Isolde Kurz
Wandertage in Hellas
Isolde Kurz

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Besuch in Theben

Strahl des Helios, schönstes Licht!« Mit wolkenlosem Glanze bist du nach dem gestrigen Gewitter über deiner griechischen Erde aufgegangen, und wir benutzen die Gunst, um noch der siebentorigen Thebe unseren Besuch zu machen. Keine zweite griechische Stadt ist ja so von der Mythe verklärt, und wir würden uns mit unserer eigenen Jugend entzweien, wenn wir Griechenland verliessen, ohne Theben gesehen zu haben.

Mit der Larissabahn geht es in der Morgenfrühe durch die attische Ebene, vom Pentelikon und dem Parnes begleitet. Gleich nach dem reizenden blumenreichen und dichtbewaldeten Tale von Tatóï, dem königlichen Sommersitz, wird die wellige Gegend öde und steinig. Dann zeigt sich zur Rechten ein tiefblauer Streifen, hinter dem ein hohes Schneegebirge aufsteigt: das ist schon der Euripos mit den Bergen von Euböa. Auch nachdem ihn die niedrigeren böotischen Höhen verdeckt haben, bleibt der Sund mit seiner Richtung 210 und Schmalheit noch an den Gebirgszügen auf seinen beiden Ufern kenntlich. Wundervolle Einfalt der griechischen Landschaft, überall durchsichtig und wahrhaftig wie die grosse Kunst, der sie zum Vorbild gedient hat.

Und wo wir vorüberfahren, da blitzt bald zur Rechten, bald zur Linken, wie ein Goldblick aus dem Gestein, ein Stück des alten hellenischen Ruhmes auf.

Jetzt haben wir das trockene Bett des Asopos überschritten. Hinter dem niederen Hügel von Staniatäs mit dem plumpen mittelalterlichen Turme, dehnt sich eine grasige Ebene, das Schlachtfeld von Delion, wo 424 die Athener durch die thebanische Phalanx zerschmettert wurden. Geister erscheinet! – Der Raum füllt sich mit Getümmel, Flucht und Verfolgung. Zwei Schwerbewaffnete sind unter den letzten auf dem Rückzug. Der eine, Untersetzte mit dem geistreichen Silenskopf schreitet in stolzer Haltung, ohne sich zu beeilen, neben dem ängstlicheren Gefährten und rollt die Augen über Freund und Feind, als wollte er sagen: Wer mir zu nahe kommt, der hüte sich. Zu seinem Schutze sprengt ein Reiter heran, das schönste, verwegenste Schosskind der attischen Grazien, und zwingt sein Ross, das unter ihm tanzt, neben dem Nachzügler Schritt zu gehen. Die zwei äussersten Pole des griechischen Wesens in treuer Freundschaft vereinigt, der Selbstloseste und der Selbstgefälligste, der Weiseste und der Unwiderstehlichste aller Sterblichen (in Athen konnte auch der Snob entzückend sein): Sokrates und Alkibiades. Was hat das ungleiche Freundespaar so fest zusammengeschmiedet? 211

Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste,
Hohe Tugend versteht, wer in die Welt geblickt,
            Und es neiget der Weise
            Oft am Ende zum Schönen sich.

Der tiefste Grund ihrer Liebe war aber der, dass ihr Lachen so reizend ineinanderklang.

– Wir tauchen in ein welliges Getreideland. Zwischen der grünen Saat flammt da und dort die rote Seidenpracht des Mohns, doch nicht in solcher Fülle, wie in Attika, denn das viel fruchtbarere Böotien ist auffallend blumenarm.

Station Tanagra! Schon wieder so ein Goldblick. Auf dem Hügel zur Linken, dem alten Kerykeion, wo der Gott Hermes geboren wurde, sind die Ruinen der Töpferstadt freigelegt. Sei gegrüsst, Korinna, Stern Tanagras, die du den Pindar im Wettgesang besiegtest, ob durch den Zauber deines Liedes oder den deiner alles überstrahlenden Schönheit, wussten die Alten selber nicht.

Im Westen streckt sich langhin der dunkle tannenbewachsene Kythäron. Wie aber heissen all die anderen vielgestaltigen, teils nackten, teils bewaldeten Berghäupter, die auf uns niederblicken? Unsere Mitreisenden kommen grösstenteils aus Attika und wollen nach Saloniki weiter, sie kennen die Gegend nicht besser als wir; ein paar böotische Männer sind zwar unterwegs eingestiegen, aber sie machen ihrem Namen Ehre und wissen von gar nichts.

Ganz weit und flach wird jetzt die grüne quellenreiche Ebene, die Berge treten bedeutungsvoll zurück 212 und schliessen einen weiten wundervollen Kranz um sie. Wir sind am Ziele. Der kleine Bahnhof inmitten der Felder trägt die Aufschrift Thebai, jetzt Thiwä gesprochen (mit englischem th). Ohne den grossen Stil der reinen Bergprofile könnte ich glauben, irgendwo in einer gesegneten Gegend Deutschlands zu sein, so anheimelnd sind diese schön bewässerten Fluren in ihrem bescheidenen Wohlstand und ihrer ländlichen lebenatmenden Stille.

Auch das Wetter ist nichts weniger als südlich. An dem blassblauen Himmelsgewölbe ziehen leichte weisse Wölkchen hin, für einen Maientag ist die Luft beinahe kalt, und das erste menschliche Wesen, das uns entgegenkommt, eine alte Bauersfrau, trägt einen bis zu den Knien reichenden weissen Schafpelz, die langen Zotteln nach aussen gekehrt, wie ich ihn um diese Zeit eher in Sibirien als am Fuss der Kadmosstadt erwartet hätte.

Mitten aus der Ebene ragt ein mässig hoher Hügel, die Kadmeia, der Ort der ersten Ansiedelung, die nach der Sage der phönizische Kadmos gründete und durch die Saat der Drachenzähne bevölkerte. In geschichtlicher Zeit diente der Kadmoshügel nur zur Festung, während die Unterstadt, das eigentliche Theben, dessen Gründung den böotischen Dioskuren Amphion und Zethos zugeschrieben wurde, sich mit reichen Gartenanlagen in der Ebene und auf den niedrigeren Hügeln ausdehnte und zur Blütezeit bis zu 40 000 Einwohnern zählte. Das heutige Theben beschränkt sich wie die alte Kadmeia auf den Burghügel und beherbergt keine 4000 Seelen.

213 Vom Bahnhof, der sich innerhalb des antiken Mauerkreises befindet, erreicht man in zehn Minuten den Fuss des Abhangs, lässt eine quellendurchrauschte Vorstadt zur Rechten liegen und ersteigt den ganz schmal zulaufenden Nordrand des Kadmoshügels, den zwei mittelalterliche Türme krönen. Reizend ist der erste Eindruck von Theben. Eine breite boulevardartige Hauptstrasse, mit vielen Läden und offenen Schusterwerkstätten und von den schönsten Akazien rechts und links beschattet (sie trägt den Namen Pindars), durchzieht die ganze Stadt, über die der frische Wind vom Gebirge hinstreicht. Die Häuser erheben sich grossenteils über alten Unterbauten, ab und zu tut sich ein Blick in einen winkligen Hofraum auf, wo uraltes Steingebröckel gehäuft liegt, auch sieht man antike Werkstücke in die Bauten vermauert. Und jetzt befällt mich wieder wie so oft in Griechenland das eigene Gefühl, als sei ich nicht zum ersten Male hier, sondern käme nach langer langer Abwesenheit zurück und müsste mich nur erst wieder zurechtfinden. Ja, wo lag nur der Kadmospalast und das heilige Gemach der Semele, in dem der Blitz des Zeus immer weiter loderte, ohne es zu verzehren? Wo das Haus des Amphitryon, in dem Herakles geboren wurde? Wo lagen vor allem die berühmten Tore, die jene Sieben vergebens berannten? Mein Gedächtnis muss in diesen letzten zwei-, dreitausend Jahren etwas schwach geworden sein, denn wir wandern kreuz und quer und spähen in jedes Gewinkel, ohne die Trümmerreste finden zu können; auch von Grabungen zeigt sich keine Spur.

Da es auf Mittag geht, suchen wir das Hestiatorion 214 (Speisehaus) Dimitra auf, das uns als das einzige halbwegs erträgliche bezeichnet ist. Wie muss es nach dem Anblick, der uns da erwartet, in den anderen aussehen! Schon die Seitengasse, an der es liegt, ist nichts weniger als einladend: da hängen an allen Haustüren die geschlachteten Hämmel, die nach griechischer Sitte unbefangen an der Strasse ausgeweidet werden. Man drückt schaudernd die Augen zu und eilt vorüber. Aber beim Eintritt ins Haus begreifen wir sogleich, warum man uns in Athen geraten hat, den Besuch in Theben auf wenige Stunden zu beschränken und mit dem Nachmittagszug nach Chalkis weiterzufahren. Die Unreinlichkeit ist so gross, dass man auf der gepolsterten Bank vor dem Esstisch kaum seine Handtasche abzustellen wagt. Nun soll man gar selber darauf Platz nehmen und sich von gänzlich ungewaschenen Händen aufwarten lassen!

Kaum sassen wir, so stürzte ein aufgeregter Mensch herein, warf ein gedrucktes Blatt vor uns auf den Tisch, indem er uns hastig zurief, es zu lesen, und ging mit gleichem Ungestüm von dannen. Das Papier enthielt Verse, die zu enträtseln keine Zeit war, und der Wirt verständigte uns auch gleich, der Mann sei trellós (verrückt). Offenbar ein verkanntes Dichtergenie, das sich für die Stumpfheit seiner Mitbürger an den Fremden schadlos hält. Die Mutter Erde bringt doch überall dieselben Geschöpfe hervor; nur hat er keinen Obolus für sein Gereimtes verlangt, wie es sonst diese Unglücklichen tun.

Während des Essens – wenn man das traurige Anstarren verdächtiger Gerichte auf unheimlichen Tellern 215 so nennen kann – fragt der Wirt, ob er uns durch seinen Jungen zu den Altertümern führen lassen soll. Alsbald schnellen die etwas niedergedrückten Lebensgeister wieder in die Höhe, und wir nehmen mit Freuden den Vorschlag an.

Rasch wird jetzt ein Tagesplan entworfen. Von Bleiben kann leider keine Rede sein, so traulich die umgebende Natur dazu auffordert. Wie schön hatte ich mir eine Nacht in Theben vorgestellt, wenn Dunkelheit und tiefer Schlaf alles Heutige gefesselt hielte. Dann käme aus den Wäldern des Kithäron, wo er am Tage rastet, Dionysos mit der schwärmenden Schar nach seiner Mutterstadt herabgebraust, um die stillen Strassen mit Fackeln und Thyrsosstäben, mit Kienruss und Harzgeruch und göttlich-unhörbarem Lärmen zu erfüllen. Diesen Traum habe ich im Hestiatorion Dimitra begraben. Um 4½ Uhr geht ein Zug nach Chalkis weiter, wenn wir den benützen wollen, so haben wir gerade Zeit genug, die Kadmosburg und alle sieben Tore Thebens aufzusuchen, wenn sie nur überhaupt vorhanden sind und uns jemand den Weg zeigt. Also lassen wir unsere Sachen dem Wirt zur Aufbewahrung und folgen dem jungen Menschen, der stumpfsinnig vorangeht und auf keine Frage Antwort gibt; welch ein Abstand zwischen der aufgeweckten, beweglichen, immer hilfsbereiten Bevölkerung Attikas und diesem schwerfälligen Menschenschlag. Er führt uns eine steile, gepflasterte Gasse am südlichen Stadtende hinab, klopft an einer Haustür und überantwortet uns einer stattlichen dunkelhaarigen Dame, die uns mit vieler Höflichkeit in einen gepflasterten, von Orangenbäumen beschatteten Hofraum 216 und gar noch die Treppe hinauf nötigt. Wir folgen verwundert und nicht ohne einiges Zögern.

Oben werde ich mit sanftem Zwang in einen kleinen Salon geführt, und da stehen wir uns mit fragenden Mienen gegenüber. Wir wissen beide nicht, was wir voneinander wollen. Vertrackte Lage! Ich kann zwar auf griechisch ein Mittagessen oder heisses Waschwasser bestellen, auch zur Not die Zeitung lesen, aber erklären, dass ich durch das Ungeschick des Jungen hier bin, kann ich nicht. Und mein getreuer Reisekamerad, der mir sonst als lebendes Wörterbuch zur Seite steht, ist auf der Treppe zurückgeblieben. Vater Zeus, der du dem Rosse des Achilleus auf einen Augenblick Sprache verliehst, warum nicht mir? Zwei Worte fallen mir doch ein, sie heissen paläa prágamata, alte Sachen, und passend oder nicht, sie werden verstanden.

Málista, málista! tönt es erfreut, und ich werde in ein Seitengelass geführt, wo auf einem Wandbort eine Anzahl antiker Töpfe und Scherben aufgestellt sind; einem Liebhaber, der Zeit hätte, gewiss ein wertvoller Anblick, aber für zwei Reisende, die den Schauplatz des »König Oedipus« suchen und um vier Uhr schon weiter müssen, gänzlich nebensächlich.

Ich drückte durch Gebärden mein Bedauern aus, und ein paar italienische Worte, die mir dabei entfuhren, hatten die glückliche Entdeckung zur Folge, dass die Besitzerin der Schätze eine levantinische Italienerin ist, durch Schicksale aus Alexandria in das kleine griechische Landstädtchen verschlagen. Jetzt öffnen sich die Schleusen der Rede, aber für unsre Zwecke ist nichts gewonnen, da sie versichert, niemals von Ausgrabungen 217 gehört zu haben: ausser ihren Töpfen und der Sammlung im städtischen Museum gebe es keine Altertümer in Theben, es wäre denn, dass ich die Gebeine des Evangelisten Lukas meinte in der gleichnamigen Kirche vor der Stadt, deren Besuch sie uns dringend empfahl.

Da stehen wir wieder auf der Strasse und sind so klug wie zuvor. Den Evangelisten beschlossen wir nicht zu bemühen und das war vielleicht schade, denn später erfuhren wir, dass sein Haus auf dem alten Ismenion an der Stelle des Apollon-Tempels steht, der freilich nicht mehr zu sehen ist.

Nachdem wir unsern Führer abgedankt haben, setzen wir den Forschungsweg allein fort. Wir steigen zu dem von der alten Stadtmauer eingefassten steilen Südrand des Hügels empor, wo ein Durchbruch den Blick auf die weite Asoposebene bis zum Kithäron freigibt. Steile Gassen münden hier und gehen zum Teil in Stufen über, in die behauene antike Blöcke vermauert sind. Dass hier eines der Tore, und nicht das unwichtigste, gestanden haben muss, leuchtet auch dem Blödesten ein, und der kleine Plan im Baedeker bestätigt, dass wir an der Stelle des »Elektrischen Tores« stehen, das auf die Landstrasse von Platää ging. Heilige Poesie! Hier war es, wo der riesige Kapaneus vom Strahl des Donnerers getroffen wurde, als er sich heraufklimmend vermass, auch gegen Götterwillen die Stadt mit seiner Brandfackel zu zerstören.

Doch wir haben nicht lange Zeit, uns dem genius loci hinzugeben, denn unversehens sind wir von einem ganzen Schwarm thebanischer Kinder umringt. Ein hübsches blondes Ding, das sich mit schüchterner 218 Neugier an mich andrängt, trägt gar den klassischen Namen Ismene; aber auf die Frage, ob sie auch eine Schwester Antigone habe, verliert sie vor Schreck die Sprache. Die Jungen dagegen sind nicht blöde; da der Kyrios sich den Spass macht, ihnen auf den Zahn zu fühlen, kramen sie selbstgefällig ihren ganzen Schulsack aus und reden auch von Oedipus und von der Sphinx.

Kaum haben sie entdeckt, dass wir jetzt zum Flüsschen Dirke wollen, – es heisst zwar heute Plakiótissa, aber sie verstehen den alten Namen gleich –, so drängen sie sich uns stürmisch zu Führern auf. Das zartere Geschlecht, das sich bescheiden anzuschliessen sucht, wird von ihnen auf gewalttätige Weise verjagt, und nun geht es holterpolter über eine Schutthalde den Berghang hinunter. Nur wenige Schritte im Wiesengrün, so stehen wir vor der grossen Aresquelle, jetzt Paraporti genannt, die durch mehrere Mündungen aus dem Felsgestein in ein weitläufiges antikes Marmorbecken strömt und von da sich durch kleine Kaskaden mit der unten vorübereilenden Dirke vereinigt. Und jetzt wandeln wir ganz auf der Spur der Sage; in der Felsgrotte oberhalb des Quells lag der von Ares gesandte Drache, den Kadmos tötete und aus dessen gesäten Zähnen die wilden Ureinwohner Thebens erwuchsen.

Wir sind es jetzt schon von den griechischen Flüssen gewohnt, dass ihre Grösse zu ihrem Ruhm in gar keinem Verhältnis steht. Die Dirke ist nur wenige Fuss breit, aber welcher der grossen Ströme der Alten und der Neuen Welt ist so im Liede gefeiert und vom Glanz des Mythos bestrahlt? An der Stelle entsprungen, wo 219 die Brüder Amphion und Zethos die grausame Dirke zu grässlicher Strafe an die Hörner des Stieres banden, bezeichnet sie mit ihrem Laufe den Weg, den die schönen zerfetzten Glieder geschleift wurden. Sie sah die Steine Thebens unter dem Klang von Amphions Leier sich zur Mauer fügen, an ihren Ufern spielten die Kinder der Niobe, dann sah sie die Grösse und den Fall des Oedipus, den Zug der Sieben und hörte Antigones Schwanengesang. Und jetzt – o Wandel des Irdischen! – berieselt sie als winziges Bächlein Plakiótissa die Obstgärten der Ebene und wäscht geduldig den Neu-Thebanerinnen ihre Wäsche.

Ueber das Dirkebrücklein führen uns die Kinder mit Ungestüm einen steilen Wiesenhang hinauf, um uns durch ein Loch im Boden, das ganz von Feigengestrüpp umwuchert ist, in eine antike unterirdische Grabkammer blicken zu lassen. Man könnte an das Felsengrab denken, in das Antigone lebendig eingeschlossen wurde. Hier stehen wir auf dem fruchtbaren Hügel, der einst dem Zeus Hypsistos geweiht war, die Kadmeia im Rücken und vor uns die Linien des waldigen Kithäron und des nackten Helikon, über die der Parnassos leuchtend im Schneegewand hereinschaut. Und wenn wir dem Pausanias glauben dürfen, so befand sich nicht weit von hier das Tor, an dem nach der Sage Eteokles und Polyneikes im Bruderkampfe fielen. Allein auch die geschwätzige Kinderschar, die mit ihren Ortskenntnissen so wichtig tut, kann über die Tore Thebens keine Auskunft geben, und es verlohnt sich nicht, aufs Geratewohl in Privatbesitzungen einzudringen 220 und die Fundamente im Boden zu suchen, wenn solche wirklich vorhanden sind.

Wie schön wäre es jetzt, unsere kleinen Wegweiser zu entlassen und allein nach der Stadt zurückzukehren, um ungestört am hohen Westrande des Kadmoshügels den schönen aussichtsreichen Weg längs der alten Mauer unter blühenden Granatbäumen hinzuschlendern. Aber wir werden die Begleitung nicht mehr los. Noch ist es blosse Neugier und Langeweile, was sie so zudringlich macht, aber ein Zufall verwandelt sie unversehens in ein Rudel hungriger Wölfe. Aus einem buckligen Schmutzgässchen kam uns ein strenges, schwarzgekleidetes Frauenbild entgegen. Ihr Gesicht war völlig steinern, sie hielt im Gehen die Arme über der Brust gekreuzt und nichts bewegte sich an der ganzen Gestalt als die Füsse. Es sah aus, als wäre Niobe von ihrem Felsen am Sipylos herabgestiegen, um in Trauerkleidern, aber noch immer Stein, die Stätte ihres Glanzes wieder zu betreten. Mein Reisegefährte griff bei ihrem Herschreiten unwillkürlich in die Tasche, aber was soll eine Niobe mit Geld? Sie ging an uns vorüber, ohne uns einen Blick zu gönnen; wäre ich ihr allein begegnet, so hätte ich sie für einen Tagestraum gehalten.

Die Jungen aber haben die verhängnisvolle Bewegung gesehen, und in plötzlichem Taumel werfen sie sich alle zumal auf uns mit dem Ruf: pénte leptá! pénte leptá! (Fünf Lepta gleich einem französischen Sou.) Jeder stösst den andern weg, um der nächste an der Quelle zu sein; und aus allen Gassen und Winkeln kommt es hervorgeschwärmt und zerrt an unsern Kleidern: leptá! leptá! (Geld! Geld!) 221 Darüber verliert auch der milde Kyrios die Geduld: »Schämt ihr euch nicht? Seid ihr denn Bettler?« – »Jawohl, Bettler! Bettler!« ist die leidenschaftliche Antwort, und sie hängen sich nur noch stürmischer an uns. Unmöglich mit ihnen fertig zu werden, sie gehen mit, wohin wir gehen und verhindern jeden Genuss der Gegend. Mit einem immer wachsenden Kometenschweif behaftet, erreichen wir die Pindarstrasse, wo endlich ein thebanischer Bürger die Schar mit Schelten und Drohen auseinandertreibt. Um uns für den unangenehmen Eindruck zu entschädigen, führt uns dieser Wackere an einen freigelegenen Aussichtspunkt im Nordosten der Stadt, wo das entzückende Bergpanorama, dessen südlichen und westlichen Teil wir schon gesehen haben, sich mit dem Ptoon, dem Hypaton, dem Sphinxberg, den Hügeln, die Tanagra verdecken, und der fernen Schneepyramide des Dyrphis auf Euböa in erhabener Runde um die liebliche Ebene zusammenschliesst. Aber von baulichen Reliquien der Kadmosstadt wusste auch er uns nichts zu sagen. Da Theben auch im Mittelalter bewohnt und nacheinander von Normannen, Franken, Türken beherrscht war, braucht man sich freilich nicht zu wundern, wenn die Archäologie kein Feld für ihre Forschung mehr vorfand, und wir haben im Grunde nicht einmal Anlass, uns darüber zu härmen. Der Anblick des Hügels und seine Lage entsprechen so ganz der Vorstellung, die man sich von Theben macht, dass es der Phantasie nicht schwer wird, sich das übrige dazuzudenken.

Wie der Westabhang von der Dirke, so sind die Wiesen im Osten Thebens vom Ismenos, jetzt 222 Hagios Joannes, bewässert. Dort suchten wir vor den glühenden Strahlen der Sonne und vor der Neugier der thebanischen Jugend Schutz und warteten die Stunde heran, wo das Museum geöffnet wird. Nicht weit von der Oedipodeia, der Quelle, wo der Sohn des Lajos sich die Befleckung des Vatermordes abwusch, wählte sich jedes einen schattigen Rastort. An einen Baum gelehnt, hörte ich zwischen Schlafen und Wachen einen Schritt und erwartete nichts anderes, als dass ein majestätischer augenloser Mann, von einem Mädchenkind geführt, vorüberschreite. Aber als ich die Lider öffnete, wars ein thebanisches Bäuerlein, das sich gleichfalls ein Plätzchen zur Siesta aussuchte.

Das Museum, das an der Hauptstrasse liegt, enthält wiederum eine Menge antiker Töpfe und Scherben, die eben ein einheimischer Künstler geduldig mit Draht zusammenflickte. Ausser zwei schwarzen Marmortafeln mit wundervollen eingegrabenen Zeichnungen in Weiss bergen die Räume wenig Bedeutendes. Aber gleichwohl erwartet den Besucher ein ergreifender Anblick. Dass im Jahre 335 v. Chr. Theben durch Alexander den Grossen eingeäschert wurde, haben wir als Kinder gedankenlos auswendig gelernt und längst vergessen. Auf dem Kadmoshügel einherschlendernd, denkt man nur an Oedipus und an die Sieben, die geschichtliche Zeit verschwindet vor dem Glanz des Mythos. Nicht einmal der Grablöwe von Chäronea, der als Gipsabguss in einem Schuppen des Museums steht, hatte sie mir ins Gedächtnis zurückgerufen. Plötzlich tritt sie mir in den rauchgeschwärzten, halbzerstörten Marmorbildern und Terrakotten, die die unteren Säle 223 des Museums füllen, leibhaft entgegen. Es sind die Reste jenes Brandes, was da vor uns steht und wieder einmal die alte Klage zum Himmel schreit, wie Griechen gegen Griechen gewütet haben.

Zum Abschied setzt man uns in der Dimitra noch zwei mehr als fragwürdige kafédes vor, dann gibt uns der Wirt sicheres Geleit bis an das Stadtende, da unsere kleinen Widersacher sich schon aufs neue vor der Haustüre zusammengerottet haben.

Leb wohl, Königin der Sage, auf deinem Hügelthron inmitten der stillen grünen Landschaft. Wenn auch deine Tempel und Tore verschwunden sind, was tuts! Dein Oedipus und deine Antigone werden nicht verschwinden. Die Musen, die bei der Hochzeit des Kadmos sangen, haben dafür gesorgt, dass dein Ruhm erst mit diesem Erdball untergehen kann. –

 


 


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