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Der Straßenräuber

Metlili ist ein bezauberndes Städtchen. Es liegt, in eine Talmulde eingeschmiegt, inmitten der sonderbaren Bergzüge der Chebka, die wie abgesägte Kegelstümpfe wirken. Wenn man, müde vom Kamelritt, fern den smaragdnen Schimmer seiner Palmenhaine gewahrt und den gelben, obeliskenartigen Gebetturm der Moschee, dann begreift man alle Märchen von verzauberten Saharastädten.

Chebka: das heißt auf arabisch Netz. Das ungeheure Hochplateau der algerischen Steinwüste ist von einem Netzwerk ausgetrockneter Flußbetten durchzogen und betupft mit Büscheln niederer Kräuter.

Der scharfkantigen, rötlichen Steinbrocken gibt es hier so viele, als hätten die Engel der Legenden sie aus allen fruchtbaren Feldern der Welt fortgetragen, um sie hier auszuschütten. Und der Himmel ist so blau, als strahle er noch im Widerschein ihrer seraphischen Gewänder.

Ich kam nach Metlili, weil mich der Kaid zu einem »Meschwoui« geladen hatte, einem ganz am Spieß gebratenen Lamm. Der Meschwoui ist das Festmahl der Wüste, und die Honoratioren waren dazu gebeten. Der frühere Kaid, mit dem gütigsten Altmännergesicht, das ich jemals sah – der Kadi, dessen linkes Auge an die blinden Metallspiegel gemahnte, die man in Gräbern findet –, Abd-el-Kader, der weltmännische Hotelier aus Ghardaia, der im einzigen Auto der Gegend gekommen war, und Leutnant Kaddour, dessen erlesenes Pferd ich bestaunt hatte. Der Leutnant trug unter dem hausgewobenen Burnus den Uniformrock und den Orden der Ehrenlegion. Er war ein Riese, von wundervollem Ebenmaß, hochbrüstig, schlank, mit einem schwarzen Piratenbart, sonderbar harten, ernsten, hellgrünen Augen und einem plötzlichen, überraschend traurigen Lächeln.

Die Karbidlampen sprühten und spuckten an den Pfeilern, und wie auf Rembrandts Nachtwache liefen Lichter und Schlagschatten über die bärtigen Gesichter. Dann trugen zwei Männer an einer langen Stange auf den Schultern den Meschwoui herein, dies wie aus glänzender Bronze gegossene Lamm mit glasig glotzenden, toten Augen. – Ich griff mit den Händen zu, wie alle andern, und habe nie Köstlicheres geschmeckt als dies streng nach Kräutern duftende, junge Fleisch, das wie Honig auf den Lippen zerging.

Leutnant Kaddour sprach fließend Französisch mit hartem, gutturalem Laut. Er war zweimal in Paris und auch sieben Monate in London gewesen, bei einer »exposition« mit einer ausgesuchten Truppe seiner Spahis, um »denen da oben zu zeigen, wie man hier reitet«. Fünfzehn Jahre war er Soldat gewesen. Aber nun war er in die Chebka heimgekehrt, um aus achtzig Meter tiefen Brunnen auf ewig knirschenden Radrollen das Wasser für die Dattelbäume seiner Palmenhaine aufzuholen und ihre Kronen im Frühjahr zu befruchten, die heiligen Suren des Korans absingend wie Vater und Vatersvater vor ihm. Sein Lächeln zwischen Schmerz und Stille befremdete mich. Und nachher erzählte mir Abd-el-Kader die Geschichte – die nicht Karl May erfunden hat, und die auch nicht vor hundert Jahren sich begab, sondern im September 1928, in diesem denkwürdigen Herbst, in dem Allah die Chebka mit strömendem Regen segnete und die Kamele sich Fetthöcker auf der Weide fraßen.

Leutnant Kaddour, der Zweiundvierzigjährige, hat einen Bruder, der siebzehn Jahre jünger ist als er. Baschir ist groß wie er. Auch seine Augen sind grün wie die eines Bocks oder eines Leoparden. Er ist der schönste Bursch der Chebka, ein vollendeter Reiter; der gleiche unfehlbare Schütze wie Kaddour, der schon seine Knabenfinger um das Gewehr gelegt hat. Auch die gleiche Uniform trägt er wie dieser. Der Dienst, fern in Syrien, ist hart, und das Heimweh nach der Chebka unerträglich für Baschir. Vielleicht auch die Sehnsucht nach Aissah, seinem jungen Weibe, aber davon wird nicht gesprochen. Keiner weiß, wie er es anfängt, aber plötzlich ist er wieder daheim. Er hat einen syrischen Vollbluthengst mitgebracht, der grau ist wie Eisenlack – also noch ganz jung – und so zarte Fesseln hat wie eine Tänzerin.

Baschir arbeitet in der Palmerie und lebt friedlich in seinem Haus, dem letzten von Metlili.

Da kommen Meharisten (eine Art Elite-Gendarmerie in der Wüstenweite, auf ausgesuchten Rennkamelen) und wollen den Deserteur fangen. Aber den finden sie nicht mehr. Baschir hat sich in die Chebka geflüchtet, die ihm wie eine Mutter vertraut ist. Er klettert wie der Mufflon der Berge, er ist der beste Jäger im Umkreis, von seinem Ausguck späht er rechts und links, soweit der Falke blickt; jeden sieht er, der herankommt. Hungert ihn? Des Nachts kommen nacktfüßige Buben und bringen ihm Brotfladen, bringen Mehl zum Kuskus, und das Wichtigste: Tabak. Was also fehlte Baschir? Aissah fehlt ihm. Er wagt es, obgleich die Meharisten um Metlili kreisen, und steigt in die Stadt hinab, des Nachts; die weißzottigen Hunde bellen nicht, die kennen ihn. Er pocht mit seinem Klopfzeichen. Kein Freudenschrei, das Haus bleibt verschlossen. Baschirs bester Freund belehrt ihn: Aissah ist fort. Der Kadi hat die Ehe mit dem Deserteur geschieden, und Aissah ist nach Ghardaia gezogen. Sie tanzt jetzt »im Viertel«, sie ist schlechter als die schlechteste der Ouled Nails, denn sie ist nicht wie jene »mit der Sünde in der Haut« zur Welt gekommen!

Baschir sattelt seinen jungen Hengst, auf dessen muskelüberspielten Schenkeln schon leise die hellen Kreisflecke des Apfelschimmels hervorzutreten beginnen. Er lädt seine Gewehre und seinen Armeerevolver. In Ghardaia, im »Bordj« droben, das voller Soldaten steckt, sitzt der Kommandant selber. Jedes Kind in Ghardaia kennt Baschir, den Deserteur, auf dessen Ergreifung tausend Franken gesetzt sind. Aber trotzdem reitet er nachts zur Stadt herein, deren Tore wie immer geschlossen worden sind.

Er hat den Pförtnern – vier Mozabiten – statt seinen Namen anzusagen die beiden Gewehrläufe durchs Guckloch fast bis in die von Staunen offenen Mäuler geschoben, und sie haben ihn wahrhaftig eingelassen.

Das »Viertel«, der Auswurf der Stadt, liegt gleich an der Mauer, neben den Schlachthäusern. Baschir reitet durch die Straßen, daß seines Pferdchens Hufschlag wie ein Sack voll Nüsse knattert. Er springt ab, dringt durch stets offene Türen, hinter denen die Flöte näselt und lockt, bricht in Zimmer um Zimmer, die sich wie Waben im Stock aufeinanderreihen. Er reißt trunkene Weiber auf, um ihr Gesicht zu sehen, er stört Khifraucher und Pärchen, er leuchtet in alle Winkel und schleudert fort, was sich ihm in den Weg stellt. Gezeter, Geschrei, Drohen. Als er sie nicht findet, die feig hinter all die rauschenden Weiberröcke Verkrochene, verachtet er sein Weib mehr als um Treubruch und Verrat: weil sie nun nicht kommt, sich von ihm töten zu lassen! Er besäuft sich, zum erstenmal im Leben – auch als Soldat hat er den Koran geehrt. Sinnlos volltrunken schläft er irgendwo ein.

Und trotzdem – trotz alledem findet sich niemand zu Ghardaia (und darauf ist Abd-el-Kader stolz), niemand unter Mozabiten, Arabern, Negern und Hetären, der die tausend Franken verdienen und Baschir hätte verraten wollen.

Er reitet unangefochten durch die morgenlichte Stadt, und als Soldaten ihn erkennen, springt sein Pferd aus unfaßbarer Höhe von der Mauer hinab in den rettenden Sand und entführt ihn, schneller als die Kugeln zu fliegen scheinen, in die Chebka.

Aber nun läßt der Kommandant verlautbaren, wer mit Baschir Gemeinschaft hält, ihm Lebensmittel oder Unterstand bietet, wird hart bestraft werden ...

Acht Tage später treibt ein Hirt die Herde dickvließiger Schafe durch die Chebka. Baschir bittet: »Ich will Meschwoui essen. Gib mir ein Lamm!« Das darf der Hirt nicht. Auch gehören die Lämmer nicht ihm. »Willst nicht?« Baschir zieht den Revolver mit der Linken, mit der Rechten packt er in die Wolle, hebt das zeternde Lamm aufs Pferd. Ganz Metlili sieht das Feuer, an dem sein Meschwoui im eigenen Fett brät. Das gefällt Baschir. Er beginnt sich daran zu gewöhnen, alles zu nehmen, was er braucht, immer aber bittet er vorher darum. Burnusse, Decken, kleine Eselchen (gleich mit ihrer ganzen Ladung von Holz), Schafe, Schuhe, Decken, Mehl, Munition raubt er – niemals Geld. Was soll Geld in der Chebka? Endlich raubt er auch Liebe.

Da ist ein vierzehnjähriges Kind, Tochter eines wohlhabenden Mannes zu Metlili, ganz kurz erst trägt sie den Schleier und die silbernen Ohrgehänge. Sie treffen sich beim »redenden Felsen«, in dem man die Kriegstrommeln und grellen Flöten hört, wenn man das Ohr daranlegt. Baschir legt sein Ohr an der Kleinen Herz, und es schlägt stärker und wilder als alle Trommeln.

Ab und zu kommt ein Detachement die Straße herauf, mit dem Auftrag, »ein Ende zu machen, was Teufel!« Schwitzend kriechen sie durch die Berge, stochern mit den Bajonetten in alle Höhlen, und Baschir liegt drei Schritte von ihnen im Schatten und gähnt.

Aber eines Tages sieht er andere Reiter die Straße herkommen: einen Burschen zu Pferd, den Baschir kennt, eine verschleierte Frau, gleich einem weißen Bündel tief auf den Sattel geneigt, schwankend, als müsse sie nun und nun vom Eselchen fallen.

Baschirs Apfelschimmel prasselt in einem Steinhagel den Abhang hinab. Der Bursch hält erschrocken vor dem Gewehr. Gestern noch ist Baschir in El Abbiodh gesehen worden.

»Wohin führst du sie?«

»Nach Ghardaia, zum Markt.«

»Du lügst, es ist nicht Freitag! Du führst sie hinab, um sie zu verheiraten. Weißt du nicht, du – daß sie mein ist?«

Ein Schuß fällt, und Baschir sieht das arme kleine Mädchen zu Boden sinken.

»Jetzt mag sie heiraten, wer Lust hat!« sagt er mit rauher Stimme. Und er ist fort, man hört nur den Hufschlag seines Pferdes und das Rollen der Steine.

Um diese Zeit erhält Leutnant Kaddour einen wundervoll gemalten arabischen Brief, über dem links oben der Segensspruch Allahs steht. Darin befiehlt ihn der Kommandant selbst nach Ghardaia. Kaddour kennt und ehrt den Hauptmann. Er hat unter ihm gedient, vor zehn Jahren, in Marokko, damals, als der Marschall Liautey das Land von Räuberbanden säuberte. Der kleine Kapitän tritt vor den Riesen, der im Salut stramm steht, den Rücken der offenen Hand gegen Stirne und Turban gelegt. Und er rührt an das blutrote Band der Ehrenlegion. »Kaddour«, sagt er arabisch, »du warst ein braver Soldat, und Frankreich hat dir seinen schönsten Orden verliehen. Warum lassest du es zu, daß dein Bruder als Deserteur lebt und als Straßenräuber?«

Kaddour senkt die salutierende Hand und führt den Zeigefinger an den Mund. Er sagt langsam: »Wenn du meinst, Sidi Kapitän, daß er sterben muß, dann werde ich es sein, der ihn tötet!«

Leutnant Kaddour reitet an der Spitze von hundert Meharisten zurück. Sein roter Burnus leuchtet weit in der Herbstsonne. Baschir steht droben, geborgen, man hört ihn lachen: »Welch großer Mann muß Baschir sein, wenn der Sidi Kapitän einen Leutnant nach ihm schickt und hundert Kamelreiter!«

Da hebt Kaddour die Hand und läßt das Turbantuch vom Gesicht fallen. Baschir erkennt, daß es sein Bruder ist.

»Das ist das Ende«, ruft er droben.

Und dann, als sie nahe genug sind, legen sie aufeinander an, die beiden Brüder, die gerühmtesten Schützen der Chebka. Die Schüsse sind wie ein Schlag. Aber Allah ist groß, und es geschieht, daß beide ihr Ziel verfehlen, jeder von ihnen zum erstenmal im Leben. Doch die Meharisten trifft Baschir besser. Vier sind tot, drei bindet man verwundet auf dem Mehari fest. Ihn selbst schützt Vorsprung und Fels, ihn schützt die Chebka.

Das Ende kommt, als der Kopfpreis aufs Dreifache erhöht wird. 3000 Franken! Baschirs bester Freund, der, dessen Namen kein Mann mehr ausspricht, lädt den Vogelfreien ins Haus zum Kuskus. Es hat zehn Tage geregnet. Baschir ist in der eisigkalten Höhle gelegen, ohne Feuer, ohne Tabak. Er steigt hinab, wärmt sich, ißt, raucht – sehr verändert. Dankbar, wie ein immer mit Steinen verjagter Araberhund, den doch einer streichelt. Er ist sehr allein, und nachts sieht er immer Kaddour im roten Burnus, der auf ihn anlegt. Dann mahnt der Freund zur Vorsicht, zum Scheiden. Und als Baschir, ein Dankwort auf den Lippen, fröstelnd in den Regen tritt, schießt ihn sein Freund in den Rücken. Der Einschuß ist schwarz vom Pulver.

Der Kommandant sieht wortlos Baschirs Gewehr, das der Mörder ihm bringt, hört wortlos den Bericht. Er greift in die Lade, zieht, ohne hinzusehen, das bereitgelegte Paket von dreißig Hunderterscheinen hervor und wirft es auf den Tisch. Es schlittert über die Fläche und fällt dem Mann vor die Füße. Der bietet zögernd die Hand, aber der kleine Kapitän schreibt schon wieder, das eine Auge übers Papier geneigt – das andere hat ihn Marokko gekostet.

Am Nachmittag, ganz allein, reitet Sidi Kapitän die Straße nach Metlili. Er sieht zu den Bergen der Chebka auf, in denen nur mehr die Weihe nisten. Vor Kaddours Haus steigt er ab, inmitten flüchtender Hühner, Zicklein, Kinder und Frauen. Er bindet seinen Braunen neben einem herrlichen Apfelschimmel an, der unruhig schnaubt und schnobert und scharrt und unwillig den Kopf wirft, da der Offizier seinen nervigen Hals klopft. Es ist so, wie der Kapitän es erwartet hat. Kaddour ist dabei, sich zur Blutrache zu rüsten.

Drin auf dem Tisch, von dem sich Kaddour langsam erhebt, sind Metallteile, fettige Putzlappen und Drahtbürstchen verstreut – ein Gewehr, zwei Revolver, die fünfzehnjährige Übung zerlegt hat. Heute nacht sollen sie Arbeit erhalten und den töten, der Baschir getötet hat.

Drei Stunden spricht der kleine Kapitän zu dem gebückten Mann und sucht ihm das abendländische Gesetz begreiflich zu machen, das manchmal den Mörder eines guten Mannes schützen und manchmal den Mord an einem Verräter strafen muß…

Endlich reitet er und besitzt Kaddours Wort.

Und Kaddour tritt gebückten Hauptes aus dem Haus, um das Wasser in die Kanäle seiner Palmenhaine zu leiten, das er aus achtzig Meter tiefem Brunnen aufwindet, auf ewig knirschenden Radrollen…


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