, wie ein heutiger Kurort im Tale aus. Nur dass die Griechen vor allem daran dachten, es dem Gotte bequem zu machen mit Tempelbauten, Opferstätten und Weihgeschenken aller Art. Vom Asklepiostempel selbst und von der Halle, wo die Kranken an der Erde schliefen, um die Eingebung des Gottes 138 zu empfangen, sind nur die Unterbauten erhalten. Die wundervollen Reste der Giebelskulpturen, eine Nereide und eine Amazone zu Pferd, sind der grossen athenischen Sammlung einverleibt, doch von der Amazone befindet sich eine Wiederholung am Ort in dem kleinen Museum. Daselbst sind auch die Bruchstücke des herrlichen polykletischen Rundbaus aufgestellt, an denen mich zum erstenmal, abgesehen vom Lysikratesdenkmal in Athen, die korinthische Säule entzückt, denn diese Bauform wirkt nur im kleinen Massstab wohltuend. – Wie immer in Griechenland hatten dann auch andere Götter mit kleineren Tempeln Anteil an dem heiligen Ort. Ein Stadion, das noch in seiner Grundform erhalten ist, durfte so wenig wie das Theater fehlen, um den Gott durch Aufführungen und Spiele zu ehren.

Für die Gäste, die Heilung suchten, war durch eine sehr weitläufige Fremdenherberge, das sogenannte Katagogion, gesorgt, das hundertundachtzig Räume enthalten haben soll, was auf guten Zuspruch schliessen lässt. Doch dürfte es stark an Bequemlichkeiten gemangelt haben. Der Gott, der als Mensch geboren war und schon im zarten Knabenalter Heilwunder verrichtete und Tote erweckte, teilte mit seinem Vater Apollon den Widerwillen vor allem Unreinen und wollte wie dieser kein Leiden und Sterben sehen. Daher in Epidauros die Frauen ohne Obdach entbinden und die Kranken unter freiem Himmel sterben mussten.

Dann kamen die Römer und sorgten für weltliches Behagen. Sie bauten neue grossartige Bäder, deren Leitungen und Becken noch gut erhalten sind; es war 139 ja einer ihrer angenehmsten Züge, dass sie, wie die heutigen Engländer, überall, wo sie Fuss fassten, sich gleich um die Reinlichkeit verdient machten. In diesen Räumen sieht man neben merkwürdigen Sitzbädern noch merkwürdigere längliche Wannen in Stein gehöhlt, teils für Erwachsene, teils für Kinder und in beiden Fällen erstaunlich enge, eigentlich nur zum Uebergiessen und Abreiben einer liegenden Person, nicht zum richtigen Vollbad geeignet, wie ja auch aus dem Homer hervorgeht, dass das Baden ein Geschäft war, das von fremden Händen besorgt werden musste. Auch eine Anstalt haben sie gebaut, wo die Menschen ausserhalb des heiligen Bezirks ohne Versündigung an der Gottheit zur Welt kommen und sterben durften. Doch blieben sie darum in den Augen der Eroberten nicht minder Barbaren, und etwas von diesem Gefühle ist mit den alten Ruinen wieder aus dem Boden gestiegen. Denn als ich unter den Resten des römischen Odeion blumenpflückend herumkletterte, gesellte sich der Wächter der Ausgrabungen zu mir und bedeutete mir mit einer unvergesslichen Handbewegung, dies alles sei ja nur romaïkó – drüben beim Asklepiostempel und in dem kleinen Museum seien die schönen Reste aus der grossen hellenischen Zeit, – die allein verlohnten sich der Mühe des Anschauens. Ganz meine Meinung, wackerer Phylax! Habe ich mich doch schon in Attika genugsam an der Seelenlosigkeit entsetzt, mit der die römischen Reste unter griechischem Himmel mich anblicken. Wer nur das Wort von der »römisch-griechischen« Kultur aufgebracht haben mag! Es ist gerade, als sagte man: europäisch-amerikanisch.

140 Nun sitzen wir wieder im Wagen und sind aufs neue die einzigen Menschen auf einer ausgestorbenen Erde. Denn der Pascha und sein Gefolge haben das Hieron mit bewundernswerter Schnelligkeit erledigt und sind eilig in ihren zwei Wagen weitergerollt. Der einzige Eingeborene, der uns unterwegs begegnet, sieht in seiner stilvollen Tracht – einem schwarzen Wams mit merkwürdigem, von den Hüften bis zu den Knien reichenden blauen Leinenröckchen, das im Winde flattert, mit hoch auf der Wade gekreuzten Schuhriemen und einem Tragebalken, an dem sich Butter und Käse das Gleichgewicht halten, gleichfalls wie ein Ueberbleibsel aus alten Zeiten aus, wie ein Landmann, der das Katagogion von Epidauros mit schmalem Vorrat versieht.

Als wir bei einbrechender Dämmerung an den schönen Treppenanlagen von Itsch-Kalé vorüberfuhren, war die Schuljugend von Nauplia da aufgestellt und empfing unseren Wagen mit einem wahren Blumenregen, dem aber unsänftlicherweise auch ein Stein beigemischt war. Ich hätte den letzteren bei der grossen Gastfreundlichkeit der griechischen Bevölkerung für einen in der Eile begangenen Missgriff gehalten, wäre mir nicht auf der Weiterreise von einem deutschen Herrn dieselbe Erfahrung mitgeteilt worden. Blumen oder Steine – ich glaube, es sind nur verschiedene Ausdrucksformen für die Gemütserregung, in die diese naiven Geister durch den Anblick der Fremdlinge versetzt werden. Dann breitete sich eine unvergessliche Sternennacht über den Golf von Nauplia, rote Leuchtfeuer zuckten über das Wasser und erinnerten an ihren 141 ersten Erfinder, den kunstreichen, durch die Tücke des Odysseus aus dem Wege geräumten Palamedes, von dem der hohe Berg Palamidhi bei Nauplia von Altersher den Namen hat. So wären wir wieder in der homerischen Welt angelangt, in deren Namen wir ausgezogen sind und zu der alle Wege zurückführen. Mit dem leisen Anrauschen der Wellen umgeben mich ihre Bilder, bis der Schlaf mich einlullt.

 


 


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