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Miß Miller

Vier Wochen etwa waren seit der Hochzeit verflossen. Vier Wochen weilte nun Lisa schon in der »Fremde«, wie Friedel sagte, »der neuen Heimat«, wie Lisa schrieb.

Lisas Briefe flossen über von Glück. Ein leiser Ton des Heimwehs zitterte ja wohl manchmal durch, und Friedels gieriges Ohr fing ihn auf, und er war Balsam für ihr heißes, sehnsuchtsvolles Herz. Im ganzen aber waren die Berichte auf den höchsten Ton der Wonne gestimmt, schilderten in glühenden Farben erst die Reiseeindrücke in London, das Treiben der Großstadt, dann die Schönheit und Pracht des Berglandes von Wales und schließlich – und nun ward der Bericht zum Jubelhymnus – die Reize und Wonnen des eigenen Heims, das »Werner so über alles Beschreiben traut und behaglich, so unsagbar niedlich, ja elegant ausgestattet hatte«.

»Wie eine Königin komme ich mir vor in dem eigenen kleinen, geliebten Reiche, und Werner nennt mich seine Königin und – o ihr Geliebten daheim – wie ist eure Lisa so über Verdienst, Erwarten und Verstehen glücklich – glücklich – glücklich!«

Friedel las es und rümpfte das Näschen. Sie hätte nicht geglaubt, daß die Lisa, zu der sie immer als einem Ausbund von Klugheit aufgeschaut hatte, so albern sein könne.

»So 'n Mädel kann doch entsetzlich albern sein, Vaterherz, nicht?« sagte sie ganz verächtlich. »Gut, daß du mich wenigstens als Jungen erzogen hast.« Und Papa Polten lächelte etwas sauersüß.

Diese vier Wochen hatte Friedel in voller Freiheit verbracht. Der Papa hatte das für seinen Liebling ausbedungen. Friedel sollte noch eine schöne Zeit haben, ehe sie ins Joch kam, wie er's bei sich nannte. Und ohne es sich selber einzugestehen, freute er sich darauf, was sein Rassefohlen für Kapriolen und Seitensprünge machen würde, ehe es Zügel und Sporn gehorchen lernte. Arme kleine Friedel!

Friedel selbst war ganz erstaunt über die vollständige Narrenfreiheit, die man ihr gestattete. Kein Herumstrolchen zu Fuß oder Rad, kein toller Ritt, kein Baumklettern, keine Schießübung nach den unmöglichsten Zielen, kein Riß im Rock oder Jacke wurde gerügt, geschweige denn bestraft – der Zustand fing an beinahe unheimlich zu werden.

Tante Lenchen machte nur zuweilen so traurige Augen und die taten Friedel weher als die ausgiebigsten Scheltworte. Hätte es ihre Natur erlaubt, um der traurigen Augen willen hätte Friedel zum gesitteten Mädel werden können, so sagte sie sich. Aber sie war und blieb nun einmal ein Junge! Papas Junge! Was konnte sie dafür!

Es war Sonntag.

Gesittet schritt Friedel neben der Tante aus der Kirche. In ihrem lichtblauen Blusenkleid mit dem breitrandigen Florentinerhut sah sie merkwürdig mädchenhaft aus. Tante Lenchen bemerkte es mit Wohlgefallen.

Eduard Folkner, der Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers, ein Primaner des nächsten Städtchens, der über den Sonntag die Eltern besuchte, trat heran. Er wollte die Damen begrüßen und sich nach Lisa erkundigen.

Der »dicke Ede«, wie Friedel ihn nannte, war ein Spielgefährte der Poltenschen Mädchen gewesen. Dann kam das Alter, von dem der Dichter sagt »vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe«, und von der Zeit »männlicher Überhebung« an hatte sich in Friedel ein gewisser kleiner Stachel gegen den früheren guten Kameraden festgesetzt.

Eduard schob sein Rad neben sich her.

Mit kühnem Schwung zog er die Mütze erst vor Tante Lenchen, dann vor Friedel, die mit übertrieben tiefem, spöttischem Knicks quittierte.

Der Tante war nicht wohl bei der Sache, sie fürchtete irgend einen Ausbruch Friedels. Sie ließ sich darum in ein eifrigeres Gespräch mit dem Jüngling ein, als sie es sonst wohl getan hätte.

Friedel zupfte Tante Lenchen am Rock, sie gab ihr zärtlich mahnende Rippenstöße, doch die Tante verstand die Mahnung nicht. Ja ein ziemlich hörbar geflüstertes: »Laß doch den dummen Bengel!« blieb ohne Erfolg. Die Tante unterhielt sich mit ihm nur umso angelegentlicher.

Da, ein Ruck an Eduards Arm, der das Rad führte. Mechanisch ließ er los, und da sauste auch schon etwas Blaues auf dem Rade davon. Friedel hatte es blitzschnell zum nahen Prellstein geschoben und war mit kühnem Satz von dort aus aufgesprungen.

Sprachlos sah die Tante, sprachlos, offenen Mundes Eduard der Entschwindenden nach. Noch einmal flatterten die langen Bänder des Hutes im Winde auf, und dann war sie um die Ecke herum. Ein paar Dorfjungen, die dabei standen, jubelten laut hinterher.

Eduard bückte sich nach seiner Mütze, die ihm im Schreck entfallen war. Tante Lenchen war hastig vorwärts geeilt.

»Ich werde Sorge tragen, daß Ihnen das Rad sofort wieder zugestellt wird, lieber Eduard,« rief sie zurück und ließ den Verblüfften mit aufgeraffter Mütze in der Hand stehen. Das Gesicht, mit dem er hinterher sah, war nicht sehr liebenswürdig, auch nicht sehr geistreich.

Friedel saß daheim auf der Freitreppe und wartete auf die Tante. Das Schelmengesicht, womit sie der Aufgeregten entgegensah, wäre unwiderstehlich gewesen, wenn Tante Lenchen Sinn dafür hätte haben können oder wollen.

»Hast du dich gut unterhalten, Tantchen?«

Tante Lenchen antwortete keine Silbe, sondern rauschte nur entrüstet vorüber. Sie hatte für die Missetäterin keinen Blick.

Friedel war's nicht ganz wohl in der Haut. Sie stand auf und schlenderte anscheinend unbekümmert und pfeifend ums Haus herum, um dann schleunigst zu verschwinden.

»Gut ist gut und besser ist besser,« dachte sie – sie traute dem Frieden nicht mehr recht. Er hatte schon unheimlich lange gedauert.

Richtig! Eben wollte sie um die Ecke biegen, da öffnete sich oben ein Fenster.

»Friedel!« schallte des Vaters Stimme über den Hof.

»Papa! Ja! Ich geh' nur eben einmal in den Garten!« rief sie und wollte davon, aber: »Friedel, hallo! Rechtsumkehrt!« donnerte es hinter ihr her.

Da gab's kein Entrinnen mehr. Nach der langen Schwüle schlug das Gewitter nun wirklich ein.

Friedel machte flugs kehrt und stellte sich dem Vater. Feige war Friedel nicht.

Der Papa saß in seinem Zimmer im Sorgenstuhl und hatte seine finsterste Miene aufgesetzt.

»Was muß ich nun wieder hören, Friedel!«

»Ja, Väterchen, kann ich dafür, daß der dicke Ede so langweilig ist? Sein Rad war gar zu verlockend zum Durchbrennen.«

»Ein Mädchen fährt auf keinem Herrenrad und –«

»Aber Papa, früher hab' ich doch auch eins gehabt und –«

»Gewiß, Friedel, da warst du aber noch ein Kind!«

»Und jetzt bin ich doch noch dein Junge, nicht, Papa?«

Ihm wurde heiß.

»Und kurz und gut, daß du's nur weißt, die tollen Streiche hören jetzt auf, morgen kommt eine Engländerin, die Lisa schickt. Sie soll dich lehren, ein Mädchen zu werden. Tante und Lisa wollen das so, und – und – es ist notwendig und –«

Er verwirrte sich vor dem festen Blick, den Friedel auf ihn geheftet hielt.

»Und du, Papa?«

»Ich auch! Ich auch! So kann's nicht weitergehen, du wirst ja immer toller, was war das heute wieder für ein Streich, kurz und gut und – und – basta!«

Er polterte sich in eine gewisse Hitze, nur um die großen, fragenden, grauen Augen nicht zu sehen.

Friedel war ganz blaß geworden.

»Ich soll eine Engländerin als Erzieherin bekommen, jetzt noch mit sechzehn Jahren?«

Es klang wie verhaltener Trotz, auch verhaltenes Weinen aus der Stimme.

»Bist du etwa schon erzogen, was? Ja?«

»Bin ich nicht dein Junge, Papa? Willst du plötzlich ein Mädchen aus mir machen?«

Sie fragte es sehr leise, sehr ruhig.

Er war sehr rot, sehr heiß geworden, die Stimme gehorchte ihm nicht recht.

»Frag nicht so dumm! Ich hab's schon einmal gesagt, und damit basta! Morgen kommt Miß Miller, und du hast zu parieren. Ich hab's satt, daß alle mir den Jungen in dir vorwerfen, die Miß mag sehen, ob sie ihn dir austreibt. Ich will nichts mehr mit der dummen Geschichte zu tun haben. Und nun kein Wort mehr!«

Er setzte sich wieder auf seinen Sessel, von dem er in der Hitze des Gefechts aufgefahren war. Unsicher suchte sein Blick Friedel, die noch gar nichts gesagt hatte.

Er begegnete einem ihrer Schelmenblicke. Sie trat zu ihm, setzte sich auf die Lehne seines Stuhls und schlang die Arme so weich und zärtlich um seinen Hals, daß es ihm wohl wurde bis ins innerste Herz hinein.

»Laß du die Miß nur kommen, Väterchen, wir wollen sie schon hinausbeißen, wir beide. Ich rette dir deinen Jungen.«

Tief tauchte ihr Schelmenblick in den seinen. Er mußte laut auflachen, ob er wollte oder nicht. Dann besann er sich. Die kleine Hexe brauchte nicht zu merken, wie sehr sie ihn durchschaut hatte.

»Daß du mir keine Streiche machst, Kind,« brummte er pflichtschuldig.

Aber dann schlang er den Arm fest um sein Kind, lehnte die borstige, rauhe Wange dicht an ihr weiches Gesichtchen und lange, lange saßen Vater und Kind so innig umschlungen.

Tante Lenchen staunte, wie still die Haupt- und Staatsaktion verlief, und staunte noch mehr, als sich Friedel den ganzen Tag über so besonders weich und nachgiebig zeigte. –

*

Der Zug sollte eben einlaufen.

Friedel stand neben Tante Lenchen auf dem Bahnsteig im Bahnhof des nächsten Städtchens, wohin die beiden gefahren waren, um Miß Miller abzuholen.

Johann wartete draußen mit dem Wagen.

Friedel hatte der Tante gegenüber die Tatsache als vollendet hingenommen und kein Wort des Vorwurfs oder der Klage laut werden lassen. Ihre sechzehnjährige »Würde« hätte ihr das nicht erlaubt.

Tante Lenchen, die das für Nachgiebigkeit hielt, war sehr glücklich darüber.

Hätte sie in das junge, schwarze Herz sehen können!

Nun tauchten Rauchwolken in der Ferne auf, ein Rollen und Rasseln erschütterte den Boden. Ein greller Pfiff – der Zug hielt.

Aus dem Fenster eines Abteils zweiter Klasse schaute ein blasses, schmales Gesicht, worin man auf den ersten Blick nur Zähne zu sehen glaubte. Eine große, knochige Hand öffnete entschlossen den Wagenschlag, ein Paar derbe Stiefel zeigten sich, und auf Tante Lenchen und Friedel stapfte eine große, graue Gestalt los, die in jeder Hand ein riesiges Plaidbündel hielt und sich dabei noch bemühte, den kurzen Rock kürzer zu raffen.

Ungewiß trat Tante Lenchen vor.

»Miß Miller?«

»Der sein ich!« Und Miß Miller setzte ein Plaidbündel ab, um mit Tante Lenchen alsbald ein kräftiges » shake hands« zu tauschen.

Friedel hatte die Angekommene inzwischen neugierig gemustert. War man erst einmal über die Zähne weggekommen, so entdeckte man ein Paar kluge, gute Augen, die das blasse, magere Gesicht ordentlich anziehend machten. Friedel gefielen diese Augen; sie sahen aus, als ob sie einen Scherz verstünden.

Sie griff eifrig nach den beiden Plaidbündeln, die ihr Miß Miller aus Höflichkeit erst nicht überlassen wollte. Dem energischen Ruck Friedels aber, womit diese ihr die Sachen entriß, mußte sie nachgeben.

»Sein das meine kleine pupil?« fragte sie Tante Lenchen.

»Ja, das ist meine Nichte Elfriede Polten. Frida, willst du nicht erst Miß Miller begrüßen?«

Friedel ließ sich im Davoneilen nicht weiter stören. Sie schwenkte nur mit den beiden Bündeln in der Hand herum wie ein Kreisel, knickste nach Kinderart und vollendete die Drehung nach der andern Seite, wobei ihr die Röcke flogen, und das ganze Schelmengesichtchen leuchtete und lachte.

Friedel hatte beide Plaidbündel ergriffen und ließ sich im Davoneilen nicht weiter stören.

Miß Miller mußte unwillkürlich mitlachen. Tante Lenchen blieb sehr ernst.

»Sie sehen, Miß Miller, meine Nichte hat noch nicht viel Lebensart, leider. Sie sollen mir helfen, sie zur Dame zu erziehen.«

Miß Miller verbeugte sich stumm.

» Dear me, poor thing,« flüsterte sie vor sich hin.

Friedel stand am Wagenschlag. Johann hatte das Verdeck zurückgeschlagen. Sie half der Tante, dann Miß Miller und folgte nun selbst mit einem kühnen Satz. Johann war auf den Bock gestiegen, er schnalzte mit der Zunge, und die Pferde setzten sich in Trab.

Tante Lenchen erkundigte sich höflich nach dem Verlauf von Miß Millers Reise. Um die Welt gern hätte Friedel hinausgelacht über das komisch gebrochene Deutsch, womit Miß Miller antwortete, dazu aber war sie denn doch zu höflich.

»Sind Sie auch seekrank gewesen, Miß Miller?«

Es war das erste Mal, daß Friedel den Mund auftat.

» Sea-sick? Oh yes, dread – sauderhaft.«

»Weshalb haben Sie da nicht geraucht? Ich habe neulich erst gelesen, daß dies das einzige Mittel gegen Seekrankheit sein soll und –«

»Ge–uaucht? Smoked? Me? Oh, shocking

Miß Millers Augen, Hände, alles an Miß Miller drückte ihren Abscheu gegen eine solche Zumutung aus.

Friedel mußte lachen.

»Na, doch lieber rauchen, als –«

»Friedel!« Friedel aber war lachend aufgesprungen und hatte sich, mehr kühn als elegant, vom Vordersitz über das zurückgeklappte Verdeck auf den Bock geschwungen. Sie saß nun neben Johann, dem sie ohne weiteres Peitsche und Zügel abnahm. Die Peitsche sauste pfeifend durch die Luft, Friedel schnalzte mit der Zunge. Die Braunen spitzten die Ohren, mit kräftigem Ruck setzten sie sich in Trab, und, heidi, flogen sie in toller Jagd dahin.

Friedel jauchzte und trieb die Tiere durch Peitschenschwingen und Zurufe immer mehr an. Sie stand aufrecht und hielt die Zügel in kraftvoller Hand.

»Hurra! Hussa!« Die Damen im Wagen begannen zu schreien und zu jammern, Friedel aber hörte sie gar nicht.

Und Johann schmunzelte nur und ließ »sein kleines Fräulein« gewähren. Er wußte, daß keine Gefahr vorhanden war.

Mit Hurra und Hussa ging's nun durch die Dorfstraße, wo alles an die Fenster stürzte. In sausendem Bogen fuhr sie in den Hof ein und an der Freitreppe vor. Plötzlich standen die Tiere wie festgenagelt.

Friedel war noch vor Johann mit einem Satz vom Bock herunter und riß den Schlag auf: »Bitte!«

Ihr Schelmengesicht glühte. Tante Lenchen und Miß Miller waren noch ganz erschöpft von der tollen Fahrt. Tante Lenchens Hut hing tief im Nacken.

»Frida, so was ist noch einmal mein Tod,« seufzte sie. Sie hatte nicht einmal mehr Kraft zum Schelten.

Friedel half ihr sehr zart und rücksichtsvoll beim Aussteigen. Hatte sie's am Ende doch zu toll gemacht?

Miß Miller folgte nach. » Dear me,« seufzte sie vor sich hin, » what a dreadful girl!«

Papa Polten empfing die Ankommenden oben an der Treppe.

»Wo brennt's denn, Friedel, daß du so dahergerast kommst wie eine Feuerspritze?« fragte er scheltend.

»Hier, Väterchen, und hier und hier – und hier!«

Dabei wies der Schelm erst auf Tante Lenchen, dann auf Miß Miller, schließlich auf den eigenen Kopf und die eigene Brust. Dann drehte sie sich kurz auf dem Absatz um, flog davon und kletterte, ehe sich noch eines besinnen und sie zurückhalten konnte, auf die große, alte Eiche, wo sie in ihrem »Adlerhorst« verschwand.

Verdutzt sahen alle ihr nach, am verdutztesten Miß Miller, deren offener Mund und weitaufgerissene Augen ihr nicht eben ein geistreiches Aussehen gaben.

Herr Polten schmunzelte, indem er die Fremde betrachtete. Daß die da ein Mädel aus seinem Jungen machen würde, glaubte er für sein Teil nicht. Sah ja selber fast wie ein Mann aus mit ihrer großen, derbknochigen, gradlinigen Gestalt.

Auch Tante Lenchen schien einige Zweifel in der Brust zu tragen. Sie betrachtete die Miß von der Seite her, und man sah ihr beinahe an, daß sie innerlich den Kopf schüttelte und die Achseln zuckte. Was hatte nur die Lisa gedacht? Ja so, sie hatte ja geschrieben: gesehen habe ich die Dame freilich selbst nicht, sie ist aber Werner aufs wärmste von Freunden empfohlen worden, so wird sie schon recht sein. Tante Lenchen erlaubte sich das letztere zu bezweifeln, aber was ließ sich da machen – man mußte eben abwarten!

Tante Lenchen geleitete Miß Miller auf deren Zimmer und ließ es sich angelegen sein, ihr sofort ein Bild ihres zukünftigen Zöglings und der von ihr erwarteten Leistungen und Verbesserungen zu entwerfen.

Miß Miller unterbrach Tante Lenchens Schilderungen mit vielen » oh,« » indeed?« und » shocking!« und versicherte zum Schluß: » I'll do my best, Miss Polten, really – ick uerde mein Möglich–stäs tun!«

Damit mußte Tante Lenchen sich zufrieden geben.

*

Miß Miller war nun schon über eine Woche im Hause.

Tante Lenchen hatte eine Art Stundenplan aufgesetzt, und Friedel sich bis jetzt so ziemlich gefügt. Sie sollte in allen möglichen Fächern noch Stunden haben, vor allem aber in Englisch, Musik, Zeichnen und Handarbeiten.

Friedels Englisch lag sehr im argen, davon überzeugte Miß Miller sich sofort. Doch plapperte Friedel lustig drauf los und ersetzte durch deutsche, möglichst englisch ausgesprochene Worte, was ihr an wirklich englischen mangelte. Kurz, sie kopierte Miß Millers Deutsch so getreu, nur in entgegengesetzter Richtung, daß diese unmöglich ernst bleiben konnte.

Eben war Musikstunde.

Friedel war sehr musikalisch. Sie hatte es durchgesetzt, daß sie Violine spielen lernen durfte.

»Jedes Mädel hämmert auf dem Klavier herum,« hatte sie verächtlich gemeint, »wenn ich was lernen muß, so laßt mich Trommel schlagen oder Horn blasen oder allerhöchstens Geige. Ans Klavier kriegt ihr mich nicht.«

Dabei war's geblieben, und Friedel geigte allerliebst.

Als Kind hatte sie mit diesen Lernstunden zugleich gymnastische Übungen verbunden, das heißt, sie hatte versucht, ob sie bei den langweiligen Tonleitern und dergleichen sich drehen und im Zimmer herumspringen könne. Allmählich hatte sie darin eine solche Fertigkeit erlangt, daß sie unbeschadet der Reinheit ihrer Töne auf Tische und Stühle stieg und über sonstige Hindernisse wegsetzte. Dieser Künste erinnerte sie sich heute und wollte ihre Miß damit in Erstaunen setzen.

Sittig stand sie am Klavier, die Violine in der Hand.

Miß Miller ließ die Hände präludierend über die Tasten gleiten.

» Ready?«

»U–ädy!« bestätigte Friedel, »los!«

Und es raste ein ungarischer Zigeunertanz von den Saiten.

» But that isn't it!«

Miß Miller hatte versucht, ein paar Akkorde zu greifen, jetzt tagte ihr, daß der Kobold ganz etwas andres spiele.

» Haven't you got Brahms' lullaby?«

» Beg pardon. Cannot verstan. Brahms' what?« – Friedel raste dabei in ihrem Czardas immer weiter. – » Brahms' little boy, pretty town, lovely girl, thunderstroke, necktie, handkerchief, very well indeed, ever since, long ago. Amen.«

» What do you say?«

Friedel schloß mit einem vollen Akkord, und Miß Miller war sprachlos vor Staunen über ihres Zöglings plötzliche Beredsamkeit.

» What did you say?«

» I? Oh the words of the song!«

» What song?«

» Brahms' Wiegenlied! Didn't you understand? Aben Sie nickt versteht?«

» No, indeed. Und Sie aben auch ander music gespielt.«

»Ich – I? I am so –«

» Sorry!« half Miß Miller.

» Sorry!« wiederholte Friedel ganz ernsthaft.

» Let us begin again.«

Miß Miller begann und mit wunderbar weichem, süßem Ton setzte Friedel ein und führte das Liedchen tadellos zu Ende.

» Very pretty, very pretty indeed!«

Friedel machte einen solch tiefen, tadellosen Hofknicks, als stünde sie auf dem Konzertpodium vor der auserlesensten Versammlung.

» You are going to be a little Kam – Kam –« scherzte Miß Miller.

»Kamel!« half Friedel ernsthaft.

» No that isn't it. Kam – Kammer – what do you call it?«

»Kammermädchen?«

» No indeed.«

»Kammerjäger.«

» Not at all! What do you call them, that play at court – wo spielen an die Hof?«

»Oh, Kammervirtuos meinen Sie!« Man konnte nicht erstaunter sein, als Friedel war. » Thank you, you are very kind indeed.«

Jetzt kam ein Notturno von Chopin an die Reihe.

Friedel spielte tadellos bis zur Hälfte, dann klangen zwei Takte merkwürdig nach dem » Yankee doodle«.

Erstaunt sah Miß Miller auf, doch schon stimmte es wieder, Friedel guckte eifrigst in die Noten.

Es kamen schwierige Passagen. Miß Miller war mit ihrer Begleitung so beschäftigt, daß sie kaum auf den Violinpart hören konnte. Friedel entfernte sich, immer weiterspielend, leise vom Klavier, umkreiste erst probeweise den Tisch, trat dann zum Stuhl am geöffneten Fenster, schwang sich hinauf, trat aufs Gesimse, und mit kühnem Sprung stand sie unten auf dem Rasen. Das Fenster war nicht sehr hoch über dem Boden. Daß die Töne entfernter und entfernter klangen, merkte die Miß gar nicht. Ganz rot und heiß schloß sie endlich, sehr befriedigt von der eigenen Leistung.

Sie sah auf. Wo war ihr Zögling?

Da klangen neckisch ein paar Takte des » Yankee doodle« vom Garten herauf, gingen alsbald in die »Holzauktion im Grunewald« über, streiften die »grüne Wiese« und endeten in dem pathetisch und überschwenglich gefühlvoll gespielten: »Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir!«

Miß Miller eilte ans Fenster. Unten stand Friedel und ließ die einschmeichelndsten Töne erklingen.

» Well – I never –«

Miß Miller fand keine Worte.

» Fare thee well and if for ever ...«, deklamierte Friedel pathetisch, und mit diesem Byronschen Abschied an sein Weib nahm sie Abschied von Miß Miller. Vorsichtig legte sie Violine und Bogen auf den Rasenfleck unter dem Fenster, noch eine Kußhand, und sie war verschwunden.

Miß Miller sah ihr nach mit offenem Mund.

Dann setzte sie sich hin und lachte, lachte, daß ihr die Augen übergingen. Sie mußte der eigenen Jugend gedenken – gar so weit lag die noch nicht dahinten. Dreißig Jahre waren es her, als sie, die einzige Schwester von sechs Brüdern, als der siebente Junge die tollsten Streiche mit ihnen ausheckte. Und sie – ausgerechnet sie, sollte aus dem Unband eine Dame erziehen? Wenn Friedel nur wüßte!

Tante Lenchen erschien unter der Tür. Erstaunt sah sie die lachende Miß, bemerkte sie Friedels Abwesenheit.

»Wo ist meine Nichte?«

»Fort!«

»Fort?«

» Yes, sein ganz fort.«

»Wohin?«

»U–eiß nicht.«

Tante Lenchen trat kopfschüttelnd ans Fenster, beugte sich hinaus, sah die auf dem Rasen liegende Violine und ahnte den Zusammenhang.

Ein vorwurfsvoller Blick traf die noch immer lachende Miß.

»Ja, wenn Sie lachen! –« damit rauschte Tante Lenchen zur Tür hinaus.

Miß Miller kam nun beschämt zu sich – aber wie sie das offene Fenster sah und die Violine darunter, mußte sie noch einmal laut hinauslachen.

Ein fröhliches Auflachen von außen antwortete ihr. Ein Krausköpfchen tauchte über dem Fenstersims auf, zwei lustige Schelmenaugen blitzten sie an.

»Die Tante hat Sie wohl angebrummt, was?« Und Friedel sprang mit der Violine im Arm ins Zimmer.

» Let us begin again!« Und nun führten die beiden das Notturno tadellos zu Ende. Miß Miller sollte ihrethalben keine Schelte kriegen, das gestattete Friedels weiches Herz denn doch nicht.

Eben kam Herr Polten vom Felde heim, wo er dem Inspektor etwas angeben mußte. Tante Lenchen erzählte ihm die Sache, schilderte auch Miß Millers unerklärliches Betragen. Papa Polten lachte laut über diesen neuesten Streich seines »Jungen«, schmunzelte bei der Schwester Klagen über die Miß und schüttelte dieser danach beim Tisch zum ersten Male kordial die Hand. Von ihr drohte also seinem Liebling und ihm keine Gefahr!

*

»Was ist's, Friedel, ich muß nach Ellerntal fahren, willst du mit?«

Papa Polten fragte es beim Mittagessen.

»Wenn ich fahren darf?«

»Wieso?«

»Kutschieren meine ich.«

»Nein, da muß ich denn doch bitten, oder wir bleiben daheim, Miß Miller und ich.« Tante Lenchen sagte das; ihr war die tolle Heimfahrt vom Bahnhof neulich noch zu frisch im Gedächtnis.

Friedel wendete sich gekränkt.

»Na, denn nicht,« sagte sie nur ganz knapp.

Papa Polten wurde die übereilte Aufforderung an die Damen fast leid, da er sah, daß seinem Jungen dadurch eine Freude verkürzt werden sollte. Friedel stocherte mit der Gabel im Teller herum, sie schien in tiefes Sinnen verloren.

»Wenn ich nun ritte?«

»Dein Sattel ist doch zum Ausbessern fort, hast du das vergessen? Und auf dem Herrensattel, das erlaube ich nicht.« Tante Lenchen sagte es sehr bestimmt.

Friedel wußte, dagegen kam sie nicht an; der Papa wich auch merkwürdig befangen ihrem Blick aus.

»Hm, auf dem Herrensattel also nicht?«

»Nein!«

In Friedels Gesicht wetterleuchtete es, der Schelm saß ihr im Nacken. Der Papa sah's und wunderte sich, was der Kobold nun wieder vorhatte.

»Na, da muß ich wohl daheim bleiben,« meinte Friedel etwas lässig.

»Ich sehe nicht ein, weshalb du nicht einmal ruhig und anständig wie andre Mädchen im Wagen mitfahren kannst,« brach nun Tante Lenchen gereizt los. »Müssen's denn immer die tollsten Hanswurststreiche sein? So sprich doch einmal ein Machtwort, Konrad!«

Tante Lenchen war sehr ärgerlich.

Papa Polten rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Ja, Friedel –« begann er zögernd und stockend.

Ein flehender Blick aus den grauen Schelmenaugen traf ihn; er verstummte.

»Und kurz und gut, zum Vergnügen zwing' ich niemand, daß du's nur weißt – und damit basta!« polterte Herr Polten dann gegen die Schwester, die gekränkt die Achseln zuckte und schwieg.

Friedel tat nun die Tante leid.

»Ich komme mit, Tantchen,« versicherte sie großmütig, »verlaß dich drauf, ich komme mit!«

Mißtrauisch sah die Tante ihre Nichte an.

»Im Wagen?« fragte sie zweifelnd.

Doch der Kobold gab keine direkte Antwort.

»Gewiß, ich komme mit, ich komme mit!« sang sie, jubelte sie, und drehte sich dabei in tollem Kreisen um den Tisch, von dem eben alle aufgestanden waren.

Papa Polten fing sich den Irrwisch ein.

»Was hast du vor, Jungchen,« raunte er ihr ins Ohr.

»Pst, nicht fragen, Väterchen.«

Und der Schelm legte ihm blitzschnell die Hand auf den Mund, zog ihn am Ohrläppchen und war verschwunden.

Das Break war vorgefahren. Herr Polten saß auf dem Bock und klatschte mit der Peitsche. Oben an der Freitreppe erschienen eben Tante Lenchen und Miß Miller unter der offenen Hallentür. Tante Lenchen ließ den suchenden Blick über den Wagen hingleiten und rief dann mit schallender Stimme ins Haus: »Frida!«

Keine Antwort. – Johann, der bis dahin die Pferde gehalten hatte, trat vor. Nur mühsam unterdrückte er ein Grinsen.

»Das kleine – gnädige,« verbesserte er sich schnell mit einem Blick in Tante Lenchens strenges Gesicht. »Das gnädige Fräulein lassen grüßen und sind einstweilen vor.«

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Das gnädige Fräulein lassen grüßen und sind einstweilen vor,« wiederholte Johann papageimäßig die eingelernte Lektion, wobei sein dumm-schlaues Gesicht vor unterdrücktem Grinsen immer röter und breiter wurde.

»Hansnarr!« fuhr ihn Tante Lenchen an; sie ahnte wohl, daß irgend ein dummer Streich dahinter stecke.

Die Pferde wurden unruhig. »Johann, helfen Sie den Damen aufsteigen,« befahl Herr Polten kurz.

Johann griff dienstbeflissen zu. Ehe Tante Lenchen wußte, wie ihr geschah, war sie schon oben; die Miß folgte auf gleiche Weise. Der Schlag flog zu, Johann stieg auf, die Pferde zogen an, ein Ruck, und fort ging's.

Ergeben war Tante Lenchen auf die Bank gesunken, sie öffnete die Hutbänder und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu. Miß Miller hatte von dem ganzen Vorgang nur begriffen, daß Friedel nicht dabei war. Sie glaubte, Tante Lenchen zerstreuen zu müssen.

»Sein puachtvolle Uetter,« wendete sie sich an diese.

»Hm, ja – o ja!«

Tante Lenchen fächelte sich immer eifriger Kühlung zu.

»Sein gar nickt too hot!«

»N – nein!«

»Sein uonderfulle Uald!«

»J – ja!«

»Haben nickt so schöne Uald in my own native country!«

»Nicht? Tut mir leid. Dachte, in England sei alles besser.« Tante Lenchen wurde förmlich ausfallend in ihrer unterdrückten Erregung.

» Oh yes, much better,« bestätigte Miß Miller, die nur halb verstanden hatte.

»Eingebildetes Frauenzimmer!« brummte Papa Polten vor sich hin.

» Pity, Miss Fuidel sein not here.«

Jetzt brach das Gewitter bei Tante Lenchen los.

»Meine Liebe, ich muß Sie doch sehr bitten, ein andermal besser auf Ihre Schülerin aufzupassen. Ich hatte gehofft, mich darin auf Sie verlassen zu können, meine Liebe. Dergleichen Streiche dürfen in Ihrer Gegenwart doch nicht vorkommen, meine Liebe. Wenn Sie freilich anfangen, über die Tollheiten meiner Nichte zu lachen, statt sie zu rügen, wie in der Musikstunde neulich, dann, meine Liebe, sind wir verloren. Und was ich Ihnen noch sagen wollte, meine Liebe. Ich wünsche nicht, daß Sie meiner Nichte gegenüber sich auch des halben Jungennamens bedienen, den ihr der Vater leider gibt. Meine Nichte heißt Frida, merken Sie sich das, meine Liebe, Frida – Frid–a!«

Tante Lenchen unterstrich dies a jedesmal sehr vernehmlich. Ihr wiederholtes »meine Liebe« klang wie ebensoviele höchst persönliche Beleidigungen.

Miß Miller hatte alles erst sehr erstaunt, dann ganz zerknirscht und ergeben über sich ergehen lassen.

» Fuida, Miss Fuida,« wiederholte sie dann scheu und geknickt.

»Jawohl!« bekräftigte Tante Lenchen noch immer sehr entrüstet und wies sprachlos mit der Hand auf das, was jetzt mit Hallo und Hussa aus dem Unterholz zur Seite des Weges brach.

Friedel war's auf ihrer Lady, der goldbraunen, wunderbar feingliedrigen Stute, die ihr vom Vater zum letzten Weihnachtsfest geschenkt worden war. Das Tier trug keinen Sattel, nur eine bunte Wolldecke aufgeschnallt. Friedel trug ihren Radfahranzug, leider aber fehlte der ihn ergänzende Überrock. Wie ein kecker, flotter Junge saß sie auf ihrem Tier, und die faltigen Beinkleider, das kurze, knappe Jäckchen über der weißen Bluse, das braune Mützchen auf dem lockigen Kraushaar kleideten sie allerliebst.

Tante Lenchen aber hatte keinen Blick für dergleichen.

»Frida –!«

Wie ein Entsetzensschrei entrang sich beim Anblick der Nichte dieses Wort ihrer Kehle.

»Ohne Sattel!«

Papa Polten rief's etwas ängstlich, und doch klang es wie Bewunderung.

» Shocking,« seufzte Miß Miller, die nach der Standrede von vorhin nichts anderes zu sagen wagte.

»Tag, Väterchen!« jauchzte Friedel unbekümmert, »da bin ich richtig. Nicht im Herrensattel, Tantchen, wie du siehst!« Der Schelm hielt dicht bei der Tante.

»Aber, Frida, so – so – nur in deinen Pumphosen!«

Tante Lenchen war ganz schwach, Scheltworte konnte sie jetzt gar nicht finden, der Atem versagte ihr.

» Shocking,« seufzte Miß Miller noch einmal.

Belustigt sah Friedel von der einen Dame zur anderen.

»O, Tantchen, wenn's weiter nichts ist, dem kann ich abhelfen.«

Seelenruhig griff sie hinter sich und zog ein Bündel vor.

»Hopp, Lady!« Lady sprang mit weitem Satz vom Wagen weg und stand auf ein leises Zungenschnalzen wie angewurzelt.

Friedel ließ die Zügel fallen und entfaltete das Bündel. Im Nu stand sie dann aufrecht auf dem Rücken des Tieres, warf mit geschicktem Griff den Rock des Radfahranzugs, den das Bündel enthielt, über, befestigte ihn und ließ sich blitzschnell wieder auf den Rücken des Pferdes gleiten. Sie warf ihrem sprachlosen Publikum eine Kußhand zu und stob davon, daß die von den Pferdehufen losgerissenen Erdbröckchen den Nachschauenden ins Gesicht flogen.

Tante Lenchen wischte sich entrüstet das ihre.

»Erbarm dich!« jammerte sie. »Laß sie doch in den Zirkus, Konrad,« fügte sie mit beißender Ironie hinzu.

»Wettermädel!« brummte Papa Polten vor sich hin.

Die Miß aber prustete und spuckte und prustete wieder. Ihr war ein Klümpchen Erde, vom Pferdehuf geschleudert, in den offenen Mund geflogen. » Well, I never –« und prustete und spuckte nochmals.

Dann liefen die Pferde, was sie laufen konnten, hinter der Reiterin her.

Der Wald war hier zu beiden Seiten des Weges von älterem Bestand. Rieseneichen wechselten mit Riesenbuchen, und dazwischen ragte finster und ernst eine einsame turmhohe Fichte zum Himmel auf.

Dämmernde Hochwaldnacht lag über dem Wege, nur ganz spärlich vermochten die grüngoldenen Lichtreflexe der Sonne draußen durchzudringen. Hier leuchtete ein roter Kiefernstamm, dort ein grünes, schwellendes Moospolster auf, über das ein goldig schillernder Käfer huschte. Wie auf einem Teppich, gedämpft, leise rollten die Räder dahin, vorsichtig fast traten die Pferdehufe auf. Wie Andacht lag es über allem und allen, die Andacht, die der hehre, stille Wald fast stets dem eindrucksfähigen Menschen ins Herz senkt.

Auch Friedel konnte sich dem Eindruck nicht entziehen. Schon längst ließ sie ihre Lady in der langsamsten Gangart dahin traben. Sie hatte die Mütze abgenommen und ließ sich den leichten Windhauch über die freie Stirne wehen. Die leuchtenden Augen hoben sich zu den Kronen der Bäume und folgten dem neckischen Spiel der Sonnenlichter; tief auf atmete die junge Brust.

Unwillkürlich lenkte Friedel ihr Tier dem Wagen zu. Ein strahlender Blick tauchte tief in die ihr zugewandten Augen des Vaters.

Friedel warf den Insassen des Wagens eine Kußhand zu und stob davon.

»Herrlich, Vaterherz, was?«

Der nickte nur. Auch auf ihn wirkte der Waldeszauber jedesmal sehr stark. Friedels Blick suchte die Tante. Die grollte noch offenbar, denn die Blicke ihrer Augen hafteten am Boden und beachteten gar nicht die Waldespracht.

Die Miß dagegen schien sehr empfänglich dafür. Sie verdrehte die Augen und wies die blinkenden Zähne.

»Sein wondervull hier, sein ganz puächtig, is'nt it, Miss Fuida?«

»Miß Pfuida! Wie bezeichnend. Den Namen könnte Tantchen erfunden haben,« lachte Friedel. »Hörst du, Väterchen, Miß Pfuida, so heißt jetzt dein armer Junge.«

Damit bekam Lady einen kleinen Gertenhieb und das Tier sauste davon – der Waldeszauber war gebrochen.

Die ganze, weit ausgedehnte Waldstrecke lag in der Ebene nach dem in der Ferne sichtbaren Fluß zu. Ellerntal war eine inmitten des tiefsten Hochwaldes liegende Försterei. Herrn Poltens eigene Waldung grenzte daran, und er hatte oft geschäftlich mit dem Förster zu tun.

Man war in einen Hauptweg eingebogen, der fast ganz den Charakter einer Landstraße trug. Der weiche, moosige Waldboden wich festem, gesteintem Grund, und dort tauchte auch schon seitwärts das niedrige, langgestreckte Gebäude des Forsthauses auf. Gegenüber waren unter riesenhohen alten Bäumen Bänke und Tische aufgestellt. Wegmüden Wanderern wurde hier Zehrung gereicht; fröhliche Gäste konnten hier rasten.

Von diesem Privilegium hatte eine lustig lärmende Gesellschaft von Damen und Herren schon Gebrauch gemacht. Man empfing die Nahenden mit Hallo.

»Hallo, Polten, Polten hierher!«

Es war Herr von Ellern, derselbe Herr, den Friedel damals an Lisas Hochzeit Herrn von Rödern als ermunterndes Beispiel eines jungen Gatten aufgeführt hatte.

Der dicke Herr glänzte vor Vergnügen und Weinfröhlichkeit, und die ganze Gesellschaft eiferte ihm nach.

Tante Lenchen war todunglücklich beim Anblick der zechenden Gesellschaft.

»Und Friedel in diesem Aufzug. Heiß sie doch umkehren, Konrad.«

»Sollte mir fehlen,« brummte Papa Polten. »Wo fehlt's denn bei der Kleinen? 's ist doch alles in Ordnung. Ich kann nirgends einen Riß entdecken. Komm schon, komm schon, nur einen Augenblick Geduld.«

Dies galt den immer dringender werdenden Zurufen der Fröhlichen.

Friedel war mit einem Satz von ihrem Tiere, dessen Zügel sie dem heraneilenden Förster zuwarf, und schon mitten im dicksten Gewühle.

»Friedel, Friedel, hierher zu mir,« trompetete Herr von Ellern mit seiner krähenden Stimme. Er war ein alter Freund und Nachbar Herrn Poltens, und auf diesem Vorrecht fußend, nannte er Friedel noch du und bei ihrem Vornamen.

Friedel trat lachend heran, Frau von Ellern, einer gutmütig aussehenden, gleichfalls wohlbeleibten Blondine, die Hand zu schütteln. An dieser Begrüßungsform hielt sie hartnäckig fest, trotz Tante Lenchens flehentlichen Bitten, doch zu knicksen, wie andere wohlerzogene junge Mädchen es taten. »Fällt mir gar nicht ein, Tantchen, weshalb sollte ich so unterducken? Das find' ich einfach lächerlich. Unter Männern ist ein fester Händedruck was wert, und Papas Junge duckt sich nicht!«

Dabei blieb sie.

Inzwischen hatte man auch Tante Lenchen begrüßt und die Miß vorgestellt. Es waren lauter Nachbarn und gute Freunde, meist ältere Damen und Herren.

Friedel war in ihrer drolligen Urwüchsigkeit sehr beliebt, und ihre Nachbarschaft wurde Herrn von Ellern sehr streitig gemacht.

Er trug aber doch den Sieg davon. Tante Lenchen hatte alsbald versucht, bei ihrer Nachbarin, einer stattlichen, eleganten Dame, der Nichte wenig passende Toilette zu entschuldigen.

»Lassen Sie doch, mein liebes Fräulein Polten,« hatte die Dame beruhigend gemeint, »die Kleine sieht ja reizend aus. Sehen Sie doch selbst!«

Und in der Tat. Friedel sah in dem goldbraunen Jäckchen und der Mütze, in der weißen Bluse, mit den leuchtenden, lachenden Augen und dem Kraushaar allerliebst aus, das mußte die Tante selber zugeben. Die Hosen unter dem Rock sah man ja nicht, und dabei beruhigte sich nun auch ihr Zartgefühl.

»Ja, Friedel, Kind,« krähte nun Herr von Ellern wieder, »ich hätte wirklich auf dich warten müssen. Wir hätten ein wundervoll passendes Paar abgegeben, was meinst du?«

Dabei hob er sein Glas gegen seine kleine Nachbarin und blinzelte ihr mit seinen Äuglein lustig zu.

Friedel überflog ihn stumm mit kritischem Blick, der so bezeichnend war, daß Frau von Ellern, die gegenüber saß, in lautes, neckisches Lachen ausbrach.

»Da hast du's! Bild' dir was drauf ein!«

»He, holla, wieso?« polterte der Ehegatte. »Das Kind hat ja noch gar nichts gesagt. Was, Friedel?«

»Umsomehr geblickt,« neckte seine Frau.

»Na, nu los, Friedel, nu aber Farbe bekennen, heraus mit der Sprache!«

Friedel öffnete eben die lachenden Lippen, in ihren Schelmenaugen konnte man die Antwort schon vorher lesen.

Rasch glaubte sich Tante Lenchen ins Mittel legen zu müssen; sie befürchtete eine ungeschickte Bemerkung der meist erschreckend aufrichtig sich ausdrückenden Nichte.

»Lisa läßt sich Ihnen auch ganz besonders empfehlen, Herr von Ellern,« rief die Tante schnell über den Tisch herüber.

Erstaunt horchte Friedel auf, geschmeichelt verbeugte sich Herr von Ellern.

»Aber Tantchen, das muß ein Irrtum sein, ich habe nur gelesen, daß –«

Tante Lenchen war vom Regen in die Traufe gekommen.

Glücklicherweise trat eben der Förster mit einer weiteren Anzahl Flaschen heran und lenkte so die allgemeine Aufmerksamkeit ab.

»Na, Friedelchen, wie kommen Sie denn mit der da zurecht?«

Frau von Ellern fragte es in Bühnenflüsterton ziemlich laut über den Tisch hinüber und zwinkerte nach Miß Miller hin, die gar nicht weit davon saß und etwas hilflos mit weit geöffneten Augen um sich blickte.

Friedel war feuerrot geworden und sah verlegen zu Miß Miller hin, voll Angst, daß sie die etwas unpassende Frage gehört haben könne.

»Sie spricht deutsch, gnädige Frau,« bedeutete sie warnend die Fragende.

Die zuckte wegwerfend die Achseln.

Da wallte Friedels großmütige, warmherzige Natur auf.

»Sie ist sehr nett, gnädige Frau, ich mag sie sehr gerne leiden, und ich bin überzeugt, sie würde niemals jemand mit Bewußtsein weh tun wollen.«

Friedel hatte es ganz laut und vernehmlich gesagt. Eine etwas schwüle Pause entstand, und dann lachte Herr von Ellern gutmütig auf.

»Da hast du's,« nickte er seiner Frau zu, die nun ein klein wenig in Verlegenheit schien, dann aber doch mitlachte. »Gut pariert, Friedelchen! Alle Wetter, meine volle Achtung! Prosit Friedel!«

Friedel hob ihm ihr Glas zu und reichte es dann Frau von Ellern über den Tisch hinüber entgegen. Der Blick ihrer Schelmenaugen war so unwiderstehlich, daß Frau von Ellern mit ihr anstoßen mußte, sie mochte wollen oder nicht.

Papa Polten hatte leuchtenden Blicks, Tante Lenchen rot und blaß werdend den Vorgang verfolgt. Miß Miller saß ahnungslos inmitten.

»Also die junge Frau hat meiner liebenswürdig gedacht?« krähte nun Herr von Ellern in die Pause hinein. Er hatte sich diesmal an Friedel direkt gewandt.

In Friedels Augen leuchtete es; leise zuckte es um ihren roten Mund.

»Ja, gewissermaßen, vergleichsweise eigentlich.«

Friedel sagte das zögernd.

»Wieso?« drängte er.

»Ja, sie meinte, sie sei doch froh, daß Werner –«

Weiter kam sie nicht, Frau von Ellern lachte schallend.

»Da hast du's nun wieder, mein Lieber! Gut für die Eitelkeit, was?« neckte sie ihren Mann.

Der prustete und schnaubte erst etwas, dann aber stimmte er gutmütig in das Lachen der ganzen Gesellschaft ein.

Tante Lenchen aber lehnte in ihrem Stuhl zurück, vollständig außer Fassung, und fächelte sich mit ihrem Taschentuch energisch Kühlung zu.

Dieses Unglückskind! Würde es denn niemals klug werden!

Bruder Konrad aber beugte sich zu ihr.

»Das kommt vom Flunkern, Lene. Laß du ein andermal die Lisa aus dem Spiel!«

Und die Fröhlichkeit der Gesellschaft stieg immer höher. Friedel plapperte drauflos, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Ihr helles, glockenklares Lachen klang so ansteckend, daß sie alle mit sich fortriß.

Mitten im fröhlichsten Necken und Plaudern – Friedel beschrieb eben zur Erheiterung der ganzen Gesellschaft das Kunstreiterstückchen, womit sie sich diesen Nachmittag bei den Ihren eingeführt hatte –, mitten in der lustigsten Unterhaltung wurden Friedels Augen plötzlich starr und hafteten mit dem Ausdrucke des Entsetzens an irgend einem Punkte hoch oben in den Baumwipfeln. Wie gebannt starrte sie dort hin und legte den Finger, Schweigen gebietend, an die schreckensbleichen Lippen.

Zugleich ertönte durchdringendes Geschrei, das Geheul eines kleinen Jungen offenbar, das alle Augen nach der Gegend lenkte, woher es kam. Jetzt war der Grund von Friedels Entsetzen klar.

Hoch oben in dem Wipfel einer mächtigen, uralten Eiche hing an einem der äußersten, schwanken Äste, aufgespießt am Jackenzipfel, ein kleiner Junge von etwa fünf Jahren und schrie fürchterlich. Sobald er sich nur im geringsten bewegte, kam der dünne Ast bedenklich ins Schwanken, und so hatte der kleine Bursche im untrüglichen Selbsterhaltungstrieb jedes Haschen von Armen und Beinen nach einer festeren Stütze aufgegeben und brüllte nur aus Leibeskräften.

Friedel, die das Hinauskriechen des Jungen auf dem dünnen Aste wohl bemerkt, aber gehofft hatte, er würde, wenn nicht gestört, sich allein zurechtfinden, war beim ersten Hilfeschrei aufgesprungen und allen voraus schon unter der Eiche.

Atemlos kam der Vater des Kleinen vom Hause herbeigeeilt; händeringend, jammernd, hastete die Mutter hinterdrein, keuchend schleppte ein Knecht eine hohe Leiter herzu.

»Weg mit der Leiter,« herrschte ihn der Förster an, »der Ast bricht, wenn man versucht, sie anzulegen. Man muß hinauf. Aber leider, der dünne Ast trägt ja keinen Mann!«

Dem armen Vater schlugen die Zähne wie im Frost zusammen. Die ganze Gesellschaft umdrängte ihn. Man jammerte durcheinander. Gellend klang der Hilfeschrei des Kleinen dazwischen.

Friedel hatte einen Augenblick überlegend unter dem Baume gestanden, mit Kennerblick die zu erklimmende Höhe gemustert. Dazu hatten die Augen in dem bleich gewordenen Gesicht wie Flammen gelodert. Krampfhaft nestelten die Hände an ihrem Anzug herum und plötzlich fiel der Rock. Ehe jemand aus der Gesellschaft es sich bewußt wurde, war Friedel, flink wie ein Eichkätzchen, schon auf halber Höhe des Baumes.

Man hielt den Atem an und verfolgte ihr Beginnen wortlos und zitternd.

Die arme Mutter hatte ihr Jammern eingestellt und stumm die Hände gefaltet. Der Förster wischte sich mit dem roten Tuche unablässig den Schweiß von der Stirn.

Vater Polten war totenblaß geworden und hielt krampfhaft Miß Millers Hand gepackt, die im ersten Schreck zu ihm hingeeilt war.

Tante Lenchen hatte ein entsetztes: »Konrad!« gerufen, sich dann aber wortlos nach dem abgeworfenen Rock gebückt, den aufgerafft und stand nun bleich und zitternd an der Seite des Bruders.

Friedel war unterdes auf halber Höhe umgekehrt und wieder etwas tiefer gerutscht.

»Ein Seil!« rief sie mit klingender Stimme den unten Harrenden zu.

Im Handumdrehen war eins zur Stelle, der Förster selbst warf es ihr zu. Sie fing geschickt das Ende und rollte es auf, worauf sie sich die Rolle über den Arm hing und wieder aufwärts kletterte.

Der kleine Fritz hatte mittlerweile sein Schreien eingestellt und verfolgte seinerseits atemlos die Klimmarbeit seiner Retterin. Nur, als sie vorhin umgekehrt war, hatte sein gellendes Geschrei wieder eingesetzt.

»Ruhig, Fritzchen,« hörte man Friedel rufen, »bist ein tapferer kleiner Mann, wollen schon wieder richtig zusammen hinunterkommen.«

Fritzchen schluckte ein paarmal, war aber mäuschenstille.

Nun war Friedel oben am Stamm in der Höhe des Astes angelangt, der den kleinen Unglücksmann trug. Jetzt begann das Gefahrvolle des Unternehmens.

Papa Polten wurde noch um einen Schatten bleicher, und Tante Lenchen legte zitternd die Hand auf seinen Arm.

Friedel hatte sich vom Stamme aus in ihrer ganzen Länge auf dem Aste ausgestreckt und suchte mit tastender Hand den Kleinen zu erreichen.

Umsonst! Über eine Armlänge fehlte.

Vorsichtig schob sie sich wieder zurück, dem schützenden Stamme zu. Sie wagte offenbar nicht, dem schon so schwer belasteten Ast noch mehr zuzumuten.

Wie sie zurück wich, begann Klein-Fritze sein Zetergeschrei von neuem.

Man hörte, wie Friedel ihm mit weicher Stimme Trost zusprach.

Sie stand an den Stamm gelehnt und überlegte. Mit keinem Wort wagten die unten sie zu stören. Totenstille lag über allen, nur von dem krampfhaften Aufschluchzen der Mutter unterbrochen.

Wieder kam Leben in die sinnende Gestalt oben. Friedel klomm noch ein Stückchen höher und fing dann an, auf dem Aste, der unmittelbar über dem Kinde sich befand, sich vorwärts zu schieben.

Auch er war schwank und dünn und beugte sich so bedenklich unter der Last des jungen Körpers, daß Tante Lenchen einmal laut hinaus schrie und dann das Gesicht an der Schulter des Bruders barg.

Vorsichtig, tastend, Zoll um Zoll arbeitete sich Friedel vorwärts. Jetzt schien die äußerste Grenze erreicht, ein weiteres Vorwärtsschieben vertrug der Ast offenbar nicht mehr, ohne zu brechen. Auch Friedel war dies klar.

Eine kurze Weile lag sie regungslos, bis die Schwingungen des Astes etwas nachgelassen hatten, dann begann sie an ihrem Seil zu nesteln. Man hörte, wie sie dem Kinde immerfort zuredete.

Jetzt erschien das eine Ende des Seiles. Fritzchen haschte danach und versuchte, offenbar genau der ihm gewordenen Weisung folgend, es sich um den Leib zu schlingen.

Es wollte dem kleinen Burschen aber nicht gelingen, und schon begann sein Jammern aufs neue. Dabei geriet der Ast in so heftige Schwankungen, daß das Schlimmste zu befürchten stand.

Man hielt den Atem an, und die Damen der Gesellschaft schluchzten nun mit der armen Mutter und Tante Lenchen um die Wette.

»Ruhig, Fritz,« hörte man Friedel mit klarer, heller Stimme sagen, »ruhig, aufgepaßt, du bist doch sonst ein mutiger Junge. Jetzt hör' mal schön zu. Wenn die Schlinge kommt, die ich jetzt mache, dann siehst du zu, daß du sachte den Kopf durchsteckst und dann ziehst du sie dir ganz vorsichtig um den Leib, hörst du?«

Fritz mußte verstanden haben, denn wie nun die Schlinge erschien, die Friedel geschickt gemacht hatte, da gelang es dem Jungen ohne allzu viel Anstrengung, sie heranzuholen, hinein zu schlüpfen und um den Leib herum fest zu ziehen.

So hing er nun in der Schlinge, und alles atmete auf.

Aber Friedels Rettungswerk war noch lange nicht vollendet. Nun galt's, den Jungen ungefährdet, und ohne daß der Ast brach, dem Stamme näher zu bringen, wo er erst wirklich in Sicherheit war.

Sowie der Förster Friedels Absicht mit der Schlinge verstanden hatte, war er am Stamme nach oben geklettert, um zu helfen, so viel er konnte.

Langsam begann sich nun Friedel auf ihrem Ast rückwärts zu schieben. Fritzens Ast hob sich in dem Maße, als sie die Schlinge mit sich zog. Wenn er durch einen unvorsichtigen Ruck brach, ehe sie den bergenden Stamm erreicht hatte, dann waren sie beide verloren. Der Ast, auf dem sie lag, wäre der vermehrten Last nicht gewachsen gewesen.

Langsam, Zoll für Zoll schob sie sich zurück. Totenstille oben und unten. Wie leblos hing Fritz in seiner Schlinge; er schien sich der Gefahr des Augenblicks bewußt zu sein.

Regungslos seinerseits stand der Förster am Stamm. Er hatte einen sicheren Stützpunkt für seine Füße gefunden und bog sich durch eine Gabel des Stammes vor, die ihm im Notfall Stütze sein konnte gegen den furchtbaren Ruck, den ein etwaiges Brechen beider Äste im letzten Augenblick veranlassen konnte.

Zoll um Zoll kam Friedel näher, Zoll um Zoll hob sich der Ast mit dem Kinde.

Noch Armeslänge, und der Förster konnte das Seil, das Friedel hielt, fassen!

Jetzt noch einen halben Meter etwa, nun noch weniger – da – ein Ruck – ein Krachen – ein Splittern und Bersten!

Mit einem Entsetzensschrei hatte der Förster sich vorgeworfen, halben Leibes über der Gabel hängend.

Im letzten Augenblick noch erhaschte er das Seil. An der Schwere fühlte er, daß das Kind in der Schlinge hängen mußte.

Wo aber war Friedel?

Für einen Augenblick vergingen ihm fast die Sinne, er mußte die Augen schließen.

»Anziehen, Herr Förster!« klang da eine klare, ruhige Stimme.

Er öffnete die Augen.

Friedel lag noch wohlbehalten auf ihrem Aste. Sie hatte die Arme um einen ihr naheliegenden stärkeren Zweig geschlungen und schien guter Dinge. Nun zog der Förster. Einen Augenblick, und er hielt sein gerettetes Kind wohlbehalten im Arm. Fritz schlang die Ärmchen um des Vaters Hals und barg das bleiche, tränenüberströmte Gesichtchen an seiner bärtigen Wange.

»Bengel!« war alles, was der Vater sagen konnte, aber der Druck des Armes, der das Kind an die Vaterbrust schloß, redete Unsagbares. »Einen Augenblick, Fräulein,« flüsterte der Förster mit heiserer Stimme Friedel zu. »Ich will nur den Bengel unten absetzen, ich bin gleich wieder oben und helfe Ihnen.«

»Danke, ich komme schon allein hinunter,« klang es hell und fröhlich zurück und eilig rutschte Friedel hinter dem Förster drein.

Im Begriff, nach unten abzuspringen, besann er sich eines anderen. Er trat auf einen Seitenast und ließ Friedel voran.

»Wenn Sie unten sind, Fräuleinchen, nehmen Sie mir den Bengel ab, Sie müssen ihn selber seiner Mutter in die Arme legen, denn Sie allein haben ihn gerettet. Ohne Sie wär' er verloren gewesen, fürcht' ich.«

Des starken Mannes Stimme zitterte bedenklich.

Gehorsam sprang Friedel ab und hob dann die Arme, die kleine, gerettete Last zu empfangen.

Kein lautes Wort begrüßte sie. Die Damen schluchzten noch, und auch die Herren zeigten zum Teil schreckensbleiche Gesichter.

Fast ehrerbietig machten alle der jungen, mutigen Retterin, Platz, wie sie anmutig und anspruchslos auf die schluchzende Mutter zuschritt und ihr den geretteten Liebling in die Arme legte.

»Da, Mutter Keller, da habt Ihr Euren Fritze,« sagte sie einfach mit ihrer hellen, klaren Kinderstimme.

Die Frau drückte den Jungen einen Augenblick fest an sich. Fritzchen war so überwältigt von der Feierlichkeit des Augenblickes und der Wichtigkeit seiner eigenen kleinen Person, daß er laut zu heulen begann.

»Still, Junge, willst du wohl,« raunte ihm die Mutter zu, »wir müssen doch dem Fräuleinchen danken, daß sie dich da herunter geholt hat.«

Mit einem Arm hielt sie den Jungen an sich gepreßt, mit der anderen Hand haschte sie nach der Friedels, der nun die Verlegenheit das heiße Blut in das junge Gesicht trieb, als die Frau diese Hand innig an die Lippen zog.

»Laßt doch, Mutter Keller, laßt doch,« wehrte sie schämig und verlegen, »es war doch so natürlich und so einfach.«

»Jawohl, einfach!« knurrte der Förster, der daneben stand, und alle seine Gefühle, alle seine Verlegenheit an der Mütze ausließ, die er abwechselnd zum Klumpen ballte und dann wieder mit der Faust glättete, »sehr einfach! Hätte einfach das Leben oder doch die geraden Glieder kosten können!«

»Na, so schlimm war's wirklich nicht,« lachte Friedel auf, »wollen nun weiter gar nicht davon reden. Ein andermal bleibt der Fritze hübsch unten, nicht, Fritze? Oder kletter doch nicht so hinaus auf die äußerste Spitze. Was hast du denn eigentlich droben gewollt, Junge?«

»Vogel holen! So fein gepfeift,« stotterte Fritz unter erneutem Heulen.

»Hurra, ein Hurra für die mutige Retterin!« brach nun Herr von Ellern das noch immer auf allen lastende Schweigen, und die allgemeine Ergriffenheit schlug plötzlich in den tollsten Trubel um.

Man umdrängte Friedel von allen Seiten, man wollte ihr die Hände drücken oder das leuchtende junge Gesicht küssen.

Friedel war zum Vater geflüchtet, der ihr stillschweigend die Hand hinstreckte und ein zärtliches »mein Jungchen« dazu flüsterte.

Tante Lenchen streichelte ihr die heißen Wangen; die gute Dame vergaß in der Weihe des Augenblicks selbst den Rock, den sie noch immer krampfhaft an sich gepreßt hielt. Miß Miller hatte Friedels Hand gefaßt: » Good girl – brave girl,« versicherte sie mit Stentorstimme und bekräftigte jeden Ausruf mit einem Ruck an Friedels Arm, als ob sie an einem Glockenstrang ein dringendes Notsignal geben wollte. Die andere Hand schüttelte, wer ihrer eben habhaft werden konnte. Eine Weile ließ Friedel alles, wie betäubt, still duldend, über sich ergehen. Plötzlich befreite sie sich mit einem energischen Ruck. »Nun laßt mich aber los! So'n Aufhebens um die Kleinigkeit zu machen! Papas Junge ist schon auf ganz andere Bäume gestiegen. Hurra!«

Und all ihre Erregung, all ihre Verlegenheit, all ihre Rührung machten sich in diesem Rufe Luft. Wie toll drehte sich Friedel im Kreise, wie toll schrie sie Hurra und immer wieder Hurra.

Alle lärmten und schrieen mit. Nun erst kam Tante Lenchen das mangelnde Kleidungsstück zum Bewußtsein.

»Friedel, Friedel!« «

Aber Friedel hörte nicht, sie drehte sich immer weiter im kreisenden Wirbel.

Nun suchte Tante Lenchen sie einzufangen und hielt sich mit dem einladend ausgebreiteten Rock immer dicht hinter dem Kobold. Friedel wollte anscheinend nichts hören, drehte sich aber doch allmählich einer dicken Baumgruppe mit mächtigen Riesenstämmen zu, hinter denen sie samt der Tante verschwand, um auf der anderen Seite alsbald wieder in glücklich veränderter Bekleidung zu erscheinen. Tante Lenchen atmete auf. Kurze Zeit nur ließ man sich noch nieder, dann drängte Papa Polten zum Aufbruch.

»Sie haben ein schönes Tagewerk hinter sich, liebe Friedel, Sie werden gut ruhen heute nacht!« meinte Frau von Ellern zum Abschied.

Friedel rümpfte das feine Näschen. »Deshalb? Ich schlafe immer wie ein Murmeltier. Man muß mich schon tüchtig in den Arm kneifen oder am Schopf rütteln, wenn man mich wach kriegen will, was, Tantchen?«

»Glückliche Jugend!« seufzte Herr von Ellern.

»›Du hast nicht immer deine sechzehn Jahr, nicht immer dieses schöne Rot und Weiß‹ –« intonierte Friedel schelmisch mit ihrer glockenreinen Stimme. »Ja, ja, die Locke, die wird mangelhaft, vom Zahn der Zeit dahingerafft, nicht, Herr von Ellern?« Der drohte ihr mit erhobener Hand. Lachend entschlüpfte ihm Friedel und flog dem Förster entgegen, der eben die Lady vorführte.

Mit einem Sprung, als sei sie von einer Feder emporgeschnellt, war sie auf dem Rücken des Tieres, grüßte die ganze Gesellschaft noch einmal anmutig und stob davon, daß die Funken flogen. In einer Minute war sie den Blicken der verdutzt hinterdrein Schauenden entschwunden.

»Tolle Hexe!«

»Reizender kleiner Kobold!«

»Prächtiges Mädel!«

Man umdrängte Papa Polten, beglückwünschte ihn und schüttelte ihm die Hände.

»Ja, ja, mein Jungchen ist ein guter Kerl,« meinte er gerührt.

Gereizt unterbrach ihn Tante Lenchen.

»Tu mir den einzigen Gefallen, Konrad, und nenne das Kind nicht mehr so. Wie soll da je eine wohlerzogene junge Dame daraus werden?«

»Ist auch nicht nötig,« schwebte dem alten Herrn schon auf der Zungenspitze, doch besann er sich noch rechtzeitig.

»Bitte um Entschuldigung, meine Herrschaften,« meinte er lächelnd, »also ›mein Fräulein Tochter‹ ist ein gutes Mädel! Ist es so recht, Lenchen?«

Die wandte ihm den Rücken, Miß Miller aber nickte eifrig.

»Miß Fuida sein ein prächtiges Mensch, sein eine tapfere Mädel, sein good girl, sein brave girl!«

Die Miß war ganz begeistert. Ihre guten Augen glänzten, und ihre weißen Zähne leuchteten.

»Bravo! Bravo! Polten, ich komme dir eins! Der Miß mit! Merkwürdig gesunder Verstand! Ihr Wohl, Miß, Ihr ganz spezielles!«

Herr v. Ellern krähte es. Lachend tat man ihm Bescheid.

Dann verabschiedeten sich Poltens.

Unterwegs stieß aus einem Seitenpfad die kleine Durchgängerin mit Hallo und Hussa wieder zu den Ihren.

*

»Was sagst du heute zu dem Kinde, Lenchen?«

Stolz fragte Papa Polten es am Abend spät vor dem Schlafengehen seine Schwester.

Tante Lenchen zögerte. Dann glitt ein milder Schein über ihr gutes, altes Gesicht.

»Tapfer hat sie sich ja benommen, die Frida, wirklich tapfer und umsichtig – aber, Konrad, die Miß – die Miß, die taugt nicht für uns!«

»Daß dich! Gerade! Besser hätten wir gar keine finden können. Die versteht das Kind und –«

»Und macht einen Husaren daraus, wenn es nicht schon einer ist.«

Tante Lenchen sagte es herausfordernd, fast höhnisch.

»Wenn auch, was liegt daran. Laß mir das Frauenzimmer in Ruhe; hat das Herz auf dem rechten Fleck, und das ist die Hauptsache. Alles andere ist Schnickschnack, basta!«

Tante Lenchen zuckte die Achseln und ging hinaus. –

Es war Sonntag nachmittag.

Frida und Miß Miller standen vor dem Pfarrhause. Sie wollten dem Pfarrer einen Besuch abstatten.

Sonntägliche Stille lag über dem Dorfe. Die breite, gerade Dorfstraße zeigte wenig Leben. Hie und da saßen vor den Türen vereinzelte Leute auf den Bänken. Hier ein Greis, der sich mit seiner Pfeife sonnte, dort eine werktagsmüde Hausfrau, die mit Genuß einmal die fleißigen Hände im Schoße ruhen ließ. Hier dehnte sich ein ruppiger Köder, dort ringelte sich ein Kätzchen im Knäuel zusammen und blinzelte in die liebe Sonne.

Ein Lärm, der von einem vereinzelt an einem kleinen Platz etwas zurückstehenden Hause – dem Wirtshause – schallte, ließ ahnen, wo der größte Teil der Gemeinde versammelt war.

Aus der Ferne, vom Gehölz her, schallten Lieder jugendfrischer Stimmen – Burschen und Mädchen waren wohl da hinausgezogen. Auf dem großen, freien Kirchplatz spielten Kinder.

Miß Miller und Friedel standen vor einem verschlossenen Tore. Der alte Pfarrer weilte wohl hinten in seinem Garten. Seine alte Haushälterin war taub. Ein Versuch mit der Türschelle schien also vergebens.

Schon wollte Friedel umkehren, da sah sie von der Ferne her den Vater und Tante Lenchen eben aus dem großen Hoftor des väterlichen Hofes heraustreten. Die beiden wollten die Vorangegangenen bei dem Pfarrer treffen, um dann gemeinsam einen Spaziergang zu unternehmen.

Da blitzte in Friedel ein Gedanke auf, der Schalk saß ihr im Nacken.

» We must schuellen, Miß Miller!«

» Ring the bell, you mean, oh yes!«

Eifrig suchte die Miß nach einer Glocke am verschlossenen Gittertor.

Dieses lag knapp an der Straße. Dicht dahinter führten etwa acht Steinstufen zur Haustüre. Eine Klingel war am Außengitter nicht zu finden, dagegen zeigte die Haustür einen kleinen Schellengriff. Außerdem hing dort, freischwebend im Holzgestell, mit kleinem Dächlein überschattet, eine ziemlich große Glocke, womit der Geistliche bei dem Religionsunterricht, den er im Hause erteilte, seine Schüler nach den Freipausen wieder zu sammeln pflegte.

Dorthin wies Friedel, der Schalk.

» We must ring that clock!«

» Bell, you mean,« verbesserte die unermüdliche Miß.

»Meinethalben. Aber we must diese bell there ringen, Miss Miller; sonst Herr Pfarrer does not hear us.«

» Oh yes, I understand. But we can't reach it, nickt ueiken.«

»Nicht reichen? O doch – oh yes – so!«

Mit zwei Sprüngen war Friedel am Gittertor oben, beugte sich über und mühte sich nun, das Seil zu fassen, das von der Glocke niederhing.

Umsonst! Wie sich der Schelm auch anscheinend ausrenkte und danach griff, rechts und links, drüber und drunter, sie griff daneben, das Seil ließ sich nicht fassen.

Ein Seitenblick in die Straße überzeugte sie, daß sie sich beeilen mußte, wenn der Streich gelingen sollte. Vater und Tante waren nicht mehr allzu weit.

» I can't ueiken it!«

Damit sprang Friedel ab, anscheinend ganz rot und heiß vor Anstrengung.

» Reach, you mean! What shall we do?«

» You try it!«

Ein Schelmenblick traf Miß Miller. Ob sie wohl auf den Vorschlag einging?

Eifrig trat die Nichtsahnende – sie stand mit dem Rücken der Richtung zu, woher das Unheil nahte – an das Tor heran. Mit nicht weniger Geschicklichkeit als Friedel, nur etwas schwerfälliger, schwang sie sich hinauf.

Gerne hätte ihr Friedel, der die Sache, angesichts der immer näher rückenden Gefahr, doch leid wurde, Einhalt getan.

Zu spät!

Schon hatte sich Miß Miller vornübergebeugt, mit festem Griff das Seil erfaßt, und von ihrer kräftigen Hand gezogen, gellte die Glocke mit durchdringendem Ton durch die feierliche Sonntagstille der Straße.

Schon hatte Miß Miller das Seil erfaßt.

Nun kam urplötzlich Leben und Bewegung in die Szene.

Eine Anzahl Kinder trabten eiligst herzu und umstanden mit weit aufgerissenen Augen und Mäulern das wunderbare Schauspiel. Fenster wurden aufgerissen, Hunde stürzten kläffend herbei. Drunten am Wirtshausplatz sammelte sich eine Gruppe von hemdärmligen Männern, die mit roten Köpfen und aufgeregten Gesten untereinander sprachen und riefen. Friedel wurde es, trotzdem sie vor unterdrücktem Lachen fast erstickte, doch nun angst und bang. Sie zupfte Miß Miller am Rock.

Die achtete in ihrem Eifer gar nicht darauf.

» Nobody 'll come yet. Sein niemand nix da!«

Und noch energischer riß sie am Seil.

Da öffnete sich eilig oben ein Fenster im Pfarrhause. Die große, weiße Haube der Haushälterin zeigte sich, und unten streckte a tempo der alte Herr sein erregtes Gesicht zur offenen Tür hinaus.

Das Wort erstarb ihm im Munde beim Anblick, der sich ihm bot.

»Wo brennt's denn, Miß Miller?« klang im selben Augenblick Herrn Poltens Stimme von der Straße her. Gleichzeitig drohte er Friedel mit dem Finger; er hatte die Situation sofort erfaßt. Tante Lenchen stand starr und stumm, und ebenso starr und stumm stand Miß Miller oben auf ihrem erhöhten Standpunkt. Sie konnte die Augen nicht von Tante Lenchens Gesicht wenden, wie das Kaninchen von der Boa constrictor.

»Wollten Sie nicht vielleicht doch lieber nun herunterkommen, meine Liebe, nachdem Ihre ungemein sinnige Art und Weise, sich Eingang in fremder Leute Häuser zu verschaffen, Erfolg gehabt hat?« Tante Lenchen fragte es eisig.

Beschämt, mit hochrotem Kopf begann Miß Miller den Abstieg.

» I – I – Miss Fuida –« stotterte sie.

Sofort eilte Friedel zu Hilfe.

»Ja, Tantchen, ich bin ganz allein schuld, aber – ha, ha, ha – es war zu komisch!«

Um die Welt hätte sie diesen Heiterkeitsausbruch nicht unterdrücken können.

Sie stürzte auf Miß Miller zu und umfaßte sie stürmisch.

» Dear Miss Miller, I – I – must laugh – beg pardon – I – lovely girl – pretty town – little boy – handkerchief – very well indeed – buff!«

Also schloß Friedel ihr englisches Brillantfeuerwerk. Und dann lachte sie wieder, lachte so frisch, so herzerquickend, so unwiderstehlich, daß jedermann, der's hörte, mitlachen mußte. Nur Tante Lenchen nicht. Die stand unbeweglich mit eisiger Miene, schüttelte den Kopf und ließ den Blick vom einen zum anderen gehen.

Papa Polten aber lachte, daß ihm die Tränen in den weißen Bart liefen; der Pfarrer lachte, die Kinder lachten und schrieen, ja von der Ferne her antwortete ein Chorus tiefer Männerstimmen. Die Leute vor dem Wirtshaus dort nahmen ebenfalls teil an der allgemeinen Heiterkeit.

Endlich faßte sich der alte geistliche Herr.

»Wollen die Herrschaften aber nun nicht näher treten, nachdem der Eingang, dank englischer Energie, frei geworden ist? Meine liebe Miß, darf ich Sie in Ihr erobertes Gebiet geleiten? Bitte!«

Schalkhaft, mit altväterischer Galanterie, bot er der noch immer verdutzt dreinschauenden Miß den Arm.

Letztere atmete sichtlich auf, legte die Hand auf den ihr gebotenen Arm und folgte dem alten Herrn.

Friedel drängte sich zu Tante Lenchen.

»Tantchen!«

Keine Antwort. Stumm schritt die Tante die Stufen empor.

»Tantchen, ich bin ganz allein an der Geschichte schuld. Ich hab's der Miß erst vorgemacht und mich gestellt, als ob ich den Strick nicht fassen könnte. Sie ist so furchtbar gutmütig, da wollte sie mir helfen und ging auf den Leim und – wirklich, Tantchen, du darfst ihr nichts drüber sagen.«

Beleidigt rauschte Tante Lenchen weiter und antwortete mit keiner Silbe.

Verzweifelt wandte Friedel sich an den Vater.

»Papa, wirklich, die Miß darf keine Schelte kriegen, sonst – sonst –« sie wußte nicht gleich, womit sie drohen sollte – »sonst tu' ich was Schreckliches; ihr werdet schon sehen!«

Jetzt war ihr das Weinen nahe.

Papa Polten legte den Arm um die Schultern seines Kindes.

»Na, na, Jungchen, nur stet. Wollen sehen, wie die Sache sich gabeln läßt.« Dabei winkte er bezeichnend nach Tante Lenchen hin.

Nun war man im Garten angelangt, einem echten, alten Pfarrgarten, so wie man ihn tausendfach sieht. Schnurgerader Weg durch die Mitte, schnurgerade Wege nach den Seiten, alle mit breiten von Buchs eingefaßten Rabatten begrenzt, auf denen Blumen aller Art in wunderbarer Farbenpracht und Üppigkeit blühten. Dahinter Gemüsefelder, Kartoffelstücke, auch Rasenplätze mit Obstbäumen bestanden, dazwischen Beeren jeder Sorte.

Dicht hinter dem Hause, inmitten eines Kiesplatzes, war ein großes, rundes Beet mit dem wunderbarsten Rosenflor bestanden.

Die Rosen waren des Pfarrherrn Lieblinge, sein Stolz und seine ganze Freude.

Dort stand er eben jetzt und schnitt einen vollen, duftenden Strauß, den er Miß Miller mit freundlichen Worten darbot.

In deren gutes Gesicht trat wieder das erste freudige Aufleuchten seit der Szene an der Pforte draußen.

Friedel ergriff ohne weiteres des alten Herrn Hand und schüttelte sie kräftig.

Der drohte ihr lächelnd.

»Aha, wir fühlen unsere Schuld! Nun, am Sonntag wird nichts nachgetragen, was, gnädiges Fräulein?«

Das galt Tante Lenchen. Die war aber noch bis obenhin zugefroren und taute auch nicht auf, als man dann einen Waldspaziergang machte, wobei den andern so wohl und warm ums Herz wurde, daß kein Gedanke an des Lebens Plage da draußen in der Welt mehr Raum hatte.

Friedel hatte ihren Arm durch den Miß Millers geschoben.

»Sind Sie mir noch böse?«

» Angry, you mean! Me? Oh no. Only –«

Ein bezeichnender Blick nach Tante Lenchen vollendete den Satz.

»Ach, lassen Sie, das bring' ich schon in Ordnung. Im übrigen –«

» Do talk English please!«

Miß Miller hatte einen halben Blick Tante Lenchens aufgefangen, und ihre Stimme klang förmlich beschwörend.

Friedel hatte den Blick auch gesehen und beeilte sich zu der Tante Erbauung, die nur sehr wenig Englisch verstand, eines ihrer beliebten Brillantfeuerwerke loszulassen.

» Never mind – dreadful beast – thorny bush – sunny day – lovely weather – beautiful tree – Pears soap – Beechams pills – ever yours – amen!«

Tante Lenchen schien offenbar erbaut von der Nichte Beredsamkeit in der fremden Zunge. Ein etwas milderer Zug lagerte sich um ihren Mund.

Ehe noch Miß Miller ihrem Staunen Ausdruck geben konnte, intonierte Friedel mit ihrer hellen, klaren Stimme:

»Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch da droben?«

Summend fiel Papa Polten ein, summend auch der alte Pfarrherr. Ja, man unterschied zuweilen Töne, als ob jemand sekundierte, und da das Tante Lenchens Stärke und Stolz bedeutete, so blieb anzunehmen, da unter den Anwesenden sonst niemand dergleichen zuzutrauen gewesen wäre, daß Tante Lenchens Eis am Tauen sei.

So endete der schöne Waldspaziergang doch noch in wenigstens äußerlicher, hörbarer Harmonie.

Dem Bruder hatte Tante Lenchen versprechen müssen – wenn auch sehr widerwillig –, der anstößigen Sache weiter nicht zu erwähnen.

Friedel habe ihre Schuld eingesehen und bereut, die Miß aber sei kaum verantwortlich zu machen für etwas, das ihr in der Unkenntnis der Verhältnisse vielleicht als ganz natürlich erschienen sei.

»Larifari! Eine Dame steigt auch bei den Kaffern nicht auf ein Gittertor und reißt wie unsinnig an einer Glocke herum, daß auf den mörderlichen Lärm hin das ganze Dorf zusammenläuft. Diesmal will ich noch schweigen. Passiert aber das nächste Mal dergleichen, dann – good bye, Miss Miller!«

Dabei hatte die Sache denn auch ihr Bewenden und ein paar Wochen lang war Friedel in heißem Dankgefühl darüber so zahm, daß selbst Tante Lenchen an einen Umschlag zum Guten und trotz allem an Miß Millers erfolgreichen Einfluß zu glauben begann.

Die Briefe an Lisa waren voll Triumph und Zuversicht.

Da kam etwas, das Tante Lenchen aus allen Himmeln und so hart auf den Erdboden schleuderte, daß ihr alle ruhige Überlegung abhanden kam.

Der Augustnachmittag war drückend schwül und heiß. Kein Lüftchen regte sich unter den dichten Bäumen. Nur zuweilen rauschte es leise, ganz leise oben in den Wipfeln, als ob dort ein ebenfalls hitzematter Windhauch hineinführe, nur um nicht ganz aus der Übung zu kommen. So recht bei der Sache war er nicht.

Auch Friedel war ganz und gar nicht bei der Sache. Sie saß mit Miß Miller im Schatten der Baumgruppe. Das heißt, Miß Miller saß und Friedel hatte sich auf dem Rasen zu ihren Füßen hingestreckt. Sie lag auf dem Rücken, hatte die Hände unter den Kopf geschoben und starrte in das grüne Blätterdach zu ihren Häupten.

Miß Miller las Tennysons »Enoch Arden«. Sie las gut und voll Gefühl, aber Friedel, auf die sonst alles dergleichen wirkte, als ob man den Saiten eines Instruments Töne entlockte, Friedel gab keinen anerkennenden Ton von sich. Sie blinzelte schläfrig nach oben und konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

Miß Miller sah auf. Sie war entrüstet, »Enoch Arden« war ihr ganz besonderer Liebling.

» Don't you feel the beauty of it all? Fühlen Sie nix der Schönheit von die Buch?«

» No, I only feel the heat,« gähnte Friedel.

» You read then!«

Friedel probierte. Umsonst. Sie stolperte, stockte, verbesserte sich, stolperte wieder und – warf das Buch weg.

» Miss Fuida!«

So vorwurfsvoll hatte Miß Millers Ton noch nie geklungen.

»Ach was, Pfuida, ist nur die Hitze,« suchte sich Friedel zu rechtfertigen. Sie wurde noch viel röter im Gesicht, und die Hitze, die ihr durch alle Glieder rann, war sichtlich plötzlich so gestiegen, daß sie aufspringen mußte.

Auf allen Vieren kroch sie zu dem Buche, das sie wie ein Hund mit dem Mund apportierte. Bis zu Miß Millers Sitz hinrutschend, bot sie es ihr dar.

Miß Miller mußte lachen. Der Anblick, vor allem Friedels zerknirschte Augen, die unter dem krausen, überhängenden Stirnhaar vorblitzten, waren zu drollig.

» Not too hot for such tricks, seems to me – nickt too heiß for nonsense,« meinte sie gutmütig.

Friedel schüttelte den Kopf, daß die krausen Haare flogen.

»Uff! Man muß was tun, daß man die Hitze vergißt!«

Sie war aufgesprungen und sah um sich. Aus der Tiefe des Parks dunkelte es verlockend kühl.

Sie wies mit der Hand dahin.

» Let us go there, it looks so nice and cool!«

Miß Miller erhob sich bereitwillig.

» Let us go then!«

Da flog Friedel noch etwas durch den Sinn. War denn dahinten im Park nicht der Teich? Wie herrlich mußte es bei der Hitze im Wasser sein. Früher war Friedel im Sommer fast täglich wie eine Ente drin herumgeschwommen. Seit der Konfirmation freilich hatte Tante Lenchen diese Schwimmübungen verboten. Der Teich lag nicht versteckt genug, das heißt, das hintere Gittertor des Parks war gewöhnlich geöffnet und die Dorfbewohner hatten die Erlaubnis, wenn sie wollten, ihren Weg zur Kürzung durch den hinteren Teil des Parks zu nehmen.

Dieser Weg nun kam dem Teich sehr nahe. Tage konnten freilich vergehen, ohne daß eine Seele von dieser Erlaubnis Gebrauch machte, aber man war doch immerhin nicht vor Überraschungen sicher.

Also hatte Tante Lenchen das Schwimmen im Teiche verboten.

»Im Seebad schwimmt man doch auch öffentlich und jeder kann zusehen,« hatte sich Friedel zu wehren gesucht ...

»Wer daran Geschmack findet, mag's tun,« hatte Tante Lenchen spitz gesagt. »Ich halte auf Anstand und Reputation, und du bleibst mir aus dem Wasser.«

Dabei war's geblieben.

Heute nun, an diesem heißen Tage, tauchte der Teich gleich einer verlockenden Vision vor Friedels Geistesaugen auf. Es wurde ihr ordentlich kühl nur bei dem Gedanken.

Sie zog Miß Miller mit sich fort.

» Let us run!«

» Me, I can't!« Und die Miß keuchte hinter der voranhuschenden Friedel drein.

Die lag schon eine Weile bequem unter einer hohen Baumgruppe ausgestreckt, als Miß Miller ganz erhitzt und außer Atem anlangte.

» Oh how sweet! Let us read here!«

Und Friedel holte gehorsam das Buch vor.

Sie las, aber man hörte der Stimme an, daß sie nicht bei der Sache war.

Mitten im Satz ließ sie das Buch fallen.

»Puh, die Hitze! Ich kann nicht mehr.«

» Let me read then!«

Miß Miller las, bis ein lautes Gähnen Friedels sie unterbrach.

» Miss Fuida!«

Friedel war aufgesprungen.

»Ach was, seien Sie nicht böse. Ich kann nicht mehr lesen, ich muß ins Wasser!«

»Ins Ua – into the water?«

Miß Miller traute ihren Ohren nicht.

» Yes, into the Ua – water!« lachte Friedel schelmisch und ließ dabei schon Bluse und Rock fallen.

Das aber wurde der Miß denn doch zu bunt.

» If you do that – wenn Sie dem tun, uerde ick holen straightway der Tante!«

»Liebste, beste Miß!«

» No, never!«

Friedel umfaßte sie. Wie die Schelmenaugen zu flehen wußten! Miß Miller begann innerlich bereits zu schmelzen.

»Sein much too light – viel su hell for gehen in die Uasser, wenn wären Nacht – night –« Sie zögerte.

Friedel jauchzte.

»Also am Abend darf ich, hurra! Ein Mann, ein Wort, Miß Miller. Also heute abend!«

Und Friedel umfaßte die Miß stürmisch und drehte sich mit ihr im Kreise.

Der wurde ganz schwindlig; sie war zu dem Versprechen gekommen, wie der Blinde zur Ohrfeige.

» And now for the book!«

Und Friedel las weiter. Sichtlich wuchs ihr Interesse an dem Buche. Bei dem Herannahen der Katastrophe – »Enoch Arden« naht sich der Hütte, die das Weib birgt, das einst sein gewesen, und da sie ihn tot glaubte, das eines anderen geworden war – schwang sich Friedels Stimme zu immer höherem Pathos auf, die Hitze schien vergessen.

Miß Miller lauschte wie gebannt, sie war glücklich über dies sichtliche Interesse ihrer Schülerin.

Friedel hatte geendet. Aufatmend lehnte sie sich gegen den hohen Baumstamm, an dem sie saß.

»Uff, das war schön!«

Miß Miller schaute glückstrahlend auf.

» Was n't it?«

Da traf sie Friedels Schelmenblick.

»Aber heut abend wird's noch schöner!«

Bedeutungsvoll nickte sie nach dem Wasser hin.

» Well, I didn't mean –« begann Miß Miller zu protestieren.

» You promised, you know, you promised,« damit schnitt ihr Friedel das Wort ab.

»Ein Mann, ein Wort!«

»Mich sein keine Mann,« wehrte die Miß.

» No, but a honest soul!«

Da war sie geschlagen. – –

Es war nach dem Abendessen. Groß und voll stand der Mond am Himmel, und die Sommernacht dunkelte bereits herein.

»Tantchen – Miß Miller und ich, wir gehen noch ein bißchen in den Garten. Es ist zu wundervoll. Sieh nur den Mond!«

»Wartet, ich komme mit!«

Und Tante Lenchen machte Miene, sich zu erheben. Es ging bei ihr nicht mehr ganz so leicht.

Friedel erschrak tödlich.

»Wo wirst du, Tantchen! Du weißt, der Nachttau hat dir noch immer geschadet. Dein Schnupfen schien mir heute schon schlimmer, du könntest dir was Schönes holen!«

»Erbarm dich!«

Tante Lenchen fuhr ganz mechanisch nach ihrem Taschentuch und begann sich umständlich zu schnauben. Sie hatte ihren Schnupfen heute eigentlich gar nicht gefühlt. Es war doch rührend von dem Kind, daran zu denken!

»Hier sind deine Karten, Tantchen, ich denke, du legst gerne eine Patience.«

Tante Lenchen sank ganz schwach auf ihren Stuhl zurück. Sie war überwältigt von so viel Fürsorge.

Der Papa aber hob pfiffig schmunzelnd den Blick hinter der Zeitung vor. Jungchens Sorge um die Tante hatte was zu bedeuten. Da war irgend ein Schelmenstreich im Werk.

»Mein Schnupfen erlaubt wohl auch keine Nachtluft, was, Jungchen?«

Friedel sah ihn ungewiß an, dann blitzte der Schalk in ihren Augen auf.

»Lies du deine Zeitung, Vaterherz. Gute Nacht, wir kommen vielleicht erst spät heim.«

Die Tante wollte protestieren, doch die beiden waren schon über die Terrasse hinab.

Sie sah hinterher, und in dem Blick, den sie danach dem Bruder zuwandte, lag etwas Weiches, Zärtliches.

»Das Kind wird dennoch, Konrad!«

Der schmunzelte, verschluckte aber das, was er hatte sagen wollen, und vertiefte sich in seine Zeitung. Mochte Jungchen freien Paß haben dies eine Mal. Die Miß war ja dabei, da würde es schon nicht zu schlimm werden.

Miß Miller und Friedel waren mittlerweile schon tief im Parkdunkel drin. Friedel flog voraus, dem Teich zu, Miß Miller tat ihr Möglichstes, Schritt zu halten.

Ihr war nicht wohl zu Mut im Gedanken an das, was kommen sollte, und sie hoffte, Friedel im letzten Augenblick noch zum Aufgeben ihres Vorhabens zu bewegen. Aber wie sie unter den Bäumen ans Ufer des mondbeglänzten Teiches vortrat, da bot sich ihr ein Anblick, der sie verstummen machte.

Wie ein Märchentraum lag es vor ihr. Die dunkle, unbewegte Wasserfläche, worin sich der Mond spiegelte, die er hier aufleuchten ließ, damit sich die Schatten dort umsomehr vertieften. Ringsum die schweigenden Baumriesen, in deren Gezweig ein leises Sommerlüftchen raunte und koste.

Und mitten drin im Wasser, um den Märchentraum noch täuschender zu machen, eine Wasserelfe, eine Nixe, die mit weißen, schimmernden Armen die silberne Flut teilte, bald hierhin, bald dorthin sich wandte, die jetzt verschwand, um sich danach wieder umso leuchtender aus dem Wasser zu heben. Wo sie den Arm aus den Wellen hob, umstäubte sie ein Sprühregen von silbernen Funken – Wassertröpfchen, die im Mondstrahl erglänzten. Miß Miller war ins weiche Moos zu Füßen eines der Baumriesen gesunken, und da saß sie, lehnte den Kopf gegen den Baumstamm, ließ das liebliche Bild auf sich wirken und träumte. Der märchenhafte Zauber der Mondnacht umspann sie ganz und gar. Und die Nixe schwamm, tauchte und hob sich, schwamm und tauchte wieder. Jetzt stand die schlanke, leuchtende Gestalt wie hingezaubert auf dem Birkensteg, der in hohem Bogen den Teich überspannte.

Sie hob das Köpfchen und die schlanken Arme zum Monde auf und dann – Miß Miller stieß einen lauten Entsetzensschrei aus – schoß die weiße, leuchtende Gestalt blitzschnell wie ein Pfeil kopfüber in die silbernen Wellen, die sich gurgelnd über ihr schlossen, um sie eine Strecke davon dem Mondlicht wieder zurückzugeben.

Ein silbernes Lachen hatte Miß Millers Schrei beantwortet, und nun tauchte das Nixchen ganz in der Nähe der Geängsteten auf.

Mutwillig schüttelte es den Krauskopf, und ein Sprühregen silberner Wassertröpfchen flog bis zu Miß Miller hin.

»Es ist wonnig, himmlisch!« jubelte es.

Und ehe Miß Miller Worte finden konnte, war es schon wieder wer weiß wie weit.

Jetzt lag die schlanke helle Gestalt anscheinend regungslos auf dem Rücken, ließ sich vom Wasser tragen und starrte in den Mond.

Miß Miller gedachte eines Bildes, das sie einmal gesehen hatte.

Der Körper einer getöteten Märtyrerin glitt just ebenso regungslos über das Wasser. Ein Heiligenschein schwebte über dem lieblichen Antlitz, das die Wellen kosend umspielten.

Das Nixchen dort im Wasser sah gerade so leblos, so geisterhaft entseelt aus.

Miß Miller grauste es.

»Miß Fuida!«

Doch das Nixlein sang mit silberner Stimme:

»Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herab zu dieser Frist
Und würdest erst gesund!«

» Come along, Miß Miller!«

» Not I!«

Und wieder teilte das Nixlein mit weißem Arm die Wasser, und wieder umsprühten es die silbernen Funken.

» Enough now, please! Sein jetzt genuck,« rief Miß Miller endlich.

Sie mußte sich angesichts des Märchenzaubers, der sie umspann, Gewalt antun, um in die Gegenwart zurückzukehren.

Das Nixlein aber stand noch einmal oben auf dem Birkensteg. Noch einmal durchschnitt die leuchtende Gestalt die Luft, um von dem Wasser aufgefangen zu werden, und danach tauchte ein prustendes Menschenkind neben Miß Miller auf und prustete und schüttelte sich, daß die Tropfen stoben.

»Wonnig war's!«

» Here are your clothes – hier sein die Kleider!«

Miß Miller stand schon mit dem ganzen Kleiderbündel dicht bei Friedel.

» I don't want any Kleider, I got this!«

Und Friedel zog ein Bündel hinter einem Baume vor, das sich als ein großes, weißes Laken entpuppte. Der Himmel wußte, wie und wann Friedel es dahin praktiziert hatte.

Darein drapierte sie sich.

»Jetzt erscheine ich Tante Lenchen als Geist!«

Kein Bitten und Flehen Miß Millers half.

Taub für jede Einrede schwebte Friedel als Geist voran.

Der Miß blieb nichts übrig, als alles, was Friedel gehörte, zusammen zu raffen und mit Jammern und Schelten, Zittern und Zagen hinterher zu hasten. Der einzige Trost war ihr der, daß Friedel sich in der heißen Sommernacht wenigstens nicht erkälten könne. Mochte ein gütiges Geschick sie vor Entdeckung bewahren.

Jetzt, da der Märchenspuk verflogen war, kam Miß Miller überhaupt erst zum Bewußtsein des Ungeheuerlichen, das sie verbrochen hatte. Sie, die es wahrlich hätte besser wissen müssen, unterstützte derlei Tollheiten ihrer Schülerin. Tollheiten noch dazu, die unmittelbar gegen das Verbot der Tante gingen.

O über diesen deutsch-sentimentalen Märchenspuk, der selbst ein sonst klar und nüchtern denkendes angelsächsisches Gehirn umwölkte und umnebelte.

» A midsummernight's dream!« flüsterte sie vor sich hin, und der mondbeglänzte See mit der leuchtenden Nixengestalt tauchte noch einmal vor ihr auf.

Inzwischen war man dicht bei dem Hause, und der mondhelle Kiesplatz war noch zu überschreiten.

In des Papas und in der Tante Zimmer war schon Licht, blitzschnell hatte Friedel sich davon überzeugt. Die Luft war also rein, und da auch das Terrassenzimmer noch hell war und die Tür offen stand, so konnte man unbemerkt da hineingelangen.

Friedel wandte sich Miß Miller zu, legte erst den Finger an die Lippen, deutete dann nach der Terrasse, und ehe Miß Miller einen Laut von sich geben konnte, flog die weiße Gestalt schon durch den Mondenschein, daß die Zipfel des Lakens nur so hinterher flatterten.

Und da stand sie auch schon oben im hellerleuchteten Türrahmen. Da – ein gellender Schrei: »Alle guten Geister!«

Da stand Friedel auch schon im hellerleuchteten Türrahmen.

Tante Lenchens Stimme unverkennbar.

Wie gejagt flog Miß Miller nun ihrerseits über den Kiesplatz, verschwand um die Hausecke, erreichte die große Eingangstür der Halle, dann die Treppe und war eben oben auf dem Korridor angelangt, als unten sich Türen öffneten.

»Erbarm dich! Frida, Kind, du hast den Tod davon!«

»I wo, Tantchen, Unkraut vergeht nicht!«

»Du bist der Nagel zu meinem Sarge!«

Stumme Pause.

Dann plötzlich: »Wo ist denn die Miß?«

»Weiß nicht, Tantchen!«

»War sie nicht bei dir?«

Pause.

Der Miß, die hinter ihrer Zimmertür lauschte, schlug das Herz bis zum Halse herauf.

»Antworte! War die Miß bei dir?« Es klang sehr gereizt.

Dann ertönte eine klägliche Stimme: »Tantchen, mich friert so!«

»Erbarm dich! Ich wußte es ja. So ein Unglückskind! Das ist noch mein Tod, ich –«

Die beiden Stimmen verklangen hinter einer mit Nachdruck geschlossenen Tür.

Miß Miller war vor ihrem Bett in die Kniee gesunken, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte still und lautlos vor sich hin.

Es klopfte leise.

»Miß Miller!« ertönte eine scheue, junge Stimme.

Miß Miller blieb stumm.

»Die Tante ist fort. Sie weiß nicht, daß Sie –«

» Please, leave me alone!«

»Miß Miller!« Flehend, beschwörend klang's.

Keine Antwort. Eine lange Pause, Miß Miller rührte sich nicht.

»Meine Klei – I want my clothes! I am so sorry, I – I –« Man hörte der Stimme das unterdrückte Schluchzen an.

Miß Miller erhob sich, griff nach dem Kleiderbündel und schob es durch den Türspalt.

» There!«

»Miß Miller, I – I am –«

» There, child! Never mind. Good night. Leave me alone!«

Friedel konnte schnell einen Blick auf Miß Millers stark verweintes Gesicht tun, ehe sich die Tür wieder schloß. Da weinte auch Friedel laut auf.

Sie haschte nach Miß Millers Hand.

» Dear Miss Miller, I did not mean –«

» Good night, child, good night,« kam's zurück, und dann war alles still.

Friedel hörte Miß Miller danach, so oft sie in der Nacht erwachte, in deren Zimmer herumhantieren, und tief aufseufzend legte sich die Horcherin auf die andre Seite, um alsbald wieder einzuschlafen.

*

Man saß zum Frühstück auf der Terrasse.

Friedel hatte ihre Schelte bereits bekommen. Der Papa hatte der Tante auf deren energische Aufforderung hin ehrlich beigestanden. Friedel also hatte ihre Schelte bereits hinter sich und sie auch schon wieder abgeschüttelt.

Sie saß auf der Holzbrüstung der Terrasse, zog Pflaume auf Pflaume aus der wohlgespickten Tasche und spuckte die Kerne jedesmal in weitem Bogen gut gezielt nach den Spatzen, die auf dem Kies unten herumhüpften.

Tante Lenchen sah ihre Nichte scharf an, schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Nach dem Anteil der Miß an der Schandtat vom Abend zuvor hatte Tante Lenchen weiter nicht gefragt. Aus Frida war doch nichts herauszubekommen, die Tante wollte die Miß selber verhören.

Man hörte deren Schritte durch das Zimmer herannahen.

Die Tante räusperte sich, schob die Brille hoch und setzte sich in Positur.

Da erschien Miß Miller auf der Schwelle. Sie war sehr blaß, zögerte einen Augenblick, und trat dann entschlossen zu Tante Lenchen heran.

»Mich uollen bitten, daß heute ueisen können. Mich sein gewesen mit bei die Uasser. Mich nix sein wert für Miß Fuida, müssen haben andre Lehrerin. Dear, good, funny little girl, mich nix können sagen nein. Mich better gehen home, much better go home!«

Und dabei blieb's.

Friedel zerfloß in Tränen und Jammer. Sie hielt Miß Miller umfaßt, als wolle sie sie nicht wieder loslassen.

Der Papa redete zu. Selbst Tante Lenchen, überwunden durch Miß Millers ehrliches Eingeständnis, gab ihr gute Worte.

Alles ohne Erfolg. Miß Miller blieb bei ihrem: » I had better go home, much better go home!«

Und so brachten sie die Miß denn am Nachmittag zur Bahn, alle, selbst Tante Lenchen hatte es sich nicht nehmen lassen.

Friedel wich nicht von Miß Millers Seite. Sie war ganz blaß. Ihre Augen waren beständig am Überlaufen und die Lippen zuckten ihr im Trennungsschmerz.

Jetzt rollte der Zug heran.

Ein Pfeifen, ein Zischen, er stand.

Die Miß riß der Tante und dem Papa mit ihrem vom Schmerz unkontrollierbar gekräftigten » shake hands« fast die Arme aus, preßte Friedel an sich, daß der Hören und Sehen und der Atem dazu verging, und war in ihrem Wagen drin.

Ein Pfeifen, ein Ruck – der Zug kam ins Rollen.

» Good bye, you all, good bye!«

Miß Miller stand am offenen Fenster, winkte mit dem Tuche und drückte es abwechselnd gegen die Augen.

Friedel lief noch eine Strecke nebenher. Sie weinte laut.

Dann kam eine Kurve. Der Zug verschwand.

Noch einmal flatterte ein weißes Tuch. Nun sah man nichts mehr.

Die Episode »Miß Miller« lag hinter den dreien, die nun stillschweigend zum Wagen zurückkehrten.

Tante Lenchen enthielt sich jeder laut geäußerten Nutzanwendung der Nichte gegenüber. Sie sah, Friedel zog tief innen ihre Schlüsse.

»Mein Jungchen!«

Zärtlich strich der Papa über das dunkle Kraushaar.

Friedel schluchzte noch einmal auf, wischte sich dann aber entschlossen und energisch mit der Hand die Augen.

Ja, – und das war der einzige Trost – sie war und blieb Papas Junge. Den hatte sie dem Papa ja vor der Miß retten wollen.

Daß es freilich so kommen mußte, das hatte sie nicht gewollt.

Wieder versank sie in tiefes Sinnen. Der Wagen rollte weiter. Jetzt tauchte das Dorf auf, die Straße, das Vaterhaus. Nun war man im Hofe.

Friedel blickte zum »Adlerhorst« empor.

Es erschien ihr mit einem Male alles so merkwürdig öde und war doch ihr geliebtes, ihr einzig teures Vaterhaus.

Solange sie nur das hatte und den Papa dazu!

Doch wer weiß, was nun kam.

Friedels Blick streifte mißtrauisch die Tante.

Der Wagen hielt. Ehe noch der Schlag geöffnet werden konnte, war Friedel draußen.

Kurz nickte sie den Ihren zu, pfiff: »Ach, wie ist's möglich dann, daß ich dich lassen kann,« vor sich hin und war, ehe jemand noch Einspruch erheben konnte, um die Parkecke verschwunden.


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