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7. Die Befreiung

Als die beiden sich erhoben und dem Mädchen an das Feuer gefolgt waren, merkten sie, daß Mirja nicht ohne Grund so gesprochen hatte. Auch wurde es ihnen jetzt klar, auf welche Weise Mirja ihr Leben gesichert hatte. Vorher waren sie zu weit entfernt gewesen, um das Gespräch der drei verstehen zu können.

»Wage nicht, Kulwa, dich nochmals an diesen beiden zu vergreifen,« sagte die Jüdin; »denn wisse, daß sich in demselben Augenblick dieses Messer in meine Brust graben wird.

Und würdest du es mir nehmen, so würde ich den Tod auf eine andere Art finden.«

Kulwa, wie Phangil drückten sich mißmutig auf den Boden nieder und beobachteten unverwandt die Fremdlinge, denen sie fluchten, weil sie sich hierher verirrt hatten.

»Wer seid Ihr?« wandte sich Mirja an Bega.

Ehe diese antworten konnte, ließ schon Kulwa seine Stimme vernehmen.

»Was fragst du sie erst?« sagte er höhnisch. »Weißt du noch immer nicht, daß die Menschen stets lügen, wenn sie gefragt werden?«

»Du beurteilst alle Menschen nach einem einzigen,« entgegnete Mirja, »und bedenkst nicht, daß auch ich zu ihnen gehöre. Du bestreitest ja, mit Menschen eines Ursprungs zu sein, weil du sie hassest. Wer also bist du?« Bega hielt es für das beste, gleich die volle Wahrheit zu bekennen. Mit Recht schien man hier die Unwahrheit für eine große Sünde zu achten.

»Erfahre denn, wer ich bin. Hast du noch nicht zu lange die Oberwelt verlassen, so muß dir mein Name bekannt sein. Man nennt mich die Begum von Dschansi!«

Die Wirkung dieser Worte war die erwartete. Erstaunen prägte sich in allen Gesichtern aus, das von Kulwa zeigte zugleich etwas von Grimm, das von Phangil Furcht.

»Du wärest das Mädchen, welches die Indier anbeten, welches ihre Königin werden soll, und welches die Engländer mehr als Bahadur fürchten?« fragte Mirja nach langer Pause.

»Dieses Mädchen bin ich. Ach, wäre ich es doch nicht geworden!«

»Du hast recht, dein Schicksal zu beklagen,« sagte Kulwa dumpf, »wehe dir! Seit man deinen Namen nennt, sind die Ströme und Bäche von Blut gerötet, und die Krokodile mästen sich an den Leichen.«

Mirja hatte das Mädchen gedankenvoll betrachtet.

»Ja, du bist die Begum von Dschansi,« sagte sie dann. »Ich habe sie zwar nie gesehen, aber so habe ich sie mir vorgestellt, als ich die Prophezeiung gehört; und wer ist dieser dein Begleiter?«

»August Hefter aus Potsdam, zu dienen,« nahm August für sich selbst das Wort, »früher Strumpfwirker, jetzt General in der indischen Armee.«

»Strumpfwirker? Was ist das?«

»Mir scheint, geehrtes Fräulein, Sie haben in Ihrem ganzen Leben ebensowenig Strümpfe getragen wie irgendein Indier, und da ist eine Erklärung schwierig. Ich mache eben die Dinger, die in Indien von keinem Indier gekannt werden, und da ich infolgedessen bei meiner Profession verhungert wäre, so bin ich General geworden.«

»Das scheint mir ein spaßiger Gesell zu sein. Was hattet ihr hier zu suchen?«

»Wir wollen den befreien, der durch Kulwas Schuld in Timur Dhars, seines Feindes, Hände gefallen ist und von ihm ungerechterweise gefangengehalten wird.«

Mirja horchte hoch auf.

»Von wem sprichst du?«

»Von Oskar Reihenfels.«

»Ah, ist das dein Ernst?«

»Er ist der Mann, den ich liebe. Das muß dir alles sagen.«

Bega hatte die Jüdin richtig beurteilt. Sie hätte nicht nötig gehabt, das Gespräch vorhin zu belauschen.

»Dann will ich dir helfen, ihn zu befreien,« rief sie, Bega die Hand gebend. »Doch weißt du auch, wo Reihenfels gefangengehalten wird?«

»Ich weiß es.«

»Und auch, was ihn in Gefangenschaft gebracht hat?«

Was Bega nicht wußte, das konnte ihr scharfer Verstand kombinieren. Jetzt erst fiel ihr ein, wie Reihenfels damals von außen den Weg in das Haus der Duchesse gefunden hatte.

Diese Gänge hatte er benutzt, und Kulwa war sein Führer gewesen.

»Reihenfels wollte seine Schwester Franziska befreien,« entgegnete Bega. »Ist dir bekannt, wer diese ist?«

»Lord Cannings Braut.«

»So ist es. Reihenfels kam zu mir und bat mich um Hilfe; ich sagte sie ihm zu, doch ich wurde für einige Zeit von ihm entfernt, und als ich zurückkehrte, fand ich ihn nicht mehr vor.

Timur Dhar hatte, wie ich hinterher erfuhr, sich seiner bemächtigt. Durch vielfache Listen gelang es ihm, Reihenfels als Spion hinzustellen; dem Anscheine nach wurde er von den Engländern erschossen. Kulwa fing den ins Wasser Stürzenden auf und lieferte ihn Timur Dhar aus Rache wieder aus; denn Kulwa glaubte, Reihenfels habe ihm ein Märchen erzählt, um in das Innere Delhis zu kommen, und dann das Geheimnis seines unterirdischen Aufenthalts preisgegeben. Reihenfels hatte dies nicht getan, er sagte die Wahrheit, aber Timur Dhar hetzte Kulwa auf und schonte nicht sein Geheimnis.«

Triumphierend wandte sich Mirja an Kulwa, der den Kopf hängen ließ.

»Nun, was sagst du jetzt?«

»Auch ich wußte, daß nicht Reihenfels der eigentliche Verräter sein konnte,« murmelte er dumpf. »Der alte Mann war es, der mir für meine Sachen Tabak gab. Er verriet mich an Timur Dhar und erhielt dafür das rote Metall.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?« stieß Mirja entrüstet hervor.

Kulwa fühlte sich schuldbewußt; er war zerknirscht.

»Den alten Mann konnte ich nicht bestrafen, denn er kam nicht mehr in seine Hütte; so ließ ich an Reihenfels meine Rache aus. Auch glaubte ich Timur Dhar, daß ebenso jener mich belogen hätte.«

»Du wirst deine Schuld dadurch wieder gutmachen, daß du uns jetzt hilfst.«

»Ich will es.«

»Wer war dieser alte Mann?« fragte Bega. Kulwa beschrieb ihn, und zwar sehr genau, ebenso das Innere der Hütte, in deren einer Ecke ein Wasserloch sich befand, welches mit dem unterirdischen Kanal in Verbindung stand.

»Es war mein Vater!« stöhnte Mirja.

»Dein Vater?« wiederholte Bega. »Also der alte Sedrack!«

»Du kennst mich?«

»Ja, Mirja, ich kenne dich. Ich trat einmal in deiner Gestalt auf, nannte deinen Vater den meinen. Nicht gleich erkannte ich dich, der Name erst brachte mich darauf. Doch laß das jetzt! Willst du uns beiden helfen, Reihenfels zu befreien?«

»Ich und Kulwa, auch Phangil, wenn er uns dabei von Nutzen sein kann. Wo finden wir ihn?«

»Er wird in einem dieser unterirdischen Gänge bewacht. Ich kenne nach einem Plane den Weg dorthin. Er führt hier vorbei.«

»Wie viele Wächter sind es?«

»Gleichgültig, wir haben sie nicht zu fürchten. Nach Mitternacht, die bald sein muß, kommt eine neue Wache. Sie erhält auf meine Anordnung Wein, in welchen ein starker Schlaftrunk gemischt ist. Wir werden sie in tiefem Schlafe finden.«

»Und wenn dein Anschlag vereitelt worden wäre?«

»So befreien wir den Gefangenen mit Gewalt.«

»Timur Dhar?«

»Ist abwesend.«

»Er soll überall sein.«

»Ja, so wie ich,« entgegnete Bega geringschätzend.

»Wie kommt es, daß du, die Höchste von Indien, nicht nach eigenem Willen handeln kannst?«

»Auch ich trage Ketten, und zwar sehr schwere. Ich werde nicht lange mehr die Begum von Dschansi sein.«

»Wie?« rief Mirja erstaunt. »Die Indier, an ihrer Spitze Timur Dhar, sollten die Begum von Dschansi aufgeben, deren Erscheinen als die Befreierin Indiens schon vor hundert Jahren geweissagt wurde?«

»Nicht die Begum von Dschansi werden sie aufgeben,« erwiderte das Mädchen mit tiefer Stimme, »sondern nur mich. Denke daran, was ich dir gesagt habe. Es kommt vielleicht noch einmal die Zeit, da ich schutzflehend an die Hütte des Ärmsten anklopfe, und er gehört zu dem Volke, welches mich einst auf Händen trug.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Du wirst es verstehen lernen. Doch,« fuhr Bega mit leuchtenden Augen fort, »was kümmert's mich! Wenn ich nur den zur Seite habe, der gern mein Unglück teilen wird! Bin ich vereint mit ihm, kenne ich überhaupt kein Unglück. Bist du bereit, mir jetzt zu ihm zu folgen?«

»Ich bin's. Und sollte das, was du da sagst, und was ich nicht begreife, eintreten, und du solltest an meiner Hütte vorbeikommen, so vergiß nicht, anzuklopfen.«

Sie setzten sich in Bereitschaft, das Unternehmen anzutreten. Bega beschrieb den Weg nach dem Plane, und jetzt wußte Kulwa sofort, wo sich Reihenfels befand. Der Ort lag fast direkt unter dem Hause der Duchesse.

Mit Bewunderung sah August, wie Kulwa, gleich einem riesenhaften Frosche, voranhüpfte, Phangil hinterher trabte, und ließ es nicht an Ausdrücken seines Erstaunens fehlen.

Dann gab Kulwa das Zeichen zum Schweigen, Bega wiederholte es, denn man näherte sich dem Orte, wo nach des Mädchens Vermutung Reihenfels gefangengehalten wurde.

Der Weg war ein sehr langer gewesen, Mitternacht mußte schon längst vorüber sein.

Vielleicht dämmerte draußen der Morgen, und der Gedanke daran, ließ Bega zu immer größerer Eile antreiben.

Sie wußte noch nicht einmal, was sie beginnen solle, nachdem Reihenfels befreit worden war. Keine weiteren Vorbereitungen hatte sie treffen können. Nur einen Getreuen hatte sie noch, der in den Wein den Schlaftrunk mischte. Derselbe Mann war es auch, der jetzt an einem versteckten Orte ihrer harrte, Kantakana, ihren prachtvollen Falben, und ein anderes Pferd am Zügel haltend.

Als sie um die nächste Ecke bogen, fiel ihnen heller Lichtschimmer entgegen.

In einer Nische des Ganges saßen ungefähr zehn bewaffnete Indier, teils um einen Tisch, teils am Boden, alle in festem Schlafe. Sie schienen eingeschlafen zu sein, ehe sie sich noch bequem hinlegen konnten; mitten in ihrer Bewegung mußten sie vom Schlafe überwältigt worden sein.

Der eine hielt noch die Hand ausgestreckt, um die Schachfigur zu fassen, mit welcher er des Gegners König angreifen wollte, aber matt lag sein Kopf auf dem Arme. Jener war wahrscheinlich eingeschlafen, als er den Becher an die Lippen führen wollte. Er hatte den würzigen Inhalt über seine Kleider gegossen und schnarchte.

Auch die Sanduhr sahen die Eintretenden, welche längst abgelaufen war. Ihr Hüter schlief davor. Sie enträtselten nicht den Zweck, sondern auf Begas Anordnung begannen sie mit fieberhafter Hast nach Schlüsseln zu suchen.

Nirgends waren solche zu sehen, auch in den Taschen der Männer fand man keine, vergebens untersuchte man die bewegungslosen Körper, kein Fach, kein Spind, kein Aufbewahrungsort von Schlüsseln war zu entdecken. »Es ist ein geheimes Mauerloch vorhanden,« erklärte Bega, »doch ehe wir dieses suchen, wollen wir sehen, wo sich der Gefangene befindet. Hier in der Nähe muß er sein; genau kann ich die Lage seines Gefängnisses allerdings nicht bezeichnen. Vielleicht brauchen wir gar keinen Schlüssel.«

Sie nahmen das Licht vom Tisch und begaben sich in den dunklen Gang hinaus.

Schon nach wenigen Schritten bemerkten sie ein Loch in der Wand. Bega sah alles finster, als sie hineinblickte, auch Kulwa konnte nichts sehen. Auf seinen Rat wurde Phangil emporgehoben, dessen Augen auch im Dunkeln sehen konnten, und sofort erkannte er eine Gestalt, welche auf einem Ruhebette lag und anscheinend fest schlief.

»Wie sieht er aus? Beschreibe ihn,« drängte Bega, vor Erwartung zitternd.

»Ich kann es nicht,« grunzte Phangil. »Ich sehe nur einen Körper, der vollständig bedeckt ist. Er atmet tief und laut.«

Das konnte man selbst von hier draußen hören, obgleich es kein Schnarchen war. »Siehst du sein Haar nicht?«

»Nein.«

»Seine Hände?« »Auch nicht. Überhaupt gar nichts.«

Bega rief leise hinein, erhielt aber keine Antwort.

»Dort sind noch andere Löcher,« sagte August, »vielleicht hat Mister Timur Dhar hier eine ganze Gefängnisanstalt oder ein Zuchthaus angelegt.«

Da schallte ein langgezogener Seufzer durch das Gewölbe, halb ein Stöhnen, halb ein Wimmern. Es kam aus dem Raum nebenan, also war auch dort ein Gefangener.

Gleichzeitig erscholl ein anderer Schrei, wieder etwas entfernter. Diesmal klang es wie ein Jauchzen, es war nur ein einziges Wort.

»Bega.«

»Oskar!« schrie das Mädchen; mit einem Sprunge stand sie an dem dritten Wandloch, und ihre Lippen berührten die bärtigen eines Mannes.

»Ich wußte,. das du kommen würdest,« flüsterte die Männerstimme.

»Ja, denn du hast mir erzählt, daß du noch lebst! Oskar, mein Oskar!«

Sie riß sich los von ihm. Noch konnten sich nur ihre Lippen berühren, noch trennte sie eine schwere, eiserne Tür. Ein Schloß war daran.

»Wo sind die Schlüssel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Es gibt einen solchen?«

»Ja. Timur Dhar kam jeden Tag, brachte mir Essen und füllte die Lampe. Heute kam er zum ersten Male nicht; deshalb ist auch die Lampe verlöscht.«

»Oh weh, so besitzt Timur Dhar den Schlüssel selbst!« sagte Bega. »Wir müssen das Schloß erbrechen.«

»Eine schwere Arbeit!«

»Nichts ist zu schwer für dich. Wir beginnen damit.«

»Wer ist noch bei dir?«

»August, Mister Reihenfels,« erwiderte sein Diener selbst.

»Also auch diese treue Seele läßt mich nicht im Stich. Wer sonst noch?«

»Kulwa und Phangil. Sie wollen das an dir verübte Unrecht wieder gutmachen. Zieh dich zurück, daß dich unsere Brechstange nicht verletzt.«

Bega beriet sich mit August, ob sie das Schloß oder die Mauer neben der Tür aufbrechen wollten, und sie entschlossen sich zu dem letzteren.

Vorher legte Kulwa seine Hände an die Tür und rüttelte mit ungeheurer Kraft daran, vermochte sie jedoch nicht aufzusprengen.

»Lockert nur etwas die Steine,« sagte er, »und sie wird mir nicht standhalten können.«

Mit fieberhafter Hast begannen Bega und August, das Mauerwerk da zu zerstören, wo das Schloß eingriff, während Kulwa ununterbrochen die Tür rüttelte. Phangil und Mirja standen Wache, sie sollten eine sich nähernde Gefahr anzeigen.

Wer sie überraschte, der mußte unbedingt niedergemacht werden.

Noch war nicht einmal der erste Stein herausgebrochen, sondern nur gelockert, als unter Kulwas herkulischer Kraft die Tür unter donnerähnlichem Krachen aufsprang – und Bega und Oskar lagen sich in den Armen.

Sie hatten nicht lange Zeit, die Seligkeit des Wiedersehens zu genießen. Nicht die Gefährlichkeit ihrer Lage hinderte sie daran, etwas anderes war es.

Der Donner der aufsprengenden Tür schien ein tausendfaches Echo geweckt zu haben. Es donnerte ununterbrochen fort, ein gar nicht zu beschreibendes Getöse, zugleich zischte und sauste es, die Gewölbemauern zitterten, und zwar so heftig, daß Mörtel von der Wand herabfiel.

»Was ist das?« fragte Reihenfels bestürzt und hob lauschend den Kopf.

Phangil und Kulwas Gesichter drückten namenloses Entsetzen aus.

»Es ist nur das Echo,« entgegnete Bega. »O, wie kann dies das Echo sein? Sieh Kulwa und Phangil, wie sie beben. Kulwa, was ist das?«

Kulwa war keiner Antwort fähig, er zitterte wie Espenlaub. Seine Augen drohten die Höhlen zu verlassen.

Das schreckliche Getöse nahm von Sekunde zu Sekunde zu, ein ununterbrochenes Donnern, und nach jedem Donnerschlage folgte ein furchtbares Zischen. Die Gewölbemauern bebten, als wollten sie einstürzen, den Menschen dort unten wollten die Trommelfelle fast zerspringen.

Entsetzt sahen sich alle an. »Der Welt Untergang, anders kann ich es mir nicht erklären,« schrie Reihenfels.

Plötzlich schlug sich Bega vor die Stirn. Halb erschrocken, halb erfreut schaute sie den Geliebten an.

»Ich weiß, ich weiß,« schrie sie dann, »die Kanonade ist es, die hier unten so schallt. Die Stadt wird bombardiert, die Engländer stürmen Delhi!«

Als sollte die Richtigkeit ihrer Behauptung sofort bestätigt werden, so erklang in diesem Augenblicke, das Kanonengebrüll noch übertönend und so den Weg auch in das unterirdische Gewölbe findend, der brausende Hurraruf der Engländer. Ihm folgte der gellende, indische Schlachtschrei.

Gleichzeitig hörte man Waffengeklirr. Die dicken Mauern waren doch nicht stark genug, den Schall abzuhalten – so furchtbar mußte der Zusammenprall gewesen sein.

»Und du, Bega?«

»Ich?«

Verwirrt schaute das Mädchen um sich. Wie suchend glitt ihre Hand über die Hüfte, wo sonst das breite Schwert hing.

»Bist du nicht mehr die Anführerin der Indier?«

»Ja, ich bin's noch – nein, nicht mehr,« stieß sie hastig hervor, »Oskar, rate mir; was soll ich tun? Man vermißt mich, man sucht nach mir – und Timur Dhar wird mich zu finden wissen.«

»So laß ihn kommen!« rief Reihenfels mit blitzenden Augen und ergriff Augusts Brechstange.

In dem Gange, aus der Nische kommend, tauchten Gestalten auf. Es waren die durch den ungeheuren Lärm erwachten Indier; mit schlaftrunkenen Gesichtern, die zugleich namenloses Entsetzen ausdrückten, schauten sie um sich.

Da sahen sie die Menschen, die zwei Mißgestalten, und nur mechanisch griffen sie nach den Waffen; dann stürzten sie Hals über Kopf in wahnsinniger Flucht davon, nicht anders meinend, als diese vermeintlichen Geister erzeugten das unheimliche Getöse.

»Es ist zu spät!« murmelte Bega. »Besser wäre es für uns gewesen, sie wären tot, denn jetzt verraten sie uns. Doch gleichgültig! Was nun, Oskar?«

»Ins Freie! Wir schließen uns den Engländern an. Wir sind in Sicherheit.«

»Und ich?«

»Für dich, Bega, hafte ich.«

»Ich glaube, Oskar, du kannst es nicht. Bedenke, ich bin die Begum von Dschansi.«

»Du hast recht,« entgegnete Reihenfels niedergeschlagen.

»Komm, ich will dich zu den Deinen führen. Den Weg, den die Wächter genommen, dürfen wir nicht benutzen, denn er bringt uns in das Haus der Duchesse, mitten nach Delhi hinein. Wir gehen dorthin zurück, woher wir gekommen sind.«

Reihenfels zögerte noch.

»Ich gehe nicht eher, als bis du mir sagst, was du dann zu tun gedenkst.«

»Ach, Oscar, was soll ich tun! Mir ist längst klar geworden, daß, wenn ich von der Sache der Rebellen abfalle, ich auf beiden Seiten keinen Schutz mehr finden werde, dann – bin ich vogelfrei.« »Und meinetwegen!«

»Ja, deinetwegen. Wüßtest du doch, wie gern ich es tue! Soll ich dir erklären, Oskar, warum ich vogelfrei werde? Warum ich auch niemals bei den Engländern Schutz zu erwarten habe, und warum mich selbst die Indier, die mich jetzt noch anbeten, verfolgen werden?«

»Ich weiß – Timur Dhar wird dafür sorgen,« entgegnete Reihenfels dumpf, »du Unglückliche, du!«

»Nenne mich nicht unglücklich; ich bin glücklich, dich dem Leben wiedergegeben zu haben.«

»Was nützt mir das Leben, wenn ich das deine verloren weiß! Nein, Bega, entweder wir leben zusammen, oder wir gehen unter, oder wir tragen gemeinsam das Schicksal, mag es kommen, wie es will.«

»Ich wußte, daß du so sprechen würdest,« rief Bega unter Weinen und Lachen zugleich und warf sich an die Brust des Geliebten.

Noch einen Kuß, noch einen stummen Liebesschwur, dann machten sie sich auf den Rückweg.

Plötzlich blieb Reihenfels wieder stehen.

»Ich glaube hier sind noch andere Gefangene.«

Bega mußte es bestätigen; sie hatte auch im Augenblicke nicht daran gedacht und zugleich erklang aus dem zweiten Mauerloch eine wimmernde Stimme:

»Mister Reihenfels, vergessen Sie in der Freiheit Ihres Dieners nicht.«

»Das ist Kiong Jangs Stimme!« rief Reihenfels sofort.

»Ja, ich bin's.«

»Nein, wir lassen dich nicht zurück.«

»Auch Hira Singh muß in der Nähe sein, wahrscheinlich neben meiner Zelle.«

»So befreien wir auch ihn.«

Bega war sofort bereit, die Brechstange noch einmal zu handhaben, ebenso August, und die anderen mußten sich fügen. Als unter Kulwas nervigen Fäusten die zweite Tür aufsprang, stürzte Reihenfels eine blutige Gestalt entgegen.

Jetzt war es möglich, die Kammer zu erleuchten, und man sah den mit Glasscherben gepflasterten Boden und den in der Mitte befindlichen schmalen Weg.

Mit ganz kurzen Worten teilte Kiong Jang mit, wie er schon lange, lange Zeit hier unten schmachte. Wie die Art seiner Folter war, konnte man selbst sehen. Seine Lampe war vor einigen Stunden erloschen, er war gestrauchelt, in die Glasscherben gestürzt und hatte sich erst wieder aufgerafft, als er Reihenfels Stimme vernommen hatte.

Jetzt, da der Unglückliche wieder auf gangbarem Boden stand, konnte er sich auf den geschwollenen Beinen nicht mehr halten; der starke Blutverlust hatte ihn auch erschöpft, und so brach er zusammen.

Dennoch zeigte sein Gesicht einen verklärten Ausdruck, denn zum ersten Male nach vielen Monaten konnte er sich wieder hinlegen, ohne sich zu verwunden.

Man ließ ihn vorläufig liegen; Mirja verband ihm notdürftig die frischen Wunden, während die anderen die dritte Tür sprengten.

Reihenfels wunderte sich nicht, als er darin Hira Singh fand. Vergebens suchte man ihn zu wecken; der Fakir lag in einem todähnlichen Schlafe, der jedoch weit verschieden war von dem, welchen er früher nach einer Suggestion in hypnotischem Zustand unter der Erde hatte.

Er atmete tief, und sein Puls ging regelmäßig.

Als alle Bemühungen, ihn zu wecken, fruchtlos waren, erriet Reihenfels die Art seiner Tortur.

Er war jedesmal, wenn er einschlafen wollte, von seinen Wächtern wieder aufgerüttelt worden, eine Marter, welche auch bei uns in der sogenannten guten, alten Zeit mit Vorliebe angewendet wurde, besonders zur Zeit der Hexenprozesse. Sie galt als die fürchterlichste Folter und ward To rme nt um i ns omni i genannt, wie man noch jetzt in den Richterurteilen lesen kann. Indischen Ursprunges ist diese Strafe also nicht.

Es blieb nichts anderes übrig, als Hira Singh und Kiong Jang einstweilen zurückzulassen, und zwar sollten sie im Schutz der unterirdischen Bewohner bleiben. Diese suchten einen versteckten Platz aus, während sich Reihenfels, Bega und August an die Oberwelt begeben wollten.

Noch gab sich Reihenfels Mühe, Kulwa das Getöse zu erklären, das ununterbrochen fortwährte, als eine neue Person auf dem Schauplatze erschien.

Ein heftiges Laufen erscholl in dem dunklen Gange, eine Gestalt stürzte hervor, auf die Gruppe zu.

Bega richtete ihre Laterne so ein, daß der Fremde hell von dem blendenden Strahle getroffen wurde, während sie selbst im Dunkeln stand.

»Timur Dhar – die Begum!« erklang es gleichzeitig, der erste Ruf bestürzt, letzterer erstaunt.

Es war wirklich Timur Dhar.

Er hielt sich die rechte Hand vor die Augen, weil der Lichtstrahl ihn blendete. Er konnte auch nichts sehen, mußte aber sogleich ahnen, was vorgegangen war – denn was hatte die Begum hier zu suchen – und mit einem Wutschrei sprang er vorwärts.

»Die Begum – Verrat – fahre zur Hölle!« schrie er mit heiserer Stimme.

Die rechte Hand noch immer über den Augen, riß er mit der Linken den Dolch aus dem Gürtel und stürzte – nicht auf Bega, sondern auf Mirja zu, die er wahrscheinlich, von dem Licht geblendet, für die Begum hielt.

Das Mädchen konnte dem Stoße nicht mehr ausweichen, es wäre verloren gewesen. Da aber saß plötzlich mit einem Sprunge Kulwa vor ihr, das Maul weit aufgerissen, die sonst glanzlosen Augen wie feurige Kohlen anzusehen.

»Ah, Kulwa, du,« knirschte Timur und zog den Dolch noch einmal zurück.

Doch im nächsten Augenblick stieß er zu, seine mit dem Dolche bewaffnete linke Hand verschwand tief in dem Schlunde des Froschmenschen.

Reihenfels hob das Brecheisen, den Gaukler niederzuschlagen, doch nun geschah etwas so Entsetzliches, daß es allen die Bewegung raubte.

Kulwa hatte den Stoß, der ihm Hals und Gaumen durchbohren mußte, ohne zu wanken ausgehalten.

Dann klappte sein Rachen – anders konnte man ihn wohl nicht bezeichnen – zusammen, das Handgelenk vermochte den furchtbaren Kiefern keinen Widerstand zu bieten, sie glichen haarscharfen Messern, es knackte und krachte, ein markerschütternder Schrei – und Timur Dhar taumelte zurück. Sein ausgestreckter, linker Arm besaß keine Hand mehr, aus dem Stumpf sprudelte ein Blutquell.

Alles dies war in einem Augenblicke geschehen. Die Umstehenden standen wie erstarrt da; niemand konnte an die Wirklichkeit des Geschehenen glauben.

Da ließ Bega die Lampe voll leuchten.

Der Gaukler war nicht mehr zu sehen. Nur einige Blutstropfen zeigten an, daß er den Weg zurückgenommen hatte, den er gekommen war.

Und Kulwa? Dieser saß wie gewöhnlich gleich einem Frosch mit langausgestreckten Beinen da, die blutleeren Lippen fest geschlossen, die Augen auf Mirja gerichtet.

Wortlos erhob er die Hand, den Weg anzeigend, nahm den schlafenden Hira Singh in den einen Arm und hüpfte schnell davon.

Die anderen folgten ihm, manchmal glaubend, dies alles nur geträumt zu haben.

Wo in aller Welt war nur die Hand des Gauklers mit dem Dolch geblieben? Äffte sie nur ein Trugbild? Mußte Kulwa nicht den Dolch in der Gurgel stecken haben? Oder hatte er beides einfach verschluckt? Die Frage konnte noch nicht gelöst werden. Jedenfalls war zu vermuten, daß der Froschmensch nicht verwundet worden, denn er hüpfte mit einer Schnelligkeit voraus, daß die anderen ihm kaum folgen konnten.

Reihenfels, dessen Kraft durch die Gefangenschaft nicht geschwächt worden war, hatte Kiong Jang in seine Arme genommen. Da wurde er von Phangil aufgefordert, ihm den Chinesen auf den Rücken zu setzen, und die bärenähnliche Mißgestalt trabte davon, als hätte sie keine Last zu tragen.

Als sie das Quartier der lichtscheuen Wesen erreicht hatten, drehte sich Kulwa um und deutete, ohne den Mund zu öffnen, mit der Hand in die Richtung voraus. Seine Aufforderung war so dringend, daß sie nicht mißgedeutet werden konnte: flieht unverzüglich weiter, verlaßt uns, wir wollen allein sein.

»Und dieser Unglückliche, dieser Schlafende?« warf Reihenfels noch einmal ein.

Heftig deutete Kulwa ihm mit Handbewegungen an, daß beide hierbleiben sollten.

Mirja hatte ihn am besten verstanden.

»Geht, flieht!« drängte sie. »Kulwa will allein sein. Ich will für diese Sorge tragen.«

Kulwa ließ ihnen kaum Zeit, Mirja die Hand zu geben. Reihenfels fühlte das Bedürfnis, der Jüdin, die unmöglich hier glücklich sein konnte, ein tröstendes Wort, eine Hoffnung zu hinterlassen.

Doch Kulwa durfte davon nichts hören, und er sprach Indisch, vielleicht auch Englisch.

Reihenfels hatte aber bei seinem früheren, kurzen Aufenthalt Mirja hebräisch beten hören.

»Wir danken dir, Mirja,« sagte er daher zu ihr in der Sprache ihrer Väter, »sind wir in Freiheit, so werden wir deiner gedenken. Du bist zu jung und zu schön, als daß es dein freiwilliger Wunsch sein könnte, hier unten zwischen feuchten Mauern zu verschmachten.«

Ehe Mirja noch das Staunen überwunden hatte, plötzlich im reinsten Hebräisch, das besser der gelehrteste Rabbiner nicht reden konnte, angesprochen zu werden, hatten sich Reihenfels, Bega und August, Kiong Jang noch einmal zuwinkend, schon entfernt.

Das von Phangil schnell angeschürte Feuer flackerte auf, aber sein Schein reichte nicht weit. Schon nach einigen Schritten waren die drei in der Finsternis verschwunden.

Noch brüllten oben die Kanonen, erfüllten die Gewölbe mit donnerndem Echo und ließen die Mauern erbeben.

Es war, als teilten sie ihr Zittern dem Körper Kulwas mit, der bis jetzt regungslos dagesessen hatte, seine Augen wie gewöhnlich unverwandt auf die schlanke Gestalt Mirjas geheftet.

Dann wandte er sich langsam um, als wolle er etwas den Blicken seiner Genossen verbergen, und mit Schaudern sah Mirja plötzlich, wie er hinter sich in das trübe Wasser des Kanals eine blutige Hand warf, die noch einen Dolch umklammert hielt.

Es war die abgebissene Hand Timur Dhars; er hatte sie erst jetzt aus seinem Munde entfernt.

Gleichzeitig neigte Kulwas Körper sich schwer zur Seite, er brach zusammen, und aus seinem Munde stürzte ein Blutstrom.

Mit einem unartikulierten, nicht wiederzugebenden Schrei warf sich Phangil über ihn, rang die Hände, raufte die Haare und verfluchte die Fremden, die ihn seines Kameraden, des einzigen Wesens, dem er sich anschließen konnte, weil er von gleicher Mißgestalt war, beraubt hatten.

Er wußte, wie auch Mirja, daß das Herausziehen des Dolches, der bis jetzt die Wunde verstopft hatte, Kulwas Tod bedeutete.

»Ich sterbe,« röchelte dieser, »lebe wohl Phangil – wir haben treu zusammengehalten – du hast mich großgezogen – als du mich aus dem Wasser fischtest – man wollte mich Scheusal töten – du wurdest mir Vater und Mutter – ich danke dir – lebe wohl!« Er drängte fast heftig Phangil von sich und winkte Mirja zu sich heran. Tränenden Auges beugte sich das Mädchen über ihn und küßte ihm die unförmliche Hand. Als er sprechen wollte, trocknete sie seinen blutigen Mund.

»Ich habe Unrecht an dir begangen,« flüsterte er mit brechender Stimme, »jetzt, da ich sterbe, sehe ich es ein – ich durfte dich nicht hier unten festhalten – verzeihe mir, Mirja – ach, jetzt begreife ich, wie du die Sonne so sehr lieben kannst – du warst meine Sonne in finsterer Nacht – dich liebte ich – verzeihe mir, Mirja!«

»Ich habe dir nichts zu verzeihen,« schluchzte das Mädchen, »stirbst du doch für mich!«

»O, wenn du wüßtest, Mirja, wie gern ich für dich sterbe! Du sollst nicht hier unten verschmachten, gehe hinauf zur Sonne, die du liebst. Ach, daß ich dich davon abhalten konnte! Phangil,« wandte er sich wieder an diesen, »du wirst sie nicht daran hindern, du wirst sie ziehen lassen. Auch du bist alt und wirst bald sterben.«

Phangil nickte nur.

Eine lange Pause trat ein. Kulwa, auf dem Rücken liegend, blickte nach oben, und seine starren Augen nahmen einen immer verklärteren Ausdruck an.

»Mirja,« flüsterte er dann, »ist es wahr, was du mir einst erzähltest, als ich dir den behaarten Wurm zeigte? Ist es wahr, daß aus diesem, wenn er stirbt, der leichte, bunte Vogel wird, der sich auf Blumen wiegt, ohne sie zu beugen? Erzähle es mir noch einmal, ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Es ist so. Wenn die häßliche Raupe stirbt, so entsteht aus ihr der prächtige Schmetterling.«

»Ich möchte auch solch ein Schmetterling werden.«

»Wenn deine Seele den Körper verläßt, wird sie wie der Schmetterling sein, noch schöner und leichter.«

»Mir ist, als könnte ich so fühlen, es wird mir so leicht,« flüsterte Kulwa. »Mirja, sing mir das Lied, von dem weisen Manne, der alles wußte und kannte. Du hast es mir manchmal erzählt. Damals glaubte ich nicht daran, aber jetzt kann ich es glauben.«

Mirja sah die Augen brechen, sie sang die Verse im 12. Kapitel des Predigers Salomo:

Es reißt die silberne Kette, die goldene Schale zerbricht; der Eimer der Quelle zertrümmert, das Rad am Brunnen zerschellt, der Staub kehrt wieder zur Erde, von der er gekommen ist, der Geist aber geht zum Allvater, der ihn gegeben hat.

Noch einmal gewannen die schon erloschenen Augen einen verklärten Ausdruck, wie sehnsüchtig breitete er beide Arme aus.

»Ich sehe eine Sonne,« flüsterte er leise, »ich kann fliegen – nach dieser Sonne fliegen – ich bin frei!«

Ein Zittern ging durch seinen Körper; aus der häßlichen Larve schlüpfte der Schmetterling und schwebte leichtbeschwingt zum Allvater zurück.


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