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Reihenfels hatte mit seinem Freund Morrison Delhi noch nicht lange verlassen, als Lord Canning zwei Personen gemeldet wurden, die sich durchaus nicht abweisen lassen wollten.
»Es sind zwei Fakire, glaube ich,« meinte der Diener, »der eine sieht zwar mehr wie ein Chinese aus, ist aber ebenso mager, elend und zerfetzt wie sein Gefährte.« »Haben sie keine Namen genannt?«
»Sie sagten sie zwar, aber es sind ja Fakire, da hörte man nicht darauf.«
Der vielbeschäftigte Canning fand dennoch Zeit, Bittende zu empfangen, und so wurden auch die beiden vorgeführt.
Es waren allerdings elende Gestalten, nur noch Knochen und Haut, mit tiefliegenden Augen und mit Fetzen bedeckt. Einer davon war unverkennbar ein Chinese, der andere ein Indier, doch seine Haut war nicht mehr braun, sondern aschgrau.
»Was wollt ihr?« fragte Canning kurz, die ihm Unbekannten musternd.
»Hat dir dein Diener nicht unsere Namen genannt?«
»Nein, er hat sie sich nicht gemerkt.«
»Wenn du sie gehört hättest, würdest du uns vor Ungeduld entgegengeeilt sein. Wir sind Kiong Jang und Hira Singh.«
Wie elektrisiert sprang Canning auf. Das war allerdings eine Nachricht, die er nicht erwartet hatte. Wohl hatte man die beiden, ebenso wie das wandernde Feuer in den unterirdischen Gängen gesucht, aber vergebens.
Er sagte, wie er schon von Reihenfels ihre Befreiung aus Timur Dhars Gefangenschaft durch die Begum und August, wobei Kulwa und Phangil behilflich waren, erfahren hätte, nun wollte er das andere wissen.
»Wir haben noch eine schwere Zeit durchgemacht,« begann Kiong Jang zu erzählen.
»Nach Kulwas Tod war mit Phangil nichts mehr anzufangen, er antwortete nicht mehr, schien überhaupt nichts zu hören. So erfuhren wir nicht, wo sich der Ausgang aus den unterirdischen Gängen befände. Übrigens lag ich krank an den erlittenen Verletzungen, Hira Singh verfiel in ein heftiges Fieber, und so mußten wir beiden Kranken uns gegenseitig pflegen. Nur an Nahrung fehlte es uns nicht, denn wenn dir Reihenfels alles erzählt hat, so weißt du auch, wie jene unterirdischen Bewohner von Krokodilen mit Fischen versorgt wurden.
Als wir gesund waren und in Phangil dringen oder ihn unter Umständen zwingen wollten, uns den Ausgang zu zeigen, starb dieser, und nun waren wir ganz auf uns selbst angewiesen.
Wir begannen zu suchen. Aus zerschnittenen Lumpen machten wir uns Stricke, um uns nicht zu verirren. Doch wir wollen nicht von uns sprechen. Daß es uns gelungen ist, den Ausgang zu finden, siehst du.
Während wir so in den Gängen hin und her irrten – wir wissen nicht, wie viele Tage oder Wochen – hörten wir manchmal dasselbe Geräusch, was wir schon während unserer Krankheit zu vernehmen geglaubt hatten. Es war ein Heulen und Schreien, manchmal wie das Wimmern eines Kindes, und Phangil fürchtete sich jedesmal davor. Dann bekamen wir auch einmal das Wesen zu sehen, welches solche unheimliche Laute ausstieß. Es war – – –«
»Das wandernde Feuer,« ergänzte Canning, dessen Augen erwartungsvoll an den Lippen des Erzählers hingen.
»Ja, es war Sir Carter, fast ebenso aussehend, wie damals, als ich ihn im Felsentempel der Kali zurückließ, nur noch verwilderter und schrecklicher. Der Wahnsinn sprach aus seinen Augen, und wir hüteten uns, von ihm erblickt zu werden, sonst wäre wohl die Keule, die er trug, auf unsere Köpfe geschmettert.«
»Und sahst du kein Weib bei ihm?«
»Nein, damals nicht.«
»Aber später?«
»Ich komme gleich dazu. Oftmals kehrten wir unverrichteter Sache zurück; denn jeder abzweigende Gang mußte einzeln untersucht werden, von diesem abzweigende wieder einzeln. Niedergeschlagen machten wir uns heute – oder es mag auch gestern gewesen sein – daran, den letzten zu verfolgen. Führte uns dieser nicht dem Ausgang zu, so waren wir verloren. Als wir vordrangen, hörten wir in der Ferne wieder die seltsamen Laute, doch diesmal klang es mehr wie ein Stöhnen. Es wurde immer lauter, je weiter wir schritten, daher bewegten wir uns darauf zu. Aber den Tod hatten wir doch vor Augen, also gingen wir, nachdem wir die Fackeln gelöscht, tastend weiter.
»Da leuchtete uns plötzlich seitwärts ein Licht entgegen. Es war kein Gang, sondern nur eine Nische, eine Fackel steckte in der Wand, beleuchtete nicht nur einen, sondern zwei Menschen; der, welcher am Boden lag und so schrecklich stöhnte, war das wandernde Feuer, über ihn aber bog sich ein bleiches Weib ...«
»Lady Carter!« rief Canning außer sich.
»Es kann wohl niemand anders sein. Erkannt habe ich sie freilich nicht, denn sie sah geisterhaft bleich aus, nicht mehr so wie früher. Was sie machte, konnte ich nicht sehen, wir hielten uns auch nicht auf. Wir dachten, der Mann wäre von einem Anfall heimgesucht worden; im nächsten Augenblick konnte er ja aufspringen, uns sehen und niederschlagen. Wir eilten weiter, erreichten eine Treppe und fanden ein erweitertes Kellerloch, das auch die Begum benutzt hatte, und waren im Freien.«
»Findet ihr euch dahin, wo ihr die beiden gesehen habt?«
»Mit Leichtigkeit. Dazu wollen wir dich und einige Männer holen; denn wahrscheinlich gilt es, einen Tobsüchtigen zu überwältigen.«
»Wenn er aber nun immer seinen Aufenthaltsort wechselt?«
»Soviel wir in dem Augenblick sehen konnten, war die Nische mit Fellen und Decken belegt, auch Krüge und sonstige Gerätschaften standen herum, Holz war aufgespeichert, also mußte dort sein ständiger Aufenthalt sein.«
»Sie leben und können gefunden werden, dem Himmel sei Dank dafür!« rief Canning aus.
Eine halbe Stunde später krochen unter Führung Hira Singhs und Kiong Jangs Lord Canning und einige starke, entschlossene Männer durch das bezeichnete Loch. Sie waren weniger mit Waffen als vielmehr mit Stricken versehen.
Ein langes Band aus zerschnittenen Kleidungsstücken hergestellt, bezeichnete den Weg, den die beiden genommen hatten, und nicht lange dauerte es, so drang an ihre Ohren ein schwaches Wimmern und Stöhnen.
Große Lichter in die Höhe haltend, näherten sich die Männer furchtlos dem Ort, woher die Laute kamen. Lichtschein fiel ihnen entgegen, und da sah Canning das von dem Chinesen geschilderte Bild.
Ein in Felle gehüllter Mann mit langem, weißem Haupt- und Barthaar lag am Boden, neben ihm kniete ein Weib, auch nur mit Fellen und Decken bekleidet, tauchte einen Fetzen Tuch in einen Napf mit Wasser und legte den kühlenden Umschlag auf die Stirn des Wimmernden.
Was Kiong Jang nicht bemerkte, das sah Canning. Wohl mochte dieser Mann wahnsinnig sein, augenblicklich lag eine äußerliche Verletzung vor. Umherliegende Fetzen waren blutig; die Frau wollte das aus der Stirn hervorquellende Blut stillen.
Sie hatte ein Geräusch gehört, wendete den Kopf, erblickte die Männer und stieß einen Schrei aus. Schrecken und Freude lagen zugleich darin.
Im Nu war Canning vor sie hingetreten.
»Lady Carter!«
Ein Schrei nur war die Antwort.
»Kennen Sie mich? Ich bin der Freund Ihres Gatten, ich bin Lord John Canning.«
Emily griff nach dem Herzen; doch schnell hatte sie sich wieder aufgerafft.
»Gelobt sei Gott, wir sind gerettet!« flüsterte sie. »Aber erst helft ihm, er stirbt mir unter den Händen.«
Von Wahnsinn war bei ihr keine Spur zu merken, und jetzt war keine Zeit, Fragen zu stellen und Erklärungen zu geben. Hier mußte geholfen werden.
Man trug den Verwundeten, welcher zwar ohnmächtig war, jedoch wie aus innerem Schmerz stöhnte, dem Kellerloch zu, transportierte ihn vorsichtig hinaus und hob ihn in den unterdes schon herbeigeholten Wagen. Ehe Emily diesen mit Canning bestieg, stürzte sie auf die Knie, hob die Hände zum blauen Himmel auf, küßte die Erde, lachte jubelnd auf und brach dann in Tränen aus.
Eine staunende Menge umstand das Portal des Gouvernementspalastes, als vier Männer die seltsame Gestalt aus dem Wagen hoben und die Stufen hinauftrugen; staunend betrachtete man das folgende, sich auf den Arm des Gouverneurs stützende Weib, dessen Antlitz die Weiße des Marmors besaß, und dessen Aussehen und Kleidung ebenso verwildert waren wie die des Mannes.
Ebenso verwundert trat der schon anwesende Arzt an das Bett des Ohnmächtigen.
»Das wandernde Feuer!« flüsterte Canning, und der Arzt hatte sich schnell gefaßt.
Die Wunde an der Stirn rührte von einem Sturz her, wie Emily bestätigte; sie war an sich unbedeutend, was aber im Innern des Kranken vor ging, konnte der Arzt nicht sagen – er hatte es mit einem Wahnsinnigen zu tun. Carter lag in tiefer Ohnmacht da, doch entquollen dem halbgeöffneten Munde noch immer wimmernde Töne.
»Es wird eine Krisis eingetreten sein,« meinte der Arzt. »Wenn eine Gehirnerschütterung vorliegt, so wird der Kranke bei vollem Verstande erwachen, oder – er erwacht überhaupt nicht mehr.«
Doch das letztere bekam nur Canning zu hören, nicht Emily. Diese war voll froher Hoffnung, ihren Gatten geheilt und geistig normal in die Arme schließen zu können, und der Gedanke daran, bewog sie, das Krankenbett zu verlassen und aus sich wieder einen Menschen zu machen.
Als Canning sie nach einigen Stunden wiedersah, erkannte er wieder Lady Carter, wenn auch die letzte Zeit ihr schrecklich mitgespielt hatte. Das Haar war nicht mehr aschblond, sondern silbern, sie hatte in dem letzten Jahr um zehn gealtert, am meisten in den letzten Monaten.
Canning bekam eine grausige Leidensgeschichte zu hören. Er fragte sich, ob die Erzählerin dies nicht alles nur geträumt habe.
Sie sah ihren Gatten zum ersten Male wieder, und zwar in jener Gestalt, wie er jetzt auf dem Bett lag, als sie an der Wand gefesselt, dem Gastmahl im Hause der Duchesse beiwohnen mußte.
Die Gäste flohen; er erwürgte die auf ihn einspringenden Hunde; mit einem Ruck riß er den Ring aus der Mauer, hob Emily auf seinen Arm und entfloh in den Keller. Vor ihm her jagte eine Indierin, die sich von einem Feuergeist verfolgt glaubte.
Sie nahm den Weg durch den Keller, ein Schrei, und plötzlich war das Weib verschwunden, Carter aber sprang mit einem Satze über das Loch, welches sie verschlungen hatte. Wäre das Weib nicht zuvor auf die Falltür getreten, so wäre Carter mit seiner Last hinabgestürzt.
Wie Emily in die unterirdischen Gänge, die sie nie wieder verließ, gekommen war, wußte sie nicht zu sagen. Als sie aus ihrer Betäubung erwachte, lag sie auf den Knien des wilden Mannes, der sie herzte und küßte. Ihrer Freude folgte bittere Enttäuschung. Allerdings mußte sie diesen Mann nach Reihenfels' Aussage für ihren unglücklichen Gatten halten, ja, sie vermochte ihn noch zu erkennen, aber keine Spur wies daraufhin, daß er sich selbst oder sie noch gekannt hätte. Er konnte nicht mehr sprechen, nur grunzen und schreien, wußte nichts mehr von Sir Carter und seiner Gattin. Nur den Namen Eugenie sprach er manchmal traurig aus; wenn sie ihn nannte, so überhäufte er sie mit noch stürmischeren Zärtlichkeiten.
Sie war der Ansicht, daß er sie für Eugenie hielt; aber es war leicht möglich, daß er auch jedes andere weibliche Wesen dafür angesehen hätte. Sonst behandelte er Emily wie ein Kind, seine liebste Puppe, schleppte sie mit überallhin, versteckte sie, wenn er fortging, spielte mit ihr und herzte sie. Selbst in seinen Anfällen von Tobsucht vergriff er sich nie an ihr. Er brachte immer Nahrung mit, Brot, Fleisch und Früchte. Woher er dies bekam, wußte sie nicht. Auch Holz schaffte er herbei; Wasser war in den Gängen vorhanden.
Emily glaubte, nie mehr das Tageslicht wiederzusehen. An Flucht dachte sie nicht, denn die Gänge bildeten ein Labyrinth. Manchmal glaubte sie, es wären noch andere menschliche Wesen hier unten; gern hätte sie sich mit ihnen ins Einvernehmen gesetzt, aber der Wahnsinnige floh vor ihnen und schleppte Emily mit sich.
Heute nun hörte sie ihn absonderlich schreien, dann stöhnen, und fand den Unglücklichen, aus tiefer Kopfwunde blutend, am Boden liegen. In Tobsucht mochte er mit dem Kopfe gegen die Wand oder auf einen Stein gefallen sein. Mit Aufbietung aller ihrer Kräfte zog sie ihn nach dem Lagerplatz, der oft gewechselt wurde, und suchte die Blutung zu stillen.
Das andere wußte Canning; auf seine Frage erfuhr er noch, daß Carter einst mit leuchtenden Augen und aufgeregt zu ihr zurückgekehrt sei, nach längerer Abwesenheit; seine Kleidung wie seine furchtbare Keule seien mit Blut bedeckt gewesen, und er hätte sich etwas vernünftiger gezeigt, auch das Wort, ›Nursingpur‹ öfters wiederholt, in welcher Schlacht er sich vor vielen Jahren so ausgezeichnet hatte. Doch bald fiel er wieder in seinen früheren Wahnsinn.
Canning wußte, was das zu bedeuten hatte. Damals war Carter auf der Mauer erschienen und hatte mit seiner Keule den stürmenden Engländern die Bresche geöffnet. Ein Lichtblick mochte in sein dunkles Gehirn gefallen sein, als er die Kämpfenden sah. Er hatte für die Engländer gegen die Indier gekämpft.
Ohne Sir Carter wäre damals die Erstürmung wohl schwerlich gelungen; denn die Begum war erschienen und flößte den Indiern neuen Mut ein, er aber schlug sie nieder.
Als sie an das Bett des Kranken zurückkehrten, war Emily freudig erstaunt. Er war von vorsichtigen Händen behandelt worden, man hatte den Bart entfernt, das Haupthaar gekürzt, und jetzt war Sir Carter zu erkennen, freilich zum Greis gealtert.
Äußere, wie innere Mittel des Arztes hatten geholfen; er schlief jetzt, ohne zu stöhnen.
Emily wollte seine Krankenwärterin sein, aber sie durfte es nicht, konnte es auch nicht, denn ihre erschöpfte Natur forderte gebieterisch Ruhe.
Tagelang dauerte der Schlaf des Kranken; er wurde nur von fieberhaften Anfällen unterbrochen, die zuletzt in Delirien ausarteten. Immer bedenklicher wurde das Gesicht des Arztes, immer verzweifelter das Herz Emilys. Sollte sie nun auch den wiedergefundenen Gatten noch verlieren? Daß ihr Kind entdeckt worden war, davon schwieg Canning, denn es war sehr die Frage, ob Eugenie je wieder auftauchte. Warum hätte er der Mutter Hoffnung einflößen sollen, der wieder die größte Enttäuschung folgen konnte? Von Bega war jede Spur verloren gegangen; von Reihenfels und seinem Freunde fehlte jede Nachricht.
Endlich wurden die Delirien schwächer. Der Kranke kam zwar nie zum Bewußtsein, aber er schlief sanft, oder er führte vielmehr ein Traumleben. Doch der Arzt versprach sicher seine Genesung; freilich konnte er nicht versichern, daß er auch geistig gesund erwachen würde.
Eines Morgens schlug Carter zum ersten Male die Augen auf und blickte unwirsch die Umstehenden an.
»Sir Carter!« sagte Canning laut und ergriff seine Hand.
»Sir Carter?« wiederholte der Erwachte erstaunt. »Sir Carter? Ja, wie ist mir denn? So hieß ich doch früher. Ich weiß nicht – –«
Canning hielt Emily zurück, sie mußte sich verborgen halten.
»Kennen Sie mich?«
Der Kranke musterte Canning mit großen Augen.
»Nein.«
»Ich bin Lord Canning, Ihr Freund.« »Richtig, mein Freund, John – –« schrie Carter auf, wollte die Arme nach ihm ausstrecken und fiel wieder in Fieber.
Emily mußte mit Gewalt hinausgebracht werden; jetzt durfte sie sich ihrem Gatten nicht zu erkennen geben, er hätte sie auch schon nicht mehr erkannt. Welche Gefühle bewegten die arme Frau für einige Stunden! – Freude und Leid, Hoffnung und Trostlosigkeit! Würde er auch sie wiedererkennen, sie in seine Arme schließen? Endlich kam Canning.
»Er ist wieder erwacht. Seine erste Frage war, ob seine Gattin, seine Emily noch lebe, und als ich sagte, Sie seien hier, hat er nach Ihnen begehrt.«
Sie hörte die letzten Worte schon nicht mehr, sie eilte in das Krankenzimmer und warf sich vor dem Bett auf die Knie nieder.
Ja er erkannte sie sofort, trotz der langen Trennung, und drückte sie beglückt an seine Brust. Sie sprachen nichts, es war ihnen genug, daß sie sich sahen.
»Was ist aber nur mit mir geschehen?« wandte er sich dann an Canning, der sich die Augen trocknete.
»Wissen Sie es nicht?«
»Mir ist, als wäre ich aus langem Schlaf erwacht – doch ja – ich wollte mein Kind suchen – Canning,« schrie er plötzlich, »ich bin kein Hochverräter – ich habe die Order nicht abgeliefert sondern sie verbrannt, als sie mir genommen werden sollte.«
»Beruhigen Sie sich, Ihre Unschuld ist bewiesen!«
»Und Eugenie, mein Kind?«
»Auch dieses wird noch gefunden werden. Jetzt freuen Sie sich des Wiedersehens mit Ihrer Gattin!«
Man ließ die beiden allein.
Wochen verstrichen, und Carter wurde unter Emilys Pflege völlig wiederhergestellt. Wenn auch sein Haar weiß blieb, das Feuer in den Augen kehrte zurück.
Er konnte sich noch auf seine Gefangenschaft im Felsentempel besinnen, er wußte, wie er nach der Flucht seines Dieners selbst entflohen war, und zwar offen mit der Waffe in der Hand, er habe sich durch den Ausgang geschlagen, als dieser einmal geöffnet wurde, dann aber wußte er nichts mehr.
Nur ab und zu tauchte eine Erinnerung in ihm auf, oder er glaubte es wenigstens. So behauptete er steif und fest, seiner Tochter Eugenie als erwachsenem Mädchen einmal begegnet zu sein, aber wie und wo, konnte er nicht sagen. Man hielt es für eine Vision, die ihm ins Bewußtsein herübergefolgt war. Aber dann sagte er auch, es sei ihm, als habe er die Schlacht bei Nursingpur nochmals durchlebt, den Wall mit Kanonen gestürmt, die Feinde niedergeschmettert, und das mußte allerdings bestätigt werden.
Zwischen Carters und Emilys Seelenstimmung war ein merkwürdiger Unterschied. Emily hatte den Schmerz über ihres Kindes Verschwinden längst überwunden, bei Carter dagegen war es, als sei die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen, er sehnte sich nach Eugenie noch ebenso wie damals, als er in die Hände der Thags gefallen war.
Unterdessen war in Gwalior der Aufstand von neuem ausgebrochen, die Truppen des Radschas Skindiah hatten sich empört. Der treu gebliebene Radscha wurde unter britischen Schutz genommen. Bei Gwalior, der gleichnamigen Hauptstadt des Reiches, bereitete sich eine Schlacht, die Entscheidungsschlacht des ganzen Aufstandes vor. An der Spitze der Rebellen stand die Begum von Dschansi, an der der Engländer Sir Hugh Rose.
So beschäftigt Canning auch war, er fand doch immer noch Zeit, sich mit dem wiedervereinigten Paare zu beschäftigen, und Carter nahm regen Anteil an der Entwicklung des Aufstandes, besonders wollte er von der Begum von Dschansi erzählen hören. Ungläubig schüttelte er den Kopf, als man sagte, er selbst habe sie einmal niedergeschlagen, und wehmütig dachte Emily daran, daß dieses furchtbare Mädchen dasselbe sei, welches sie einst in Wanstead in ihr Herz geschlossen hatte.
Einmal kam Canning in sichtlicher Aufregung zu ihnen, so sehr er sie auch zu unterdrücken suchte. Es galt eine vorsichtige Vorbereitung.
»Lady, Sie kannten einst eine Dame namens Bega, nicht wahr?«
»In Wanstead, ja. Ich möchte, ich hätte sie nicht kennen gelernt. Ich liebte das Mädchen.
Ach, Erinnerungen stiegen stets in mir auf, wenn ich sie ansah! Sie hatte solche Ähnlichkeit mit – –. Und sie ist die berüchtigte Begum von Dschansi geworden.«
»Nein, das ist sie nicht geworden.«
»Nicht?«
»Es war ein Irrtum, sie wurde nur lange für diese gehalten. Das arme Mädchen hat ein schreckliches Schicksal gehabt; man hat sie betrogen, ihr die Heimat und Eltern geraubt.
Wollen Sie sie sehen?«
Noch ehe die Antwort erfolgte, trat ein junger Mann ein, am Arme eine Dame führend.
»Mister Reihenfels!« rief Emily zuerst, überrascht. »Bega, wahrhaftig, das ist sie!«
»Nein, das ist die Begum von Dschansi,« fuhr sie dann erschrocken fort und wich zurück.
Reihenfels führte die junge Dame zu ihr.
»Lady Carter, es ist die Dame, welche sie in Wanstead unter dem Namen Bega kennen lernten,« sagte er mit bebender Stimme, »jetzt ist sie meine Frau.«
»Ihre Frau?«
»Meine Frau, und daß sie nicht die Begum von Dschansi ist, können Sie nun also glauben.
Betrachten Sie sie aber näher! Entdecken Sie nicht noch andere Züge?«
Die Dame hatte sich von ihm freigemacht; Tränen entstürzten plötzlich ihren Augen, sie breitete die Arme aus und wollte auf Emily zueilen, aber ein anderer kam ihr zuvor.
Niemand hatte Sir Carter beobachtet. Dieser stand, am ganzen Körper zitternd, da; seine Augen wollten die schlanke Gestalt verschlingen.
Jetzt stürzte er vor und fing sie in seinen Armen auf.
»Ich aber kenne dich, du bist Eugenie. meine – unsere Tochter!«
»Ich bin Eugenie,« flüsterte sie an seiner Brust und wanderte aus seinen Armen in die der Mutter.
Was soll das Wiedersehen noch geschildert werden? Alle hatten sich entfernt, nur Reihenfels stand bewegt in einer Fensternische und ließ seinen Gefühlen freien Lauf.
Dann ging Eugenie zu ihm und führte ihn den Eltern zu.
»Diesem habe ich es zu verdanken, daß ich euch gefunden habe.«
»Bist du denn wirklich dieselbe, welche ich in Wanstead Bega nannte?« fragte Emily.
»Dieselbe!«
»Meine Ahnung schon damals! Aber ich hielt sie für töricht. Und Mister Reihenfels?«
»Er war damals der, den ich liebte. Du wußtest es.«
»Und jetzt?«
»Jetzt ist er mein Gatte, seit einigen Tagen erst, und nachträglich bitten wir um euren Segen.«
Sie knieten nieder, sie empfingen den Segen, dann zog Emily Reihenfels an ihre Brust und küßte ihn als den Retter ihrer Tochter und als ihren Schwiegersohn. Sie konnten nichts mehr sagen, sie konnten nur noch weinen – Freudentränen!