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Die Reise

Mittlerweile war's Mai geworden, Ende Mai. Die Tanzstunde hatte längst aufgehört, und seit die Tante nicht mehr so nachdrücklich darauf bestand, daß Friedel zum Nähunterricht ging, war die Gewohnheit, regelmäßig den Gang nach der Stadt zu machen, sehr ins Stocken geraten und allmählich ganz eingeschlafen.

Wie die Maiensonne golden und goldener schien, wie Blatt um Blatt hervor grünte, und Blume um Blume erblühte, als die Vögel immer schmetternder zu jubilieren und zu trillern anfingen, und die Lüfte immer lauer und lockender wehten, da war es Friedel immer schwerer geworden, ganze und halbe Tage in den dumpfen Stadtmauern auszuhalten. Immer langsamer rutschte die Nadel, immer endloser dehnten sich die Nähte, und immer heißer und ungeduldiger wurde Friedel.

Da endlich eines schönen Morgens beim Frühstück hatte sie erklärt: ich kann nicht mehr.

Tante Lenchen hatte stillschweigend die Achseln gezuckt und war hinausgegangen. Der Papa hatte ihr ungewiß nachgesehen und dann ebenso ungewiß oder noch ungewisser sein Kind angeschaut.

»Kannst nicht mehr, Jungchen?«

»Nein, Vaterherz, sicher und wahrhaftig nicht, 's ist zu gräßlich in der stickigen Stube. Du willst doch nicht, daß ich krank werde?« so hatte Friedel gefragt und das junge Gesicht in bedenkliche Sorgenfalten gezogen.

»Krank? Nein, aber –«

Dabei war's geblieben. Bei dem »Aber« mußte dem Papa Rauch aus seiner Pfeife in die Kehle gekommen sein. Er pustete und spuckte, und der Satz blieb unvollendet.

Friedel nahm's unbedenklich als Zustimmung, blieb seelenvergnügt von nun an daheim, bummelte erst nach Herzenslust und Bedürfnis, fühlte sich aber allmählich durch Tante Lenchens traurig-vorwurfsvolle Augen in allerlei Beschäftigungen und kleine Pflichten hineingetrieben, die ihr sonst fern gelegen hatten.

Den regelmäßigen Verkehr mit den Freundinnen vermißte sie freilich, aber sie war ja, seit Schwester Lisa fort ging, gewohnt gewesen, daheim allein zu sein. Da gab's so tausenderlei, daß sie nie einen Augenblick Langeweile spürte. Außerdem kamen die Mädels, besonders Lilly und Inge, öfter zu Besuch, oder Friedel besuchte sie in der Stadt, kurz – es war nie schöner gewesen.

Aber es sollte noch schöner kommen!

Friedel saß auf einer Bank im Garten, und vorhin war der Postbote ins Haus gegangen.

»Ob er was von Lisa bringt?« war's Friedel durch den Sinn gefahren. Dann aber hatte sie sich wieder in ihr Buch vertieft.

Enoch Arden war's. Im Gedanken an Miß Miller hatte sie es wieder hervorgeholt und suchte sich wirklich mit Ausdauer und Fleiß hinein- und durchzuarbeiten.

»Friedel! Hoh, Friedel!« klang da Papas Stentorstimme über den Hof.

»Hier, Väterchen, hier!« schallte es glockenklar zurück und Friedel eilte herbei.

»Jungchen, hurra! Hör mal, was Lisa schreibt!«

Friedel stürzte aufgeregt herzu.

Ihr braunes, glühendes Gesichtchen drängte sich an Papas rote, wetterharte Wange, ihre dunkeln Kraushaare mischten sich mit seiner buschigen weißen Mähne.

Vater und Kind verschlangen zusammen, was die Lisa, die geliebte Lisa schrieb.

Ihre Mienen strahlten, ihre Augen blitzten, es mußte nur Gutes in dem Briefe stehen.

Friedel war zuerst mit dem Lesen fertig und führte unter Jubelrufen einen wahren Indianertanz im Hofe auf, wobei Hektor und Sultan mit Freudengekläff treulich sekundierten.

»Was gibt's. Erbarmt euch, was gibt's?«

Tante Lenchen rief's, sie war unter die Haustür getreten.

Sofort flog Friedel auf sie zu und drehte die alte Dame, sie umfassend, jubelnd im Kreise.

»Erbarm dich, Kind, sei nicht so toll!«

Sofort ließ Friedel los, aber die Worte überstürzten sich nur so aus ihrem Munde.

»Tantchen, hurra, Tantchen! Lisa! Die Schweiz! Reisen! Hurra, hurra!«

Und Friedel drehte sich wieder als Kreisel mit Hektor und Sultan um die Wette.

Die Tante seufzte, wendete sich ab und dem Bruder zu.

»Werd' ich vielleicht von dir erfahren können, um was es sich handelt, Konrad?« fragte sie ganz spitz.

Papa Polten paffte dichte Rauchwolken aus seiner Pfeife und lachte, starrte dann in das Papier und lachte und paffte wieder.

Er hörte gar nicht, was Tante Lenchen sagte.

Gekränkt wollte sich die eben abwenden, da wurde er auf sie aufmerksam.

»Holla, Lenchen, was sagst du dazu?«

»Wozu?«

»Ei, zu dem Plan.«

»Welchem Plan?«

»Lisas Plan.«

»Ich weiß von nichts.«

»Ja, aber Friedel –«

»Von Friedel ist nichts zu erfahren und von dir scheint's auch nicht; der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm. Ich zieh' mich wohl am besten zurück, bis euch die Vernunft wiederkehrt.«

Sie machte Miene, ihre gereizten Worte zur Tat werden zu lassen.

Papa Polten vertrat ihr den Weg.

»Halt, Lenchen, so hör doch nur,« sagte er gutmütig und legte den Arm um die Schultern der Schwester. »Die Lisa fragt nämlich, ob wir uns im Juli oder August nicht in der Schweiz treffen wollten. Werner hat ihr schon zu Weihnachten eine Reise dahin versprochen, und da er nicht mehr als vier bis sechs Wochen aus seinem Geschäft fort kann, und Lisa ihn dann auch nicht gerne länger allein lassen möchte, so meint sie, es ließe sich vielleicht beides vereinigen, die Reise und ein Wiedersehen mit uns. Jungchen« – Papa Polten räusperte sich – »Friedel kennt ja die Schweiz auch nicht, ich war vor grauen Jahren dort und du –«

»Auf mich zähl nicht, Konrad,« unterbrach ihn hier Tante Lenchen, »mir macht das Reisen kein Vergnügen mehr. Die Lisa muß schon zu mir kommen, wenn sie mich sehen will. Und obgleich ich sie furchtbar, ach wie gerne einmal wiedergesehen hätte, meine Lisa« – Tante Lenchens Stimme zitterte hier bedenklich, und sie mußte ein klein wenig stille sein, ehe sie weiterredete – »und kurz und gut, ich bleib' daheim, es muß doch jemand nach dem Rechten sehen. Aber dir gönn' ich die Reise von Herzen und dem Kinde dort auch« – ein Blick flog zu Friedel, die noch immer mit den Hunden tollte – »vielleicht daß der Einfluß von Lisa –«

Das weitere verlor sich in Murmeln, und Tante Lenchen ging ins Haus zurück.

Und dabei war's geblieben.

So viel sie ihr auch zuredeten, so dringende Briefe auch Lisa schrieb, Tante Lenchen beharrte bei ihrem Entschluß: sie wollte das Haus hüten, und die andern konnten auf Reisen gehen.

So war's Anfang Juli geworden und der Reisetag herangekommen. Wochen zuvor schon war Friedel ganz unzurechnungsfähig gewesen, wie die Tante behauptete. Zuletzt aber hatte der Unband doch noch treulich bei den Vorbereitungen geholfen, das mußte selbst Tante Lenchen zugeben.

Man hatte sich im besten Einvernehmen getrennt. Die Tante, froh, für ein paar Wochen in Frieden und ohne Verantwortung für »Frida« leben zu können; die Reisenden voll jubelnder Sehnsucht nach allen den Freuden, die ihrer harrten.

»Leb wohl, Lenchen!«

»Leb wohl, Konrad!«

Die bärtigen Lippen des alten Herrn ruhten auf der faltigen Wange der Schwester, und die beiden sahen sich tief in die Augen.

»Grüßt mir die Lisa vieltausendmal und den Werner und – Frida, Kind, mach keine Dummheiten, hörst du! Denk an die alte Tante!«

»Das will ich, Tantchen! Leb wohl, Tantchen!«

»Lebt wohl, lebt wohl!«

Mit kräftigem Ruck zogen die Braunen an, noch ein Zurufen, ein Grüßen, ein Winken, und Vater und Kind flogen in die Welt hinaus.

*

Auf dem Bahnhof von Gsteig, der Vorstation von Interlaken, gingen sie auf und ab, Papa Polten und sein »Jungchen«.

Friedel in ihrem Reiseanzug, dem hellgrauen Lodenkleid mit steifer weißer Hemdbluse unter dem kurzen Jäckchen; dem flotten, kleinen, weichen, grauen Filzhütchen auf dem kurzen Kraushaar. Friedel sah sehr niedlich, aber auch sehr jungenmäßig aus. Den Schleier und die Spitzenkrawatte, die Tante vorgesehen hatte, hatte sie entschieden verweigert. »Kinkerlitzchens sind nur für dumme Mädels,« hatte sie verächtlich gemeint, und die Tante hatte verletzt geschwiegen.

Der alte Herr mit der buschigen Mähne und dem Weißbart, und seine junge Begleiterin, deren Schelmenaugen jeden so frischfröhlich anblitzten, und die so ansteckend hell und klar lachen konnte, hatten in den zwei Tagen, die sie nun hier, das heißt drüben in Wilderswyl weilten, schon Aufsehen gemacht.

Die beiden hatten sich ganz für sich gehalten, wer aber bei der Tafel zufällig in der Nähe saß, hatte sich an Friedels lustigem, frisch-natürlichem Geplauder ungemein ergötzt.

»Das Mädel ist wirklich wie ein Trunk aus einer frischen Waldquelle, kein Wunder, daß der Vater so frisch und kräftig aussieht. Wer auch stets solchen Jungbrunnen zur Seite haben könnte!« Und der Sprecher, ein vertrockneter alter Junggeselle und Professor, seufzte und dachte an seine »Höhle« daheim, in der er tagaus, tagein saß und in alten Folianten nachschlug, was vielleicht keinen Menschen interessierte und auch keinem was nützte. »Der Trödel, der mit tausendfachem Tand in dieser Mottenwelt mich dränget,« flüsterte der Mann vor sich hin.

Also Papa Polten und Friedel gingen auf dem Bahnsteig auf und ab. Das heißt, der Papa ging seinen stillen, bedächtigen Schritt, Friedel aber hüpfte und sprang gar beweglich um ihn herum. Sie konnte nicht still an seiner Seite bleiben. Mit dem Zug, der jetzt erwartet wurde, in ein paar Minuten, sollte aber ja auch die Lisa kommen, die Lisa!

»Jungchen!«

»Vaterherz?«

»Zum Kuckuck zu, so bleib doch mal ruhig, du machst einen ja selber ganz zappelig. Alle Wetter noch mal, ich krieg' Nerven wie 'ne alte Jungfer.«

Friedel lachte hell, klingend silberklar. Alle Köpfe flogen nach ihr herum. Wer's hörte, mußte mitlachen.

»Macht nichts, Vaterherz,« tröstete sie eifrig-drollig. »Krieg du nur Nerven. Wie kann ich ruhig bleiben, wenn die Lisa kommt. Hurra, hurra, da ist der Zug!« Und wie aus der Pistole geschossen flog der Unband dahin, dem Zug entgegen, der eben auftauchte.

Alles lachte und sah ihr nach.

Sie lief und lief und schwang ihr Tuch, und wie der Zug näher kam, flatterte auch dort ein kleines weißes Tuch, und ein tränenüberströmtes, strahlend glückseliges Menschengesicht beugte sich aus einem Fenster.

»Friedel!«

»Lisa!«

Und der Zug brauste weiter, und Friedel guckte ihm ganz verdutzt nach. In ihrer Ungeduld war sie eine ziemliche Strecke über den Bahnhof hinausgelaufen. Lisa lag inzwischen schon in den Armen des Vaters, und sie, Friedel, mußte den heillos langen Weg zurückrennen. Daß man so dumm sein konnte!

Atemlos, hochrot kam sie angerannt. Werners Gesicht, das ihr etwas spöttisch entgegenlachte, machte ihr noch heißer.

Doch als nun Lisa die Arme um sie legte, war alles vergessen.

»Lisa, Lisa, meine Lisa!« jubelte, jauchzte, schluchzte Friedel, und die Schwestern hielten sich umfangen, als wollten sie einander nie wieder aus den Armen lassen.

»Tag, kleine Schwägerin, ich bin auch noch da,« damit trat Werner an die Gruppe heran. Er suchte Friedels Köpfchen von der Schulter seiner kleinen Frau zu heben.

Friedel wehrte sich mit der Hand, stieß mit dem Ellbogen; sie wollte die dummen Tränen nicht sehen lassen. Ein leise mahnendes »Friedel« von Lisas weicher Stimme brachte sie zu sich.

Sie hob das Köpfchen und streckte dem Schwager die Hand hin.

»Willkommen, Werner!« Entschlossen wischte sie die Tränen fort. »Ja gelt, so albern. Erst freu' ich mich so unbändig und nun heul' ich wie ein einfältiges kleines Mädel.« Ihre Stimme zitterte ganz bedenklich. »Ach was, hurra! Das soll ein Götterleben werden jetzt! Laß dich mal anschauen, Lisa!« Die kleinen braunen Hände faßten der Schwester Köpfchen, und die Augen tauchten tief ineinander.

Lisa lachte, wurde rot, lachte wieder, und auch ihre Lippen zuckten verräterisch. »Nun, kleine Schwester, seh' ich noch aus wie sonst?« fragte sie leise und weich.

Friedels Kinderaugen sahen sie träumerisch an.

»Ja und nein, Lisa,« sagte sie dann sinnend. »Etwas in dir ist mir fremd, ich weiß nur nicht was. Vaterherz, und doch ist's unsre alte Lisa, nicht?«

Friedel flog dem Vater an die Brust. Der drückte sie stumm an sich und schaute mit großen, glänzenden Augen auf seine Älteste.

»Unsre Lisa!« nickte er wie bestätigend vor sich hin.

Dann reichte er Werner die Rechte.

»Du hast mein Kind glücklich gemacht, lieber Sohn. Der alte Vater dankt dir!«

Werner Horst hatte die gebotene Hand gefaßt und drückte sie lange und warm.

»So, und nun umgeschaut!« meinte jetzt der Papa mit ganz veränderter frischer Stimme. »Zum Kopfhängen sind wir wahrlich nicht auf diesem gottbegnadeten Fleckchen Erde zusammengekommen. Schaut euch mal die Jungfrau dort hinten an, die ist ganz rot geworden vor lauter Ärger über unsre Vernachlässigung. Die hohe Dame ist solche Mißachtung nicht gewohnt.«

»Ach was Jungfrau,« brummte Friedel, »mir ist die junge Frau hier lieber!« Und sie schmiegte ihr kleines braunes Gesicht an Lisas Schulter. Lisas schlanke Gestalt überragte die kleine Schwester ziemlich.

Sie waren stehen geblieben und sahen sich die Umgebung an, in der sie die nächsten vier Wochen verbringen sollten. Sie ließen den Zauber des wunderbaren Erdenwinkels auf sich wirken, und so stark war der, daß auch Friedel sich ihm nicht entziehen konnte. Die saftgrünen, üppigen Wiesen zuvörderst, die schimmernde, tanzende Lütschine. Der Maulwurfshügel, der die Ruine Unspunnen trägt und der Abendberg schienen wie schüchterne Versuche, die Mutter Natur gemacht hat, um ihre Kraft im Bergtürmen zu prüfen. Die Kraft reichte offenbar aus, denn sie hat einen Riesen neben den andern getürmt, um mit den weißen Giganten im Hintergrund des Lauterbrunnertals abzuschließen.

Dort thronen sie, die drei, in hehrer Majestät, Eiger, Mönch und Jungfrau. Verächtlich schauen sie auf das Menschengekribbel zu ihren Füßen, auf die paar Ameisen, die an ihnen emporklimmen, sich in sie hineinwühlen wollen. Ihr Haupt ragt in die Wolken, was gehen die Menschen sie an? Stumm, hehr und gewaltig haben sie gestanden, ehe die heranfluteten, sie zu überschwemmen; stumm, hehr und gewaltig werden sie stehen, wenn die Flut verbraust, Generation nach Generation gekommen und gegangen sein wird.

Papa Polten war der erste, der das Schweigen brach.

»Uff, Kinder, 's ist wundervoll, aber ich habe einen Bärenhunger!«

»Das heißt, um's genau auszudrücken, Hunger nach der guten Tafel der Frau Wirtin im Bären!« lachte Friedel neckend. » En avant, meine Herrschaften, Väterchen wird uns sonst am Ende noch schwach.«

Sie schob ihren Arm in den Lisas und zog die Schwester mit sich fort. Die Herren folgten.

Und nun hatte es ihnen die Jungfrau mit ihren Trabanten im Hintergrund des Tals doch angetan, wie sie in der Abendsonnenglut rot und röter aufflammte. Aller Blicke hingen an dem wundervollen Schauspiel, und unwillkürlich faßten sich die Schwestern fester.

Geteiltes Leid bindet wie geteilte Freude, und ein gemeinsam gehabter Naturgenuß schließt die Menschen auch enger zusammen.

Jetzt war man beim »Bären« angelangt, dem mitten im Dorfe gelegenen Wirtshaus, und Friedel führte die Geschwister in die ihnen zugeteilten Zimmer, die in einem stillen Nebenhaus und neben denen von Papa Polten und Friedel lagen.

Der Blick von der Galerie, die sich längs sämtlicher Fenster hinzog, zeigte Wiesen- und Waldgrund und dahinter die weißen Riesen, die alles ringsum beherrschten.

Lisa jubelte.

»Ein entzückender Platz! Sollt mal sehen, wie ich es uns behaglich mache!«

Und im Nu hatte sie mit Werners Hilfe die herumstehenden Stühle um Tisch und Bank gruppiert, aus dem Koffer Kissen vorgekramt, die sie sorglich mitgenommen, für den Papa aus dem Zimmer einen bequemen Sessel herbeigetragen, über den eine Decke gelegt, und das Ganze atmete Traulichkeit und Wohlbehagen.

Friedel hatte ganz verdutzt der emsigen Tätigkeit Lisas zugesehen und dann das vollendete Werk mit Kennerblick gemustert.

»Siehst du, Vaterherz, dein Junge wär' seiner Lebtag auf so was nicht gekommen. Wir beiden hätten uns einfach weiter auf der harten Bank herumgedrückt, was? So ist's freilich besser!«

»Und, Friedel, wie du die Blumen in den Kasten hast trocken werden lassen! Sieh doch nur, die armen Dinger hängen alle die Köpfchen.«

Eilig hatte Lisa die Wasserkanne ergriffen und die verschmachtenden Blumen, die in langen Kasten die Brüstung der Galerie zierten, getränkt.

Friedel ließ den Blumen zur Gesellschaft schuldbewußt auch ihr Köpfchen hängen.

»An was so ein armer Junge nicht alles denken soll!« seufzte sie zerknirscht.

Lisa umfing sie lächelnd.

»Noch immer die alte Marotte?«

Und sie sah ihr tief in die Augen. Verständnislos erwiderte Friedel den Blick. Jetzt begriff sie.

»Ja aber, ich bin doch nun mal Papas Junge, daran läßt sich doch nichts ändern.«

Sie warf das Köpfchen zurück.

»Und wir wollen auch gar nichts dran ändern, du und ich, nicht, Vaterherz?«

Sie richtete den strahlenden Blick auf den Vater.

Der sah etwas sauersüß darein, etwas unsicher und schuldbewußt, so daß Werner hell auflachen und selbst Lisa lächeln mußte.

»Einstweilen wollen wir aber nun essen gehen,« lenkte Papa Polten ab. »Ich halt's wirklich nicht mehr aus.«

Und das taten sie, und danach saßen die vier noch bis tief in die Nacht auf ihrer kleinen Galerie und plauderten oder sahen in den Mond, der groß und klar am Himmel aufstieg und die Jungfrau mit seinem Silberlicht überflutete.

Der Anblick war von solch magischer Gewalt, daß sie alle zuletzt verstummten.

*

Sie waren nun bereits acht Tage hier und hatten die Gegend schon nach allen Seiten durchstreift.

Interlaken, Thuner See mit dem Riesen, Spiez, Brienzer See mit den Gießbachfällen, Beatenberg, Abendberg, alles hatten sie bereits genossen und sich die größeren Touren wie Schynigte Platte, Mürren, Wengernalp, Scheidegg, Grindelwald für später aufgehoben, wenn die Kräfte geprüft und erprobt sein würden.

Heute früh klagte Lisa über Kopfweh und hatte sich nun ein wenig hingelegt, um am Nachmittag wieder frisch zu sein.

Die Herren saßen bei einer Partie Schach ganz ländlich auf der Straße vor der Wirtshaustür, rauchten und waren vollständig in ihr Spiel versunken.

Friedel hatte erst zugesehen, ihre Bemerkungen dazwischen geworfen, Ratschläge erteilen wollen, war dafür von beiden angebrummt worden und hatte schließlich die Flucht ergriffen, ihren Geigenkasten unter dem Arm.

»Vergiß mir ja die Geige nicht, Friedel,« hatte Lisa geschrieben, »ich sehne mich nach deinen weichen Tönen.«

Und heute morgen beim Frühstück hatte sie dann gebeten: »Am Abend spielst du uns, Friedel, nicht? Bis dahin ist mein Kopfweh weg, und du geigst mich vollends gesund.«

Daran dachte Friedel, als sie mit der Geige unterm Arm dem Saxetental zuschritt. Dort am Bach waren so nette versteckte Plätzchen, dort wollte sie üben. Hier im Ort hätte man ja jeden Ton weit in der Runde gehört, da hätte sie bald Zuhörer in Menge gehabt. Dort sorgte der rauschende Bach dafür, daß ihre Töne ungehört verhallten.

Friedel klomm am Bach aufwärts. Der hüpfte und tanzte und rauschte und brauste wie toll zu Tal, als ob er nicht schnell genug hinunterkommen könne, um zu sehen, wie's dort ausschaue.

Die Wände fielen schroff ab, von einem Pfad war kaum die Spur zu erkennen. Friedel arbeitete sich tapfer durch, bis sie zu einem Steg gelangte, der das zischende, tosende, wirbelnde Wasser überquerte.

»Hier stört mich wohl niemand,« sagte sie befriedigt, hob den Fuß auf den Steg, ging furchtlos, obgleich er schwankte, bis zur Mitte, und setzte sich dort nieder, die Füße über der Tiefe baumeln lassend.

Der Steg war wohl drei, vier Meter hoch über dem Wasser; man sah, der Natur des Baches zur Zeit der Schneeschmelze war Rechnung getragen.

Drüben dehnte sich ein saftgrünes Wiesentälchen, von Baumriesen umstanden; zwei altersgraue Heuschober mit Felsblöcken auf den Dächern gaben die Staffage.

Friedel baumelte seelenvergnügt mit den Beinen, pfiff befriedigt vor sich hin und holte alsdann die Geige aus dem Futteral hervor.

Erst mußte sie noch ein bißchen um sich schauen. Es war zu wundervoll, so weltvergessen einsam, so gruselig romantisch hier.

Dann hob sie die Geige zum Kinn und begann zu stimmen.

Jetzt legte sie den Bogen auf. In vollem weichem Ton setzte die »Melodie« von Rubinstein ein.

Der Bach da unten war aber gar ein aufdringlicher Geselle. Er war gewohnt, in seinem Reich das große Wort zu führen; das quietschende Ding da oben sollte sich ja nicht einbilden, gegen ihn aufkommen zu können.

Er zischte und schäumte, er brauste und tobte, bis er den armen, winzigen Saitenton erdrückt hatte.

Die junge Spielerin kämpfte gegen den unhöflichen, lärmenden Gesellen an. Umsonst – er war hier Meister. Nun faßte sie der Ärger. Trieb er's toll, so wollte sie's noch toller treiben.

Die Geige kreischte und schrillte in den höchsten Tönen, eine Dissonanz jagte die andre. Friedels Bogen raste nur so über die Saiten hin – der reine Hexensabbat.

In diesem Augenblick just kam an der schroffen, waldigen Seitenwand ein Wanderer talab gestiegen.

Erstaunt lauschte er schon von ferne den quietschenden, schrillenden Tönen.

»Was zum Kuckuck ist denn das für eine Musik?« brummte er vor sich hin.

Noch entzogen ihm die Bäume einen freien Ausblick. Er eilte rascher voran, von Neugierde getrieben.

Jetzt kam er an eine Lücke im Laub, er sah den Steg, er sah eine Mädchengestalt darauf sitzen und wie toll drauf los geigen.

»Alle Wetter!« entfuhr es ihm. »Eine tolle Idee!«

Behutsam ließ sich Herr von Rödern neben Friedel nieder.

Die Geigerin hielt das Köpfchen drüben nach dem Wiesengrund zu gerichtet, jetzt eben aber wendete sie es, und er konnte deutlich ein schmales, kleines, dunkles Zigeunergesicht mit grauen leuchtenden Augen erkennen.

»Alle Wetter!« entfuhr es ihm noch einmal und diesmal in freudigster Überraschung. »Nein, so was!«

Friedel ihrerseits hatte den Lauscher, der tief im Buschwerk stand, nicht bemerkt und drehte den Kopf wieder dem Wiesengrund zu.

Da kam er leise, vorsichtig und behutsam auf den Zehen herbei, tastete sich langsam über den Steg, hielt den Atem an, daß sie nur nichts bemerke, und ließ sich behutsam neben ihr niedergleiten.

Friedel hatte im Tosen und Donnern des Baches, im Quietschen und Schrillen ihrer Geige wirklich nichts bemerkt. Erst die Erschütterung, als er sich setzte, machte sie aufmerksam.

Sie wendete das Köpfchen und war kein bißchen erstaunt oder erschreckt. Schelmisch sah sie ihm ins Gesicht.

»Guten Tag, Herr von Rödern,« sagte sie, als habe sie ihn längst erwartet, und als sei es das Natürlichste von der Welt, daß er hier in dem weltverlorenen Erdenwinkel plötzlich neben ihr sitze.

Klaus von Rödern, denn er war es wirklich, beugte sich vor und zog den Hut.

»Guten Tag, mein gnädigstes Fräulein. Etwas warm heute, nicht?«

Angesichts ihrer Kaltblütigkeit wollte er seinem Erstaunen nicht Ausdruck geben. Belustigt wartete er auf ihre nächste Äußerung.

Bei seiner Bemerkung übers Wetter hatte sie nur ein wenig die Achseln gezuckt; er konnte es für Ablehnung oder für Zustimmung nehmen, wie er wollte.

Sie aber gellte und schrillte ruhig auf ihrer Geige weiter in den unglaublichsten Tönen. Er mußte an sich halten, um nicht mit kühnem Griff das Instrument vor solcher Mißhandlung in Sicherheit zu bringen.

»Eine hübsche Komposition,« sagte er nach einer Weile ganz ernsthaft.

Sie blitzte ihn von der Seite her schelmisch an.

»Gefällt es Ihnen? – Das freut mich,« sagte sie dann ebenso ernsthaft.

»Dürfte ich nach dem Komponisten fragen?« erkundigte er sich höflich.

»Bach!« sagte sie lakonisch und kicherte in sich hinein.

Er mußte hell auflachen, und sie lachte mit.

»Wer kann's besser, der oder ich?« fragte sie dann neckend und wies mit dem Bogen auf den tosenden Gesellen unter ihr.

»Höflichkeit verbietet mir eine direkte Antwort,« entgegnete er lachend. »Jedenfalls geben sich gnädiges Fräulein weitaus die größte Mühe.«

Sie lachte wieder in sich hinein und fiedelte immerzu wie toll drauf los.

»War's am Niagara nicht schöner?« fragte sie dann und mußte die Stimme sehr erheben, weil gerade der Bach drunten noch viel toller toste und schäumte.

»Mir gefällt's hier besser,« gab er ebenso laut zurück.

»Wie haben Ihnen die Indianer gefallen?« rief sie.

»Ausnehmend,« antwortete er lachend.

»Keine Squaw mitgebracht?«

»Nein. Will mir hier erst eine suchen.«

Friedel rümpfte das Näschen.

»Unsinn! Ich glaubte, Sie wollen nicht heiraten!«

»Will ich auch nicht – vorderhand.«

Und Klaus von Rödern lachte belustigt auf, und der Blick, der Friedel dabei traf, war so sonderbar, daß Friedel plötzlich fand, es sei doch eigentlich recht schwül heute.

»Uff!« Sie blies die Backen auf, holte tief Atem, nahm den Bogen in die Hand, in der sie die Geige hielt, und fuhr sich mit ihrem Taschentuch über das heiße Gesicht.

»Vorher war's gar nicht so heiß,« sagte sie und sah dabei Herrn von Rödern ganz herausfordernd an.

Jetzt war die Reihe, in sich hineinzukichern, an ihm.

Friedel schien ihre Geigenbearbeitung endgültig einstellen zu wollen. Mochte der da unten nun ungehindert die erste Violine spielen. Der Klügste gab doch immer nach.

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Ich muß nun heim und Sie sitzen mir im Wege.«

»Werde dies Hindernis sofort wegschaffen!«

Er sprang auf und wollte ihr die Hand geben.

»Ich kann allein gehen, danke,« sagte sie ziemlich von oben herunter und hätte ihm beinahe ins Gesicht gelacht.

Er verbeugte sich sehr tief, sehr höflich und raffte den Geigenkasten auf.

»Den werden Sie mir aber doch gestatten?«

Und Friedel gestattete es mit gnädigem Kopfneigen.

Mit ein paar leichten Schritten war er am Ufer und wendete sich, um zu sehen, ob die junge Dame ihm folgte. Friedel hatte sich allerdings erhoben, Geige und Bogen in der Hand, aber sie blieb wie angewurzelt stehen und setzte sich plötzlich wieder sehr schnell, beinahe wie unfreiwillig.

Herr von Rödern fürchtete eine Erneuerung des Konzerts. »Laß, Vater, genug sein des grausamen Spiels,« hätte er beinahe gerufen. Da gewahrte er, daß Friedel ganz verstört um sich blickte.

Mit zwei Schritten war er neben ihr.

»Was –?« begann er.

Aber Friedel fiel ihm ins Wort.

»Ich hab' mich geschwind nochmal setzen müssen, es war doch zu nett hier.«

Er sah deutlich, daß sie bis in die Lippen blaß war, sagte aber nichts.

»Ich weiß nicht, der Steg schwankt so gräßlich,« sagte sie nach einer Weile. »Ich glaube, es ist, weil Sie da stehen; bitte, gehen Sie vor, ich komme gleich nach.«

»Mein gnädiges Fräulein –« Seine Stimme klang förmlich beschwörend.

»Bitte!«

Man hörte diesem »bitte« deutlich an, daß Friedel innerlich das Füßchen stampfte.

Schweigend entfernte sich Klaus von Rödern, nachdem er zuvor noch Bogen und Geige an sich genommen, was Friedel willenlos geschehen ließ. Am Ufer machte er sich dann mit dem Geigenkasten zu schaffen, worein er das Instrument barg. Diskret wollte er Friedel Zeit lassen, an Land zu kommen.

»Herr von Rödern,« hörte er plötzlich eine sehr klägliche Stimme hinter sich.

Sofort war er an Friedels Seite.

»Denken Sie mal, ich kann mich nicht aufstellen; mir wird ganz kurios.«

»Schwindel, mein gnädiges Fräulein!«

Friedel biß sich ärgerlich auf die Lippen.

»Kenne ich sonst gar nicht,« behauptete sie.

»Geben Sie mir mal die Hand,« schlug er vor, »ich bringe Sie sicher hinüber.«

Friedel wollte nicht, sie warf das Köpfchen zurück.

»Unsinn,« sagte sie, »meines Vaters Junge ist kein Waschlappen. Stellen Sie sich mal da drüben hin und kehren Sie mir den Rücken, ich komme schon hinüber.«

Sie hätte sich selber ohrfeigen mögen; es war doch eine zu große Demütigung.

Er war ihren Worten schweigend gefolgt, stand nun drüben am Ufer wie aus Erz gegossen und wendete ihr den Rücken.

Friedel wollte sich mit Gewalt noch einmal aufrichten, sie konnte es nicht erzwingen und kroch nun auf allen vieren, beschämt und zähneknirschend, den Steg entlang.

Einmal hatte Klaus von Rödern nach hinten geschielt; fast hätte er laut aufgelacht bei dem Anblick.

Als er Friedel herankommen hörte, vernahm, wie sie festen Fuß faßte, da entfernte er sich diskret eine kleine Strecke und machte sich mit Bücken und Pflücken allerlei zu tun.

»Kennen Sie diese Farnsorte?« fragte er nun sehr unbefangen und reichte Friedel einen Busch entgegen. Er sah gar nicht, wie rot und heiß und drollig verlegen sie war.

Friedel tat einen tiefen Atemzug aus erleichterter Brust.

»'s ist wirklich ein netter Mensch,« sagte eine Stimme in ihr, und: »Bedaure, von Botanik kenne ich nur Gras, Bäume und Blumen als Sammelbegriff,« antwortete sie ihm.

Er lachte belustigt auf, laut und lange. Alles, was er bis jetzt unterdrückt hatte, machte sich nun Luft.

Friedel war etwas erstaunt über diese Wirkung ihrer Antwort; sie begriff gar nicht, daß sie so witzig gewesen war. Dann stimmte sie vergnügt in sein Lachen ein. Er nahm nun den Geigenkasten unter den Arm, und im besten Einvernehmen von der Welt gingen sie talab.

Die Herren saßen noch vor dem Hause.

»Matt!« hörte man soeben Papa Poltens dröhnende Stimme. »Matt, mein Junge, Schach dem König und matt!« Ein Triumphgelächter folgte.

Was Werner sagte, konnten die Nahenden nicht unterscheiden; sie sahen nur, wie er sich über das Brett beugte.

Die beiden Spieler merkten gar nicht, was um sie vorging, so waren sie mit Triumph und Niederlage beschäftigt.

Klaus von Rödern war zu Werner Horst herangetreten und schlug ihm von hinten auf die Schulter. Der fuhr auf.

»Klaus, Klaus, alter Junge, nein, die Überraschung! Welcher Wind hat dich denn hierher geweht?« hörte Friedel den Schwager rufen.

Was Herr von Rödern antwortete, und was der Papa sagte, konnte sie nicht mehr unterscheiden; sie war eilig ins Haus geschlüpft.

Lisa lag noch auf dem Bett. Sie hob den Kopf, als Friedel nun in ihr Zimmer stürmte.

»Ich hab' euch euern Freund vom Saxetenbach mitgebracht!«

»Welchen Freund?«

»Herrn von Rödern!«

»Ja, woher kommt denn der?«

»Weiß ich nicht; er war bloß plötzlich da!«

Mehr war aus Friedel nicht herauszubekommen.

Sie war schon drin in ihrem Zimmer, wo Lisa sie eifrig herumkramen und lustig dazu pfeifen hörte.

Lisa seufzte und lächelte zugleich.

Noch mehr lächeln aber mußte sie, als sie später bei Tisch sah, daß Friedel auf ihrer blütenweißen frischen Batistbluse sich eine lichtblaue Seidenmusselinkrawatte vorgebunden hatte, eines der vielen kleinen Geschenke Lisas, welche die Schwester erfreuen und etwas mädchenhafter schmücken sollten.

Bis jetzt hatte Friedel diese Krawatte immer stillschweigend zuunterst in den Koffer gelegt. Wie ihr die Krawatte gerade heute unter die Hand geraten war, hätte sie nicht zu sagen gewußt.

»Hast dich ja mächtig aufgetakelt, Jungchen,« hatte der Papa schmunzelnd gesagt und wohlgefällig das dunkle Krausköpfchen betrachtet, das sich von der lichtblauen vollen Schleife allerliebst abhob.

»Wegen dem Fähnchen da, Vaterherz?« hatte Friedel mit heller Stimme ohne jede Spur von Verlegenheit gefragt. »Das ist mir so unter die Hand geraten, und da mir's die Lisa geschenkt hat, und – aber wenn's dir nicht gefällt, nehm' ich's weg, 's ist ohnehin so 'n Mädelskram.«

Das flinke Händchen war schon dabei, die Schleife loszubinden; Papa Polten konnte nur noch rasch danach greifen, um es zu verhindern.

»Bewahre, Jungchen, bewahre,« sagte er hastig, »'s wär' jammerschade drum.« Und das mußten Schwager Werner und Herr von Rödern auch finden, denn sie schmunzelten sehr vergnügt, und Friedel, die das bemerkte, dachte bei sich: wie so »alte Männer« doch manchmal recht albern sein können.

Man war bei Tisch sehr vergnügt.

Klaus von Rödern erzählte, daß er seit acht Tagen schon in Interlaken wohne, daß er heute einen Gang über den Abendberg nach Saxeten gemacht habe und sich zuvor schon Wilderswyl als Mittagsruheort erwählt hätte, ehe er gewußt, welches Glück – ein neckender Blick nach Friedel – ihm begegnen sollte.

»Nettes Glück,« brummte Friedel.

»Nennen das die Herrschaften kein Glück,« verteidigte sich Klaus von Rödern lachend, »wenn einem erst die Nymphen und Dryaden des Waldes was vormusizieren mit dem tosenden Bach um die Wette, und besagte Nymphe oder Dryade sich dann als eine alte Freundin entpuppt? Pardon, mein Fräulein, bildlich gesprochen.«

Friedel zuckte nur die Schultern und warf das Köpfchen zurück. Angesichts ihres Heldentums zum Schluß des Abenteuers war es ihr sehr unangenehm, daß die Sache zur Sprache kam.

Klaus schilderte nun auf Befragen sehr humoristisch die ganze Begebenheit und ging über den Schluß ganz leicht hinweg.

Alle lachten.

»Die arme Geige,« meinte nur Lisa bedauernd, »die wird nun schön verstimmt sein.«

»Na, für derlei Produktionen, wie gnädiges Fräulein sie lieben, wird's noch ausreichen,« meinte Klaus von Rödern lachend. »Solche Kompositionen wie die des Herrn Bach von heute morgen lassen sich immerhin noch darauf spielen.«

Friedel und Lisa wechselten einen Schelmenblick.

Jetzt gewann Friedels Ehrlichkeit die Oberhand.

»Und weißt du, Vaterherz, daß dein Junge sich wie ein nervöses Frauenzimmer benommen hat? Schwindel hab' ich gekriegt, Schwindel, denk doch nur, und auf allen vieren bin ich gerutscht wie ein Tanzbär, und Herr von Rödern hat sich umdrehen müssen und –«

Papa Polten lachte dröhnend.

»Und das hat uns der saubere Herr vorenthalten? Mein Herr, was sollen wir nun von Ihrer Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe denken?«

»Er hat mich nur nicht bloßstellen wollen, Väterchen,« verteidigte ihn nun Friedel allen Ernstes mit heißen Wangen. »Unter Kameraden –"

Schallendes Gelächter unterbrach sie.

»Na nu? Was ist denn nun wieder los?«

Ganz verständnislos fragte sie's.

»Unter Kameraden ist's doch auch wirklich nicht nett, wenn einer den andern verrät.«

»Sicher nicht! Und wir wollen doch immer gute Kameraden bleiben!« Klaus von Rödern reichte ihr über den Tisch hinüber die Hand, in die sie unbefangen und ohne zu zögern einschlug.

»Das wollen wir!« – –

Am Nachmittag war man nach Interlaken gegangen, hatte dort lange im Hotel Jungfrau gesessen, hatte der Musik zugehört und war dann den Läden entlang gebummelt.

Friedel haßte das, aber sie fügte sich mit guter Miene.

»Mögen Sie so 'n Hexensabbat, so greulich geputzte Frauenzimmer?« fragte sie Herrn von Rödern, als eben eine hypermoderne Dame seidestarrend an ihnen vorüberrauschte.

»Ich mag Frauenzimmer überhaupt nicht,« sagte er lakonisch.

Friedel sah ungewiß an ihm in die Höhe.

»Aber Lisa und Tante Lenchen und – ich – ich bin doch auch –«

»Eine Dame, gewiß,« fiel er lachend ein.

Eine feine Röte stieg Friedel ins Gesicht, doch sie warf das Köpfchen zurück und schwieg gekränkt eine ganze Weile.

Er bemerkte es scheinbar nicht.

Lange hielt's Friedel nicht aus.

Man war bei der Musikkapelle angelangt. Sie spielte den Pilgerchor aus dem Tannhäuser. Friedel summte mit, sie war davon ganz begeistert.

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Die können's doch besser als ich, was?«

»Origineller war jedenfalls Ihre Musik, mein gnädiges Fräulein.«

Friedel lachte wie ein Kobold und nun spitzte sie die Lippen und pfiff unbekümmert in weichem, glockenklarem Ton die Melodie mit.

Erst hatte Klaus lachend zugehört, als aber die Umstehenden aufmerksam wurden, bedrückte ihn die Sache doch etwas.

»Mein gnädiges Fräulein!«

Friedel kam zur Besinnung; sie versetzte sich einen hörbaren Klaps auf den Mund.

Lustig zwinkerte sie an ihm in die Höhe: »Erbarm dich – das schickt sich doch nicht, Kind!«

Sie kopierte Tante Lenchen so getreu, daß er hell auflachen mußte.

»Darf ich mich nach dem Befinden der alten Dame erkundigen? Sie entließ mich damals sehr ungnädig, weil ich Unglückswurm den halben Mullrock meiner Dame unter dem Arm mitschleppte. Sie dachte wohl, ich wolle mir den aneignen.«

»Also Sie haben ihr den zugetragen?« rief lachend Friedel. »So 'n schwarzer Verräter! Ich habe mich doch immerzu besonnen, wo sie den herbekommen hatte.«

»Im Traum hab' ich ihn 'rumgetragen als den letzten Rest entschwundenen Glücks,« sagte er lachend, und Friedel lachte wie toll mit.

Lisa wendete sich.

»Friedel, Friedel, um Gottes willen, lach doch nicht so laut; das schickt sich doch nicht.«

Und wieder klapste sich Friedel auf den Mund.

»Arme Lisa,« seufzte sie. »Sie wollten wissen, wie's Tante Lenchen geht, Herr von Rödern. Ausgezeichnet im Augenblick: sie ruht sich von mir aus! Ich bin nämlich ihr Schmerzenskind. Wenn Sie wüßten, was ich alles habe erdulden müssen, seit wir uns zuletzt sahen!«

Und nun schilderte sie ihm Miß Miller, das Paradies, die Näh- und Kochstunde und den Tanzunterricht.

Letzterer schien ihn besonders zu interessieren.

»Mit Herren?« fragte er.

»Ja, es waren so 'n paar dumme Jungens dabei. Nein, daß ich's recht sage, es waren wirklich ein paar sehr nette Bengels drunter, und der Max und ich, wir waren sehr gute Freunde.«

Wer Max sei, wie alt, was von Beruf, er wollte alles so genau wissen, daß Friedel sich nur wunderte.

Sie plauderte denn auch munter darauf los, flog dann aber plötzlich von hinten auf den Papa zu, der allein hinter Lisa und Werner herschlenderte, schob ihren Arm in den seinen und wandte das Köpfchen nach Herrn von Rödern zurück.

»So, und nun unterhalten Sie sich mal ein bißchen mit Ihrem Freunde da vorn. Papa braucht seinen Jungen.«

Tief neigte sich Herr von Rödern.

»Wie gnädiges Fräulein befehlen,« und lachend ging er zu dem jungen Paare nach vorn.

»Jungchen!«

»Vaterherz?«

»Nur immer höflich sein, was?«

»Bin ich, Väterchen, gräßlich.«

»Hm, hm!«

Der alte Herr räusperte sich, sagte aber nichts weiter.

*

Für den Rückweg wurde ein Wagen genommen.

Klaus von Rödern wollte zugleich sein Gepäck nach Wilderswyl schaffen lassen.

Man war übereingekommen, daß er mit den Freunden im »Bären« wohnen sollte. Alle Partien ließen sich so leichter gemeinsam unternehmen.

Friedel hatte durchaus kutschieren wollen oder doch wenigstens auf dem Bock sitzen, aber der Papa hatte so entschieden sein Veto eingelegt, von einem kräftigen »basta« begleitet, daß Friedel nicht mehr zu mucksen wagte.

Nach dem Abendessen saß man dann noch auf der Veranda auf den Bänken, Sesseln und Stühlen, die durch Lisas mitgebrachte Kissen so wundervoll bequem geworden waren.

Klaus dehnte sich wohlig.

»Weißt du eigentlich, wie beneidenswert du bist, Werner?« fragte er einmal in eine Pause hinein.

Werner lachte, und Lisa und Papa Polten mußten auch lachen.

»Weshalb ist denn Werner so gräßlich zu beneiden?« erkundigte sich Friedel neugierig. »Sie können sich doch ebenso gut wie er hier herumräkeln und dampfen wie ein Fabrikschlot. Ich sehe da wahrhaftig keinen Unterschied.«

Wieder lachten alle. Friedel wurde ganz ärgerlich.

Lisa sah's und wollte ablenken.

»Wie wär's, Friedel, wenn du nun die Geige holtest?«

Friedel wollte nichts davon wissen.

»Du weißt, daß du's mir versprochen hast,« mahnte Lisa. »Herr von Rödern ist gewiß auch dankbar für eine Fortsetzung des Konzerts vom Morgen.«

Der stimmte etwas gezwungen zu. Man merkte deutlich, wie wenig es ihm von Herzen kam.

»Wenn gnädiges Fräulein wollen,« sagte er, und murmelte dann etwas von der »stillen friedlichen Sommernacht«.

Friedel lachte wie ein Kobold. Nun brauchte sie niemand mehr zu bitten. Sie warf Lisa einen schnellen Blick zu: »Ich gehe stimmen!«

Und fort war sie.

Still und friedlich war wirklich die Sommernacht. Blumendüfte stiegen aus dem Garten zu Füßen der Veranda. Leise, leise nur spielte ein laues Lüftchen in den Baumkronen, und die raunten und flüsterten wie im Traum. Von der Ferne gedämpft klang das Rauschen der Wälder, das Brausen und Sprudeln der wilden, lustigen Gebirgskinder, der schäumenden, hüpfenden Bäche, und droben am mächtigen Firmament zündete lautlos Stern um Stern sein glitzerndes, funkelndes Lichtlein an. Stillschweigend hatte Lisa die Lampe gelöscht, und alle empfanden, daß das just gefehlt hatte, um den Zauber der sommerlichen Sternennacht zu vervollständigen.

So saßen sie und schwiegen und ließen den Zauber auf sie wirken.

Werner Horst saß neben seiner Frau. Lisa hatte das Köpfchen an seine Schulter gelehnt.

Papa Polten dampfte so eifrig darauf los, daß er ab und zu husten mußte, und Klaus von Rödern starrte hinauf zum sternenhellen Nachthimmel und fragte sich, ob ihm wohl einmal am Himmel seiner Zukunft ein lustig blitzendes Sternlein für ihn allein aufgehen werde.

Da zitterte wie zur Antwort ein unbeschreiblich klarer weicher Ton durch die Sommernacht. Es war, als hätte die plötzlich eine Stimme erhalten und damit sänge und tönte, schluchzte, weinte, jauchzte und jubelte sie zum Sternenhimmel hinauf. Was die Menschenbrust bewegt, das tiefste Leid und die höchste Wonne klangen in den weichen und hellen Tönen.

Klaus von Rödern war aufgesprungen und starrte wortlos nach der Stelle hin, woher die wunderbaren Klänge kamen.

Dort lehnte eine Mädchengestalt am Pfosten der Verandabrüstung, sie hatte das Gesicht der Sternenpracht dort oben zugewendet, und der Geige, die sie hielt, entströmte der Zaubersang.

Die Geige schien lebendig geworden; sie hatte Leben, Seele, Äußerungsvermögen erhalten. Oder war's die Seele des Mädchens, die in sie strömte, in ihr lebendig wurde, durch sie jauchzte und jubelte, weinte und schluchzte?

Klaus von Rödern starrte auf das liebliche Wunder, als könne er seinen Augen, seinen Sinnen nicht trauen. Konnte, konnte das die tolle Friedel sein? Er hielt den Atem an, um keinen Ton zu verlieren.

Und Schubert, Schumann, Brahms, Chopin, Field, Mendelssohn, Mozart, alle zogen sie an ihm vorüber in tönendem Reigen. Eine Melodie entwickelte sich aus der andern, eine Perle der Tonkunst reihte sich an die nächste zu einer köstlichen, wunderbaren Schnur.

Wortlos, atemlos fast lauschten sie alle. Einmal nur, mitten in die wechselvollsten Klänge hinein, hatte die Geige anfangen wollen, ganz bedenkliche Sprünge zu machen, die merkwürdig an irgend einen Gassenhauer gemahnten.

Da hatte Lisa das Köpfchen von ihres Mannes Schulter gehoben und ein flehendes mahnendes »Friedel« zu der Spielerin hinübergerufen. Sofort hatte sich die Geige besonnen und womöglich noch weihevollere, noch überirdischere Töne gefunden.

Bei dem Zwischenspiel hatte Klaus von Rödern lächeln müssen. Ja, das war doch Friedel und nicht irgend eine unirdische Geniengestalt.

Und dann hatte Friedel aufgehört und die glänzenden Blicke vom Sternenzelt ab den Ihren zugewendet. Lisa hatte plötzlich neben ihr gestanden und sie wortlos umfaßt. Das blonde und das braune Köpfchen hatten sich dicht, dicht zu einander geneigt.

»Das ahnte ich nicht. Sie sind ja eine wirkliche Meisterin.«

Und der Papa räusperte sich und brummte was vor sich hin, und Werner machte einen schwachen Versuch, in die Hände zu klatschen und bravo zu rufen. Der Versuch erstarb im Entstehen. Werner selbst fühlte, wie wenig solcher Beifall hier am Platz war.

Klaus von Rödern war zu den Schwestern herangetreten und hielt nun Friedels Hand gefaßt, die sie ihm noch traumverloren überließ.

»Das ahnte ich nicht. Sie sind ja wirklich eine Meisterin. Ich danke Ihnen,« sagte er leise und wollte die kleine Hand, die er hielt, an die Lippen führen.

Da kam Friedel zu sich.

Gewaltsam entriß sie ihm die Hand und schlenkerte sie ein paarmal hin und her.

»Du meine Güte,« sagte sie mit ihrer hellen Kinderstimme, »so 'n Getue wegen dem bißchen Geigenkratzen. Drück mich nur nicht tot, Lisa! Uff!«

Mit einem Satz war Friedel bei dem Papa, schlang ihm die Arme um den Hals, rieb das Gesicht an seinem Bart und fragte schelmisch: »Gefallen, Väterchen? Kriegt dein Junge 1a?«

»Mein Jungchen!« sagte Papa Polten statt aller Antwort mit tiefem, zärtlichem Brummbaß und strich mit seiner Bärentatze über das weiche Kraushaar.

Friedel genügte das vollständig.

Sie drehte sich wie ein Kreisel und blieb plötzlich vor Herrn von Rödern stehen.

»Noch ein bißchen ›Bach‹ gefällig?« fragte sie schelmisch.

Erschrocken fuhr er ganz mechanisch mit der Hand zum Ohr auf.

Friedel lachte wie ein Kobold.

»Rehabilitiert?« fragte sie.

»Vollkommen!« Und er neigte sich tief.

Zu einem wirklich leichten, fröhlichen Plaudern aber war keines mehr aufgelegt.

Wenn mal die Tiefen der Seele so aufgerüttelt sind, kann der Mensch erst allmählich seine altgewohnte Ruhe wiederfinden. Man trennte sich also bald danach für die Nacht. Klaus von Rödern faßte Friedels Hand noch einmal mit festem Druck.

»Dank, vielen Dank!« sagte er leise und einfach.

Wie er aber weiter versuchte, die Hand an die Lippen zu führen, widersetzte sich Friedel dem abermals stumm und energisch.

»Hören Sie mal, Herr von Rödern,« sagte sie dann sehr bestimmt, »das lassen Sie bei mir hübsch bleiben. Ich mag so 'n dummen Kram gar nicht, das ist für alberne Mädels gut. Wir zwei sind gute Kameraden und damit basta! Wenn Sie mir noch mal so kommen, dann spiel' ich nie wieder, daß Sie's nur wissen!«

Klaus war etwas verletzt zurückgetreten, konnte aber doch nicht anders als in das gutmütige Lachen mit einstimmen, während ihm Werner auf die Schulter schlug.

»Hallo, alter Junge, da hast du's!«

Papa Polten lachte laut und dröhnend.

»Jungchen, aber Jungchen!«

Lisa war verlegen errötet.

»Friedel!« mahnte sie leise.

»Nein, Lisa, so was mag ich wirklich nicht,« sagte Friedel noch einmal entschieden.

Dann trat sie zu Herrn von Rödern heran und streckte ihm freimütig die Hand hin.

»Gute Nacht, Herr von Rödern,« sagte sie dazu mit heller, klarer Stimme. »Und – nichts für ungut!«

Klaus mußte nun wirklich hell auflachen und schüttelte herzlich die ihm gebotene Hand.

»Auf gute Kameradschaft also!«

Und damit trennte man sich.

Klaus lag noch lange im Fenster seines Zimmers und blickte sinnend zum Sternenhimmel auf.

Und Friedel?

Friedel hatte mit der Geige den ganzen Sternenprachts- und Sommernachtszauber abgetan und lag gleich der Geige in ihrem Kasten wie ein Stückchen Holz in ihrem kleinen weißen Bett und schlief – schlief, wie nur eben siebzehnjährige Jugend schlafen kann.

Man war nun schon beinahe volle vier Wochen im »Bären« zu Wilderswyl. Wenn einmal die Frage aufgetaucht war, ob man nicht für die zweite Hälfte der Urlaubzeit anderswo seine Zelte aufschlagen solle, so war nach kurzem Beraten die ganze Gesellschaft immer wieder fürs Bleiben gewesen.

Man kannte nun fast jeden Fleck und jeden Weg der näheren Umgebung, und nun war die Zeit gekommen, den weißen Riesen, die sich so geheimnisvoll und lockend türmten, dahinten im Lauterbrunnental, ein wenig näher zu Leibe zu rücken.

Heute sollte es über Wengen, Wengernalp auf die Scheidegg und von da nach Grindelwald gehen.

Bis Wengen wollte man fahren.

»Danach können ja die Damen reiten oder fahren, wie sie wollen, wir gehen jedenfalls zu Fuß,« hatte Werner gesagt, was ihm ein lakonisch verbesserndes: »Dame, meinst du wohl?« seiner kleinen Schwägerin eingetragen hatte.

Bis Wengen war man miteinander gefahren, nun trennte man sich. Lisa fuhr weiter bis Scheidegg, wohin die andern, »die Herren«, wie Friedel schelmisch herausfordernd betonte, zu Fuß nachkommen wollten.

Es war ein wundervoller Tag, ein Tag, der schon unter gewöhnlichen Verhältnissen mit Macht zum Wandern lockte, wie viel mehr hier oben in den Bergen, wo die köstlich klare, frische Luft den Fuß noch ganz besonders zu beflügeln scheint.

Friedel stieß die Spitze ihres Bergstocks klingend aufs Gestein und jauchzte in den sonnigen Morgen hinein.

»Juhu, juhu! Vater im Himmel, wie ist deine Welt so schön!«

Ihr Gesicht leuchtete und die Augen blitzten; das Sonnengefunkel ringsum schien sich drin verfangen zu haben.

Sie riß ihr Hütchen vom Kopf und schwang's der Jungfrau zu.

»Gott zum Gruß, hohe Dame! Das einzige Frauenzimmer, das mir Ehrfurcht einflößt!«

Schelmisch suchte ihr Blick den Herrn von Röderns.

Um dessen Mund zuckte es lustig, er sagte aber nichts.

Und nun schritten die vier flott aus, und die Welt wurde immer herrlicher, die Berge türmten sich immer gewaltiger, fast bedrückend wirkte die immer größere Nähe der mächtigen Bergriesen.

Nie wird sich der Mensch seines eigenen verschwindenden Nichts bewußter, als inmitten solch überwältigend großartiger Natur. Nie aber auch lernt er Menschengeist und Menschenkühnheit mehr anstaunen, als angesichts der aus Felsen, Eis und Schnee getürmten Wunder, die der winzig kribbelnde Mensch zu bezwingen sich unterfängt und – wirklich bezwingt.

Friedel schritt neben Herrn von Rödern tapfer aus.

Zuerst plauderte sie frisch und fröhlich, jauchzte hinaus in die Gotteswelt, hüpfte, tänzelte vor und zurück. Kurz, Friedel war toll und übermütig, und Klaus von Rödern dachte erstaunt bei sich, ob sie wohl gar kein Gefühl habe für die überwältigende Größe der Natur ringsum.

Sie waren allmählich bis dahin gekommen, wo die schroffen Abfälle der Riesen näher zusammentraten, wo man an die Bergkolosse auf Ellenbogennähe heranzukommen schien.

Schneehorn und Silberhorn türmten sich fast greifbar nahe, und mit der höhersteigenden Sonne mehrte sich das dumpfe Poltern und Dröhnen, womit Lawine um Lawine zu Tal rollte.

Den Wanderern fast gegenüber hatte sich solch eine abstürzende Schneelast Bahn gemacht, und dieser Bahn folgte wieder und wieder ein Schub nach dem andern.

Wie winzig kleine Ballen sah man sich's lösen hoch oben, allmählich wuchs es an, schien aber durch die riesige Entfernung klein, als ob eine Kinderhand es ins Rollen bringen könnte. Erst an dem dröhnenden Donnergepolter, womit die rutschende Masse im Abgrund schwand, merkte man die Riesenfaust, die sie geballt hatte.

Nun war auch Friedel verstummt, und mit großen sinnenden Augen starrte sie auf das erhabene Schauspiel.

Als wieder einmal eine besonders große Lawine mit besonders lautem Donner zu Tal stürzte, war Friedel unwillkürlich näher zu dem neben ihr stehenden Herrn von Rödern herangetreten und hatte, wie Schutz suchend, die Hand auf seinen Arm gelegt.

Er hütete sich wohl, zu tun, als ob er es merke, obgleich es ihm in allen Fingern zuckte, die scheue kleine Hand zu ergreifen und zu halten.

Wieder donnerte eine Lawine auf gleicher Spur zur Tiefe.

Friedel atmete förmlich beklommen, und es stand wie Scheu und Schreck in den großen, klaren Kinderaugen, die sich Klaus von Rödern zuwendeten. Sie bückte sich und wies mit der einen Hand eine Spanne hoch über den Boden.

»So groß komm' ich mir vor – das heißt so klein, will ich sagen,« flüsterte sie ganz leise.

Er nickte sinnend.

»Ja, ja. Und doch wagt sich die Ameise Mensch an diesen Koloß heran. Dort drüben auf Scheidegg werden wir die ersten Spuren davon sehen.«

Friedel hatte gar nicht zugehört.

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»'s ist doch gut, daß der Mensch nicht allein ist; wo sollte er sonst den Mut hernehmen all dem gegenüber?«

Ihr glänzender Blick hing an der Eiswelt drüben. Fester klammerte sich ihre Hand um seinen Arm, auf dem sie immer noch lag.

Er mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht hinauszulachen. Unwillkürlich preßte er die kleine Hand fester an sich.

Friedel erwachte aus ihrem Sinnen. Unbefangen sah sie ihn an. Ein Etwas in seinem Blick machte sie stutzen. Rasch zog sie ihre Hand von seinem Arm.

»Ach, das schickt sich wohl nicht?« sagte sie mit einem Gemisch von Freimut, Verlegenheit und komischem Schreck.

Und ehe Klaus von Rödern sich noch besinnen und etwas erwidern konnte, war sie wie der Blitz mit großen Sätzen davongestürzt, hatte ihren Arm von hinten durch den des Vaters geschoben und zwar mit solchem Nachdruck, daß Papa Polten fast das Gleichgewicht verlor.

»Jungchen, Jungchen, sachte!« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.

»'n Glück, Väterchen, daß wir zwei beide uns haben, was? Allein käm' ich mir hier wie 'n Erdfloh vor, oder meinethalben wie eine Baumwanze, und du, Vaterherz, könntest höchstens einen Maulwurf vorstellen.«

»Geschmackvoller Vergleich,« neckte Werner Horst und blieb ein paar Schritte zurück, um den Freund zu erwarten.

»Will das Pärchen da vorn nicht weiter stören,« meinte er und zwinkerte lustig mit den Augen. »Papa Polten und sein Junge werden wieder einmal zärtlich.«

Und rüstig schritten die vier weiter und waren wieder vollständig in die Betrachtung all der Pracht versunken.

Nur einmal bückte sich Friedel blitzschnell, ergriff einen kleinen grünen Käfer, der eilig über den Weg kroch, und setzte ihn ins saftig grüne Gras zur Seite.

»Da, armes Kerlchen,« sagte sie dabei, und die Stimme hatte einen förmlich zärtlich-mitleidigen Klang, »da bist du sicher; die beiden bösen Plumpsäcke da hinten hätten dich sonst gewiß zertreten.«

Und ein Schelmenblick flog den beiden herzutretenden »bösen Plumpsäcken« entgegen. Dann war Friedel weg und hing wieder an Papas Arm.

Klaus ließ ihr einen leuchtenden Blick folgen.

»Sie hat ein Herz für die Kreatur!« murmelte er vor sich hin und vergaß in seinem Sinnen, Werner auf eine Bemerkung über deutsche Kolonialbestrebungen zu antworten, bis der ihn am Arm faßte und ihn schüttelte: »Mensch, was hast du? Hat dich denn die Jungfrau ganz behext?«

»Das hat sie, Werner, das hat sie!«

Es klang so inbrünstig, so aus tiefstem, vollstem Herzen geschöpft, daß Werner dem Freund einen erstaunten Seitenblick zuwarf und den Kopf schüttelte.

Sie hatten nun Station Wengernalp erreicht und sahen Scheidegg, ihr Ziel, vor sich liegen.

Ein vielfach gewundener Weg führte durch die grünen Matten bis hinüber. Man konnte ihn deutlich verfolgen, und Kühe mit bimmelnden Glocken am Halse grasten zu beiden Seiten.

Friedel belustigte sich über die großen, glotzenden, neugierig blickenden Augen, womit die Tiere die Wandernden anstarrten. Hie und da kitzelte sie eine, die ihr zu nahe kam, mit dem Alpenstock.

Papa Polten lachte, aber Klaus von Rödern warnte: »So ganz ungefährlich ist das nicht, mein gnädiges Fräulein; die Tiere sind manchmal recht tückisch.«

»Ach was, so 'ne Kuh,« meinte Friedel verächtlich.

Dann sah sie eine Blume, die sie lockte, oben auf der Matte stehen und stürmte darauf los.

Erst folgte ihr eine Kuh in possierlichen plumpen Sprüngen, eine zweite, eine dritte, und plötzlich zog Friedel ein ganzes zahlreiches Gefolge der gehörnten Vierfüßler hinter sich drein.

Sie sah sich um, es machte ihr offenbar Spaß.

Sie hob den Bergstock und wollte die Tiere wie zuvor damit necken. Aber da entstand ein ganz bedrohliches Brummen, das sie doch stutzen machte. Zugleich drängelten die Tiere immer dichter und aufdringlicher an sie heran. Jetzt war ihr nicht mehr so ganz wohl in ihrer Haut.

Sie warf wie hilfesuchend einen Blick nach den Herren. Papa und Werner gingen unbekümmert weiter, nur Klaus von Rödern stand still und beobachtete offenbar scharf, was um Friedel herum vorging.

Da erwachte der Trotz in ihr.

»Dummer Peter,« brummte sie vor sich hin, »in alles muß er seine Nase stecken!«

Und trotzig warf sie das Köpfchen zurück, hob den Bergstock, sich durchs Gedränge Bahn zu machen, und wollte vorwärtsschreiten.

Aber nun war das Brummen der Tiere plötzlich stärker geworden; hier brüllte eine Kuh zornig auf und dort noch eine. Sie schüttelten die Köpfe, daß die Glocken immer toller bimmelten, dann senkten sie die Hörner und drangen auf Friedel ein.

Die aber hatte all ihren Mut wiedergefunden. Hier prasselte ein Hieb auf eine gehörnte Stirne und dort noch einer. Dabei regnete es Püffe, und Friedel war durch und flog leichtfüßig die Matte hinab.

Die älteren, gesetzten Kühe ließen ab von der Verfolgung; dumm und träge glotzten sie der Davoneilenden nach. In die Flucht geschlagen hatten sie ja das dreiste Menschenkind, damit gab sich ihr Kuhehrgeiz zufrieden.

Nur ein junges Rind, offenbar ein toller Springinsfeld wie Friedel, war nicht gleichen Sinnes. In weiten Sätzen, brüllend, den Schweif und Kopf aufwerfend, folgte es der Flüchtigen dicht und immer dichter. Friedel meinte, schon die feuchte Schnauze im Nacken zu verspüren.

Mit einem Satz war Friedel auf einem Felsblock oben, der gerade im Wege lag. Dort stand sie hochatmend und schwang den Bergstock gegen das Rind, das sich mit den Vorderhufen am Felsblock aufgerichtet hatte und seiner entsprungenen Beute entgegenbrüllte.

Der Anblick war komisch und rechtfertigte durchaus das dröhnende Lachen, das Papa und Schwager Werner erschallen ließen.

»Friedel! Ho, ho, Friedel!« So der Papa.

»Drauf! Los!« Das war Schwager Werner.

»Mut! Mut!« Dies als Duett.

Friedel war tief gekränkt.

Verächtlich wendete sie ihnen den Rücken, stieg noch etwas höher und ließ sich urplötzlich an der entgegengesetzten Seite des Felsblocks niedergleiten. Sie hoffte, das noch immer an seinem Standort verharrende, brüllende Rind so zu täuschen und ihm zu entkommen.

Das Rind aber machte als glänzende Ausnahme seines Geschlechts seinem Namen keine Ehre; es merkte die Absicht, stimmte ein erneutes Triumph- und Schlachtgebrüll an und setzte hinterher.

Mit einem Satz war Friedel auf einem Felsblock.

Nun wär's beinahe um Friedels Mut geschehen gewesen, eben wollte sie den Mund öffnen, und wer weiß, ob nicht ein Hilfeschrei herausgekommen wäre, da tauchte eine dunkle Gestalt vor ihr auf, und eine ruhige Stimme sagte: »Treten Sie nur hinter mich, mein gnädiges Fräulein. Mit vereinten Kräften werden wir das Tier schon los werden.«

Aufatmend trat Friedel hinter ihn und ließ ihn – ach, wie gerne – mit »vereinten Kräften« allein das zudringliche Tier abwehren.

Als das kluge Rind die veränderte Situation sah, war es sofort mit sich im reinen, daß ein ehrenvoller Rückzug hier das einzig Richtige sei. Es brüllte noch ein paarmal, peitschte mit dem Schweif die Flanken, warf den Kopf hoch, schüttelte seine Glocke, wandte sich und trabte von dannen, den Seinen zu, wo es mit lauten Beifallsbezeugungen empfangen wurde. Was brauchten die dummen Menschen auch hier heraufzukommen und zu tun, als seien sie hier oben die Herren. Es mußte ihnen gezeigt werden, wie sich die Sache eigentlich verhielt.

Wie war's doch früher so schön gewesen, als die schnaubenden, schwarzen Ungetüme noch nicht solche Scharen heraufbefördert hatten in die Berge. Da war einmal ein frisch-froher Geselle dahergezogen und dann noch einer, das hatte man sich gerne gefallen lassen und hatte im Frieden dabei das duftende, saftgrüne Gras gefuttert und danach in Ruhe wiedergekäut. Jetzt wälzten sie sich in dichten Massen heran und zertraten einem fast die duftenden Matten – wo war die behagliche Beschaulichkeit hin? Ja, früher war's viel, viel besser gewesen! Auch in der Kuhwelt gibt's eine »gute, alte Zeit!«

Friedel schritt stumm an Herrn von Röderns Seite: sie war ganz geknickt. Auf der Flucht vor einem Rind, sie, Friedel Polten, Papas Junge!

Der Papa und Werner waren stehen geblieben vorhin bei ihrer »Befreiung«.

Der Papa hatte gelacht: »Aha, Jungchen, den kürzeren gezogen, was? Ja, ja, so ein Rind!«

Und er lachte dröhnend.

»Der reine Kampf mit dem Drachen. Wie die Germania sahst du aus, Friedel, da oben auf deinem Felsen,« neckte Werner.

Eben war Friedel dabei, ihm ihre rosige Zungenspitze zu zeigen, doch sie besann sich mit einem Blick auf Herrn von Rödern.

Der hatte bis dahin noch gar nichts gesagt, jetzt meinte er: »Sei du mal ganz stille, Werner. Mancher ist schon mit einem Rindvieh zusammengeraten und hat sich weniger gut aus der Patsche gezogen als Fräulein Friedel.«

»Hat was für sich,« meinte Werner lachend und schritt mit Papa Polten weiter.

»Wirklich ein netter Mensch,« klang's wieder in Friedels dankbarem Gemüt, »hat gleich geholfen und lacht einen nicht aus wie die andern. Und wie nett er Fräulein Friedel gesagt hat. Wirklich ein netter Mensch! Ich finde ihn gar nicht mehr so sehr alt! So 'n guter Kamerad!«

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Ach, lassen Sie doch das dumme gnädige Fräulein, wir sind doch gute Kameraden, nicht? Sagen Sie Friedel, wollen Sie!«

»Darf ich?«

»Warum nicht? Max sagt auch Friedel, weshalb sollten Sie's nicht sagen?«

Er lachte belustigt.

»›Max‹ ist wohl ein sehr guter Kamerad?«

»Ist er auch, nur – sehen Sie, ich mag Sie eigentlich lieber.«

»Darf ich fragen, was mir diesen Vorzug verschafft?«

»Weshalb nicht? Der Max – ja, wie soll ich das sagen? – der Max war im Anfang so 'n bissel komisch; da hat er mir, wie die andern Mädels sagen, den Hof machen wollen und hat die Augen verdreht und so weiter, wie's die dummen Jungens eben machen. So was kann ich nun gar nicht ausstehen, sehen Sie; Papas Junge ist doch kein alberner Backfisch. Das hat Max erst nicht begriffen. Sie aber, und das gefällt mir so gut an Ihnen, Sie denken an so was gar nicht und –«

Sie hatte ihn angesehen, und ein Aufleuchten in seinen Augen machte sie stutzen. »Ja und deshalb – deshalb können wir so gute Kameraden sein und bleiben,« schloß sie, offenbar mit einer kleinen Anstrengung, denn sie war durch den leuchtenden Blick, den sie aufgefangen hatte, ein bißchen verwirrt geworden. Erst fuhr sie sich mit der Hand über das glühende Gesicht, dann streckte sie sie Klaus von Rödern hin, und schon hatte sie ihre freimütige Unbefangenheit wiedergefunden.

»Wollen wir?« fragte sie freundlich, schelmisch.

»Das wollen wir!«

Es klang feierlich wie ein Schwur. Er hielt ihre Hand gefaßt und sein Blick tauchte in die reinen, klaren, unschuldsvollen Mädchenaugen, die ihm ruhig und unbefangen freundlich standhielten.

Friedels Wahrheitsliebe und Gerechtigkeitssinn drängten sie nun, zu sagen: »In Ihrem Alter freilich wird das auch leichter sein – ich meine, nicht an solchen Unsinn, wie Hofmachen ist, zu denken,« setzte sie erklärend auf seinen erstaunt fragenden Blick hinzu.

Wie ein Schatten flog's über sein Gesicht.

»In meinem Alter? Halten Sie mich denn für einen Greis?«

»Behüte, Sie haben ja noch kein weißes Härchen.«

Nun mußte er schallend hinauslachen.

Das kränkte Friedel. Herausfordernd sagte sie: »Na, älter als Max sind Sie immerhin, das müssen Sie doch zugeben.«

»Tu' ich auch, gerne. Ich bin genau so alt wie Werner, ich zähle vierunddreißig Jahre. Frau Lisa erschien er noch nicht zu alt zum Heiraten!« Herr von Rödern war offenbar etwas gereizt. Friedel verstand nicht weshalb.

»Heiraten? Wer redet denn von heiraten? Sie wollen doch nicht heiraten? Die Lisa hat Werner eben lieb gehabt, und da fragt man doch nicht nach dem Alter und –«

»Fragt man nicht danach? Würden Sie auch nicht danach fragen?«

Klaus von Rödern erfaßte Friedels Hand mit festem Griff. Ihr wurde ganz angst.

»Ich? Wer redet denn von mir? Ich heirate ja nicht, das wissen Sie doch.« Friedel war sehr rot und heiß geworden und sagte gleich danach fast weinerlich: »Au, Sie tun mir weh, lassen Sie doch meine Hand los!«

Schnell besann er sich und gab, etwas gezwungen lachend, ihre Hand frei.

»Sehen Sie, das kommt davon, wenn man dem Menschen seinen Geburtsschein so vor Augen hält; das wirkt auf manchen, wie das rote Tuch auf das junge Rind vorhin.«

Friedel lachte.

»Werd' mich ein andermal hüten. Haben Sie aber zugefaßt! Sehen Sie mal, meine Hand ist noch ganz rot!«

»Armes Händchen!«

Er wollte aufs neue danach haschen. Friedel litt das nicht und spottete: »Nettes Händchen! So 'ne derbe, braune Faust!«

Sie tanzte vor ihm herum wie ein neckischer Kobold.

»Ätsch, und Sie sind doch doppelt so alt als ich! Siebzehn und siebzehn gibt vierunddreißig! Ätsch, Sie Methusalem!«

Und fort war sie.

In weiten Sätzen schwang sie sich an ihrem Bergstock dahin, er immer nach, und wie die tolle Jagd kamen sie auf Scheidegg an, Friedel just Lisa in die Arme fallend, die den Ihren ein Streckchen entgegengegangen war.

»Lisa, Lisa, Herzenslisa!«

»Friedel, Friedel, weshalb diese Hast?«

»Ja siehst du, er« – mit einem bezeichnenden Seitenblick auf ihren Verfolger – »will mich kriegen, weil ich gesagt habe, er sei doppelt so alt als ich und ein Methusalem!«

»Aber das sagt man auch nicht, Kind!«

»Weshalb nicht, wenn's doch wahr ist?«

»Friedel!«

»Lisa?«

»Man sagt eben nicht immer alles, was wahr ist.«

»Nicht? Pfui!«

Und Friedel sauste weiter.

»Verzeihen Sie, sie ist wirklich noch ein Kind!«

Lisa sah Herrn von Rödern fast bittend in die Augen.

Der faßte ihre Hand und führte sie warm an die Lippen.

»Lassen Sie gut sein, Frau Lisa, wir sind die besten Freunde!«

Am Nachmittag waren dichte Nebel aufgestiegen, welche die ganze Bergwelt einhüllten.

Die kleine Gesellschaft hatte sich so gefreut, einen ganzen Nachmittag Seite an Seite mit der Jungfrau zu verleben, einmal nach Herzenslust die Bekanntschaft der hohen Dame zu machen. Nun hatte sie sich, launisch wie ihre Mitschwestern, in undurchdringliche Schleier gehüllt. Was lag ihr an den neugierigen Kribbelwesen da unten.

»Für heute ist nichts mehr zu hoffen, sagt mir der Wirt,« erklärte Papa Polten, der mit dem Manne eben unterhandelte. »Wie wär's, wenn wir übernachteten und sehen, ob uns das Glück morgen hold ist?«

»Bravo!«

»Wollen wir!«

»Kapitale Idee, Vaterherz, verdienst 'nen Schmatz dafür,« und Friedel ließ dem Worte die Tat folgen.

So wär's nun beschlossene Sache, man blieb über Nacht.

Papa Polten saß im Rauchzimmer in Dampfwolken gehüllt, dichter als der Nebel draußen, und hatte eine Zeitung vor sich – ihm war wohl.

Das Ehepaar hatte einen kleinen Spaziergang unternommen, und auch Herr von Rödern und Friedel schlenderten langsam den Weg nach dem Eigergletscher zu.

Die Nebel schoben sich, drängten sich, ballten sich und verflatterten, um sich wieder zu ballen und wieder zu zerreißen, eine Kette von phantastischen, übernatürlich riesengroßen Gebilden.

Einmal blitzte eine grüne Matte durch, dann ein dunkler Fels, ein Stückchen Gletscher blaute auf und oben irgend eine Schneespitze, und dann war alles wieder Grau in Grau. Etwas Geheimnisvolles, Märchenhaftes lag in der Luft, die Ahnung des Gigantischen, das sich hinter dem schiebenden, drängenden Grau barg.

Der Pfad, den Friedel und ihr Begleiter wandelten, der zuerst an sanften Berglehnen hinführte, wurde schwieriger, zerklüfteter, Felsblöcke säumten ihn, hemmten ihn, zwangen ihn zu jähen, unvermittelten Windungen.

Auf solch einen Felsblock, unter dem die Nebel brauten und über dem sie sich ballten, der wie eine einsame Insel hinausragte in das graue Meer, schwang sich nun Friedel.

»Wissen Sie was, Herr von Rödern? Gehen Sie doch mal, sich auch so ein Isolierplätzchen suchen, 's ist Einsiedlerwetter, mein' ich. Da muß man mal ein bissel vor sich hin denken können, und das besorgt man am besten allein.«

Er mußte hell auflachen. So unverblümt fortgeschickt zu werden, das war ihm noch nicht vorgekommen.

»Wie gnädiges Fräulein befehlen.«

Und fort war er, die Nebel hatten ihn verschlungen.

»Gnädiges Fräulein befehlen gar nicht, Friedel bittet!« rief ihm Friedel nach.

Anscheinend mußte er es wohl nicht mehr gehört haben, denn er antwortete nicht mehr.

Friedel thronte oben auf ihrem Felsblock und starrte in das Grau. Sie hatte sich 's so hübsch gedacht, allein zu sein und mit der Phantasie alle diese Nebelbildungen zu beleben. Und nun vermißte sie plötzlich ihren Gefährten, und statt an die Fabelwesen, die da in Nebelbällen auf sie eindrangen, zu denken, dachte sie an ihn. Wie komisch das war.

Sie mußte über sich selbst lachen.

»Er ist aber auch wirklich nett, viel netter als alle andern, und ich freue mich, daß er in unsre Nachbarschaft kommt. Da können wir doch immer gute Kameraden bleiben!«

Sie hatte es laut vor sich hin gesagt und war dabei von ihrem Felsblock heruntergeglitten. Und nun ging sie den Pfad weiter und spähte rechts und links nach ihm aus.

Richtig, dort ragte eine schwarze Gestalt aus dem Nebel, das mußte er sein. Sie schlich leise herzu – er war's. Wie sie vorhin dort hinten, so thronte er hier auf einem Felsblock.

»Herr von Rödern!«

Er mußte sie nicht hören. Er saß wie eine Bildsäule und starrte in den Nebel.

Sie kletterte hinter ihm hinauf und setzte sich an seine Seite. Er hatte nur leicht den Kopf gewendet, ihr eine regungslose Miene gezeigt und hatte dann wieder vor sich hingestarrt.

»Herr von Rödern!«

»Ich sinne!« Er sagte es mit Grabesstimme.

»Störe ich Sie?«

Es klang fast demütig, doch schelmisch zugleich.

Er hob die Hand.

»Darf eine solche Menschenstimme hier,
Wo Geisterfülle mich umgab, ertönen?«

deklamierte er mit klingendem Pathos.

»Ach, lassen Sie das! Wissen Sie, 's ist doch gemütlicher zu zweien. Mir ist vorhin da hinten auf einmal ganz einsam geworden, und da bin ich Ihnen nachgelaufen.«

Herr von Rödern sprang auf, schwang den Hut und stieß einen Juchzer aus, der hundertfältig von den Felswänden wiedertönte. Friedel hatte es ihm nachgemacht mit ihrer hellen Stimme; sie jauchzten um die Wette: »Juhu! Juhu!«

Und dann liefen sie weiter, den Pfad entlang. An einer Wegbiegung stießen sie auf ein Paar, das dort saß und wie sie vorhin in den Nebel starrte.

»Aha, da sitzen auch zwei so wie wir!« flüsterte Friedel.

Was war's, das sie gesagt hatte? Weshalb sie Herr von Rödern bloß so sonderbar ansah? Ihr wurde plötzlich heiß, und sie stürmte weiter.

Bei dem Paar angekommen, stutzte sie: »Ah, Lisa und Werner!«

Lisa hob den Kopf. Man sah's den Augen an, wie sie träumten. Werners Stimme klang dumpf beschwörend: »Hebet euch von uns, wie könnt ihr uns stören!«

Ob das oder ein anderes Friedel in die Flucht schreckte, wie gejagt stob sie vorüber.

Vorwurfsvoll hob Lisa die Augen zu ihrem Manne.

»Nun hast du das Kind verscheucht; Werner, laß uns ihr nach!«

Und Werner erhob sich seufzend.

»Bist du zur Salzsäule geworden, Klaus?«

Derb schlug er dem Freund auf die Schulter.

Da wendete ihm der ein so strahlendes Gesicht zu, daß Werner ganz verdutzt zurückfuhr.

»Na nu, was gibt's? Hast du eine Vision?«

»Hab' ich, alter Freund, und was für eine!«

Und langsam gingen die drei hinter der flüchtigen Friedel drein.

Sie fanden sie erst wieder in der kleinen Höhle, die in das blaue Gletschereis hineingehauen war. Dort stand sie und starrte tiefsinnig die leuchtenden Wände an. Lisa legte den Arm um sie. »Friedelchen, woran denkst du?«

Friedel wandte ihr ein ganz merkwürdig verlegenes, unsicheres Gesicht zu. »Ich freu' mich bloß, Lisa, daß es hier so schön kühl ist, mir war so gräßlich heiß geworden in dem Nebel draußen. Ich hasse das Nebelwetter!«

Und den ganzen Abend durch blieb Friedel ein bißchen still. –

Sie saßen um einen runden Tisch im Eßsaal. Der Papa hatte sogar ein paar Flaschen Sekt kommen lassen.

Friedel saß neben ihm und hatte das Köpfchen an seinen Arm gelehnt.

»Müde, Jungchen?«

»Weiß nicht, Vaterherz.«

Klaus von Rödern dagegen war übersprudelnd munter. Er und Werner überboten sich in Tollheiten. Zuletzt brachte Klaus einen Toast aus auf Jungfrauen, junge Frauen und die Jungfrau, wobei er sich beständig verhaspelte und die drei rettungslos komisch durcheinander warf.

Selbst Friedel hatte ihre Müdigkeit oder was sie drückte, abgeschüttelt und lachte wieder ihr altes, tolles, ansteckendes Lachen. Und wie die Freude am höchsten gestiegen war, blies der Papa zum Rückzug, und alle fügten sich seiner besseren Einsicht.

Friedel schloß ihren Fensterladen samt dem Vorhang mit auffallendem Nachdruck.

»So 'n häßlicher Nebel!« sagte sie dabei, und etwas Feindseliges lag in der hellen Stimme.

Das Köpfchen auf dem Kissen, schlief sie bald ein.

Klaus von Rödern starrte aber noch lange hinaus in den Nebel. In seinen Blicken war nichts Feindseliges gegen die wogende, gärende graue Dunstmasse da draußen zu erkennen.

*

Friedel erwachte. Irgend etwas mußte sie aufgeweckt haben. Sie blinzelte verschlafen mit den Augen. Etwas Helles huschte ihr über die Nasenspitze und fing sich drüben an der Wand.

Was war das?

Sie richtete sich auf. Vom Fenster kam es her, sie mußte den Laden doch nicht so ganz fest geschlossen haben. Richtig, ein silberner Streif spann sich von einem Spalt her quer durchs Zimmer hin bis drüben an die dunkle Wand.

Konnte das ein Mondstrahl sein?

Friedel war mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett und am Fenster. Sie stieß den Laden auf.

Ein lautes, entzücktes »Oh« kam von ihren Lippen.

Voll stand der Mond am Himmel, die Nebel waren verflogen.

Und da lag sie in unvergleichlicher Majestät im Mondenlichte, die Jungfrau, hehrer, gewaltiger, überwältigender noch als in der Pracht der Sonne, denn sie umgab der geheimnisvolle Zauber der Mondnacht.

Silbern erglänzten Schneehorn und Silberhorn, nachtdunkel türmten sich die Felsen, starrten die Tiefen, und vom ewigen Firn flimmerte und leuchtete und blitzte es, wo die Strahlen des Mondes sich fingen, und die Gletscherflächen dehnten sich endlos, endlos in toter, stiller Weiße.

Friedel hatte mit großen, gierigen Augen all die Zauberpracht in sich aufgenommen. Mechanisch, fast ohne zu wissen, was sie tat, fuhr sie in ihre Kleider, immer die Blicke auf das Unsagbare, Große da draußen geheftet.

Ebenso mechanisch, ebenso ohne zu denken, schwang sie sich auf ihr Fensterbrett – ihr Zimmer lag im Erdgeschoß – und ließ sich nach außen gleiten.

Rechts hob sich das Lauberhorn, und deutlich sah man im hellen Mondlicht den Schlängelpfad, der zur Höhe führte, sich durch die grünen Matten winden.

»Dort hinauf,« dachte Friedel, ohne sich zu besinnen, »dort hinauf, der Ausblick von dort muß wunderbar sein.«

Und kaum gedacht, flog sie schon den Pfad dahin.

Noch umfing die Stille der Nacht die ganze Natur. Kein Lufthauch regte sich, alles schlief. Im Osten zeigte sich am mattgrauen Himmel ein lichterer Streif; dort wollte der Tag heraufdämmern.

Noch aber war er nicht da, noch behauptete der Mond sein Recht.

Er weidete sich selbst an der Pracht, die er bestrahlte; immer stärker ließ er die Glitzerwelt unter sich aufleuchten, und es war, als habe er Gletscher und Firn mit seinen Strahlen so durchtränkt, daß sie nun selbsttätig flimmerten und blitzten und funkelten. Ein Meer von Licht, ein Meer von Schönheit und Wunderpracht.

Friedel war schon beinahe auf der Spitze angelangt, sie flog nur so dahin. Sie hielt den trunkenen Blick immerzu auf die stille, große Eiskönigin da drüben geheftet, und sie merkte es nicht, daß ihr jemand folgte, der seine Aufmerksamkeit redlich teilte zwischen den mondbeglänzten Bergriesen und dem winzigen Menschenkinde, das flüchtig wie der Mondstrahl selber vor ihm her glitt.

Lange, lange vor Friedel hatte Klaus das Wunder draußen bemerkt. Dann hatte er Friedels Fenster, unweit von dem seinen, sich öffnen hören, und er wußte nun genau, was folgen würde.

Was er erwartet hatte, geschah. Friedel schwang sich aus ihrem Fenster und flog die Höhe hinan. Er folgte, immer in gemessener Entfernung. Stören wollte er sie nicht, nur behüten vor irgend etwas, das kommen könnte.

Und nun waren sie oben, die beiden, Friedel immer fünfzig Meter voraus. Sie saß auf der obersten Kuppe und er barg sich hinter den naheliegenden Felsblöcken.

Inzwischen war der Streif im Osten heller geworden, allmählich begann der Mond zu verbleichen.

Noch küßte er die Eisfelder mit dem letzten, durstigen Kuß, noch liebkoste er mit seinem Strahl den Gipfel der Hehren, Gewaltigen, dann war seine Zeit um; er mußte einer Mächtigeren das Feld räumen.

Seine Strahlen verblaßten mehr und mehr.

Jetzt lagerte es wie Dämmerschein über der Welt, der Himmel lichtete sich merklich und jetzt – jetzt glomm's rosig auf da hinten im Osten. Ein zart rötlicher Schein flog über die weißen Gipfel – der Tag nahte, das Leben. Zerstoben war der Märchenzauber der Mondnacht; noch eine kleine Weile, und sie stieg herauf, die Licht- und Lebenspenderin, die Sonne!

Friedel hielt den strahlenden Blick fest dahin gerichtet, von wo sie auftauchen mußte. Jetzt blitzte es feurig auf, jetzt schoß der erste Sonnenpfeil über den Gipfel der weißen Riesin hin. Und nun tauchten neue und neue auf, ein blendendes Schauspiel; Friedel mußte die Augen schließen, und auch dann noch sah sie die Sonnenpfeile um sich aufzucken, flammen und leuchten.

Tief erblaßt stand der Mond am Horizont; noch ein mattes Aufleuchten, und er räumte dem Strahlengestirne, das nun siegreich heraufzog, das Feld.

Noch eine Weile verharrte Friedel auf ihrem Posten. Erst als die Sonne voll heraus war, erhob sie sich. Tief unter ihr im Lauterbrunnertal brauten noch die Morgennebel, so leicht, so duftig, als wären's Schleier, die Elfen bei ihrem nächtlichen Reigen vergaßen. Jetzt drang der Tag mit Sonne und Licht auch hier ein und jagte die Gebilde in alle Weiten. Deutlich erkennbar bis in die kleinste Einzelheit breitete sich das Tal vor Friedels bewundernden Blicken.

Dort lagerte der Männlichen breit und dunkel.

Hatte nicht der Herr mit dem Edelweißstrauß gestern einer ihn fragenden Dame gesagt, er habe die Blumen vom Männlichen?

»Wenn ich mir auch welche holen ginge? In der Schweiz sein und kein Edelweiß pflücken, das war ja beinahe wie nach Rom reisen und die Peterskirche nicht sehen.«

So schoß es Friedel durch den Kopf, und fort war sie auch schon auf dem geradesten Wege hinunter über die Matten dort, wo sie beim Aufstieg den Pfad abzweigen sah, der laut Weiser nach dem Männlichen führte.

Klaus von Rödern als Schutzengel hatte über dem Großen, was es zu bestaunen gab, seine Rolle fast ganz vergessen. Erst bei Friedels beschleunigtem Abstieg erinnerte er sich deren.

»Himmel, was gibt's nun wieder?« raunte er schmunzelnd vor sich hin und setzte sich in Trab hinter der flüchtigen Gestalt her, doch von ihr ungesehen.

Friedel flog den Pfad dahin und war bald seinen Blicken entschwunden.

Er beeilte sich, aber wenn er eben eine Wegbiegung umschritt, verschwand just Friedel um die nächste.

Sie stürmte dahin, als ob sie die Steigung gar nicht fühle. Klaus von Rödern mußte alle Kraft zusammennehmen, um ihre Spur nicht ganz zu verlieren.

Und richtig. Eine ziemlich weit zu überblickende Wegstrecke lag vor ihm, und Friedel war nirgends zu erspähen; wenn sie Flügel hätte, so rasch konnte sie den Weg nicht zurückgelegt haben – sie mußte also abgezweigt sein.

Hier in den Bergen, des Wegs unkundig, vom Pfade abzweigen, hieß, sich in Gefahr begeben.

Er wurde ganz blaß und hielt den Atem an.

Großer Gott, wo mochte sie hin sein? Zur Rechten? Zur Linken?

Angstvoll stand er und strengte vergeblich die Augen an, eine Spur erspähen zu können.

Nichts! Nichts!

Es war, als ob der Boden Friedel verschlungen habe.

Oder der Abgrund? Oder –

Gepreßt atmete er.

»Barmherziger Himmel –«

Auf gut Glück hielt er sich links, dem Absturz nach dem Lauterbrunnertal hin zu.

Dort ragte eine besonders schroffe, wild zerklüftete Felsengruppe auf. Von dort konnte er sicher einen Überblick gewinnen, und wenn er da Friedel nicht entdecken konnte, mußte er's eben mit der entgegengesetzten Seite versuchen.

Atemlos klomm er die Felsen hinan, und da sah er mit Schrecken, daß die andre Seite in jähem Absturz zur Tiefe fiel.

Und just über diesem Absturz auf schwindelnd jähem, winzig schmalem Pfad, etwa fünf Meter unter ihm, kniete sie, die er suchte, kniete Friedel. Mit einer Hand hielt sie sich an einer vorspringenden Felskante, halben Leibs war sie über den gräßlichen Abgrund gebeugt, und mit der andern Hand griff sie nach unten, nach etwas, das er nicht sehen konnte.

Alles Blut strömte ihm zum Herzen. Was sollte er tun? Sie anrufen, hieß sie erschrecken, und sie erschrecken konnte gleichbedeutend sein mit sicherem Tod.

Selbst wie zu Fels erstarrt, stand er dort oben auf seinem Felsblock und wartete.

Jetzt kam Leben in die knieende Gestalt. Friedel richtete sich auf.

»Aha, euch hab' ich!« hörte er ihre helle Stimme triumphierend rufen, und zugleich sah er sie einen Busch Edelweiß schwingen.

Sie stand und sah sich um.

»Wenn sie das doch nicht tun wollte,« fuhr es ihm durch den Kopf. »Nun wird sie sich erst der Gefahr bewußt, und das nimmt ihr die Kraft.«

Und mit der Schnelle des Gedankens, fast noch ehe er ihn ausdachte, so geschah's.

Wie Friedel sich umschaute und über sich sah, da packte sie's mit jäher Angst: Wie kommst du zurück?

Wie eine Traumwandlerin war sie vorwärts gestürzt, immer nur das eine vor Augen, Edelweiß zu pflücken. Jubelnd hatte sie den Fund begrüßt und sich keinen Augenblick gefragt, ob es rätlich sei, sich da hinunter zu wagen.

Sie war im Umsehen drunten und hatte gepflückt, und nun?

»Friedel, sei kein alter Banghase,« hörte Klaus von Rödern sie mit heller Stimme sagen. »Denk dran, daß du Papas Junge bist!«

Er sah sie ein paar Schritte aufwärts machen – sorgfältig hielt er sich noch immer verborgen – dann sah er, wie sie schwankte und sich an den Fels zur Seite lehnte. Er sah deutlich, daß sie die Augen geschlossen hatte.

Jetzt hielt es ihn nicht länger, zufassen war nun unter allen Umständen das einzig Richtige. Mit ein paar lautlosen Schritten stand er an ihrer Seite und legte den Arm um sie, ehe sie sich rühren konnte.

»So,« sagte er leise, aber mit aufmunternder Stimme, »noch zwei Schritte, und wir sind oben.«

Erschrocken war sie gar nicht bei seinem Nahen, hatte sich auch nicht gesträubt, sondern war ihm stillschweigend gefolgt wie ein gutes, gehorsames Kind.

Nebeneinander hatten sie nicht Platz, der Pfad war zu schmal. Er ging rückwärts und hielt die Arme nach ihr ausgestreckt, zwischen denen gestützt sie sich Schritt für Schritt vorwärts tastete.

Zwei angstvolle stumme Minuten, und dann waren sie oben.

Sie blieb aufatmend stehen, strich sich über das blasse Gesicht und ließ das Köpfchen hängen. Den eroberten Edelweißbusch hielt sie krampfhaft gefaßt.

Er betrachtete sie lächelnd – er war noch sehr blaß – und sagte kein Wort.

»Herr von Rödern, ich – wie kommen Sie eigentlich hierher?«

Sie warf ihm einen scheuen Blick zu.

»Vom Lauberhorn!«

»Ich auch.«

Die Stimme klang sehr verwundert.

»Ich habe einen Morgenspaziergang gemacht, erst bei Mondenschein –«

»Ich ja auch!«

»Und dann habe ich die Sonne aufgehen sehen und –«

»War's nicht wunderbar?« unterbrach ihn Friedel strahlend.

»Und dann sah ich ein Lichtelfchen vor mir her huschen und folgte seiner Spur – und –«

»Was, Sie haben mich ausspioniert? Wissen Sie, wie ich das finde?«

Friedels Augen blitzten ihn an, und ihre Mundwinkel senkten sich fast verächtlich.

Er ließ sich nicht irre machen und fuhr mit leichtem Ton fort.

»Und kam eben recht, um zu sehen, wie ein tollkühnes Menschenkind sich töricht in Gefahr begeben hatte, in wirkliche, große Gefahr. Und ein gütiges Geschick gewährte mir, daß ich das tollkühne Menschenkind herausführen durfte aus der Gefahr, ins Leben zurück, in die Sonne, den Seinen zu, denen es Leben, Licht und Sonne ist und die –«

»Noch zwei Schritte, dann sind wir außer Gefahr.«

Friedels Köpfchen war immer tiefer gesunken.

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Ich – ich danke, aber ich – ich schäme mich so sehr.«

»Schämen sich?«

»Ja, weil Sie mich immer finden müssen, wenn ich gerade eine Dummheit gemacht habe – erst am Steg damals und dann bei den Kühen und jetzt heute. Ich schäme mich und ich ärgere mich und – ich bin kein Banghase und –« sie sprudelte es immer hastiger hervor, man hörte der Stimme verhaltenes Weinen an.

»Mein gnädiges Fräulein, sagte ich nicht, ich habe ein tollkühnes Menschenkind aus einer großen Gefahr retten dürfen? Aus einer wirklichen, großen Gefahr!« wiederholte er bedeutsam.

Sie sah ihn ungewiß an.

Und dann fiel der Edelweißbusch zu Boden. Sie streckte ihm beide Hände hin, und die hellen Tränen flossen ihr nun über das braune Gesicht.

»Ich danke Ihnen, o, ich danke Ihnen!«

Er sagte nichts, aber er führte erst die eine kleine Hand und dann die andre zum Munde, und diesmal hinderte sie ihn nicht.

Dann gab er sie frei, bückte sich und hob den Edelweißbusch vom Boden.

»Hier die Siegestrophäe!« rief er lustig.

Sie fuhr sich mit dem Busch übers Gesicht, um, wie sie meinte, verstohlen die Tränen wegzuwischen.

»Den kriegt die Lisa, oder – wollen Sie ihn vielleicht, Sie Ritter ohne Furcht und Tadel?«

Sie hielt ihm den Busch entgegen, und schon blitzte der Schelm aus den feuchten Augen wieder auf.

»Nein, den behalten Sie zum ewigen Angedenken,« entschied er dann gewichtig. »Ich erbitte mir ein andres zum Lohne.«

»Was Sie wollen,« rief sie lustig, »alles, was Sie wollen!«

»Seien Sie vorsichtig,« mahnte er bedeutsam, »ich könnte –«

»Ach was, ich sage Ihnen, Sie können gerne alles haben; meine Flinte, den Hektor, den Sultan, selbst die Lady, wenn's der Papa erlaubt. Oder, warten Sie mal, wollten Sie mein Rad? Ach nein, 's ist ja ein Damenrad! Aber Bücher hab' ich und –«

Er lachte hell auf.

»Das behalten Sie nur alles hübsch selber. Diesmal möchte ich für mich nur ein Versprechen und zwar, daß Sie nie, nie wieder allein in die Berge laufen und sich in Gefahr begeben.«

Er hielt ihr die Hand hin.

»Weiter nichts?«

Laut lachend schlug Friedel in die gebotene Hand.

»Topp, es gilt!«

»Ernst?«

»Blutiger! Wo werd' ich nicht!«

Friedels Gesicht war unendlich ernst und wichtig, und sie schüttelte ihm die Hand so lange und so kräftig, daß sie ihm den Arm beinahe ausrenkte.

»Auf Manneswort!« versicherte sie dabei noch einmal eindringlich.

»Und jetzt heim, ich habe gräßlichen Hunger!« Damit flog sie in weiten Sätzen davon, so daß er ihr kaum folgen konnte.

Dann blieb sie plötzlich stehen.

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Sie petzen aber nicht, was?«

Er sah sie verständnislos an.

»Ich meine: klatschen, aus der Schule schwatzen, mich verraten! Waren Sie denn nicht auch ein Schuljunge?«

»Ich? Natürlich war ich ein Schuljunge!«

Er lächelte fein.

In der Erregung überhörte sie das bedeutsam unterstrichene Ich ganz.

»Na also! Weshalb kennen Sie dann den Ausdruck ›petzen‹ nicht? Oder tun Sie nur so? Also ich wollte sagen, Sie verklatschen mich nicht, was?«

»Kein Sterbenswort soll über meine Lippen, verlassen Sie sich drauf. Ich bin stumm wie das Grab.«

Vergnügt nickte sie.

»Na, dann los!«

Kurz vor dem Hotel blieb sie stehen. »Wieviel Uhr ist's wohl?«

»Etwas nach Sechs.«

»So früh, ja aber –«

»Etwas nach Drei sind wir ausgerückt.«

Sie sah ihn von der Seite an. »Wir?«

Er verbeugte sich.

»Also ganz von Anfang an?« fragte sie, und nun lief es ihr doch wieder rot und ärgerlich übers Gesicht; sie sagte aber nichts weiter.

Vor der Haustür blieb sie stehen. Es schienen erst einzelne Gäste munter zu sein. Im Hause war's noch sehr still, und der Platz vor dem Hotel fast leer.

»O weh, ich muß wohl wieder zum Fenster hinein,« sagte sie auf einmal. »Ich habe ja gestern abend die Tür von innen verschlossen.«

Mit zwei Sätzen war sie an ihrem Fenster und machte eben Miene, sich hinaufzuschwingen, als er sie am Arm erwischte und energisch festhielt.

»So lassen Sie mich doch, ich bin gleich oben,« sagte sie ärgerlich und wollte sich losmachen.

Er aber hielt fest. Ohne ein Wort zu sagen, wendete er sich und rief einem eben auftauchenden Kellner zu: »Heda, Sie, Jean oder wie Sie heißen, kommen Sie mal flink daher.«

Der Angerufene eilte herzu.

»Steigen Sie doch einmal gefälligst hier in das Fenster und schließen Sie die Zimmertür von innen auf, verstehen Sie?«

Der Jüngling tat, wie ihm befohlen wurde, und Friedel sah ihm förmlich neidisch nach.

»So 'n Umstand,« sagte sie ärgerlich, »ich wär' gleich oben gewesen.«

Klaus von Rödern hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken.

»Wie kann man nur so ein langweiliger Peter –«

Jetzt lachte er hell hinaus.

Friedel kam zu sich, sie wurde sehr rot, sehr heiß, warf das Köpfchen zurück und schritt stolz und stumm an ihm vorüber durch die Tür, die er mit einem »Gnädiges Fräulein gestatten!« für sie aufhielt.

In ihrem Zimmer warf sie sich noch einmal aufs Bett, sie war doch recht müde von dem frühen Gang. Und gleich schlief sie wieder wie ein Murmeltier, bis Lisa an ihre Tür trommelte: »Faulpelz, willst du wohl aufstehen? wir sind schon alle beim Frühstück!«

Wie der Wind war sie nun fertig und erschien bei den andern, wo sie mit Hallo begrüßt wurde.

»Murmeltier!«

»Schlafratze!«

»Den schönen Morgen so zu verschlafen!«

Sie warf einen Blick auf Klaus von Rödern, der stumm dabei saß.

»Haben Sie auch verschlafen, Herr von Rödern?« erkundigte sie sich neckend.

»Ja, und geträumt von einem Mondscheinspaziergang und dem Sonnenaufgang und von einer kleinen Elfe, die Edelweiß pflü–«

»Nein, wie abscheulich, und Sie wollten doch nichts sagen!« rief Friedel vorwurfsvoll.

»Hab' ich auch nicht.«

»Aber doch angedeutet! Na, ich hätt's ja selber gesagt am Ende.«

»Darf ich fragen, was das heißen soll?« fragte Lisa.

»Da haben Sie's!« sagte Friedel in komischem Zorn. »Die Männer sind doch schreckliche alte Waschweiber!«

Und nun berichtete Friedel, erst enthusiastisch, dann stockend, je näher sie dem verhängnisvollen Edelweiß kam.

»Und da – na ja, da hab' ich wohl 'n bißchen Schwindel gekriegt, 's war mir ganz dumm im Kopf, und dann war er –« mit einem bezeichnenden Wink nach Klaus von Rödern – »auf einmal da und dann war's gut! Und« – sie besann sich einen Augenblick und sah dann dem Vater voll und tief in die Augen – »ja, Vaterherz, ich glaub', er hat dir deinen Jungen gerettet. Der alberne Bengel säße wohl noch jetzt dort, wenn Herr von Rödern nicht gekommen wäre, oder –«

Dies »Oder« flößte ihr doch einen kleinen Schauer ein, man sah's dem beweglichen Gesicht an.

Lisa und der Papa waren ganz blaß geworden; beide streckten wortlos Klaus von Rödern die Hand hin.

Der schüttelte sie herzlich und sagte dann: »Das gnädige Fräulein haben mir versprochen, nie wieder –«

»Ja, das hab' ich,« unterbrach ihn Friedel, »ich tue es nie wieder, damit basta! Sorg dich nicht, Väterchen! Dein Junge wird in dieser Beziehung von jetzt an lammfromm sein, wie ein bleichsüchtiges Mädel!«

Damit schnitt sie flink dem Papa das Wort ab, in dessen Gesicht ganze Bände von Ermahnungen und Beschwörungen zu lesen standen. Schnell war sie aufgesprungen, hatte die Arme dem Papa um den Hals gelegt und schmiegte ihr Gesicht zärtlich an seinen Bart.

»Jungchen, Jungchen!« war alles, was der Papa sagen konnte.

*

Der Tag war wundervoll. Goldene Sonnenpracht übergoß alle die weißen Spitzen mit blendendem Glanz. Das Lawinenschauspiel begann mit erneuerter Wucht, man konnte einen Einblick in die Bergwelt tun, wie er dem Touristen nur selten gegönnt ist.

Der Papa, Werner und Lisa hatten auch noch das Lauberhorn bestiegen. Klaus von Rödern und Friedel waren am Platz vor dem Hotel sitzen geblieben.

Eben kam der Zug von Lauterbrunnen an und lud Scharen von Menschen da oben in der Bergwelt ab.

Alsbald wälzten sich diese in dichten Zügen, unabsehbar wie der Heerwurm, teils zum Lauberhorn, teils zum Eigergletscher. Andre ließen sich unweit der Station oder des Hotels nieder, schrieen nach Getränken, versenkten die Nasen in volle Gläser und taten ihrer Pflicht als Touristen sitzend Genüge.

»Puh,« keuchte ein dicker, fetter Herr in Friedels Nähe und wischte sich mit dem roten Tuch über das rote, schweißtriefende Gesicht. »Sollte mir grad' fehlen, da auch noch 'rumzuklettern. Mir gefallen die Berge bloß von unten. Ist, weiß der Himmel, schon genug Anstrengung, daß man sich in dem keuchenden Dampfkasten da 'raufschleppen läßt. Meinethalben könnte die Welt als Bügelbrett erschaffen sein.«

»Barbar!« flötete eine schmachtende Damenstimme, »haben Sie denn gar kein Gefühl für das Hohe, Erhabene?«

»Grade, meine Gnädigste. Just drum will ich's von unten ansehen. Da ist's noch höher und noch erhabener!«

Und der Herr lachte so fett und so dick wie er selber war. Es klang aber so gemütlich, daß Friedel heimlich mitlachen mußte, was der Dicke zum Unglück bemerkte; fröhlich und schmunzelnd hielt er ihr das Glas entgegen und trank ihr zu.

Klaus von Rödern hatte sich unwillkürlich halb erhoben. Friedel geriet dadurch einigermaßen in Verlegenheit.

Da krähte aber auch schon der Dicke von drüben wieder: »Auf Ihr Wohl, mein Herr, und auf dasjenige Ihrer Fräulein Braut.«

Klaus von Rödern erhob sich vollends; es war ihm sichtlich sehr unangenehm. »Darf ich bitten, mein gnädiges Fräulein?« sagte er.

Auch Friedel erhob sich.

»Ja, aber –«

Der Widerspruch erstarb ihr im Munde. Klaus von Rödern stand so entsetzlich ernst da und bedeutete ihr mit der Hand, ihm zu folgen.

»Sind die aber ungemütlich, au!« hörte man den Dicken noch sagen.

Es klang so drollig, daß Friedel jetzt wieder lachen mußte. Stumm ging Klaus von Rödern an ihrer Seite. Ob sie gar nicht verstanden hatte, was der Mann sagte?

Sie gingen einige Schritte, Friedel sah ihren Begleiter ein bißchen scheu von der Seite her an.

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Wen meinte der Mann eigentlich? Sie?«

»Gewiß, und –«

»Doch nicht mich? Ha, ha, ha, ha – ha, ha, ha, ha!« –

Sie wollte sich ausschütten vor Lachen.

Er ging sehr ernst nebenher.

»Verzeihen Sie, wenn ich nicht einstimme,« sagte er sehr frostig, »ich verstehe den Anlaß zu dieser Heiterkeit nicht.« Er war offenbar schwer gereizt.

»Aber – es ist doch zu komisch – ha, ha, ha, ha – gerade uns beide – uns beide gerade – ha, ha, ha, ha!«

Friedel konnte nicht aufhören zu lachen; Klaus wurde immer gereizter.

Ein erneutes Lachen Friedels unterbrach er mit einem fast barschen: »Dürfte ich bitten, mir zu erklären, was dabei so komisch wirkt?«

»Wir beide – wir beide wollen ja gar nicht heiraten!«

»Ach so!«

Ein förmlich erleichtertes Aufatmen ging durch dieses »Ach so«, und dann lächelte Klaus von Rödern verschmitzt vor sich hin und warf Friedel einen Blick zu, der sie in einer erneuten Lachsalve plötzlich stocken ließ.

Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sah sich dann um – es mußte auf einmal gräßlich schwül geworden sein.

»Übrigens, mein gnädiges Fräulein, möchte ich Ihnen doch den Rat geben, ein andermal etwas vorsichtiger zu sein. Man kann da unter Umständen allerlei zu hören bekommen, was nicht so – na, wie soll ich sagen – so komisch ist, wie das heute.«

»Ja, wenn ich nun aber lachen muß –«

»Man darf eben nicht immer lachen müssen.«

Friedel sah ihn einen Augenblick starr an.

»Schulmeister!« rief sie dann laut und neckend und war davongeflogen, ehe er sich besinnen konnte, ob das wirklich ihre rosige Zungenspitze gewesen war oder nicht, die er gesehen hatte.

In diesem Augenblick kamen eben die andern von ihrem kleinen Ausflug zurück.

Lisa erklärte seufzend, die Menschen verdürben einem alles.

Friedel hängte sich an ihren Arm.

»Sag ich auch, Lisa, nicht mal lachen darf man mehr, wie man will!« Und sie warf einen herausfordernden Blick auf Herrn von Rödern.

Verständnislos sah Lisa sie an.

»Ich meine das Menschengewimmel hier in dieser Bergeinsamkeit,« sagte die ältere Schwester erklärend. »Kommt's einem nicht wie Entweihung vor? Hier die ewig stummen, stillen, mächtigen Riesen und da die plappernden, lärmenden, zappelnden Ameisen. Nur mit wenigen, und mit den liebsten Menschen allein sollte man das genießen können! Das jämmerliche Menschengetriebe paßt nicht Seite an Seite mit dieser gewaltigen Natur.«

»Und doch ist der Mensch die Krone der Schöpfung!« versetzte Klaus von Rödern.

»Hier nicht« – Lisa war fast ungeduldig – »hier nicht, Herr von Rödern. Wenigstens nicht so im überwältigenden Pluralis,« fügte sie schelmisch und nach kurzem Sinnen hinzu.

»Du und ich allein, Lisa, was?« neckte Werner und legte den Arm um seine kleine Frau.

»Oder Väterchen und sein Junge!«

Und Friedel hing sich an des Vaters Arm.

»Alles liebt und paart sich, ich allein bleib' übrig!« deklamierte Klaus mit komischem Pathos.

»Geschieht Ihnen ganz recht, Sie – Krone der Schöpfung!« sagte Friedel trocken, und alle lachten, Friedel am tollsten.

»Sagt mal, ich bin ein bißchen unruhig plötzlich wegen meiner Geschäftsbriefe. Wir sind doch nun schon einen Tag länger geblieben. Wie wär's, wenn wir Grindelwald aufschöben und direkt heimgingen?« schlug dann Werner Horst vor.

Man stimmte ihm bei, nur Friedel versuchte den Widerstand.

»Sagt' ich's nicht vorhin, daß einem die Menschen alles verderben? Erst –« sie brummte etwas Unverständliches vor sich hin – »und nun auch noch Werner! Erbarmt euch – fehlt nur Tante Lenchen mit ihrem: das schickt sich nicht.«

»Sag mal, Jungchen, die Tante hat eigentlich sehr lange nicht geschrieben.«

»Möglich, Vaterherz, mir ist alle Zeitrechnung abhanden gekommen. Was ist der Kalender angesichts dieser tausendjährigen Dame da oben?«

Schelmisch wies Friedel nach der Jungfrau, riß dann plötzlich in komischer Zerknirschung das Hütchen vom Kopfe und schwang's nach ihr hin.

»Verzeihung, hohe Dame! Gewisse Leute vertragen's ja nicht, wenn man ihr Alter erwähnt. Ich weiß nicht, ob –«

Ein schelmisch herausfordernder Blick traf Klaus von Rödern, der fröhlich auflachte, und auch die andern stimmten ein. – – –

Man war wieder im Bären in Wilderswyl angelangt.

Es hatten sich wirklich sehr zahlreiche Briefe vorgefunden, die alle gelesen und beantwortet sein wollten.

Nachdem sich alle etwas erfrischt hatten auf ihren Zimmern, saßen sie nun zusammen auf der Veranda, jeder seine Briefe vor sich.

»Von Lilly, von Inge, ach und da – von Max,« rief Friedel erfreut und war nun schon bis über die Ohren in das Lesen vertieft.

Papa Polten hatte auch ein paar Briefe erhalten. Der letzte schien ihn sehr zu erregen. Er unterbrach die Lektüre mit verschiedenen »hm« und »ach« und »oh« und warf einigemal verstohlene Blicke auf Friedel.

Die las und kicherte unbekümmert weiter.

Der Papa reichte seinen Brief stumm Lisa hin, und die erschrak, als sie hineinsah.

»Ach, die arme Tante!«

Papa Polten nickte stille vor sich hin.

»Ja, das bedeutet ja wohl Trennung, für mich wenigstens,« sagte er leise.

Friedel wurde plötzlich aufmerksam.

»Was gibt's?«

Lisa reichte ihr den Brief hin und setzte erklärend gegen Werner und Klaus bei: »Tante Lenchen ist auf der Treppe gestürzt und hat den Fuß gebrochen. Die Ärmste hat große Schmerzen. Sie hat's eigentlich gar nicht schreiben wollen, aber der Arzt besteht darauf, weil sie sich unter der Verantwortung, die ihrer Meinung nach auf ihr liegt, bei ihrer körperlichen Unfähigkeit jetzt innerlich aufreibt. Da bleibt nun wohl nichts übrig –«

Lisa brach mit einem Blick auf Friedel ab.

»Ich reise natürlich sofort morgen,« sagte nun Papa Polten entschieden. »Jungchen –«

»Reist mit!« setzte Friedel sehr energisch hinzu.

»Friedel könnte doch bleiben, Papa, nicht? Du nimmst am besten eine Pflegerin und –«

Lisa war dem Weinen nahe – und setzte nur noch bei: »Ich kann euch nicht alle beide so schnell hergeben!«

Friedel hatte den Arm um sie gelegt.

»Herzenslisa!« Die sonst so helle, unbewegte Stimme klang wunderbar weich und zärtlich. »Herzenslisa, wo denkst du hin! Jetzt muß ich doch zur Tante, nicht? Da gehöre ich doch jetzt hin, meine ich, wo sie mich braucht. Und wenn ich ihr auch nicht viel helfen kann, so kann ich ihr doch ein lustiges Gesicht zeigen, kann ihr zeigen, daß ich sie lieb habe. Und bei der Pflege will ich mir alle Mühe geben, sollst schon sehen. So gar ungeschickt bin ich doch nicht. Papas Junge kann zur Not auch mal barmherzige Schwester sein. Lisa, Lisa, wein' doch nicht so, oder –«

Friedels Zigeunergesichtchen war plötzlich von Tränen überströmt. Sie fuhr mit beiden Händen drüber hin, biß die Zähne zusammen und stampfte mit dem Fuße auf.

»Laß, Lisa!« herrschte sie ganz böse die Schwester an. »Meinst du denn, mir wird's leicht, von dir, von euch allen –«

Sie vollendete nicht, man hörte, daß sie gewaltsam ein aufsteigendes Schluchzen niederkämpfte.

Papa Polten war zu ihr herangetreten und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Hast recht, Jungchen, jetzt gehörst du heim – basta!«

Unendliche Zärtlichkeit klang durch den Ton.

Klaus von Rödern war bei Beginn der Verhandlung etwas abseits von den andern an die Brüstung der Veranda getreten.

Die weiche, zärtliche Kinderstimme dort, die mit der Empfindung des gereiften Weibes sofort das Richtige traf und aussprach, ging ihm bis in das tiefinnerste Mark.

»Ein Herz von Gold,« klang es in ihm, »wer das gewinnen könnte!« Ein heiß überströmendes Glücksgefühl quoll in ihm auf; er wendete das Antlitz ab, er fürchtete, man könnte ihm an den Augen ablesen, was da tief innen in seinem Herzen gärte und schäumte und sich losringen wollte.

Losringen? Durfte er – durfte er denn reden dieser unbefangenen Kinderunschuld gegenüber? Durfte er sagen, daß – nein, nein, er wollte schweigen – noch wollte er schweigen, und doch – und doch!

»Herr von Rödern!?«

Friedel war unbemerkt zu ihm getreten.

»Tut's Ihnen auch ein bißchen leid, daß ich gehe?«

Er stand und erwiderte nichts. Er sah ihr in die klaren Augen, die sie zu ihm erhoben hatte. Friedel wurde es plötzlich ganz unbehaglich heiß unter diesem Blick, und eine leichte Röte stieg ihr langsam in die Wangen und über die Stirn bis unter die Kraushaare. Dabei mußte sie förmlich nach Atem ringen. Zu einfältig, was brauchte er sie so anzusehen! Sie warf das Köpfchen zurück, sie wollte den Bann abschütteln, wollte lachen – statt dessen liefen ihr plötzlich die heißen Tränen übers Gesicht.

Er hatte es aber wohl gar nicht mehr gesehen – hoffentlich – dort stand er schon bei Papa, der unhöfliche Mensch; ihre Frage, ob es ihm leid tue, hatte er gar nicht beantwortet. Mochte er! Sie, Friedel, würde sich drum nicht grämen. Weshalb er sie nur so angesehen hatte? Pah, einfältig!

Friedel spitzte die Lippen und pfiff das Lied: »O du lieber Augustin« vor sich hin.

Aber im zweiten Takt brach sie schon ab, die Lippen parierten komischerweise heute nicht recht. – – –

Alles war gepackt. Papas und Friedels Koffer standen reisefertig nebeneinander, sie sollten am Abend noch zur Bahn gebracht werden, da morgen mit dem frühesten der Zug ging. Der Geigenkasten stand obenauf, und wie das Klaus von Rödern im Vorbeigehen sah, hatte er ihn stillschweigend fortgenommen und auf sein Zimmer gestellt.

Das Abendessen war vorüber, und nun saß man beisammen auf der Veranda – »zum letzten Male,« seufzte Lisa melancholisch.

Friedel hatte sich dicht an sie geschmiegt und war merkwürdig still und gedrückt.

»Komm mit, Lisa!« flehte sie.

»Wie kann ich, Herz?« Mit einem bezeichnenden Blick aus Werner.

Friedel warf verächtlich die Lippen auf.

»Albernes Geheirate!«

Man lachte, aber so recht von Herzen kam's keinem.

»Geh du mit nach England,« neckte der Schwager.

»Sollt' mir fehlen! Mag kein beaf. Nee, Papas Junge bleibt daheim, ärgert die Tante, kuriert den Vater, nein umgekehrt – na, ich weiß nicht, was ich rede.« Und in plötzlich ausbrechendem Schmerz: »Komm mit, Lisa, komm mit!«

Der Papa wurde ganz weich.

»Wenn dir's gar so schwer wird, Jungchen –« begann er zögernd.

»I wo, Vaterherz, mach doch keine Geschichten. Man wird doch noch mal 'n bißchen jammern dürfen!«

Lisa fuhr auf.

»Friedel, nun haben wir den Geigenkasten doch mit fortgehen lassen, und ich hatte doch so gewünscht, heute abend noch einmal –«

Sie konnte nicht weiterreden.

Friedel umschlang sie noch fester.

»Laß sein, Lisa, laß sein!«

Klaus von Rödern war still hinausgegangen und nun kam er wieder und setzte, ohne ein Wort zu reden, den Geigenkasten vor den Schwestern nieder.

»Da ist sie doch noch,« jauchzte Lisa. »Wie lieb, daß Sie daran dachten, Herr von Rödern!«

»Ich bin Egoist, Frau Lisa!«

Friedel sagte nichts. Still nahm sie die Geige aus dem Kasten und trat an die Brüstung der Veranda.

Und leise, leise wie träumendes Vogelzwitschern zog es durch die Saiten, klagend, weinend zuerst und dann schwang sich's aus, trostreich, hoffnungsvoll, erhebend.

Meisterhaft vorgetragen zogen sie an den Ohren der Zuhörer vorüber, die Kleinodien deutscher Tonkunst. Geschickt präludierend reihte Friedel eines an das andre. Sie dachte aller Lieblingsmelodien Lisas, und diese lauschte und schluchzte und lächelte, je nachdem die Töne frohe oder wehmütige Bilder heraufbeschworen aus den Kinder- und Mädchentagen.

Chopin und Brahms waren offenbar Friedels Lieblingskomponisten; in ihre schwermütigen Melodien vertiefte sie sich nun mehr und mehr.

Klaus von Rödern lauschte hingerissen, entzückt.

»Wer so das Tiefinnerste dieser Kompositionen erfaßt, es so wiederzugeben vermag, der ist kein Kind mehr, der hat ein Herz in der Brust, das Lust und Leid, Haß und Liebe der Menschheit versteht und mitempfindet. Der ist ein fertiger Mensch, an den mag immerhin eine Frage herantreten, die entscheidend ist für sein künftiges Wohl und Wehe und – das eines andern.«

So saß Klaus, so brütete er, und dabei lauschte er – lauschte.

Das schwermütige Es-Dur-Notturno Chopins war verklungen, träumerisch phantasierte die Geige weiter, suchte die eben verklungenen Melodien zu haschen, spann neue hinein, und plötzlich setzte sie in weichem, tiefem, vollem Ton ein:

Es ist bestimmt in Gottes Rat,
Daß man vom liebsten, was man hat,
Muß scheiden!

Sie lauschten alle wortlos. Lisa liefen die Tränen übers Gesicht, und sie barg es an ihres Mannes Schulter.

Feierlich, ernst, weihevoll, tief ergreifend klang indessen die Melodie weiter, um sich zum Schlusse bei dem trostreichen »Auf Wiedersehen!« jubelnd, verheißungsvoll aufzuschwingen.

Und der letzte Ton war verhallt, keiner konnte ein Wort reden. Wie ein Bann lag es über allen; der Zauberbann, der ernste Gemüter, die sich aufgeschwungen haben in die Sphären reinsten Genusses, dort festhält, ehe sie wieder unterzutauchen vermögen im Getriebe des Alltags.

Papa Polten war der erste, der wieder zu sich kam.

»Ich muß ja mit dem Wirt noch abrechnen. Sag mal, Werner, es wäre mir lieb, wenn du mitkämest, wegen des Weins, den wir zusammen hatten. Allein werde ich mich nicht zurechtfinden.«

Werner erhob sich.

»Sofort, Papa!«

Und die beiden gingen.

Die Zurückbleibenden träumten still in die sternhelle Sommernacht hinein. Noch war der Mond nicht wieder heraufgezogen, der Mond von gestern, der die Jungfrau bestrahlte. Heute kam er spät, ganz spät.

In Friedels Köpfchen, das sie an den Verandapfosten lehnte, wogten die Bilder auf und ab. Was gestern war, was heute ist, was morgen sein wird, bunt kamen und gingen und wechselten sie. Ernst, tief sinnend schauten die großen, grauen Augen hinauf zum Firmament.

»Lisa!« tönte da Werners Stimme von der Tür her, »Lisa, komm doch mal und hilf uns. Papa und ich können uns einiger Posten nicht so recht erinnern.«

Schweigend erhob sich Lisa und folgte dem Ruf.

Klaus war zu Friedel herangetreten und lehnte sich an die Brüstung. Auch er starrte lange hinauf in den endlosen Himmelsraum.

Dann trat er mit raschem Entschluß dicht zu dem Mädchen an seiner Seite.

Etwas erstaunt wendete ihm Friedel das Gesicht zu.

»Ich – ich –« begann er zögernd, stammelnd, »– Fräulein Friedel – ich wollte Sie etwas fragen.«

Unbefangen schauten die großen grauen Augen in die seinen.

»Mich? – Bitte!«

Er verwirrte sich, diesen unschuldsvollen Augen gegenüber.

»Es – es tut Ihnen doch auch ein bißchen leid, daß die schöne Zeit nun zu Ende ist, und daß wir –«

»Aber selbstverständlich, Herr von Rödern! Es war zu wundervoll. Und daß ich nun meine Lisa schon hergeben soll,« – sie schluckte ein paarmal, als ob ihr etwas Hinderndes im Hals aufquelle – »das ist das Ärgste. Von Werner tut mir ja der Abschied auch sehr leid und von Ihnen, wirklich! Wir waren so gute Kameraden!«

Sie streckte ihm freimütig unbefangen die Hand hin, die er ergriff, festhielt und so drückte, daß sie nun doch ein bißchen verlegen wurde, und sie ihm zu entziehen suchte.

Er aber gab die kleine Hand nicht frei, die sich ihm von selbst geboten hatte.

»Gute Kameraden, ja, das waren wir, und wir wollen's bleiben, Fräulein Friedel, ja?«

Sie nickte, etwas beklommen. Er war so merkwürdig, so sonderbar, und die Hand drückte er ihr, daß es beinahe wehe tat.

»Fürs Leben,« drängte er weiter, »Fräulein Friedel – fürs Leben?«

Kurioser Mensch! Friedel wurde ganz heiß und bange. Sie warf das Köpfchen zurück.

»Ja doch! Weshalb nicht?«

Er sah ihr in die Augen. Hatte sie ihn, konnte sie ihn begriffen haben?

»Fräulein Friedel – Friedel – könnten Sie, wollten Sie – meine kleine Frau werden?«

Da war's heraus!

Friedel stockte einen Augenblick der Herzschlag; sie zerrte an ihrer Hand, die er immer noch festhielt.

»Ich?« Sie versuchte zu lachen, was aber jämmerlich verunglückte. »Ich heirate ja gar –« Da fiel ihr Blick auf sein Gesicht, und sie stockte. »Ich – ja – nein – ich weiß nicht – ach was, Unsinn!«

Damit war es ihr gelungen, ihre Hand loszureißen, und wie gejagt stürzte sie aus dem Zimmer.

Da kam Lisa mit der Lampe. Sie fand Klaus allein an der Brüstung stehen und in die Nacht hinausstarren.

»Allein? Wo ist denn Friedel?«

»Fräulein Friedel hat sich zurückgezogen.«

»Und Sie allein gelassen? Wie unhöflich! Verzeihen Sie, das Kind wird wohl recht müde sein.«

Damit trennte man sich für die Nacht.

Klaus stand noch lange an seinem Fenster und starrte zum Sternenhimmel auf. Ein glückliches Leuchten lag auf seinem Antlitz, und in seinen Ohren klang immerfort noch eine helle, scheue Stimme nach: ja – nein – ich weiß nicht!

Und er nickte den Sternen da oben zu: blitzt ihr nur, funkelt, leuchtet und lockt ihr nur; ich glaube und hoffe, mir ist mein Sternelein aufgegangen, mein eigenes, eigenstes Sternelein! Für mich wird's leuchten, mir wird's blitzen und funkeln; an meinem Himmel wird's stehen fürs Leben – so Gott will!

*

Im Frühlicht des jungen Tags stand man auf dem Bahnsteig.

Friedel sah sehr blaß, sehr übernächtig aus und wich Lisa nicht von der Seite.

»Schlecht geschlafen, Friedel?«

Ein eigentümlicher Zug huschte über das braune Gesichtchen, und die Augen blickten sonderbar scheu.

»Ja!«

Friedel war merkwürdig wortkarg heute. Der Abschied von Lisa setzte ihr sehr zu, dachte der Papa.

Und nun hielten sich die Schwestern umfangen, als wollten sie sich nie wieder loslassen.

»Lisa, Lisa, meine Lisa!«

»Friedel, kleine Friedel!«

»Lisa, meine Lisa!« – »Friedel, kleine Friedel!«

»Leb wohl, leb wohl! Auf baldiges Wiedersehn!«

Man hörte den Zug herankeuchen.

»Vorwärts, Kinder, es muß sein! Lisa, mein Kind, halte dich gesund, leb wohl, leb wohl! Werner, daß du mir für sie sorgst.

Dank, lieber Sohn, für alles, was du mir getan hast und ihr tust. Auf Wiedersehen im September, Herr von Rödern, und auf gute Nachbarschaft. Los, Jungchen, einsteigen!«

Friedel hatte inzwischen noch von dem Schwager Abschied genommen.

Klaus von Rödern war zu ihr getreten.

»Auf Wiedersehen, mein gnädiges Fräulein, im September.« Er hatte ihre Hand erfaßt und an die Lippen gezogen, und sie hatte ihn gewähren lassen, scheu und verwirrt. Ihr fehlte jede Widerstandskraft.

»Auf Wiedersehen!« hatte sie nur scheu und mechanisch geflüstert, dann hatte sie sich Lisa noch einmal weinend in die Arme geworfen, und dann hatte sie der Papa in den Zug geschoben.

Ein Pfiff, ein Ruck, der Eisenbahnzug setzte sich in Bewegung.

Wie durch einen Nebel sah Friedel die Zurückbleibenden da draußen stehen. Wie durch einen Nebel tauchte da hinten im Tal die Jungfrau noch einmal vor ihren Augen auf, eben vom ersten Sonnenstrahl gestreift.

»Lebt wohl, lebt wohl!«

Friedel schwenkte ihr Tüchlein, wischte sich die Augen und schwenkte noch einmal.

»Lebt wohl, lebt wohl!«

Und nun waren sie verschwunden, die Berge und die lieben Menschen.

Friedel warf sich in die Polsterecke und weinte laut auf.

»Jungchen, Jungchen!«

Papa Polten strich ihr liebkosend über den Scheitel.

»Lisa, Papa, Lisa!«

»Ja, mein Jungchen, das ist nun einmal so!«

»Und Werner –«

Friedel schluchzte noch einmal laut auf.

»Ja, Jungchen, alles hat eben ein Ende!«

Und der Zug fuhr und fuhr weiter und immer weiter fort von den Bergen und von den lieben Menschen, die dort zurückblieben.


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