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Ich lernte sie beide in einem kleinen algerischen Terrassencafé kennen, das eine berauschende Fernsicht über Meer, Himmel und die sichelförmige Bai von Algier bot. Des Abends, sobald die aus fünf Mann bestehende Kapelle ihr Konzert begann, wäre dieses Lokal just nicht der passendste Aufenthaltsort gewesen. Nachmittags aber arbeitete ich unter dem Schutze der Leere und des alten österreichischen Kellners beinahe ungestört.
Das Meer vor mir schimmerte wie Lasur, der Himmel hatte die rosa und blau verschwimmenden Farben eines Vergißmeinnichtbeetes, der Hafen toste vom arbeitsamen Leben, und die Dampfpfeifen der weithin wandernden Schiffe brüllten. Der alte Kellner, seit 32 Jahren an dieses Panorama gewöhnt, sah mit geblendet blinzelndem Blick darüber hin. »Schön, das Meer heute«, sagte er zu mir. »Schöne Stadt, Algier. Aber bei uns zu Hause müssen sie jetzt Schnee haben!« Und dann sprachen wir von unserer Heimat, deren Schönheit der Österreicher – genau wie die ersten Menschen jene des Paradieses – erst erkennt, wenn er aus ihr vertrieben ist. Dann schlurfte der alte Mann seufzend zu seinem Sessel im Hintergrund und schlief ein. Und ich konnte wetten, daß im Augenblick darauf eine dienstwillige Bürste an ein bereites Kistchen klopfen und eine dünne Stimme nicht fragen, sondern fordern würde: »Schuhputzen, Madame?« Und das war M'hemmed.
M'hemmed gehörte der Gilde der Stiefelputzerjungen an, die vom Morgen bis Mitternacht die französischen Straßen von Algier durchstreifen, wie ein Rudel buntscheckiger und hungriger Hyänenhunde.
Die Stiefelputzerjungen von Algier sind sozusagen kleine Beamte mit der Marke der Schuhcremefirma auf dem Kistchen unter ihrem linken Arm. Sie tragen auf den kahlgeschorenen Kinderschädeln einen mit bunten Fetzen umwundenen Fez, und die internationale Uniform der Arbeit bekleidet sie, die blaue Leinenbluse, zu der sich hier weite Pumphosen gesellen. Sie traben nacktfüßig in Trupps, und während sie in kehligem Arabisch miteinander schwatzen, heben sie niemals den Blick vom Pflaster, weil sie nicht nach Gesichtern, sondern nach Füßen ausspähen. Hat sich ihr Sperberblick eine neue Beute ausersehen, verstummen sie mitten im Wort. Ein rasender Wettlauf der Konkurrenz beginnt, quer durch diesen phantastischen Straßenverkehr einer aufblühenden Stadt, in der jeder zweite Einwohner Auto oder Motorrad oder Lastwagen sein eigen zu nennen scheint. Bis der Sieger, atemlos, kniend, an sein Kistchen pocht und hervorkeucht: »Schuhputzen, mein Herr?« Auch mein stiller Winkel war vor ihren Spürnasen nicht sicher. Ich wagte mich ohnedies niemals mit geputzten Schuhen auf die Straße, aus Angst, mich einer Gewerbestörung schuldig zu machen. Aber an jenem Tag, an dem ich M'hemmed kennenlernte, hatte ich bereits meinen Obolus entrichtet und meinte, meinen Arbeitsfrieden verdient zu haben, als zu meinen Füßen aufs neue dies: »Schuhputzen, Madame?« erscholl.
Ohne hinzusehen, war ich im Begriffe, das arabische »Allah wird dir geben!« zu murmeln, diese einzig wirksame, fromme Vertröstung, die allzu lästige Straßengeister noch stets gebannt hatte.
Da fühlte ich, daß eine Hand in heftigem Ungestüm der Bitte an meinem Kleidsaum riß. Dies war denn doch zu kühn, und ich fuhr auf mit strengen Worten auf der Zunge. Aber mit hellem Staunen sah ich sogleich, daß es keine braune Knabenhand war, die an meinen Kleidfalten zerrte, sondern eine haarige und langfingrige – so schmal und schwarz und dürr wie eine Johannisbrotschote. In einem Nu verschwand die Hand und der dazugehörige lange schwarze Arm in des Knaben Blusenausschnitt. »Was hast du denn da?« fragte ich, da des Kindes Busen so sonderbare Wellen schlug.
Der Junge grinste selig über den Erfolg des anscheinend oft geübten Tricks. »Einen Maki, Madame, willst du sehen?«
Aus der Bluse kam ein schier fuchsspitzes Schnäuzchen hervor – kluge Augen, die wie Halbkugeln dunkelnden Bernsteins sich wölbten – das ganze bezaubernde Gesichtchen eines Halbaffen. »Er heißt Kiki«, erklärte der Junge, und ich sah eine bei Arabern nicht ganz alltägliche Liebe zu dem Tier in seinem Blick. – »Und wie heißt denn du?« – »M'hemmed. Schuhputzen, Madame?« Der Maki hatte sich auf den Tisch geschwungen und untersuchte mit nettesten Gebärden der Neugier die leere Schale, Papier und Füllfeder.
»Na gut. Hast du wenigstens weiße Creme?« Die Fezquaste flog bei M'hemmeds stummem »Nein«.
Ich ließ also seufzend meine armen Schuhe mit dieser entsetzlichen, zähen, roten Paste bestreichen, in die M'hemmed leidenschaftlich spuckte.
Und, als dürfe ich nicht entlaufen, hielt die ganze Zeit die heiße, lange, schwarze Affenhand meinen linken Zeigefinger umklammert. Es war eine sonderbar menschliche Hand, obgleich sie schwarz war und an jeder ihrer Fingerspitzen eine wie aus Knetgummi angeklebte Verbreiterung haftete.
M'hemmed arbeitete so eifrig, daß auf der gewölbten Kinderstirn senkrechte Falten standen und seine Zunge sich im Mundwinkel zeigte. Er war so klein und mager und schlecht genährt, daß man ihm drüben in Europa nicht mehr als fünf Jahre gegeben haben würde. Aber er zählte deren neun und hatte sicherlich mehr erlebt als ein europäischer Bursche mit neunzehn.
»«Was bekommst du?«
»Zehn Sous.«
Zum Lohne dafür, daß er nicht aufgeschlagen hatte, obgleich ich gefragt, also mich als Fremde deklariert hatte, bekam er zwanzig.
Er sah den Franken mit einem verliebten Staunen an, das er aber als gewiegter Geschäftsmann sogleich unterdrückte, nahm stumm den Maki auf und stopfte ihn hastig in den Busen, daß nur mehr der waagrecht in Schwarz und Weiß gestreifte Tierschweif, schlangenhaft beweglich, sich hervorringelte.
»Mit was fütterst du ihn?« fragte ich nicht allzu mutig, denn, mein Gott, womit mochte wohl dies Kind selbst seinen Hunger stillen? Und doch, dies Affenhändchen war so fiebrig heiß gewesen, die Kugelaugen hatten so kranken Glanz...
Da vernahm ich, daß das Tier kaum feste Nahrung zu sich nahm. Geradeheraus gesagt, der gute Maki war ein Trunkenbold wie nur je irgend einer.
Ein Matrose hatte das Halbaffenbaby aus Madagaskar mitgenommen und droben in der Kasbah bei irgend einem Mädchen zurückgelassen. Er war es, der »Kiki« an den Alkohol gewöhnt hatte, dem er selbst wohlgeneigt war, weil es ihn belustigte, den Maki seinen bacchischen Unfug treiben zu sehen...
»Er tanzt immer abends, wenn er genug getrunken hat«, berichtete M'hemmed. »Ja, zum Teufel, wer gibt ihm denn jetzt noch zu trinken?« brach ich los. M'hemmed war zu keiner Antwort zu bewegen. Nur eines begriff ich, daß M'hemmed und sein Maki gemeinsam jemanden zu fürchten hatten. Da droben, in der Kasbah.
»Na, dann wird dein Maki bald ausgetanzt haben!« sagte ich.
Ich hatte während all dieser Jahre hier in Algier wie fast überall im Süden so viele Akte der Tierquälerei hilflos mit ansehen müssen, daß ich einfach mit weißglühender Wut auf diesen neuen Fall reagierte. Ich wandte mich ab und meiner Arbeit zu, und als ich gefaßter wieder aufblickte, hatte sich M'hemmed mit seinem Maki fortgestohlen.
Den ganzen Rest des Tages über quälte ich mich mit Vorwürfen, diese beiden fortgelassen zu haben, ohne die Adresse zu erfragen, ohne Wiederkunft zu fordern.
Ich dachte, daß ich keine Ruhe mehr finden könne, wenn M'hemmed und sein Maki nicht wiederkämen.
Doch sie kamen wieder. M'hemmed lachte mit blinkenden Araberzähnen schon von weitem, als ich ihm winkte. Er stürzte sich in den wild strudelnden Verkehr der Straße, die uns trennte, wie Leander in den Hellespont.
Araber lassen sich nicht gern beim Essen zusehen. So hockte er abgekehrt auf seinem Kistchen, und ich sah nur die von Henna und Stiefelschmiere roten Hände Brocken in seinen Mund stopfen. Bei »Kiki« hatte ich weniger Glück. Es zeigte sich, daß des Halbaffen Magen von Alkohol gleichsam verbrannt war. Es gab Tage, an denen er selbst die geliebten Bananen wieder von sich gab. Sein kluges Gesicht hatte einen greisenhaft müden Ausdruck, der mir weh tat, und man fühlte die Rippen unter dem Fell.
M'hemmed erzählte nie von sich, immer nur von »Kiki«, seiner Schlauheit im Kundenverkehr, seinen Streichen, der beklagenswerten List, mit der das Tier sich in den Genuß von Spirituosen zu setzen wußte. Er stahl Alkohol, wenn er ihn nicht bekam. Einem Arbeiter hatte er den Wein vom Bartisch weg ausgetrunken.
»Kiki« saß arm und kläglich in der von Tag zu Tag heißeren Sonne, die ich so schlecht ertrug, und zitterte und fror beständig. Eine ganze Zeit dauerte unsere sonderbare Kameradschaft.
Dann aber erkrankte ich für lange Wochen. Es schien, als solle ich nie wieder dies wildblaue Meer überqueren, über das ich Tag und Nacht in rastlosen Fieberträumen der Heimat zusteuerte.
Als ich an meines Mannes Arm zum erstenmal wieder die sonnenflimmernde Straße betrat, schien fester Boden immer noch wie das Traumschiff unter meinen Füßen zu schwanken.
Schließlich landeten wir glücklich auf jenem offenen Eiland, das der dichteste Verkehr Algiers umbrandet, dem Café de l'Opera. Mein Mann bestellte ein ortsübliches Apéritif und setzte den edelsteingrünen Anis an den Mund, um mir zuzutrinken.
Im gleichen Augenblick schrie eine Dame gellend hinter mir auf. Und als ich mich wandte, sah ich gerade noch ein langgestrecktes, schwarzes Etwas, einen haarigen Blitz durch die Luft sausen und auf unserem Tischchen landen. Eine lange, schwarze Hand riß meinem Mann den Trank vom Munde fort, ein spitzes Schnäuzchen bohrte sich schlürfend ins Glas.
»Kiki«, rief ich, und versuchte, den Affen zu ergreifen, aber im Nu war er schlangenhaft unter meinen Händen fortgeschwunden.
Im nächsten Augenblick erhob sich in diesem eleganten Café der wüsteste Tumult. Die Dame, der der Maki das Eisgetränk aufs dünne Kleid vergossen hatte, schrie noch immer. Kellner suchten des hopsenden Tieres habhaft zu werden. Einer hatte ihn unter seiner übergeworfenen Schürze zu fangen versucht und riß fluchend die blutig gebissene Hand zurück. Flaschen rollten, Gläser splitterten. Damen flüchteten ins Haus, Herren beteiligten sich an der Jagd. Fernersitzende fragten, man schrie, man lachte. Und die Kapelle spielte unentwegt weiter.
So groß war der Lärm, daß ich beinahe das hohe Kinderweinen überhört hätte, die gurgelnden Flüche und den Hall der Schläge, die auf M'hemmed niederprasselten.
Denn dies also war der Mann, den M'hemmed und sein Maki zu fürchten hatten, und ich kannte ihn lange. Lange schon war mir das böse Gesicht, der negroide Unterkiefer dieses Straßenhändlers aufgefallen, der den Fremden seine holzgeschnitzten Kistchen zum Kauf anbot.
Er roch von weitem nach Fusel, und ich hatte gelernt, daß es nichts Vermeidenswerteres gibt, als den Mohammedaner, der das Verbot des Propheten zu brechen gewohnt ist.
Jetzt hielt er M'hemmed am linken Arm gefaßt und rüttelte ihn so brutal, daß das Kistchen, zu Boden gefallen, alle seine Bürstchen übers Pflaster gestreut hatte und die Blechschachteln weithin kreiselten. Den andern Arm hielt das Kind vors Gesicht, um die Schläge abzuwehren.
Als der Araber meines Mannes gesegnete Fäuste vor sich sah, duckte er sich und sagte, er sei ja nur wegen des vergeudeten Anis von Monsieur so ärgerlich gewesen. Mein Taschentuch sah unbeschreiblich aus, mit schwarzer und roter Schuhcreme gefleckt und getränkt von M'hemmeds Tränen. Nie habe ich ein Kind verzweifelter wimmern hören als M'hemmed, der den Sprüngen seines Maki nach die Arme ausstreckte. Endlich rettete sich das Tier aufs Büfett und dort, wo man es der bedrohten Weinflaschen wegen nicht zu behelligen wagte, tanzte es zwischen klirrendem Glas einen unbeschreiblichen Tanz: ein Mittelding zwischen Csardas und Cancan. Und da, endlich kam mir der rettende Einfall; unbegreiflich, daß er mir nicht längst gekommen war! Wenn irgend ein Mann helfen konnte, so war es Professor Brandes in Dresden.
Ich hatte diesen berühmten Tierpfleger seine Orangs und Gorillas mit franzisceischer Liebe betreuen sehen, und ich wußte, er vermochte uns beizustehen; M'hemmed, mir und dem Maki.
Ich fragte M'hemmeds Vater nach dem Preis des Affen. Der Araber, der ein Geschäft witterte, begann einen wüsten Handel. Und dann grinste er, und alle Kellner und das ganze Café de l'Opera, als ich meinen stocksteif betrunkenen Affen endlich in das Auto hob. Nur M'hemmeds Augen sahen mich starr an, als habe er in mir den letzten Freund verloren. Mir war gar nicht recht wohl zu Mute. Und es kamen böse Tage. Ein Brief von Dresden nach Algier dauert lang, und der Direktor eines Zoos hat mehr zu tun, als sich um den trunkenen Halbaffen eines kleinen arabischen Stiefelputzers zu bekümmern. Würde die Antwort kommen? Würde sie rechtzeitig eintreffen?
Nun, sie kam per Luftpost, wie hatte ich nur zweifeln mögen! Vier lange Seiten in der Handschrift des Gelehrten. Eine genau ausgearbeitete Entziehungskur, darin alle möglichen Fälle der Wirkung auf den zerstörten Organismus vorausgesehen waren.
Ich vergaß mein eigenes Befinden über der täglich sich vermindernden Dosierung von Rum auf Bananenscheiben und Schnaps auf Milchbrot. Jeden Morgen Schlag sieben Uhr stand M'hemmed großäugig und nacktfüßig, das Kistchen unter dem Arm, vor der Tür, und Kiki zwitscherte wie eine Schwalbe, sobald er ihn sah«
»Er bekommt ja einen Bauch!« sagte M'hemmed eines Tages, strahlend entzückt.
Und dann kam das Schönste, knapp bevor ich Algier verließ, um in die Heimat zurückzukehren. Das Haus, in dem wir wohnten, gehörte einem Zuckerbäcker, der durch die Geschichte mit dem betrunkenen Maki auf M'hemmed aufmerksam geworden war. Ein algerischer Konditorladen braucht arabische Austräger, die freilich stets ein vertrauenswürdigeres Alter besitzen als M'hemmed.
Aber es kam doch so, daß M'hemmed die Kasbah und sein Kistchen verließ, um einen neuen Beruf anzutreten. Und als mein Schiff aus der sichelförmigen Bai von Algier ausfuhr, da sah ich dort auf der immer ferneren Landungsbrücke, halb schon verdeckt von einem Schleier kreisender Möwenfittiche, unter denen, die mir nachwinkten, auch den Zuckerbäckerjungen M'hemmed und seinen Maki.