Paul de Kock
Edmund und seine Cousine
Paul de Kock

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V. Ein großes Mittagessen

Etliche Tage darauf gab Herr Bringuesingue ein großes Diner und der junge Guerval wurde dazu eingeladen. Es sollten Finanzmänner, viele Industrieritter, gut dressirte Schmarotzer, um für das Diner dem Patron Weihrauch aufdampfen zu lassen, zudem einige Artisten und Militärs, aber keine Kaufleute dabei erscheinen. Die Familie Bringuesingue konnte die Kaufleute nicht mehr ausstehen.

An diesem Tage hatte Madame Bringuesingue ein zu kurzes Kleid und zu knappe Schuhe an; aber sie hoffte zu tanzen und auf dem Ball zu glänzen. Fräulein Clodora hielt sich schnurgerade, um größer zu scheinen, und ihr Vater nahm sich fest vor, bei jedem Wort und jeder Bewegung kein Auge von Comtois zu verwenden.

Alles war angeordnet, um die Zufriedenheit der Gesellschaft zu erwerben. Herr Bringuesingue betrachtete mit Stolz seinen ganz nach dem Muster des verstorbenen Grafen möblirten Salon und sagte zu sich: »Da ist nichts darin, was nach Senf riecht.«

So oft man läutete, pflegte Herr Bringuesingue nach dem Vorzimmer zu rennen; aber Comtois hielt ihn am Rockschooß zurück mit der Weisung: »Mein Herr, Sie müssen Ihre Gäste in Ihrem Saale erwarten und nicht Jedem so entgegenlaufen.« – »Sehr gut, Comtois ... ich wage mich nicht mehr aus meinem Salon. Aber wenn man zur Tafel geht?« – »Dann nehmen Sie die Hand einer Dame und gehen voran.« – »Sehr gut, Comtois; hernach soll ich mich zuerst an die Tafel setzen?« – »Nein! Zuerst lassen Sie die Dame, die Sie hereingeführt, zu Ihrer Rechten Platz nehmen; sodann wählen Sie eine andere zu Ihrer Linken. Ihre Frau wird dasselbe mit zwei Herren thun.« – »Ei! und wird man nicht die Namen der Gäste auf Karten schreiben?« – »Nein, Herr, das ist veraltet, gemein, außer Mode. Die übrige Gesellschaft setzt sich nach Belieben. Indeß ist es Ihnen ein Leichtes, noch einige Personen in der Nähe solcher zu placiren, mit denen jene gerne zusammen wären.« – »Ich verstehe, Comtois! o, ich verstehe das Alles! Zudem werde ich meine Augen nicht von Deiner Nase abwenden, und wenn ich einen Mißgriff begehen sollte, wirst Du mir's bemerklich machen.« – »Ja, mein Herr!«

Die Gesellschaft langte an. Herr Bringuesingue grüßte genau so, wie sein Diener es ihn gelehrt; Madame Bringuesingue schnitt jeder eintretenden Person eine Grimasse, weil sie dabei aufstehen mußte und ihre Schuhe sie schrecklich schmerzten; aber man nahm das allgemein für ein freundliches Zulächeln; Fräulein Clodora stand in Parade wie ein Kosackenoffizier, und die ganze Gesellschaft wechselte gedankenlos die gebräuchlichen Complimente, wobei Niemand Etwas dachte, wie heutzutage noch immer.

Edmund Guerval folgte der Einladung; denn Abends zuvor hatte ihm Herr Pause den entsetzlichen Vorschlag gemacht, die Manuscripte eines Schriftstellers zu kopiren, worüber er sich so sehr alterirte, daß er nothwendig einiger Zerstreuung bedurfte.

Man setzte sich zur Tafel und – sei es nun Zufall oder Absicht – Edmund fand sich an Clodora's Seite.

Der erste Gang machte sich sehr gut; die Gäste waren artig, das Essen sehr gut zubereitet und Herr Bringuesingue entzückt von sich selbst, denn Comtois hatte noch nicht an seine Nase gegriffen.

Beim zweiten Gang wollte Bringuesingue, der sich im Zuge fühlte, auf die Gesundheit seiner Frau anstoßen. Wie er aber sein Glas den Tischnachbarn hinstreckte, bemerkte er, daß Comtois sich an der Nase kratzte. Der Ex-Senffabrikant erstarrte alsbald mit ausgestrecktem Arm, sein Glas weder vor- noch zurückzuziehen wagend; dann stammelte er: »Ich habe Ihnen anzustoßen vorgeschlagen ... indeß weiß ich gar wohl, daß das aus der Mode ist ... Leute von Welt stoßen nicht an ... es ist genug, daß das gemeine Volk oft anstößt! ha! ha!«

Edmund unterbrach aber Herrn Bringuesingue mit dem Ausruf: »Und warum denn diesen uralten Gebrauch nicht erneuen, den unsere guten Voreltern so sehr liebten? Heutzutage wo Alles gothisch, mittelalterlich sein soll, warum macht man es mit den Tischgebräuchen nicht, wie mit den Kostümen? In der That, Herr Bringuesingue, Ihr Gedanke ist vortrefflich und Sie dürfen sich gratuliren, die Reihe zu eröffnen. Auf meine Herren, stoßen wir an! das ist ganz ritterlich!«

Herr Bringuesingue war entzückt, daß sein junger Gast ihm so gut herausgeholfen hatte; man stieß an, man trank auf den glücklichen Gedanken des Hausherrn, und was beinahe lächerlich ausgefallen wäre, schlug in einen geistreichen Einfall um, weil ein junger Fant es beklatscht hatte, statt darüber zu spotten.

Man war am Nachtisch. Herr Bringuesingue, voll Freudigkeit und Stolz, mit Erfolg einen alten Gebrauch aufgefrischt zu haben, schlug ein kleines Lied vor.

Als er die erste Strophe anstimmen wollte, sah er Comtois an; dieser kratzte sich gewaltig an der Nase.

Da verstummte Herr Bringuesingue mit offenem Munde. Er sah aus wie eine Porzellanfigur, und Jedermann wartete, daß er anstimme. Aber statt zu singen, stotterte Herr Bringuesingue: »Ich habe Ihnen ein Lied vorgeschlagen ... aber eigentlich war dies nur ein Scherz; ich weiß gar wohl, daß man nicht mehr bei Tische singt; das thun nur noch die deutschen Zweckesser; auch kann ich kein Lied mehr auswendig ...« – »Ei, mein Gott!« rief Edmund aus, »da sind Sie schon wieder mit Ihren Bedenklichkeiten, Herr von Bringuesingue! Sie nehmen es wahrhaftig zu streng mit der Etikette. Stammt denn der Gebrauch, an der Tafel zu singen, nicht gleichfalls aus der guten alten Zeit her, die man alle Tage auf's Theater und in Romanen bringt? Warum sollen wir Andern sie nicht auch wieder in's Leben einführen? Wir haben angestoßen, wir können ganz wohl auch singen; das paßt vortrefflich ... wir frischen die Gebräuche unserer Altvordern wieder auf, weiter Nichts ... Ich wette, das wird, wie die kostümirten Bälle, in kurzer Zeit in Aufnahme kommen und Sie der Schöpfer dieser wiederhergestellten schönen Sitte sein! Soll ich beginnen? Recht gerne! ich will Ihnen singen: ›Freuet euch des Lebens‹, neue Romanze von Hans Nägeli, Verfasser allerlei schöner Gedichte und Melodien, die man in Gesellschaft preisgeben kann; sicherlich wird Sie das ergötzen.«

Edmund sang und wurde sehr applaudirt; ein anderer junger Mann folgte seinem Vorgang; hierauf wagte auch eine Dame, sich hören zu lassen; darnach eine zweite, kurz, Jedermann wollte singen, und Herr Bringuesingue wußte sich nicht zu fassen vor Freude, zumal über Edmund, der alle seine Verstöße in geistreiche Ideen verwandelte und ihn sogar zum Gründer einer quasi neuen Mode machte.

Nachdem man genug gesungen, begab man sich in den Salon. Hier standen die Spieltische; aber Herr Bringuesingue liebte die Karten nicht. Indeß konnte man noch nicht tanzen, da es noch an Leuten zum Ball fehlte, und obwohl Madame Bringuesingue, trotz ihres Hinkens, sich schon mehrmals hingestellt hatte, um ein vis-à-vis zu finden, so war doch kein Contretanz zu Stande gebracht worden, da die meisten Gäste das Bouillotte-Spiel der Chaîne des Dames vorzogen.

Zur Unterhaltung für seine Frau und Tochter fiel Herrn Bringuesingue nichts Besseres ein, als »Blindekuh« zu spielen, und schon verband sich der Hauswirth die Augen und wollte das Herumtappen beginnen, als er noch zu rechter Zeit einen Blick auf seinen am andern Ende des Zimmers die Lichter anzündenden Bedienten warf, der sich die Nase fast blutig kratzte.

Herr Bringuesingue bleibt mit halbverbundenen Augen vor der Gesellschaft stehen, ohne einen Fuß zu rühren; dann blickt er Comtois noch einmal von der Seite an und entschließt sich, sein Taschentuch vollends vom Gesicht zurückzuziehen, indem er sagt: »Nein, wahrlich, ich glaube, es wäre eine gemeine Unterhaltungsart, Blindekuh zu spielen ... man muß diese kindischen Ergötzungen den guten Bürgern der Straße St. Denis überlassen, aber in der Chaussée d'Antin ...«

Da unterbricht Edmund, der Theil an den Gesellschaftsspielen nehmen wollte, weil er aus guten Gründen keine Karte mehr berührte, den Amphitryon nochmals mit dem Ausruf: »Nun, und darf man denn in der Chaussée d'Antin nicht thun, was einem gefällt und angenehm ist? Ich behaupte, daß die unschuldigen Spielchen wohl so viel werth sind, als Bouillotte und Ecarté! ... Man scherzt dabei und verliert sein Geld nicht; das ist reiner Gewinn. Zudem haben unsere größten Männer sich mit kindischen Unterhaltungen gern zerstreut. Der Cardinal Richelieu übte sich, in seinem Garten mit gleichen Füßen zu hüpfen, Cato tanzte sehr gerne, Antonius führte praktische Charaden mit Cleopatra auf, und der gute König Heinrich IV. rutschte auf allen Vieren, mit seinen Kindern auf dem Rücken, im Zimmer herum.« – »Wenn Heinrich IV. auf allen Vieren herumrutschte,« sagte Bringuesingue, »so sehe ich nicht ein, warum ich nicht auf zwei Beinen mit verbundenen Augen herumtappen soll und begreife daher nicht, weßhalb sich Comtois an der Nase kratzte. Spielen wir Blindekuh, ich bin dabei.«

Schon hatte sich Edmund an der Stelle des Hausherrn blind gemacht und täppelte zur allgemeinen Belustigung umher. Diese Unterhaltung dauerte eine Zeit lang zur großen Befriedigung von Fräulein Clodora und ihrem Vater fort.

Inzwischen waren einige weitere Personen angelangt, und da Madame Bringuesingue nach dem Tanz seufzte, weil sie sich nicht den ganzen Tag in ihren engen Schuhen abgequält haben wollte, ohne Abends ihren kleinen Fuß zeigen zu können, so fand sie Mittel, einen Contretanz zu organisiren und bat Edmund, sich an das Piano zu setzen.

Constanzens Vetter ließ sich nicht lange bitten; er spielte mehrere Quadrillen. Madame Bringuesingue war unermüdlich; kaum hatte sie mit Einem ausgetanzt, als sie schon wieder ein neues Engagement suchte. Bei dem herrschenden Mangel an Tänzern entschloß sich Herr Bringuesingue, sich mit seiner Frau in Reih' und Glied zu stellen, obwohl er seit lange nicht mehr getanzt hatte.

Aber der Ex-Senffabrikant verwirrte sich bisweilen in den Figuren und nahm einmal die Quadrille der »Puritaner« für den Tanz des »kleinen Milchmädchens,« weßhalb er seiner Tänzerin nacheilte und sie mit aller Gewalt umschlingen wollte.

Die Tänzerin suchte Herrn Bringuesingue's Umarmung auszuweichen; dieser verfolgte sie hüpfend, als er am Eingang des Salons Comtois mit langem Gesicht stehen und seine Nase barbarisch traktiren sah.

Bringuesingue hält – einen Fuß in der Luft, einen Arm kreisförmig ausgestreckt – inne, als wolle er eine Pirouette machen. Endlich entschließt er sich, den andern Fuß auf den Boden zu setzen und ruft aus: »Wahrlich, ich war außer mir ... ich bin so vergeßlich ... ich glaubte das kleine Milchmädchen zu tanzen, aber man tanzt es nicht mehr ... verrostetes Zeug! ...«

»Um Verzeihung, Herr von Bringuesinge,« sagt Edmund am Piano, »man muß es von Neuem tanzen, weil die alten Stücke wieder in Aufnahme sind, seit Musard eine gothische Quadrille componirt hat. Das ist ein sehr glücklicher Einfall, den Sie da mit dem kleinen Milchmädchen hatten; Sie werden es ebenfalls wieder in die Mode bringen ... warten Sie, ich spiele es gleich.«

Und nach Beendigung seiner Puritaner-Quadrille spielt Edmund das kleine Milchmädchen, so daß alle Tänzer jetzt die Figur machen müssen, welche der Hausherr angefangen hatte.

»Gewiß, dieser Mann hat weit mehr Geist als Comtois,« denkt Bringuesingue, während man lachend die Figur des Milchmädchens tanzt; »der Eine thut nichts, als sich an der Nase kratzen, um mich zu benachrichtigen, daß ich Dummheiten mache, der Andere dagegen weiß es so gut zu wenden, daß ich nur gescheite, ja sogar moderne Einfälle hervorbringe. Und zudem nennt er mich von Bringuesingue! Wer ihn hört, wird es nachsagen, und allmählig behalte ich das Von, wodurch es nicht fehlen kann, daß ich am Ende adelig werde. Ach! hätte ich diesen jungen Mann immer hier, wie gut würde ich mich in Gesellschaft benehmen!«


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