Paul de Kock
Edmund und seine Cousine
Paul de Kock

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I. Eine Haushaltung

Es gibt Leute, die an Allem zweifeln, Andere, die über Alles spotten, und eine große Menge, die sich zu Allem für geschickt hält.

Es ist etwas sehr Bequemes um das Zweifeln, denn alsdann braucht man sich nicht die Mühe eines tieferen Studiums zu geben: man läugnet, was man nicht begreift. So z. B. sah ich viele Personen die Achseln zucken, wenn man ihnen von der Entfernung der Sonne von der Erde redete; sie entgegneten: man habe noch nie die Reise von der Erde zur Sonne gemacht, und wollten, von dieser Thatsache ausgehend, nicht an die Astronomie glauben. Der altgriechische Zweifelsphilosoph Pyrrho hat zahlreiche Anhänger.

Plus negare potest asinus, quam probare philosophus.
(Ein Esel kann mehr läugnen, als ein Philosoph beweisen.)

Ueber Alles zu spotten, ist gleichfalls eine sehr leichte Sache. Du lieber Gott, wie manche Leute gelten in der Welt bloß darum für gescheit, weil sie Andere verhöhnen. Aber der Spottgeist ist ein ärmlicher Geist, an welchem sogar die beschränktesten Gehirne einigen Theil haben. Lächerlich machen kann man Alles, wenn man will, selbst das Erhabene ist von diesem Schicksal nicht ausgenommen (zumal das, was man heutzutage für erhaben hält). Wenn euch viel daran liegt, so werdet ihr bei der Vorstellung eines Meisterwerks auf der Bühne wie bei der Vorlesung einer akademischen Rede Veranlassung zum Spotte finden; dazu braucht man nicht viel mehr als den guten Willen.

Endlich gibt es auch Leute, welche vor gar Nichts Respect haben, d. h. welche sich alle Fähigkeiten, alle Anlagen, alle Talente beimessen. Was sie nicht wissen, geht ihnen nur darum ab, weil sie sich nicht die Mühe geben wollten, es zu lernen, aber es hinge nur von ihnen ab, sich darin auszuzeichnen; was sie nicht thun, das thun sie bloß darum nicht, weil sie sich die Mühe dazu nicht geben wollen, denn – ich wiederhole es – die Wissenschaft ist ihnen gleichsam mit einem Trichter eingegossen, ihr Genie erstreckt sich auf Jegliches: sie würden Gold machen, wenn man überhaupt Gold machte. Inzwischen entlehnen sie einen Thaler von euch, weil gewöhnlich solche Leute, welche Alles verstehen, kein Mittel finden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Wozu ein so großes Präambulum? wird man mich vielleicht fragen. Darum, weil Herr Edmund Guerval, der junge Mann, dessen Geschichte ich erzählen will, zu der letzten von mir angeführten Klasse gehörte. Bevor ich euch aber näher mit ihm bekannt mache, erlaubet mir, euch in ein kleines Gemach zu versetzen, das sich im vierten Stock eines sehr schönen Hauses der Vorstadt Poissonnière befindet.

Hier sitzen zwischen vier Wänden, deren Raum zugleich als Salon und Schlafzimmer dient, und wo man einfache, jedoch geschmackvolle Möbeln neben Ordnung und Behaglichkeit findet, drei Personen um einen runden Tisch, auf welchem eine bedeckte Lampe steht. Es ist nämlich Nacht und wir haben Winter. Fast hätte ich Lust, euch gleich den Wachtuhren auch die Stunde und Witterung anzuzeigen.

Erstens sehen wir dort ein junges, ungefähr zwanzigjähriges Frauenzimmer, eine hübsche Brünette mit schwarzen und sanften Augen (was sich gar wohl zusammen verträgt), deren Züge, ohne ganz regelmäßig zu sein, einen Reiz haben, welcher auf den ersten Anblick gefällt und anzieht. Ihre anmuthig geordneten Haare fallen in dichten Locken auf beide Wangen herab, verdecken aber eine hohe und weiße Stirne nicht, auf welcher Falschheit und Lüge niemals Platz gewinnen zu können scheinen. Dieses junge Mädchen heißt Constanze, sie ist das Bäschen von Edmund Guerval, dessen ich so eben erwähnte.

Neben Constanze sitzt ein anderes à la Chinoise frisirtes Frauenzimmer. Stellet euch eine jener schelmischen Physiognomien vor, auf welchen ein stetiges Lächeln schwebt, einen mittleren aber angenehmen Mund, mehr schalkhafte als große Augen, eine eher kleine als wohlgebildete Nase, endlich ein mehr drolliges als hübsches Gesicht, so habt ihr das Portrait von Fräulein Pelagie, der Freundin und Nachbarin von Constanze.

Die dritte Person ist ein junger Mann von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, weit mehr häßlich als schön, sehr blatternarbig, mit eingedrückter Nase, zu niederer Stirne, zu hellen Augen, den man aber wegen einer anständigen Scheu, welche bei jungen Leuten nicht mehr gewöhnlich ist, liebgewinnt.

Dieser junge Mann, dessen schicklicher, aber sehr einfacher Anzug durchaus nicht nach einem Stutzer riecht, hat seinen Platz neben dem Kamin und liest den beiden Frauenzimmern, welche mit der Nadel arbeiten, eine Geschichte vor:

»›Mitten in dem Walde erhob sich eine alte, zerfallende Kapelle, welche die Raben, die Nachteulen und Schuhu's zu ihrem Lieblingsaufenthalt gewählt hatten. Der gewaltige Adhemar ...‹«

»Mein Gott, Herr Ginguet, wie schlecht Sie lesen!« unterbrach Fräulein Pelagie den jungen Mann mitten in seiner Lektüre. »Sie hudeln! ... Sie mischen Alles durcheinander wie Kraut und Rüben, man kann sich darin nicht auskennen!« – »Und doch, mein Fräulein, halte ich bei jedem Punkte und Strichpunkte inne.« – »Ich weiß nicht, ob die Nachteulen oder der gewaltige Adhemar ihren Wohnsitz in der Kapelle aufgeschlagen haben!« – »Ich will es noch einmal lesen, mein Fräulein:

›Welche die Raben, die Nachteulen und die Schuhu's zu ihrem Lieblingsaufenthalte gewählt hatten ... Punktum. Der gewaltige Adhemar fürchtete sich nicht, um Mitternacht in die Ruinen einzudringen ...‹« – »Sie hätten den Muth dazu nicht gehabt ... Sie, Herr Ginguet« – »Und warum denn nicht, mein Fräulein?« – »Weil ich Sie für ein wenig feige halte.« – »Mein Fräulein, ich bin allerdings kein Eisenfresser, kein verbranntes Gehirn; aber Sie dürfen mir glauben, daß ich, wenn es sich um Ihre Vertheidigung, um dringende Beschützung Ihrer Person handelte, keine Gefahr scheuen würde.« – »Einstweilen aber muß man Ihnen auf der Stiege leuchten, wenn Sie Ihren Wachsstock vergessen haben.« – »Weil die Treppe im ersten Stock dergestalt gewichst und geglättet ist, daß ich immer zu fallen fürchte.« – »Ah! prächtig! Also wenn man hell sieht, ist es weniger glitschig! Ei, ei, ei! doch fahren Sie fort.«

»›Um Mitternacht in die Ruinen einzudringen. Der Mond strahlte eben in seinem ganzen Feuer und der Widerschein bildete in dem Walde unzählige phantastische Bilder, welche ...‹« – »Wo ist denn meine Nadel hingekommen? Ich hatte sie kaum noch in der Hand; es ist eine ächt englische, auf die ich sehr viel halte.« – »Soll ich sie auf dem Boden suchen, Fräulein?« – »Ah! halten Sie, da ist sie. Wie dumm ich bin! Sie lag neben meiner Arbeit.«

»›Unzählige phantastische Bilder, welche jeden Andern in Schrecken versetzt hätten, als den edeln und heldenhaften Ritter, dessen ...‹«

»Halt ... jetzt fehlt aber in Wirklichkeit mein Nadelbüchschen! Mein Gott, was habe ich für Unstern heute Abend! Ich muß es sogleich wiederfinden, mein kleines elfenbeinernes Nadelbüchschen: man könnte es zertreten, und es ist eines der seltenen Geschenke meines Onkels. Ah! da ist es, es lag auf meinem Schooß! Gut denn, lesen Sie doch weiter, Herr Ginguet! Sie hören ja jeden Augenblick auf; wie soll man da verstehen, was Sie lesen!«

»›Als den edeln und heldenhaften Ritter, dessen Furchtlosigkeit sich niemals verläugnet hatte. Der junge Adhemar zog sein Schwert aus der Scheide ...‹«

»Ach, wie einfältig! Wenn er seinen Säbel zieht, so versteht es sich von selbst, daß derselbe aus der Scheide kommt; das machen Sie dazu, Herr Ginguet.« – »Nein, mein Fräulein, ich mache nichts dazu; Sie können sich selbst überzeugen.« – »Das ist unnöthig; nur weiter.«

»›Aus der Scheide und ging ohne Zaudern durch die düstern Gewölbe der alten Kapelle hinein, indem er die von Alter morschen Thüren beim Tritte seiner Füße seufzen machte ...‹«

»Sage doch, Constanze, amüsirt Dich dieses Buch da mit seinen seufzenden Thüren? Ich finde es ohne Zusammenhang, ohne Interesse; da gefällt mir der kleine Däumling oder die Eselshaut besser. Dann liest auch Herr Ginguet so litaneiartig; mir kommt es vor, als hörte ich die alte Clarinette des blinden Spielmanns.«

Bisher hatte Constanze beharrlich geschwiegen, indem sie ihre junge Freundin Pelagie Herrn Ginguet ausfoppen ließ; sie schenkte der Vorlesung wenig Aufmerksamkeit, sah dagegen oft auf eine kleine Pendeluhr auf dem Kamin, welche eben halb zehn Uhr geschlagen hatte.

Da der Abend verstrich, ohne daß ihr Vetter Edmund eintrat, seufzte Constanze, denn das Mädchen liebte den Erwarteten zärtlich. Constanze war mit Edmund so zu sagen erzogen worden; ihre Mütter waren Schwestern und Beide hatten noch sehr jung ihre Männer verloren; ihr Entschluß stand fest, sich nicht wieder zu verheirathen, um ihre ganze Sorgfalt der Erziehung ihrer Kinder zu widmen.

Die Schwestern wohnten zusammen, und ihr süßester Gedanke war, Edmund und Constanze, welche Letztere nur vier Jahre weniger als ihr Vetter zählte, einst mit einander zu verbinden.

Alles traf ein, um den beiden Kindern einen glücklichen Ehebund zu prophezeihen; sie liebten sich wie Bruder und Schwester, und man durfte voraussetzen, daß mit den Jahren die Liebe an die Stelle der Freundschaft treten würde. Was das Vermögen betrifft, so paßte es gleichfalls: jede Schwester besaß fünftausend Franken Renten, die sie ihrem Kinde ganz zu hinterlassen hoffte.

Indeß hatten diese Damen die beiden Schwiegersöhne und den Vater Gorio gesehen, ohne dadurch von ihrem Entschlusse abgebracht zu werden. Gute Mütter glauben nicht an den Undank der Kinder und sie thun Recht daran. Es ist so süß, auf die Liebe, auf die Dankbarkeit seiner Theuren zu rechnen! Zudem sind undankbare Kinder etwas Unnatürliches, folglich nur Ausnahmen.

Aber das Schicksal, das nicht immer gerecht ist, unsere Optimisten mögen sagen, was sie wollen, gestattete nicht, daß die beiden guten Mütter die Ausführung ihres Projekts erleben sollten. Madame Guerval starb, als ihr Sohn achtzehn Jahre zählte; Edmund blieb bei seiner Tante, bei seinem Bäschen, dessen zärtliche Freundschaft seinen Schmerz zu lindern strebte; aber im folgenden Jahre verlor auch Constanze ihre Mutter, und die armen Kinder fanden sich Beide verwaist.

Edmund zählte neunzehn Jahre, Constanze ging in ihr sechzehntes: sie waren noch zu jung, um sich zu heirathen; außerdem mußte erst die Trauer um eine Mutter beendigt werden. Da es aber nicht schicklich gewesen wäre, wenn die jungen Leutchen fortwährend zusammen gewohnt hätten, so zog sich die junge Constanze sogleich nach dem Tode ihrer Mutter in das Haus des Herrn Pause, Pelagiens Onkel, zurück.

Herr Pause war ein Musiker dritten Rangs; seit seinem zehnten Jahre (er zählte damals fünfundfünfzig), spielte er den Baß, und doch war es ihm nie gelungen, über den F-Schlüssel hinauszukommen. Er liebte die Musik leidenschaftlich und spielte sein Instrument mit Liebe, aber dennoch sehr mittelmäßig; er blieb nicht immer im Takt und fing regelmäßig erst nach den Andern an. Dagegen war Herr Pause sonst ein wackerer Mann, ein Muster von Genauigkeit, der sich immer noch vor dem Stundenschlag im Orchester des Theaters, bei dem er angestellt war, einfand, niemals eine Ordnungsstrafe hatte zahlen müssen und nicht den geringsten Aerger zeigte, wenn man bei den Proben den gleichen Abschnitt fünf bis sechsmal repetiren ließ. Diese Eigenschaften zusammen hatten ihm die Achtung seiner Vorgesetzten erworben und galten als Entschuldigung für die Mittelmäßigkeit seines Talents.

Herr Pause war nicht reich (obgleich wir in einem Jahrhundert leben, wo die Musik große Fortschritte macht und von allen Ständen leidenschaftlich betrieben wird); denn man erwirbt nicht viel, wenn man in einem Melodramentheater den Baß spielt. Einige Stunden, die Herr Pause des Morgens gab, vergrößerten seine kleine Einnahme nur um Weniges, da seine Zöglinge die Gewohnheit hatten, ihn aufzugeben, sobald sie allein Noten lesen konnten. Trotzdem lebte der arme Musiker, welcher eben so viel Ordnung in seinem Hauswesen als Genauigkeit in seinem Beruf übte, glücklich und zufrieden mit seiner Nichte Pelagie, einem kleinen Schalk, die wir so eben in Gesellschaft ihrer Freundin haben arbeiten und Herrn Ginguet zur Verzweiflung bringen sehen. Dieser Herr Ginguet war ein wackerer Junge, dessen Gutmüthigkeit beinahe an Einfalt streifte, schmerzlich verliebt in die Nichte des Baßgeigenstreichers und obendrein bei der Staatsrechnungskammer angestellt.

Herr Pause hatte zuweilen mit seiner Nichte die beiden Wittwen und ihre Kinder besucht. Constanze und Pelagie waren in ein inniges Verhältniß zu einander getreten; in früher Jugend verliebt man sich so schnell und es gibt Leute, die ihr ganzes Leben lang diese Gewohnheit beibehalten.

Constanze hatte oft gehört, wie ihre Mutter die Vortrefflichkeit und das gute Herz des Herrn Pause lobte; nach ihrer Verwaisung glaubte sie nichts Besseres thun zu können, als Zuflucht und Schutz in dem Hause des alten Freundes der Familie zu suchen. Pelagiens Onkel nahm die junge Waise mit Freuden auf; er hätte sie angenommen, selbst wenn Constanze ihm zur Last gefallen wäre; aber das junge Mädchen, das ein anständiges Vermögen besaß, trat bei dem armen Musiker erst dann ein, als er eingewilligt hatte, eine von ihr selbst bestimmte Pensionsvergütung anzunehmen. So vermehrte Constanzens Anwesenheit im Hause des Herrn Pause den Wohlstand desselben, wie auch die Fröhlichkeit des Zusammenlebens.

In der Zeit, wo diese Geschichte beginnt, war Constanze schon drei und ein halbes Jahr bei Herrn Pause. Der junge Edmund zählte vierundzwanzig Jahre und Nichts hinderte ihn, sich mit seiner hübschen neunzehnjährigen Cousine zu verbinden, welche alle Eigenschaften zu einer vortrefflichen Hausfrau besaß. Warum also war dieser Ehebund noch nicht geschlossen, da doch kein Hinderniß zwischen die jungen Leute und ihr Glück trat? Wahrscheinlich eben darum, weil seiner Liebe gar nichts im Wege stand, zeigte sich Edmund so langsam in Ergreifung seines Glückes. Es scheint überhaupt, die Männer schätzen nur das hoch, was sie mit Mühe erreichen müssen; für einen leicht zu gewinnenden Zweck wird man immer nur wenige Bewerber finden. Deßhalb verschob Edmund, überzeugt von der Liebe seiner Cousine und versichert, daß sie ihm, sobald er wolle, ihre Hand reichen würde, fort und fort diese von ihren Müttern so sehr gewünschte Vereinigung.

Beizufügen ist noch, daß Edmund, welcher schon in früher Jugend das ansehnliche Erbe seiner Mutter erlangt hatte, in der Unentschiedenheit, welche Laufbahn er ergreifen sollte, aber sich zu Allem, was er unternähme, fähig haltend, bereits mehrere Thätigkeitszweige ergriffen hatte, die sein flüchtiger Geist und wechselvoller Wille wieder fallen ließ. Dabei bestand er darauf, bevor er seine Cousine heirathe, müsse er eine Stellung, ein selbsterworbenes Einkommen und einigen Ruhm ihr anzubieten haben. Alles das war ihm bis jetzt noch nicht gelungen, und darum setzte er den Termin seiner Verheirathung weiter hinaus.

Wir kennen jetzt die Personen, mit welchen wir am meisten zu thun haben werden. Kehren wir also an den runden Tisch zurück, um ihre weitere Unterhaltung anzuhören.


 << zurück weiter >>