Isolde Kurz
Wandertage in Hellas
Isolde Kurz

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Delphi

Der Tag leuchtet wieder einmal in wundervoller Klarheit und gestattet uns all die erhabenen Häupter an beiden Küsten zu grüssen, die so schön sind für das Auge und noch schöner durch den Glanz ihres Ruhms. Zur Linken die vielgezackte arkadische Kyllene bis herab mit Schnee bedeckt, und die gleichfalls beschneite Spitze des Erymanthos über das niedere Küstengebirge hervorlugend. Zur Rechten der nicht hohe, aber wunderbar kühngeformte Kithäron mit seiner dunklen Waldung, und als eine kahle Masse der Helikon! Der Grieche lacht nicht, er lächelt nur, und so auch seine Landschaft. Verglichen mit der überirdischen Hoheit dieses Bildes, scheint jetzt in der Erinnerung das schönste Ufer Italiens viel zu irdisch-prächtig. Kleine Felseninseln, schroff abfallende Klippen, phantastisch kühne Vorgebirge die ganze wild zerklüftete Küste entlang, bis der flache, lange Rücken der Kyrphis ans Meer herantritt und über ihr hoch im Aether eine strahlende Silbermasse sich erhebt. Ein Jubelruf geht durch das Schiff: der Parnassos! Sogar 160 der Pascha mit seiner orientalischen Würde steht auf, ihm seine Hochachtung zu bezeigen. Doch ragt das Phoeboshaupt nicht einsam, daneben steigt eine zweite Schneekuppe empor, die dem Mitinhaber des delphischen Heiligtums, dem Dionysos, gehört.

Geheimnisvolle Schönheit liegt über der krysäischen Bucht, als sollte eben ein göttliches Wunder geschehen, und glückverheissende Delphine springen ganz nahe um unser Schiff. Künden sie vielleicht den neugeborenen Apollon an, der auf dem geflügelten Dreifuss von Delos herschwebt, die Leier in der Hand und den Köcher auf dem Rücken, um von dem Seherthron am Parnassos Besitz zu ergreifen? Zwischen der Kyrphis und Kap Andromache (hier wird schon die Dichtung lebendig!) hält der Dampfer, und wir werden nach Itea ausgebootet.

Von Staub umwirbelt, rasen wir jetzt dreispännig einem anderen Staubwirbel nach, der von den Wagen des Paschas aufgetrieben vor uns herjagt. Unser Kutscher hat den Ehrgeiz, mit seinem Dreigespann die beiden Zweispänner zu überholen und peitscht in unverständiger Hartnäckigkeit auf das viel kleinere Seitenpferd ein, das, um mitzukommen, sich zu rasendem Galopp ausstrecken muss und doch mit seinen kurzen Beinen das Tempo der grossen Kameraden nicht einhalten kann. So donnern wir an einer Flucht lehmfarbiger Häuser vorüber, unter prachtvollen Felsgebilden hin und auf einer Brücke über das trockene Bett des Pleistos, bis es mir im unmöglichsten Griechisch gelingt, den unbarmherzigen Wettlauf zu hemmen. Nun geht es in gemässigter Eile, während die anderen 161 Wagen entschwinden, durch die schöne Oelwaldung der Pleistosebene in eine wundervolle Gebirgslandschaft an den Vorhöhen des Parnassos hinein. Hoch oben am Berghang sieht man die Häuser des grossen Dorfes Kastro angeklebt, das jetzt den stolzen Namen Delphi führt; es lag ursprünglich über dem verschütteten Bezirk des pythischen Apollon aufgebaut und wurde von der französischen Schule vor Beginn der Grabungen abgetragen und fein säuberlich zehn Minuten weiter unten wieder aufgestellt. Seitdem ist es das Ziel unzähliger Wallfahrer, die wieder wie in alter Zeit den Götterberg ersteigen. In Schlangenwindungen fahren wir an kahlen, wild zerrissenen Abhängen vorüber den Berg hinauf mit dem Blick auf die dunkelbewachsenen scharfkantigen Felsterrassen der Kyrphis jenseits des Pleistosbettes und auf den herrlichen Golf, den die Berge Achajas begrenzen. Nur Kinder auf Eseln begegnen uns und ein paar Bauern mit dem antiken Hirtenstab in der Hand, den jeder griechische Bauer trägt.

In dem sauberen, stadtähnlichen Dorf Chryso, das an der Stelle der alten Stadt Krysa liegt, wird fünf Minuten gerastet. Von dort nimmt die Gegend immer wilderen und grossartigeren Gebirgscharakter an; auf den rauhen Bergflanken wächst nichts mehr als Disteln und Heide, und Hochgebirgsluft umweht uns. In weiten Kehren windet sich der Wagen vollends hinauf, während im Westen allmählich eine sechsfache Reihe von Bergzügen emporsteigt, bis wir bei sinkender Dunkelheit vor dem grossen Gasthof von Delphi 162 halten, der auf seiner Schwelle in Stein eingelegt den stolzen Namen Apollon Pythios trägt.

Am Schlusse der langwierigen Mahlzeit in dem grossen menschenüberfüllten Saale, der mit Gewinden von blühender Erika und andern Gebirgspflanzen reizend geschmückt ist, blickt schon die ambrosische Nacht durch die Scheiben. Die Strasse liegt dunkel und still, nur ein Bächlein singt am Wege, es muss die Kassotis sein. Was so gewaltig zu unseren Häuptern hängt, sind die »Phädriaden« (Glanzfelsen) der Alten, deren rötlichen Schein wir schon vom Meere aus gesehen haben. In ihren niedrigen Vorsprüngen sind Felsengräber eingehauen, vielleicht Begräbnisstätten der Priesterinnen, die auf dem heiligen Dreifusse sassen. Bald verschlingt sie die Dunkelheit, und es ist nichts mehr übrig als der Himmel mit seiner Sternenpracht und die Umrisse der Bergkolosse. Aber jetzt erhebt das Wässerlein seine Stimme noch heller als zuvor, es ist nicht mehr ein blosses silbernes Geriesel, es ist eine melodische Tonfolge, an der sich das Ohr nicht sättigen kann. Ueber der Kassotis, die den heiligen Bezirk durchströmt, sass einst die Pythia auf ihrem Dreifuss; hat sie wohl davon die zauberische Stimme? Sie zieht mich immer weiter mit in ihrem eilenden Tempo, ich muss mir am Ende gewaltsam Einhalt tun, dass ich nicht mit ihr im Dunkeln in die gähnende Papadhiäschlucht stürze. Aber auf meinem hohen Balkon hält mich die delphische Wundernacht noch lange wach mit den südlichen Sternbildern über den Kyrphisfelsen und der krysäischen Bucht, die im weisslichen Sternenschein durch das Tal des Pleistos heraufschimmert. Das Ganze ist 163 so unwahrscheinlich wie ein Traum, und ich lege mich ungern zur Ruhe in einer heimlichen Furcht, es könnte am Morgen alles zerronnen sein.

Aber ich erwache und bin noch immer in Delphi. Nur dass aus dem Pleistostale lange Nebelschwaden heraufziehen, die zwar zunächst von der Sonne verzehrt werden, sich aber gleich von neuem bilden, und die Luft ist bedenklich weich geworden. Bis wir den heiligen Weg ereilen, der bergan in den Bezirk des Pythischen Apollon führt, tröpfelt es bereits.

Welch ein Anblick! In Griechenland muss man auf Schritt und Tritt umlernen. Immer hatte ich gedacht, ein so edles Gebilde wie der griechische Tempel könne nur in harmonischer Umgebung auf einem schönen Hügel oder in einem stilisierten Haine stehen. Hier aber war eine Welt von Marmor, Tempel, Schatzhäuser, Gemäldehallen, vergoldete Statuen, eine Schöpfung der durchgebildetsten Formen mitten in die rauheste Bergwelt hineingestellt, und siehe, die wenigen Ueberbleibsel beweisen, dass es herrlich war.

Tiefste Einsamkeit, erhabenste, unzugängliche Gebirgswildnis und blendender Glanz einer überirdischen Schönheitswelt, der daraus hervorbricht; wahrlich der pythische Gott verstand es, wie man die Herzen bändigt!

Teil der Heiligen Strasse zu Delphi mit Unterbauten von Weihgeschenken

Den heiligen Weg begleiten rechts und links die Unterbauten der grossen Weihgeschenke, die hier von Städten und Privatpersonen dem Gott als Dank für verliehene Siege aufgestellt waren. Das erste ist das der Athener für Marathon. Nur die Quadersteine, worauf es ruhte, und ein Stück Ummauerung sind erhalten. 164 Aber es macht das Herz weit, an die einst hier ragenden Gestalten des Miltiades und der attischen Heroen, die unsichtbar den Sieg gewinnen halfen, zu denken. Den Dank eines ganzen befreiten Volkes aus dem Zehnten der Siegesbeute an die Gottheit zu entrichten, welche Aufgabe für den Künstler; dafür war es auch Phidias, dem sie zufiel. Doch das Hochgefühl verlässt uns, wenn wir den Blick wenden. Auf der anderen Seite stand das Weihgeschenk des Lysander für Aegos Potamoi, die Zertrümmerung der athenischen Flotte durch die Spartaner! Es war ein riesiges Werk mit nicht weniger als siebenunddreissig Statuen, in der Mitte Lysander selbst, von Poseidon bekränzt. Und das war nur der Anfang. Denn hart vor das Lysanderdenkmal legte sich später wie zum Hohn ein anderes: der Dank der Arkader für die Niederwerfung der Spartaner bei Leuktra, und diesem gegenüber ragten die Gestalten der »Sieben gegen Theben«, für den gleichen Sieg von den Argeiern gestiftet. So geht es weiter mit den brudermörderischen Siegeszeichen, die die Griechenstämme dem gemeinsamen Schutzgott aufstellten. Heute sind nur noch blasse Spuren von dem allem erhalten, aber der alte Reisende Pausanias hat sie pünktlich aufgezählt, man kann das endlose Verzeichnis nicht ohne Grauen lesen. Und der rätselhafte Loxias beriet mit den schiefen Orakelsprüchen seine Söhne, wie sie sich gegenseitig am besten zerfleischten, und nahm jedesmal kaltlächelnd seinen Anteil an der Siegesbeute entgegen. Die ganze Geschichte der Griechen war hier in Stein zu lesen, dieser götterähnlichen Stämme, Frucht einer unbegreiflich gelungenen Blutmischung, die in 165 sich die ganze Menschheit mit den Entwickelungskeimen der fernsten Zukunft enthielt, die der äussere Feind jedesmal unüberwindlich fand, wenn sie zusammenstanden, und die doch vom fressenden Neid und Hader nicht ruhen konnten, bis der letzte Tropfen Heldenblut vergossen war, und die Römer mit dem entkräfteten, entarteten Ueberrest leichtes Spiel hatten. Verhängte so ein Gott dem Edelsten Untergang, dass er sei ein Gesang noch späten Geschlechtern? Oder mussten sie im Jugendalter von der Erde verschwinden, weil sie bei längerem Leben den Schleier der Gottheit aufgehoben und die grossen Rätsel, an denen die Jahrtausende sich mühen, spielend gelöst hätten? Wenn ich die Pythia finden kann, nur dieses eine will ich sie fragen.

Schatzhaus der Athener in Delphi

An der ersten Biegung des Weges steht unter aufgehäuften Felsbrocken das Schatzhaus der Athener, ein entzückender Tempel im kleinen, zur Aufbewahrung der kostbarsten, dem Gotte dargebrachten Kleinodien dienend. Es ist das einzige von den vielen Schatzhäusern griechischer Staaten in Delphi, das an Ort und Stelle beinahe vollständig aus seinen Trümmern wieder aufgebaut werden konnte. Doch da wir eintreten wollen, um vor dem heftiger strömenden Regen Schutz zu suchen, zeigt es sich, dass ihm die Bedachung fehlt. Darum eilen wir weiter, ob uns der überkragende Fels der Sibylle, der von Urzeiten her in der Mitte des heiligen Bezirks liegt und an die Zeit erinnert, wo Delphi noch Pytho hiess und der grossen Erdmutter gehörte, Unterschlupf gewähren will. Aber seine Höhlung ist nicht tief genug, und da es schliesslich gleich ist, ob man von einer oder von allen Seiten nass wird, so lassen 166 wir auch die verstümmelte Stoa der Athener, unter die sich ein deutscher Landsmann mit Lodenkragen und Baedeker geflüchtet hat, liegen und setzen den Aufstieg zu dem auf hochgemauerter Terrasse thronenden Apollontempel fort.

Auf dem schmalen Wege drängen sich die Basen der verschwundenen Weihestatuen; ihre Zahl muss hier ungeheuer gewesen sein wie durch den ganzen heiligen Bezirk. Konnte ja der unersättliche Nero allein dem Gott fünfhundert Bronzewerke rauben, ohne dass der Abgang fühlbar wurde. Alle heiligen Stätten der Griechen waren nach unseren Begriffen überfüllt, aber was von Delphi aufgezählt wird, aus einer Zeit, wo schon unendliche Räubereien über den heiligen Ort ergangen waren, ist schwindelerregend. Vergebens fragt man sich, wie alle diese Viergespanne, Reiterstandbilder, diese Massengruppen und Einzelfiguren, die goldenen Dreifüsse und andere Schmiedewerke, dicht gehäuft wie in einer Schatzkammer, unter freiem Himmel zu Füssen des wilden Gebirges für das Auge gewirkt haben mögen. Aber freilich, sie waren nicht für das Auge aufgestellt. Eine Kunst um der Kunst willen kannte der Grieche nicht in seiner grossen Zeit, sie war ihm die Sprache, in der er mit der Gottheit sprach. Und der Sehergott verschmähte nichts, was man ihm brachte. War er doch vorurteilslos genug, auch die vergoldete Bildnisstatue der Phryne anzunehmen von der Hand ihres Liebhabers Praxiteles gefertigt, die die berühmte Hetäre ihm stiftete. Nur einmal verbat er sich ein Geschenk, das ehrenvollste von allen, das des Themistokles aus der salaminischen Beute; und warum tat 167 er dies, als weil der schiefe, doppelzüngige Pythier auch nach dem Grosskönig hinüberäugelte? Für eine Priesterzunft gibt es kein Vaterland. – Von all dem einstigen Uebermass ist heute nichts mehr vorhanden, als auf der steinernen Rampe die sitzende kopflose Frauengestalt, die, von den Tränen des Himmels berieselt, einen wahrhaft pathetischen Eindruck macht.

Apollotempel und Theater in Delphi

Vom Tempel selber stehen nur noch die Riesenfundamente. Stufen führen zu dem Haupteingang, der wie bei fast allen griechischen Tempeln im Osten lag. Hier mahnten die berühmten Sprüche der Sieben Weisen an den Wänden zur inneren Einkehr. Hinter der westlichen Cellawand geht eine Treppe in das sogenannte Adyton, den unzugänglichen unterirdischen Raum, wo die Priesterin unter den begeisternden Dämpfen auf dem Dreifusse sass. Die Hoffnung, hier im Allerheiligsten dem Geheimnis des Orakels näherzukommen, wird völlig enttäuscht, man findet nichts als Zerstörung. Ist es ein Zufall, dass gerade von diesem Tempel, der der Mittelpunkt des religiösen Lebens der Griechen war, am allerwenigsten erhalten ist? Es heisst, dass nach dem Sieg des neuen Glaubens die Menschen ihn aufgegeben und das Erdbeben ihn zerstört hätte. Aber darf man dem Erdbeben einen solchen fanatischen, bis an die Wurzeln gehenden Vertilgungseifer zutrauen?

Der delphische Wagenlenker, Weihgeschenk

Unterdessen hat sich der Regenschauer in einen Platzregen verwandelt, der uns nötigt, mit triefenden Kleidern in das kleine Museum unten an der Landstrasse zu flüchten. Das erste, was mir hier entgegenblickt, ist der delphische Wagenlenker, kerzengerade im langfaltigen Chiton, die Stirn von einem 168 silberdurchwirkten Bande umwunden, und die Zügel in der Rechten. Er ist ja aus vielen Abgüssen bekannt, mais ce n'est pas la même chose, sagt unser Pascha, der schon davor sitzt, und er hat recht. Was die Abgüsse nicht geben, ist vor allem der rätselhaft anziehende, fast dämonische Blick der Augen aus Halbedelstein, der so seltsam über uns ins Weite geht und zugleich den gespanntesten Willen ausdrückt. Wir müssen den eigenen Willen zusammennehmen, um uns von seiner Uebermacht loszureissen. Von den anderen Schätzen fesseln besonders die drei tanzenden Mädchen von der Akanthussäule in den spinnwebdünnen Gewändern, der bindenumwundene Nabelstein, eine Nachbildung des echten, der im Tempelinnern stand und von den Griechen für die Erdmitte gehalten wurde, und die Metopen und Dachzierden, sowie der Apollonhymnus mit Musiknoten in Stein vom Schatzhaus der Athener. Einen ganzen Saal füllt der Aufbau des prächtigen Knidierschatzhauses mit den zwei reizenden gebälktragenden Mädchen und sein erhaltener plastischer Schmuck: das Giebelrelief, auf dem eine einfältige Kunst den Streit des Apollon und des Herakles um den pythischen Dreifuss erzählt, und der unbeschreiblich eindrucksvolle, noch stellenweise mit roter Farbe behaftete Fries, der um das ganze Gebäude lief und an dem auch die raffinierten Kunstmittel bei so altertümlicher Arbeit überraschen. –

Tanzende Mädchen auf dem Akanthusknauf, Delphi

Am Nachmittag ist trotz des Regens alles auf den Beinen, um der Hochzeit des Schulmeisters von Delphi beizuwohnen. Auch wir lassen uns von dem Menschenstrom durch die steilen, in rinnende 169 Bächlein verwandelte Gassen, über Schutthalden, die mit glattem Leim überzogen sind, zum Brauthaus schieben und nehmen an der langwierigen Abholung teil, an der nichts bedeutsam ist, als das symbolische Ausstreuen von Reiskörnern unter die Gäste, das gewiss auf antiken Brauch zurückgeht, sowie das gleichfalls von der Sitte verlangte, endlose Zögern und Widerstreben der schönen Braut, das man leicht im Hinblick auf die Erscheinung des Bräutigams für echt halten könnte. Während die beiden in der Kirche durch den öligen Pappas unter umständlichen Zeremonien vernietet werden, wandern wir lieber mit unseren Regenschirmen nach der Phädriadenschlucht, wo neben einem Bach der Kastalische Quell aus den Felsen bricht. Alles rieselt und rinnt, Wasser vom Himmel und Wasser aus den Bergen. Die wenigen Landleute, die sich blicken lassen, sind in schwarze Kapuzenmäntel von grobem Wollenstoff mit geradegeschnittenen Aermeln vermummt, die so vermutlich schon vor Jahrtausenden getragen wurden, die aber unseren Lodenmänteln merkwürdig ähnlich sehen, und nun reut es mich, dass ich den meinigen aus Schamgefühl zu Hause gelassen habe. Kalt weht es aus dem Geklüfte, wie der Atem einer strengen Gottheit. Unterhalb der abgemeisselten Felswand befindet sich ein grosses Becken, zu dem man auf breiter Treppe hinabsteigt. Hier hatten die Pilger sich von jedem Erdenreste reinzubaden, ehe sie mit ihrem Anliegen vor den pythischen Gott traten. Werde ich es mir später selbst noch glauben, dass ich unter den Phädriaden gestanden und das Wasser der Kastalia mit der hohlen Hand geschöpft habe?

Der heilige Nabelstein aus dem Apollontempel zu Delphi

170 Da der Regen eben ein wenig aussetzt, eilen wir noch, der alten Stadt Delphi, die etwas tiefer liegt als der heilige Bezirk, unseren Besuch zu machen, aber kaum hat der Himmel unsere Absicht bemerkt, als er von neuem loslegt, und ehe wir das Gymnasion erreicht haben, sind wir zum zweitenmal bis auf die Haut durchnässt, und das Dunkel bricht ein.

Noch bleibt uns ein ganzer Vormittag in Delphi, und endlich zeigt sich der Fernhintreffer gewogen. Er gönnt uns ungestörte Rückkehr in sein heiliges Gebiet und lässt uns an den Resten des thessalischen Weihgeschenks und dem Unterbau der grossen »Alexanderjagd« vorüber die wohlerhaltenen Stufen seines hoch am Felsenhang hinaufgebauten Theaters ersteigen, wo die musischen Wettkämpfe stattfanden. Ganz nahe lag einst der heilige Lorbeerhain, aus dessen Zweigen man die pythischen Siegeskränze flocht. Nur niedere Thujen und wilde Feigenbäume sprossen jetzt zwischen dem Trümmersturz, und am Boden glänzen zarte lilafarbene Sterne. Dem Neoptolemos, Sohn des Achilleus, der hier von den Bewohnern Delphis erschlagen wurde, bringen wir am Grabe unsere Huldigung dar, nicht um seinetwillen, sondern dem grossen Peliden zu Ehren. Um von Apollon Sühne für das vergossene Blut seines Vaters zu fordern, war der Verwegene nach Delphi gekommen, und hier in der Vorhalle des Tempels traf ihn das Gericht des unbarmherzigen Gottes. – Danach aber versteigen wir uns hoffnungslos auf den wilden Felsenmassen im vergeblichen Suchen nach der Lesche der Knidier, die die berühmten Gemälde des Polygnot enthielt, an deren Nachglanz auf den Spuren des 171 Pausanias Goethe sich nicht sättigen konnte. Nach einer halsbrecherischen Rutschpartie erreichen wir sie endlich doch, um uns zu überzeugen, dass so gut wie nichts von ihr übrig ist. Und jetzt, gleichfalls auf Gemsenpfaden, zum Schauplatz der pythischen Spiele, dem Stadion, das noch höher oben am Berge liegt und zu dem uns ein Engländer den schwer zu findenden Weg weist. Die Bahn, die mit der rechten Langseite am Felshang lehnt und sich mit der linken auf eine gemauerte Terrasse stützt, ist in ihrer ganzen Länge erhalten mit der Ablaufstelle zwischen den vier stämmigen Pfeilern und mit sämtlichen Sitzreihen, unter denen sich ein schön gearbeiteter marmorner Ehrensessel, ähnlich dem des Dionysospriesters in Athen, erhebt. Und am Ende der rechten Langseite, wo sie in das Halbrund übergeht, rieselt noch in gemeisselter Brunnengrotte die kalte Quelle und erquickt uns, wie sie vordem die Zuschauer erquickte, denen eine Inschrift am Stadion das Mitbringen von Wein verbot. In diesem Trunk berühren sich die Jahrtausende.

Aber ach, das Rossegestampf und Räderrollen auf der Landstrasse rührt von keiner Festgesandtschaft an das delphische Orakel her, sondern von unseren Mietwagen, die gekommen sind, die Gäste des Apollon Pythios nach Itea zurückzuführen.

Blick von Delphi nach Itea

Jetzt bringt uns leider ein Schelmenstreich des Gastwirts, der unseren vorausbestellten Wagen mit anderen Fremden weggeschickt hat und mich glauben machen will, er liege zerschmettert in der Schlucht, um die letzte Stunde in Delphi. Durch diese Unredlichkeit, die einzige, die wir auf griechischem Boden 172 erlebten, sind wir gezwungen, die Gastfreundschaft eines jungen Ehepaars aus Argentinien anzunehmen, das uns zwei Plätze in seinem Wagen einräumt, aber aus Reisefieber eine Stunde zu früh aufbricht – freilich weiss man von den griechischen Dampfern nie so recht genau, wann sie eintreffen. An der Lände von Itea, wo sich mit der Zeit auch die anderen Gäste des Apollon Pythios zusammenfinden, warten wir denn glücklich von 3 bis 4¼ Uhr auf den Pylaros, der uns nach Patras bringen soll.

 


 


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