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Lisas Hochzeit

Soeben war das Brautpaar unter dem breiten Portal der geräumigen, altertümlichen Vorhalle des Herrenhauses erschienen und schickte sich an, die Stufen der halbkreisförmigen Freitreppe herunterzusteigen, als irgend etwas vom Innern des Hauses her ein Zögern und Stocken veranlaßte.

Fragend sahen die schon paarweise zum Kirchgang geordneten Gäste sich an, fragend wandte die Braut das Köpfchen, vom Bräutigam mit ein paar leise geflüsterten Worten verständigt.

»Friedel fehlt noch!«

Inniger schmiegte sich die Braut an den geliebten Mann.

»Arme, kleine Friedel,« flüsterte sie und die leise Stimme zitterte merklich. »Tante Lenchen soll doch mal nachsehen; Friedel hat noch gerade so furchtbar geweint, als ich fortging oben, sie –«

»Friedel, Friedel!« Eine Stentorstimme rief es und schnitt der Braut das Wort ab. Und nochmals klang es: »Friedel, Friedel!«

Eine sekundenlange Pause folgte. Aller Augen wandten sich erwartungsvoll dem Hintergrund der Halle zu, wo eine breite, dunkle, gewundene Eichentreppe mit reichgeschnitztem, breitem Geländer nach oben führte.

»Friedel!« rief der Vater nochmals. Jetzt lag etwas wie gereizte Ungeduld in der Stimme des alten Herrn.

Plötzlich tönte es wie Kichern durch die Halle, dem unterdrücktes, dann herzhaftes Lachen folgte.

Oben, in der Höhe des ersten Stockwerks, war auf dem Treppengeländer eine schlanke, weißgekleidete Gestalt erschienen, die auf diesem mit hocherhobenem rechtem Arm blitzschnell und gewandt wie auf einer Rutschbahn niederglitt.

Am hohen Endknauf des Geländers angelangt, sprang die schlanke, weiße Gestalt ebenso anmutig als gewandt ab und trat vor den Vater hin.

»Schneller konnte ich wirklich nicht da sein, Väterchen – verzeih!«

Der Schalk blitzte aus den großen blauen Augen, die den Vater unverwandt ansahen, so daß dieser trotz allen Ärgers Mühe hatte, ernst zu bleiben.

»Frida, wirst du denn nie –« Der kleinen alten Dame mit dem silbergrau gewellten Scheitel und dem silbergrauen Seidenkleid versagten vor Entsetzen die Worte.

»Laß das jetzt, Lene,« versetzte ernst mahnend der Bruder und schob die Erregte energisch zur Seite. Dann wandte er sich wieder der kleinen Sünderin zu: »Wir haben lange auf die Jüngste der Gesellschaft warten müssen, Kind!« Herber Tadel lag in der Stimme.

»Ich mußte mir die Augen auswaschen, Väterchen; ich hab' sie mir ja doch fast ausgeheult um die Lisa,« klang's leise und gepreßt zurück.

Es war nur für das Ohr des Vaters bestimmt gewesen, aber noch jemand hatte es gehört, ein Herr, der dicht hinter dem Vater stand, und der nun rasch vortrat.

»Ich soll mit gnädigem Fräulein den Vorzug haben, das Brautpaar zur Kirche zu geleiten,« sagte er, und damit bot er galant der so sonderbar in die Gesellschaft Eingeführten den Arm.

Komisch entsetzt, wie hilfeflehend sah Friedel den Vater an und legte zögernd die äußersten Fingerspitzen auf den dargebotenen Arm.

Wieder konnte der Vater nur mit Mühe ein Lachen verbeißen.

»Geh, Kind, und wahre deine Würde als erste Brautführerin deiner Schwester ein wenig besser, als du es bis jetzt getan hast,« mahnte er gutmütig lachend.

Friedel warf das Köpfchen zurück, um das das kurzverschnittene Haar in krausen Löckchen sich ringelte; die blitzenden grauen Augen streiften fast herausfordernd das ihr zugewandte Gesicht ihres Partners. Eben öffneten sich die roten Lippen zu einer Bemerkung, da sagte die Braut: »Friedel, wie konntest du!«

Eine Welt von Liebe und Sorge lag in diesen Worten.

»Laß, Lisa, sonst heul' ich wieder!«

Fast zornig trat der kleine Fuß den Boden; energisch fuhr Friedel sich über die Augen.

»Los jetzt!« kommandierte sie mit leiser Stimme.

Kopfschüttelnd wandte sich die Braut, legte den Arm fester auf den des Bräutigams, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Kleine Dorfkinder bestreuten den Weg des Brautpaares mit Blumen; zwei kleine Mädchen trugen der Braut die Schleppe.

Golden strahlte die Maiensonne von oben; würziger Blütenhauch erfüllte die Luft. Fröhlich sangen und jubilierten die Vöglein; feierlich klangen die Glocken vom Kirchlein nieder, das auf einem kleinen Hügel sich über das Alltagstreiben des Dörfleins erhob.

»Einen Schritt näher dem Himmel,« pflegte der alte Pfarrer zu sagen.

Aus jeder Haustür traten Leute im Festtagsgewand, an jeder Straßenecke schlossen sich weitere Teilnehmer dem Zuge an. Lisa hatte ein stattliches Brautgeleite. Wer irgend abkommen konnte daheim von den Geschäften, wen nicht Krankheit oder sonst etwas hinderte, der wollte bei der Feier nicht fehlen. Die andern alle aber, die zu Hause bleiben mußten, schickten gute Gedanken und Segenswünsche.

Die blonde, zarte, schlanke Braut, wie eine Lilie anzusehen, ging wie verklärt an der Seite ihres blonden, stattlichen zukünftigen Mannes dahin. In leuchtend warmem, selig verklärtem Schein strahlten die reinen, weichen Züge des lieben Gesichtchens all das so reich Entgegengebrachte wider. Und der Mann an ihrer Seite konnte die Blicke von ihr nicht lösen. Er fühlte und wußte, daß sein Glück an seiner Seite dahinschritt.

Und die Sonne strahlte, die Blüten dufteten, die Vöglein jubilierten, der Himmel blaute und die Glocken riefen in feierlichem, eindringlichem Ton unablässig ihr: »Kommt, kommt – zum Glück, zum Glück!« in die Frühlingslüfte hinein.

Friedel schritt dicht hinter der Schwester. Verschiedene Versuche, die sie gemacht hatte, ihren Arm von dem ihres Begleiters zu lösen – es kam ihr so lächerlich und unbequem vor, sich von dem fremden Mann so führen zu lassen, sie hätte doch wahrhaftig den Weg allein finden können – alle diese Versuche waren gescheitert. Ruhig und fest hatte der »fremde Mann« jedesmal wieder das sich ihm entziehende Händchen ergriffen und es aufs neue durch den führenden Arm gezogen. Endlich schien sich das gefangene Vögelchen in sein Los zu ergeben; auch Friedel schien dem Zauber des Augenblicks zu erliegen. Sinnend und gesittet schritt sie neben dem Begleiter einher, was dieser mit lustigen Seitenblicken und mit heimlichem Lächeln beobachtete.

Plötzlich kam wieder Unruhe in die quecksilbern bewegliche Mädchengestalt. Die freie Hand fuhr erst prüfend über den Scheitel und tastete dann unsicher am Anzug umher. Ein Blick aus den grauen Augen, in denen beständig der Schalk lauerte, traf den Mann an ihrer Seite.

»Sehen Sie doch einmal, Herr von Rödern, ob meine Schleife recht sitzt. Tante Lenchen bekäme ja Krämpfe, wenn die nur zollbreit verrückt wäre, und ich müßte es bis zum Ende meiner Tage hören.«

Sie sagte es ganz ernst, und ebenso ernst flüsterte Herr von Rödern: »Wo befehlen gnädiges Fräulein, daß die Schleife sitzen soll?«

Unsicher sahen ihn die grauen Augen an.

»Na, doch natürlich in der Mitte, glaube ich, oder –?«

»Selbstverständlich,« beeilte er sich mit großem Ernst zu entgegnen. »Treten gnädiges Fräulein mal einen Schritt vor, damit ich prüfen kann.«

Friedel tat, wie ihr geheißen.

»Nun?«

Ein fragender Blick traf den jungen Mann, der kritisch musternd die Schleife betrachtete.

»Gnädiges Fräulein haben ihre famose Talfahrt furchtbar geschickt in Szene gesetzt, die Schleife sitzt untadelhaft!«

»Dem Himmel sei Dank!«

Ein tiefer Seufzer der Erleichterung, und dann streifte Herrn von Röderns ernste Miene ein Schelmenblick; der Schalk in seinen Augen antwortete, und beide brachen in ein fröhlich schallendes Lachen aus, wobei Friedel komisch entsetzt nach hinten schaute und sich dann mit der Hand einen ziemlich derben Klaps auf den Mund versetzte.

Sie hatte einen wehmütig vorwurfsvollen, tiefunglücklichen Blick Tante Lenchens aufgefangen.

»Armes Tantchen,« seufzte Friedel ganz zerknirscht, »ja, an Papas Junge ist nun mal Hopfen und Malz verloren!«

»Was, an wem?« fragte lachend Herr von Rödern.

»An Papas Junge! Ja, wissen Sie nicht, daß ich das bin?«

»Ha, ha, ha!«

Sein herzliches Lachen verstummte aber bald. Man war mittlerweile an der offenen Kirchentür angelangt.

Der kleine Raum lag sonnendurchleuchtet und festlich geschmückt da. Eben setzte die Orgel in brausenden Tönen ein und nun klangen die hellen Stimmchen der Schulkinder dazwischen, wohl nicht wie Engelschöre anzuhören, aber doch rein und frisch und herzerquickend: »Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich!« schallte es von der Empore nieder.

Dann eine feierliche Stille.

Das Brautpaar kniete vor dem Altar. Segnend legte der alte Pfarrer die Hände auf die andächtig gesenkten jungen Häupter vor ihm.

»Ja wahrlich, der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich!« begann er und die milde, alte Stimme fand dann so eindringliche herzbewegende Töne, daß kein Auge trocken blieb.

Er schilderte das Wesen und Wirken der jungen, mutterlosen Braut, die der gute Engel der Ihren und des ganzen Dorfes gewesen sei. Liebe hätte sie gesäet in überreichem Maße und Liebe dürfe sie nun ernten. Dem Vaterhause erlösche mit dem Weggange der Braut ein Licht, eine reine, klare, sanft wärmende Flamme; doch getrost möchten die Ihren sie ziehen lassen, getrost ihr Kleinod in des erwählten Mannes Hände legen; er würde seinen Schatz hüten und bewahren mit Liebe und Wärme in Freud und Leid.

Der alte Mann hatte geendet; ihm zitterte leise die Stimme.

Herrn Polten, dem Vater der Braut, liefen die Tränen über das wetterfeste Gesicht hinab in den dichten grauen Bart. Tante Lene hielt das Antlitz in das Taschentuch vergraben und schluchzte herzbrechend; der ganze weibliche Teil der Anwesenden folgte ihrem Beispiel mit mehr oder weniger großer Heftigkeit.

Nur Friedel stand hinter der Braut wie aus Stein gehauen und hielt die Augen unverwandt auf den Blumenstrauß geheftet, den sie der Schwester vor der Zeremonie abgenommen hatte. Krampfhaft hielt sie ihn umklammert, als sei er ihr einziger Anker, der sie davor rettete, auch ihrerseits in das Meer von Tränen zu versinken.

Klaus von Rödern sah Friedel ein paarmal forschend von der Seite her an; wohl zuckte es verräterisch um ihre Mundwinkel. Er mußte staunen, wie das den Kinderjahren kaum entwachsene junge Mädchen – sie konnte doch wohl schwerlich mehr als fünfzehn Jahre zählen – sich in der Gewalt hatte.

Die Braut selbst war sehr ergriffen. Wie stützend legte der Bräutigam den Arm um sie. Da sah sie ihm ins Auge und richtete sich straff empor.

»Ich frage dich, Werner Horst, willst du diese hier, Anna Elisabeth Polten u. s. w. u. s. w.,« so klang es nun durch den feierlich stillen Raum ... die altehrwürdige Trauformel bis zu ihrem ergreifenden Schluß: »bis der Tod euch einst scheidet?«

Des Bräutigams »Ja« tönte fest, stolz, zielbewußt; das der Braut leise, scheu und doch wie sicher, wie durchzittert von tiefem, seligem Glück.

Die lautlose Stille des feierlichen Ringwechselns wurde von einem kurzen, rauhen, wie widerwillig hervorbrechenden Aufschluchzen unterbrochen. Friedel hatte sich nun doch nicht mehr halten können; der Brautstrauß drohte ihren Händen zu entgleiten.

Geschickt fing Herr von Rödern ihn auf. Er überreichte ihn der Braut, die sich eben wendete und zum Heimgang anschickte.

Dann zog Herr von Rödern den Arm seiner Dame durch den seinen und ging mit ihr hinter dem vorangehenden jungen Ehepaare einher.

»Mut, Fassung, Kind,« flüsterte er Friedel zu – sie erschien ihm mit einem Male so gar jung in ihrer augenblicklichen Fassungslosigkeit – »sehen Sie sich doch nur einmal die strahlende junge Frau an; wo ist denn eine Ursache zum Weinen?«

»Das ist's ja eben – dies dumme Heiraten!« stieß Friedel ganz ingrimmig hervor, warf aber doch energisch das Köpfchen zurück und fuhr sich entschlossen mit der Hand über die Augen.

Mißtrauisch streifte ihr Blick den an ihrer Seite Dahinschreitenden. Was sie in dem ihr zugewandten Gesicht las, beruhigte sie aber; von Spott stand nichts darin. Sonst wohl allerlei, das sie nicht entziffern konnte; es machte ihr aber weiter kein Kopfzerbrechen.

Man trat ins Freie.

»Hurra, die Braut! Hurra, unser Fräulein! Fräulein Lisa, hoch! Hoch, die junge Frau!«

Böllerschüsse krachten, Flinten knallten. Die jungen Burschen des Dorfes hatten sich das nicht nehmen lassen. Heran drängten alle, Männer, Weiber, Mädchen, Burschen und Kinder. Alle wollten der Braut die Hand noch einmal drücken, ihr ein paar Worte sagen; vor allem ein paar Worte von ihr hören.

Friedel war urplötzlich mitten im tollsten Getriebe. Wie sie dahin gekommen war, wußte sie selbst nicht. Sie hörte sich nur mitrufen, mitschreien, hatte dem nächststehenden Burschen zwei Pistolen entrissen und feuerte nun mit lautem Hurrageschrei in die Luft.

Sie fühlte sich plötzlich von hinten gehalten. Ärgerlich wollte sie sich losreißen. Ein Krach! Entsetzt sah sie sich um. Die vermeintliche hindernde Hand war aber irgend ein heimtückischer Haken gewesen und – im Rock des leichten weißen Kleides klaffte nun ein furchtbarer Spalt.

Starr und stumm stand Friedel da, den weißen Unglücksrock ausgebreitet in den weit vorgestreckten Händen.

Was tun?

»Mein gnädiges Fräulein, darf ich bitten?«

Klaus von Rödern verneigte sich sehr zeremoniell; er bemerkte anscheinend ihre Verlegenheit gar nicht.

»Ach, Herr von Rödern, sehen Sie doch nur, ich – ich –«

»Gnädiges Fräulein wünschen?«

»Ach was, gnädiges Fräulein! Seien Sie doch nicht so bocksteif. Ich hab' mir den Rock zerrissen, wie der erste beste Gassenjunge. Wenn die Tante das merkt, gibt's ein Unglück. Geben Sie mir lieber ein paar Stecknadeln, oder haben Sie Heftpflaster bei sich? Schade, sonst habe ich immer welches in der Tasche. Wie, Sie haben Heftpflaster? O, danke schön, da sind wir ja gleich aus aller Verlegenheit. So – aber Sie müssen mir ein tüchtiges Stück geben, der Riß ist gar zu groß. So – geleckt – drauf! Noch eins, bitte! Danke, jetzt kann's reichen. Da – wundervoll! Wenn ich immer so an Ihrer Seite gehe, sieht's kein Mensch, und morgen flickt's die Lisa und –«

Ein Schatten zog über das helle, schelmisch lachende Mädchengesicht.

»Himmel, die Lisa!«

Urplötzlich sanken Friedels Mundwinkel tief herab, und zwei helle Tränen rollten aus den großen, glänzenden Augen.

Herr von Rödern hatte belustigt ihrem Treiben zugesehen. Wie flink die Hände hantierten, die Lippen plauderten, das Zünglein leckte! Wie Friedel geschickt das Pflaster aufklebte, und dabei der Schelm aus den Mädchenaugen hervorlugte. Friedel war wirklich urwüchsig drollig. Und dabei dieser rasche Übergang von Freud zu Leid und umgekehrt.

Mittlerweile hatte sich die Menge der Gratulanten etwas gelichtet. Suchend sah die Braut um sich.

»Friedel!« klang von ferne des Vaters Stimme.

»Himmel, da ruft der Papa. Bleiben Sie dicht an meiner Seite, Herr von Rödern! Man sieht's doch nicht?«

Das letztere galt dem kunstvoll verklebten Riß.

»Bewahre,« beeilte ihr Begleiter sie zu versichern. »Gnädiges Fräulein können ganz ruhig sein.«

»Friedel, wo steckst du denn eigentlich? Deine Schwester fragt nach dir. Du hast ihr wohl noch gar nicht Glück gewünscht?«

Herr Polten war an seine Jüngste herangetreten und sah ihr vorwurfsvoll in die Augen. »Was treibst du denn wieder?«

Mißtrauisch überflog sein Auge ihre ganze Erscheinung.

Vorsichtig kehrte ihm Friedel indes die unbeschädigte Seite zu.

»Väterchen, ich – ich hab' doch auch ein paar Pistolen losknallen müssen zu Lisas Ehren und dann –« verlegene Pause – »nun muß ich wirklich zu Lisa!«

Fort war sie!

Schmunzelnd sah der Vater ihr nach.

»Ein bißchen toll und unbändig, meine Kleine, aber das wird sich schon geben mit den Jahren, denke ich, was?«

Etwas fragend und unsicher, wenngleich unverkennbar mit väterlichem Stolz, blickte der alte Herr zu Klaus von Rödern auf, der neben ihm stehen geblieben war, da seine Dame ihm so jäh entwischte.

»Wär' jammerschade, verehrter Herr Nachbar. Solch unverbildete Natürlichkeit ist herzerquickend anzusehen,« beeilte sich der Angeredete enthusiastisch zu versichern, und die beiden Herren gingen zur Gesellschaft zurück.

Friedel war der bräutlichen Schwester inzwischen so stürmisch an den Hals geflogen, daß Kranz und Schleier in ernstliche Gefahr gerieten.

Wieder war Tante Lenchen mit entsetztem Tadel zur Hand. »Frida, so bedenke doch –«

Aber: »Lisa, meine Lisa,« schluchzte die Kleine und bedachte gar nichts weiter auf der Welt, als daß sie die geliebte Schwester nun hergeben sollte.

Diese hielt die Kleine innig umfaßt, drängte sie aber dann besonnen von sich zurück. »Friedel, Herz, wir müssen nun weiter. Sieh doch, sie schauen alle auf uns!«

»Ist mir ganz total schnuppe!«

Friedel warf das Köpfchen zurück, sah in die lachenden Augen des Schwagers und hätte ihm beinahe – nein sie streckte ihm wirklich und wahrhaftig das rosige Zungenspitzlein blitzschnell einen Augenblick entgegen. Sonst verstand sie sich recht gut mit ihm, aber heute – heute konnte sie ihn nicht ausstehen. Mit einem merklichen Ruck wandte sich Friedel dann um. Klaus von Rödern stand dicht hinter ihr.

Hatte er ihre Unart bemerkt? Unsicher forschten Friedels graue Augen in seinen Zügen, während eine jähe Röte ihr schmales Gesichtchen überzog. – Dem Himmel sei Dank, er hatte nichts gesehen! Mit vollkommen ernster, undurchdringlicher Miene bot er seiner Dame den Arm, die mit erleichtertem Aufatmen ihr Händchen hineinschob. Daß er sich dabei krampfhaft das Lachen verbiß, hatte die Kleine glücklicherweise nicht bemerkt.

Und nun ordnete sich der Zug wieder und setzte sich in Bewegung.

Noch goldener strahlte die Sonne, tiefer blaute der Himmel, lauter jubilierten die Vöglein mit den Glocken um die Wette.

Lisa schritt wie auf Wolken dahin. In verschämtem Stolz hob sich das feine Köpfchen, reckte sich die schlanke Gestalt neben dem geliebten Manne empor. Jubelnd umtanzten die Dorfkinder den Zug. Sie brachten ganze Ladungen Blumen und streuten sie der Braut auf den Weg. Und sie, die sich sonst sorgsam nach jedem Käferlein bückte, jedem Grashalm auswich, den ihr Fuß streifen, verletzen und knicken konnte, sie schritt achtlos über alle die duftenden Frühlingskinder dahin, das selig verklärte Auge himmelwärts gerichtet.

»Arme, kleine Blumen,« sagte da Friedel und bückte sich blitzschnell nach einem Büschelchen Maiglöckchen, auf das Herr von Rödern eben den Fuß setzen wollte.

Überrascht sah er zu ihr nieder. Hatte der Kobold denn dafür Auge und Sinn?

Man war am Hause angelangt. Stattlich lag es inmitten seines weiten Vorhofes, von Gruppen alter, hoher Bäume flankiert, am Ende der langen Dorfstraße. Ein langgestrecktes, zweistöckiges Viereck, an dem nur das mittlere Portal der Halle und des Treppenhauses in weit geschweiftem Bogen vorsprang und sich nach oben über das zweite Stockwerk hinaus kuppelartig wölbte.

Ein weiter Festsaal zu ebener Erde links von der Halle vereinte die Gäste.

Die festlich geschmückte, sorgfältig gedeckte Tafel stand mitten im großen lichten Raum. An dessen oberem Ende umdrängte man das Brautpaar und brachte nochmals eine Flut von Glückwünschen an.

Die Braut wanderte von einem Arm in den andern und hatte für jeden und jede einen leuchtenden, warmen Blick, ein frohes, liebes Wort.

Gar zu zahlreich war die Hochzeitsgesellschaft nicht, und verhältnismäßig wenig jüngere Leute waren dabei.

Ein paar Onkels und Tanten, zwei verheiratete Cousinen mit ihren Ehemännern, sonst meistens Nachbarn des Brautvaters, merkwürdigerweise meist ältere Paare, dann der Geistliche und der Arzt des Dorfes. Alles in allem mochten es achtzehn bis zwanzig Personen sein.

Lisa und Friedel waren in dem einsamen Dorfe, das stundenweit von der nächsten Stadt entfernt war, sehr einsam aufgewachsen. Sie hatten außer den Mädchen des Dorfes kaum je eine Freundin besessen; daher der Mangel an jugendlichen Teilnehmern des Festes.

Friedel war tatsächlich die einzige »junge Dame« des Kreises, ihr Partner der einzige junge, das heißt unverheiratete Mann; denn gar so jung war auch er nicht mehr. Er war ein Freund des Bräutigams, etwas älter als dieser, und wohl schon reichlich am Anfang der dreißig angelangt. Er war viel auf Reisen gewesen, namentlich in England, wo er auch den Bräutigam kennen lernte, und hatte sich erst vor kurzem zufällig in der Nachbarschaft angekauft.

Friedel drückte sich, ganz gegen ihre Gewohnheit, so merkwürdig in den Ecken herum. Es mußte Tante Lenchen auffallen.

Sie trat rasch zu ihr. »Sag mal, Friedel, fehlt dir was? Du kommst mir so merkwürdig vor.«

»Ich, Tantchen? Nicht daß ich wüßte.«

»Weshalb rutschest du denn die Wände so ab? Ist an der Kehrseite etwas nicht in Ordnung?«

Mißtrauisch suchte die alte Dame Friedel zu umgehen, die aber machte kehrt wie der Wind.

»Behüte, das ist nur Zufall, Tantchen. Ich mag so 'n Gedränge nicht leiden und halte mich drum ein bißchen abseits.«

»Du magst so 'n Gedränge nicht leiden? Ist mir ja ganz neu. Mir wollte scheinen, vorhin, drüben bei der Kirche warst du doch nicht so scheu, oder?«

Wieder eine Wendung der alten Dame, wieder eine Drehung der Nichte.

Tante Lenchen aber bekam dabei doch den Rock zu fassen, und nun trat der Schaden klar zu Tage.

Ein Jammerausbruch der alten Dame.

»Erbarm dich! So 'n Mädel, nein, so 'n Mädel! Schlimmer als der schlimmste Junge. Wo will das mit dir hinaus? Du bekommst niemals 'nen Mann wie Lisa und –«

Ein lustiges Auflachen der Gescholtenen schnitt der Jammernden das Wort ab.

Friedel flog der Tante an den Hals.

»Wenn's weiter nichts ist, Herzenstantchen, ich brauch' keinen Mann. Ich bin Papas Junge, das weißt du ja, und ich bleib's auch immer und ewig.«

»Das weiß der Himmel,« seufzte die Tante, »ich verzweifle dran, jemals ein ordentliches Mädchen aus dir machen zu können.«

»Armes Tantchen!«

Der Seufzer und die komisch zerknirschte Miene Friedels waren so drollig, das Gesichtchen so lieb und so voll Schelmerei, daß die alte Dame wider Willen lachen mußte.

Zum Glück wurde nun auch eben zu Tisch gerufen und über den Sorgen der Hausfrau vergaß Tante Lenchen alsbald die Sorgen der mütterlichen Erzieherin.

Friedel huschte davon.

Sie stand hinter Herrn von Rödern, der noch mit dem Brautpaar sprach. Sie zupfte ihn am Ärmel. Erstaunt fuhr er herum.

»Gnädiges Fräulein wünschen?«

Warnend, mit einem Blick auf Lisa, legte Friedel den Finger auf die Lippen.

»Wir sitzen nebeneinander, Herr von Rödern, ich bin so froh –« belustigt leuchtete es in seinen Augen auf – »denn nicht wahr, Sie haben noch von dem Pflaster« – etwas wie Enttäuschung huschte über sein Gesicht – »da muß ich doch nicht erst hinauf und nach meinem suchen, ich wüßte im Augenblick wirklich nicht, wo ich suchen sollte. Denn, sehen Sie, die Wunde ist wieder aufgebrochen; Tante Lenchen hat das Unheil leider entdeckt und so kann ich doch wirklich nicht herumlaufen.«

»Machen wir alles,« entgegnete er fröhlich. »Darf ich aber jetzt bitten? Zu Tisch, mein gnädiges Fräulein.«

Als sei es ihr altgewohnt, schob Friedel nun den Arm in den ihr dargebotenen und trat mit ihrem Herrn zur Tafel.

Zufrieden, mit pfiffigem Schmunzeln schaute der Vater zu ihr hin. »Das Kind wird –« raunte er der Schwester zu, die eben mit ihrem Tischherrn an ihm vorbeistreifte.

»Ja, wenn du nur wüßtest, wie,« seufzte Tante Lenchen als Antwort.

Nach vielem Trubel und Stühlerücken hatte die Gesellschaft endlich Platz genommen.

Friedel saß seelenvergnügt an der Seite ihres Herrn. In dem allgemeinen Durcheinander war es ihr mit seiner Hilfe gelungen, den Schaden eilig wieder auszubessern. Nun überließ sie sich ruhig der Fröhlichkeit des Augenblicks.

Die roten Lippen Friedels plauderten unaufhörlich, die grauen Augen blitzten, das ganze Gesichtchen war Leben und Bewegung.

Man war beim Braten.

Herr Polten hatte das Wort ergriffen und seinem scheidenden Kinde sozusagen ein ehrendes Abschiedszeugnis mit heißen Segenswünschen ausgestellt.

Die hellen Tränen liefen ihm über das gute Gesicht in den grauen Bart, die Stimme versagte ihm; er mußte sich setzen.

Auch in Friedels Gesichtchen zuckte der tapfer niedergehaltene Schmerz, die Lippen bebten ihr; die Augen öffneten sich unnatürlich weit in dem Bemühen, die aufquellenden Tränen niederzuzwingen. Ihr selbst unbewußt aber hatten sich doch zwei lichte, klare Tropfen gelöst und liefen langsam über die schmalen Wangen.

»Armer, armer Papa! Er muß ja aber auch sein Herzblatt, seine einzige Tochter hergeben.«

Sie sagte es wie erklärend und entschuldigend und wandte das Antlitz, in dem es immer noch verräterisch zuckte, Herrn von Rödern zu.

Lustig blitzte es in seinen Augen auf. »Und gnädiges Fräulein?«

»Ich? Ach, ich bin ja doch nur Papas Junge. Ja so, das wissen Sie noch nicht, aber gemerkt haben Sie's doch schon, nicht wahr?«

Da war der Schalk wieder ganz obenauf, jede Spur von Trauer aus dem beweglichen Gesicht verschwunden.

»Sehen Sie,« plauderten die frischen Lippen, »der arme Papa hat sich immer so schrecklich einen Jungen gewünscht. Vor der Lisa waren noch zwei Schwestern da, aber die sind als ganz kleine Kinder schon gestorben. Dann kam die Lisa, das war das dritte Mädel. ›Wenn jetzt noch eins kommt, wird's ein Junge, ob's will oder nicht,‹ sagte der Papa. Da bin ich gekommen, und ich war eigentlich auch wieder ein Mädel. Die arme Mama ist gestorben, wie ich gekommen bin, und ich bin richtig dem Papa sein Junge geworden. Ich hab' auch wirklich mehr vom Jungen als vom Mädel in mir. Puppen hab' ich nie leiden mögen, und wenn die Lisa durchaus damit spielen wollte, war ich immer bloß der Kutscher oder der Doktor oder höchstens der Papa.«

Klaus von Rödern lachte über die Maßen. »Und jetzt?«

»Ja, jetzt!« Friedel seufzte tief auf. »Jetzt wird's schlimm genug, fürchte ich. Jetzt soll aus Papas Junge eine junge Dame werden. Selbst der Papa, der sonst nur darüber lachte, macht jetzt immer ganz kuriose Augen, wenn ich mal auf einen Baum klettere, und ich tu's doch für mein Leben gern. Denken Sie, Herr von Rödern, ich kann ja gar kein Buch lesen, wenn ich nicht oben im Baumgeäst sitze. Sehen Sie mal da draußen die hohe Eiche, da – Sie müssen sich hier herüberbeugen« – ohne Umstände zog sie ihn am Ärmel, um ihm die Richtung anzugeben – »sehen Sie den dunklen Punkt oben, ja? Das ist mein Adlerhorst, dort sitze ich und lese, wenn ich nur irgend durchbrennen kann, und wenn ich einmal oben bin, kriegt mich so leicht nichts herunter.«

Triumphierend lachte sie auf, daß die weißen Zähne mit den Schelmenaugen um die Wette blitzten.

»Da hinauf klettern gnädiges Fräulein?«

Er fragte es staunend, ungläubig.

»Sie glauben's wohl nicht, was? Soll ich's Ihnen nachher einmal vormachen?«

Jetzt mußte er hell auflachen. »Bitte, bitte recht sehr, mein gnädiges Fräulein, ich erlaube mir durchaus nicht, an Ihrem Worte zu zweifeln. Es wäre ja wohl allerdings ein ganz interessantes Schauspiel, aber –«

»Ach, Sie meinen den dummen Rock da« – Friedels Auge glitt mißmutig an dem weißen Festgewand nieder – »den müßte ich allerdings erst ausziehen und in meine Kutte schlüpfen. Lisa, was meinst du,« rief sie der Schwester in eindringlichem Flüstertöne über den Tisch hinüber zu, »wäre die Tante wohl sehr böse, wenn ich nachher das dumme Kleid da auszöge? Herr von Rödern will nämlich nicht glauben, daß ich in meinen Adlerhorst klettern kann, und da wollte ich –«

Sie verstummte jäh vor dem erschrocken vorwurfsvollen Blick, den ihr die Schwester zuwarf. Heiße Röte lief über das Schelmengesichtchen. »Ach Lisa, ich – ich –« stotterte die Kleine und dann mit einem komisch verzweiflungsvollen Blick nach Herrn von Rödern: »Sie sehen, an mir ist Hopfen und Malz verloren.«

Sie mußten alle lachen, die's hörten, Lisa, der Schwager und Herr von Rödern.

»Laß dir nicht bange machen, Friedelchen, du hast noch viel Zeit vor dir. Wenn's gar nicht geht, kommst du zu uns nach England, wo die korrekte Miß erzogen wird, da will ich dich dann schon zustutzen,« neckte gutmütig der Schwager.

»Ach du!«

In Friedels Ton lag eine solche Geringschätzung, daß der Schwager ganz erstaunt und betroffen aufschaute.

»Na nu! Wir sind doch sonst so gute Freunde gewesen, Friedel.«

»Ja sonst, aber heute nicht! Heute nimmst du mir meine Lisa fort und« – Friedel schluckte krampfhaft an etwas, das ihr im Halse aufstieg – »und wenn ich böse bin auf jemand, kann ich nicht freundlich sein.«

»Bravo,« rief Klaus von Rödern lachend.

Friedel warf ihm einen halben Blick zu.

»Aber Friedel,« lenkte der Schwager gutmütig ein, »frag doch mal Lisa, ob sie bleiben möchte. Soll ich allein ziehen, Lisa, was?«

Über Lisas weiches, klares Gesicht hatte sich's wie ein Schatten gelagert. Bekümmert sah sie die kleine Schwester an, dann aber stieg eine feine lichte Röte in den sanften Zügen auf. Leuchtenden Blickes suchte sie die Augen ihres Mannes.

»Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, dein Volk sei mein Volk,« sagte sie leise und innig.

»Ach was,« polterte Friedel, »Ruth konnte gern gehen, die hat gewiß keinen Vater und keine Schwester daheim gehabt, die sie so lieb hatten, wie Papa und ich dich haben.«

Die junge Stimme zitterte bedenklich.

»Du vergißt, daß ich den, dem ich folge, auch sehr lieb habe.«

Wie ein Hauch kam's von den Lippen der Braut.

Friedel aber hatte es doch gehört. Entrüstet und gekränkt fuhr sie so jäh auf, daß der Stuhl krachend hintenüber stürzte. Herr von Rödern konnte ihn nicht mehr auffangen.

Fort war sie. Lachend sahen ihr die beiden Herren, bekümmert Lisa nach.

»Was ist denn los?« fragte ein alter, schwerhöriger Onkel, der an der andern Seite Friedels seinen Platz hatte. »Friedel hat wohl nicht mehr still sitzen können? Ich hab' mich schon die ganze Zeit gewundert, daß das Quecksilber so lange Ruhe hielt. Da – ha – ha! – Papa Polten hat sich seinen Jungen eingefangen.« Papa Polten hielt in der Tat »seinen Jungen« im Arm, das heißt, Friedel hatte sich da hinein geflüchtet. Ungestüm hatte sie sich zwischen Papa und seiner Nachbarin, einer Tante des Bräutigams – Werner Horst war elternlos und hatte nur ganz wenige Verwandte – durchgedrängt und sich dicht an den Vater geschmiegt. – »Hallo, was gibt's?« hatte Herr Polten gefragt, mit einem Blick in das erregte Gesicht seiner Jüngsten, dann aber schweigend den Arm fest um sie gelegt.

»Sturm?«

»Lisa, Papa!«

»Ja, ja, das ist nun nicht anders, müssen uns eben dran gewöhnen.«

»Das dumme Geheirate!«

»Recht so, brav so, bleib dabei, Kind,« sagte schmunzelnd der alte Herr. »Dein Papa kann nur dabei gewinnen.«

Friedel sah ihn sinnend an.

»Ach, so meinst du's, Papa?« sagte sie dann ruhig. »Ich bin doch dein Junge und der bleibe ich.«

Herr Polten lachte vergnügt. Zufällig aber fing er eben in diesem Augenblick einen Blick seiner Schwester auf. Unsicher wandte er sich an Friedel. »Alles schön, Kind, aber –«

»Wie alt ist Ihre jüngste Tochter, Herr Polten,« wandte sich seine Nachbarin, die Tante des Bräutigams, an ihn. Sie hatte jedes Wort gehört, das die beiden tauschten.

»Vierzehn oder fünfzehn, was, Friedel?«

Unsicher sagte es der alte Herr.

»Was denkst du, Papa, im März bin ich doch sechzehn geworden,« beeilte sich Friedel zu verbessern.

»Alle Wetter, schon!« Ganz erschreckt fuhr der Vater auf.

»Da ist's freilich Zeit, daß –«

Er vollendete den Satz nicht.

Ungestüm, wie sie erschienen war, stürmte Friedel wieder davon.

»Na nu!« Verdutzt sah ihr der Vater nach. »Verzeihen, gnädige Frau, das Kind hat noch wenig Manieren, das muß eben noch kommen,« wandte er sich dann entschuldigend an seine Nachbarin.

Lächelnd sah die zu ihm auf. »Vatersorgen!«

»Das weiß der Himmel!« Seufzend, dabei aber lustig mit den Augen zwinkernd, bestätigte es der alte Herr. »Größtenteils durch meine Schuld. Hab' eben durchaus einen Jungen haben wollen. Nun hab' ich einen, fürcht' ich, und jetzt sollt's ein Mädel sein. Schwester Helene liegt mir täglich drum in den Ohren, und auch die Lisa hat mir das Versprechen abgenommen –«

Dicht schmiegte sich Friedel an die geliebte Schwester.

Was er der Lisa hatte versprechen müssen, konnte er nicht mehr sagen, das Wort wurde dem alten Herrn durch den Pfarrer abgeschnitten. Dieser war aufgestanden, hatte an sein Glas geklopft und blickte fast unverwandt zu dem Brautpaar hinüber. Aller Augen wandten sich demselben Platze zu, und wahrlich, ein liebliches Bild war da zu schauen. Die Braut hatte die kleine Schwester herangewinkt. Ungestüm, wie sie zum Vater hin und wieder fortgestürmt war, drängte sich nun Friedel an Lisa heran. Diese hatte ihr auf ihrem Stuhle Platz gemacht, den hindernden Schleier mit um sie geschlagen, und von ihrem weichen Arm umschlungen, schmiegte die Kleine sich nun dicht an die geliebte Schwester, als wolle sie niemals von ihr lassen. Lisas blondes, zartes Köpfchen beugte sich zärtlich über das kleine, schmale, braune Zigeunergesicht, das mit großen, grauen, weitaufgeschlagenen Augen innig zu ihr aufsah.

Die beiden merkten gar nicht, daß sie der Zielpunkt aller Blicke waren.

» Vivat sequens!« klang da fröhlich die liebe Stimme des alten Pfarrers.

» Vivat sequens!« jubelte die ganze Gesellschaft lachend, und im Nu sahen die beiden Schwestern sich von allen den fröhlich aufspringenden Gästen umringt. – Wie aus einem Traum erwachten sie. Lisa begriff sofort, als ihr Werner mit einem bezeichnenden Blick auf Friedel » Vivat sequens!« zuflüsterte und das Glas in die Hand schob. Neckisch lächelnd trank sie Friedel zu. Die stand und sah verständnislos in dies Treiben. Weshalb umdrängte man sie so und sahen alle sie lachend an? Was hatte der Pfarrer doch gesagt?

Da hielt ihr Herr von Rödern über den Tisch her das Glas entgegen und reichte ihr zugleich ihr eigenes.

»Gnädiges Fräulein müssen Bescheid tun.«

»Ich? Weshalb?«

»Nun, › Vivat sequens‹ lautet doch der Trinkspruch!«

Ganz dumm und verständnislos schaute Friedel drein. Neckend zog sie der Schwager am Ohrläppchen, bis sie ihm das Gesicht zuwenden mußte. »Dumme Friedel, dumme kleine Friedel,« neckte er. » Vivat sequens heißt doch: es lebe der, die oder das Folgende, hier die folgende kleine Braut! Prosit, kleine Schwägerin!« – Friedel hatte begriffen. Sie wurde ganz rot und heiß, und ärgerlich blitzten die grauen Augen auf.

»Ich will aber gar nicht heiraten, ich heirate ja gar nicht,« polterte sie. »Sollte mir gerade noch fehlen, so was Dummes! Der Papa braucht seinen Jungen, gelt, Vaterherz?«

Unendlich weich und zärtlich schlangen sich die kindlich schlanken Arme um den Vater, der dicht neben ihr stand.

Die Unsicherheit im Gesicht des alten Herrn war beinahe komisch anzusehen.

Tante Lenchen stand daneben und blickte den Bruder herausfordernd an. Er fand keinen Ton in seiner Kehle und drückte sein Kind nur fast heftig an sich.

»Frida, Kind,« begann salbungsvoll die Tante – sie bestand darauf, Friedel mit Absicht »Frida« zu nennen – »Frida, Kind, dies zu überlegen haben wir ja noch Zeit, und inzwischen –«

»Inzwischen bin und bleib' ich allemal Papas Junge,« rief Friedel und wirbelte wie toll um den Tisch herum, bis der Gedanke an den zerrissenen Rock sie urplötzlich entsetzt innehalten ließ. Erschreckt raffte sie ihn zusammen und sank auf ihren Platz an Herrn von Röderns Seite, wo sie just in ihrem Wirbeltanz angelangt war.

»Hat man's gesehen?« flüsterte sie ihrem Tischnachbar leise zu.

Verständnislos schaute nun der sie an.

»Den Riß natürlich,« erklärte sie ebenso leise, »Himmel, sind Sie aber –«

Borniert hatte sie sagen wollen, verschloß sich aber noch rechtzeitig mit einem hörbaren Klaps den Mund.

»Danke, mein gnädiges Fräulein,« sagte Klaus von Rödern so artig, als habe sie ihm eine große Schmeichelei gesagt.

»Bitte!« sagte sie ganz scheu und rot und sah ihn ungewiß an.

Er mußte jetzt laut auflachen.

»Wie bist du mit deinem Kauf zufrieden, Klaus?« fragte nun Werner Horst über den Tisch hinüber.

»Ganz gut, Werner, danke. Soviel ich in den paar Wochen beurteilen kann, läßt sich sicher aus dem Gute etwas machen. Der jetzige Pachtvertrag läuft freilich erst im Herbst übers Jahr ab; bis dahin muß ich mich noch 'n bißchen länger in der Welt herumtreiben. Dann aber will ich endgültig mein Zelt in Rödershof aufschlagen.«

»Rödershof wollen Sie's umtaufen, Ihr Gut, Herr von Rödern, ja? Bravo, das gefällt mir. Frau von Rödern auf Rödershof, das klingt doch auch nach was!« sagte lachend Friedel.

»Wie kommen Sie auf eine Frau von Rödern?« fragte Klaus belustigt.

»Na, Sie werden doch heiraten, und –«

»Ich? Ich heirate ja gar nicht; ich mache es wie Sie, mein gnädiges Fräulein.«

»Sie? Weshalb denn Sie nicht? Kommt es Ihnen auch so unnötig und albern vor wie mir?«

»Das weniger, aber ich bin bereits zu alt dazu!«

»Zu alt?« Zweifelnd und prüfend sah ihn Friedel an. »Na ja, aber es haben doch schon ältere Männer geheiratet. Sehen Sie mal da drüben den Herrn mit dem dicken, roten Gesicht, sehen Sie, das ist Herr von Ellern. Der hat voriges Jahr erst geheiratet, und da hatte er schon gar kein bißchen Haar mehr. Da sehen Sie doch noch besser aus!«

Schallendes Gelächter unterbrach sie. Werner und Klaus konnten gar nicht aufhören. Auch Lisa lachte herzlich, und wer ringsum saß und es gehört hatte, stimmte mit ein.

Friedel war ganz beleidigt. »Was gibt's da groß zu lachen? Herr von Rödern sieht doch wirklich noch gar nicht so sehr alt aus!«

Erneutes Lachen.

Herr von Rödern neigte sich tief. »Danke verbindlichst, mein gnädiges Fräulein.«

»Bitte, nicht Ursache, Herr von Rödern, ich sage immer glatt weg, was ich denke,« versicherte Friedel großartig.

Inzwischen war der Kaffee serviert worden. Die Gesellschaft erhob sich, und die meisten traten auf die breite Terrasse, die nach hinten in den parkartigen Garten führte. Seitwärts von diesem lag der Wirtschaftshof mit seinen geräumigen Stallungen.

Friedel war allen vorausgeeilt, und als Klaus von Rödern, eine Zigarre in der Hand, langsam in eine Seitenallee einbog, sah er an deren Ende eine weiße, schlanke Gestalt, auf einer Schaukel stehend, sich fast bis über die Kronen der alten Riesenbäume schwingen.

Erschreckt eilte er näher.

Friedel mußte ihn bemerkt haben, denn wie der Wind glitt sie in sitzende Stellung, die hohen Schwingungen ließen nach, und als er herantrat, flog sie ihm in weitem Bogen entgegen, so daß er eilig zufassen mußte, um sie vor dem sicheren Sturz zu bewahren.

Sein Arm preßte sie unwillkürlich mit festem Druck gegen sich.

Hochaufatmend und lachend löste sich Friedel alsbald unbefangen aus seinem Arm. »Ein Glück, daß Sie fest zugegriffen haben, Herr von Rödern,« lachte sie auf. »Diesmal wär' ich wirklich beinahe gefallen. Daran ist aber nur wieder der dumme Rock schuld; sonst kann ich bei noch viel höherem Schwung abspringen. Himmel, aber was ist denn das?«

Sie hatte sich umgesehen. Wie ein breites, langes, weißes Band zog es von ihr weg zur Schaukel hin. Der Rock mußte mit dem beschädigten Teil im Sitzbrett hängen geblieben sein – nun war er auch unterhalb des Knies quer durchgerissen; nur etwa ein Viertel der Teile hing noch zusammen.

Sprachlos starrte Friedel dies neue Unheil an. Dann mußte sie plötzlich laut auflachen. »Die Natur hilft sich doch immer, Herr von Rödern. Wie wird mir wohl sein in dem kurzen Rock! Bitte, treten Sie einmal fest da auf!«

Sie bedeutete Klaus von Rödern, sich mit beiden Füßen auf den abgelösten Teil des Rockes zu stellen, möglichst dicht dabei, wo die untere mit der oberen Hälfte noch vereint war. Dann drehte sie sich in kreisendem Wirbel und – ritsch, ratsch – herunter war auch das letzte Viertel. Am Boden lag die breitere untere Hälfte des Rockes, vom Knie ab schimmerte das rosige Unterkleid vor, über das, traurig ausgefranst, der obere Teil des weißen Mullkleides niederhing. Zwei zierliche Füßchen in ausgeschnittenen schwarzen Schuhen zeigten sich ganz ungeniert und schlugen voll Lust eine Pirouette.

»Hurra, nun ist mir wieder wohl!« jauchzte Friedel. »Ich könnte wahrhaftig fliegen! Fangen Sie mich mal, Herr von Rödern!«

Und dahin flog die zierliche Elfengestalt, wie aus der Pistole geschossen.

Klaus von Rödern hatte erst ein paar Schritte hinter dem Irrwisch her gemacht, dann aber die Verfolgung alsbald als aussichtslos eingestellt.

Lachend, verdutzt schaute er ihr nach, dann bückte er sich kopfschüttelnd nach dem zurückgelassenen Rest seiner Dame, wickelte den langen weißen Streifen sorgfältig auf, schob ihn wie ein Paket unter den Arm und schlenderte zur Gesellschaft zurück.

Er fand in dem großen Park mit seinen weitverzweigten Wegen, den er heute zum ersten Male betrat, nicht gleich die Richtung zum Hause zurück und gelangte so an die Parkmauer, wo ein kleiner Hügel mit einer Bank unter einer hohen, alten Eiche einen prachtvollen Ausblick ins Gelände gestattete.

Prachtvolle, saftig-grüne Wiesen, wohin das Auge reichte, von blühenden Obstbäumen bestanden und von einem sprudelnden, unruhig dahertanzenden Flüßchen durchquert. In der Ferne war der Horizont von einer waldigen Bergkette begrenzt. Jenseits des Flüßchens, dort, wo Streifen noch leuchtenderen Grüns, dazwischen braun aufgeworfene Erdschollen Saatfelder vermuten ließen, sah man aus einem nur ganz verschwommen sichtbaren Häuserkomplex Rauch aufsteigen.

»Rödershof!« flüsterte Klaus von Rödern vor sich hin, und sinnend weilte sein Auge auf dem Flecklein Erde, das ihm in kurzer Zeit die nun wirklich ersehnte Heimat bedeuten sollte.

Früh verwaist und im Besitz reichlicher Mittel, hatte er so ziemlich aller Herren Länder gesehen. Jetzt drängte es ihn nach einem Abschluß des unsteten Lebens. Die Kaufgelegenheit war günstig gewesen, die Scholle Erde dort drüben war nun sein eigen. Dort wollte er sich vergraben, wenn er erst noch seine amerikanische Reise hinter sich hatte, die er für den Sommer und Winter plante. Vom Herbst übers Jahr an löste sich dann auch der alte Pachtvertrag, den er der Reise halber mit übernommen hatte; der jetzige Pächter des Gutes zog ab, und er konnte dann frei in seinem Besitztum schalten. Ob er's aushalten würde so in der Stille nach seinem reichbewegten Leben?

Sinnend starrte er vor sich hin. Allerlei Bilder gaukelten ihm vor seinem inneren Auge. Immer fester umspann ihn diese wache Träumerei. Auch als es sich auf der Landstraße zu regen begann, weckte ihn das nicht. Im Gegenteil, es paßte wunderbar gut in seinen Traum, was er da sah.

Erst zogen Landleute vorüber, Feldarbeiter, die ihr Tagewerk beendet hatten. Ein leerer Karren, von einer schwerfälligen Kuh gezogen, klapperte vorbei. Der Junge, der das Gespann lenkte, klatschte ohrbetäubend mit der Peitsche, um dem Herrn dort oben die Wichtigkeit seiner kleinen Person klar zu machen. Umsonst, der träumte!

Wieder Räderrollen! Ein Wagen bog um die Ecke, von zwei strammen Braunen gezogen. Die Tiere taten offenbar noch nicht ihr Bestes; es war, als ob sie nur widerwillig das fortführten, was der Wagen hinter ihnen barg.

Ein zartes, blondes Köpfchen mit grauem Reisehütchen beugte sich vor, zwei tränende blaue Augen umfaßten noch einmal, was die Besitzerin im Begriff war, zu verlassen.

Lisa war's, die mit Werner dem Städtchen zufuhr, von wo der Zug sie weiter und weiter bringen sollte, der neuen Heimat entgegen.

Jetzt zeigte sich ein Arm, der die junge Frau zurückzog, doch wieder und wieder, wie in Unruhe und Erwartung, beugte sich das blonde Köpfchen zum Wagenschlag heraus.

Noch immer in seine Träumerei versenkt, sah Klaus dies alles, ohne sich Rechenschaft davon zu geben.

Da kam noch etwas um die Ecke. Es sauste daher wie auf Sturmesflügeln, es schien den Boden kaum zu berühren.

Und wie eine Apfelblüte war's anzuschauen, das weiß und rosige Etwas, das da heranflog, näher und näher.

Auf blitzendem Rad sauste Friedel hinter dem Wagen der Schwester drein, der abgerissene Mullrock und das rosa Unterkleidchen blähten sich im Winde. Flink und kraftvoll arbeiteten die Füßchen, eiserne Willenskraft schwellte fast sichtlich die ganze zarte Gestalt.

Sie wollte, sie mußte die geliebte Schwester noch einmal sehen!

Näher kam sie und näher – nun war sie dicht bei dem Wagen.

Lisa hatte die Dahereilende bemerkt; ein Wort, und die Pferde standen.

Friedel flog herab vom Rad, das achtlos in den Graben zur Seite fiel.

Schluchzend – man hörte es bis zur alten Eiche oben, und Klaus war längst erwacht, wach mit allen Sinnen –, bitterlich schluchzend hing sie an der Schwester Hals.

Was die beiden sagten, Klaus konnte es nicht verstehen und war als anständiger Mensch dankbar dafür. Den Lauscher wollte er ja nicht spielen, daß aber die Augen fast andachtsvoll in sich aufnahmen, was sie da erschauten, das konnte ihnen niemand wehren.

Er tat da einen tiefen Blick in die Kraft und Innigkeit des Kinderherzens dieses jungen Mädchens, das sich für gewöhnlich so toll gebärdete, wie ein unbändiger Junge.

Wie sie die Schwester umschlang, wie sie diese, die nun am fassungslosesten schluchzte, zu trösten, aufzurichten versuchte. Wie lieb die kleine derbe Hand zu streicheln verstand, wie kosend, wie bestrickend warm der Ton der jungen Stimme klang.

Werner war zum andern Wagenschlag herausgestiegen. Ein Wort vom Kutscher trieb ihn wohl zur Eile. Mahnend trat er zu den beiden Weinenden heran.

Er umfaßte Friedel von rückwärts, die sträubte sich erst, ein Wink Werners nach der fassungslosen Lisa machte sie aber stark. Sie richtete sich auf, faßte noch einmal der Schwester geliebtes Antlitz in beide Hände, sah ihr tief in die Augen, preßte dann einen heißen Kuß auf die zuckenden Lippen und sprang vom Wagen.

Entschlossen fuhr sie sich mit der Hand über die Augen, warf das Köpfchen zurück und reichte dem Schwager beide Hände.

Dann wendete sie sich kurz, raffte das Rad aus dem Graben, ehe noch der Schwager helfend beispringen konnte. Im Nu war sie oben, und so schnell, wie sie gekommen, war sie auch verschwunden. In einen Wiesenpfad lenkte sie ein, dann ging's über ein kleines Brückchen, und nun nahm eine Baumgruppe sie schützend auf, die arme verwehte Apfelblüte, die ihr Abschiedsleid irgendwo bergen ging.

Klaus von Rödern war aufgesprungen.

»So spät schon? Wie muß ich mich verträumt haben! Hallo, Werner, altes Haus, Glück auf!«

Sein schallender Ruf erreichte den Freund noch; der beugte sich aus dem Wagenfenster.

»Leb wohl, Klaus, auf Wiedersehen!« schallte es von dorther als letzter Gruß laut und jubelnd zurück.

Zwei Tücher wehten im Maienwinde, dann bog der Wagen um die Ecke.

Klaus raffte sein weißes Bündel auf, das er neben sich auf die Bank gelegt hatte.

»Arme Kleine!« murmelte er dabei.

Dann eilte er zum Hause zurück. Diesmal verfehlte er den Weg nicht.

Er trat über die Terrasse in den Saal.

Die meisten Gäste, die aus der Nachbarschaft namentlich, waren schon aufgebrochen. Nur die näheren Verwandten hatten sich's wieder an der Tafel bequem gemacht.

Klaus verabschiedete sich von den Herrschaften.

Auf sein Befragen hörte er, daß der Hausherr und seine Schwester den scheidenden Gästen das Geleite in den Hof gaben.

Er folgte ihnen, immer das Bündel unter dem Arm, das mancher neugierige Blick traf.

»Was haben Sie denn da, Herr von Rödern?« fragte Tante Lenchen, zu der er herantrat.

Jetzt erst merkte er, daß er zum Verräter wider Willen wurde. Hätte er doch den Lappen irgendwohin geworfen. So albern und verträumt zu sein!

»Ich – ach nichts!« Verlegen suchte er das Bündel den Späherblicken zu entziehen.

Doch Tante Lenchen hatte schon mißtrauisch danach gegriffen. Das Ding kam ihr so sonderbar bekannt vor. Sie entfaltete den Streifen länger und länger.

»Friedels Rock?« kam's von ihren schreckensbleichen Lippen. »Wo – wo?« – sie konnte die Frage nicht vollenden.

»Das gnädige Fräulein hatten ein Unglück auf der Schaukel,« berichtete Herr von Rödern stockend; er hätte sich lieber die Zunge abgebissen.

»Auf der Schaukel! Hier, Bruder, so – sieh, was du dir groß ziehst!«

Und jammernd und zeternd berichtete die alte Dame dem ahnungslos herzutretenden Bruder von der neuen ruchlosen Schandtat seines »Jungen«.

Der Hausherr konnte sich nicht helfen, er mußte lachen, wie er von der Amputation des Rockes hörte, und erleichtert stimmte Klaus mit ein.

Tante Lenchen verstummte vor Ärger.

»Wo ist meine Nichte jetzt?« fragte sie nur noch ganz schwach.

»Das gnädige Fräulein sind zu Rad dem Wagen des jungen Paares nach.«

»Auf dem Rad? In dem Aufzug?«

Das war zu viel für die gute Tante. Sie raffte den weißen Mullfetzen, dieses Schanddenkmal des mißratenen Kindes, auf und zog sich mit würdevollem, aber stummem Kopfneigen gegen Herrn von Rödern zurück.

Der machte ihr einen Diener, so tief und ehrfurchtsvoll, als ob sie eine regierende Königin wäre.

Wenn er damit ihren Grimm zum Nutzen der kleinen Missetäterin zu mildern gedachte, so irrte er sich, Tante Lenchen hatte es gar nicht mehr bemerkt.

»Na, toll treibt's die Friedel, das muß ich selber sagen,« brummte jetzt auch Papa Polten. »Zeit wär's, daß sie vernünftig wird. Werd' wohl doch nun meinen Jungen dran geben müssen, fürcht' ich. Deshalb also war der Unband nirgends zu finden beim Abschied – hat sich in dem Aufzug nicht sehen lassen wollen; und dann eins, zwei, drei auf dem Rad hinterher, sieht ihr ähnlich! Hätt' übrigens bei der Amputation dabei sein mögen, ha, ha, ha, ha!«

Aus ganzem Herzen stimmte Klaus in das Lachen des alten Herrn mit ein.

Dann empfahl er sich und verabschiedete sich auch zugleich, da er andern Tages schon seine Reise antreten wollte.

»Gott befohlen, mein lieber Herr von Rödern. Glückliche Reise! Auf Wiedersehen also in anderthalb Jahren und dann auf gute Nachbarschaft!«

Klaus schritt über die Wiesen heimwärts. Der Pfad, auf dem Friedel dahingesaust war, führte auch ihn nach Rödershof.

An der Baumgruppe, die vorhin die kleine Flüchtige seinem Blick entzogen hatte, sah er etwas Rotweißes im Grase liegen, ein Rad daneben.

Er trat näher.

»Mein gnädiges Fräulein –«

»Ach was, gnädiges Fräulein! Ich bin ein ganz armes, todunglückliches Menschenkind und – ach Lisa – Lisa!«

Ein blasses, verweintes Gesichtchen hatte sich ihm einen Augenblick zugewendet, um sich ebenso rasch wieder im Grase zu verbergen.

Er trat noch näher und versuchte, die Weinende aufzurichten.

Die stieß ihn fort; fast hätte sie nach ihm geschlagen.

»Lassen Sie mich, lassen Sie mich. Ich will allein sein, ich muß mich ausweinen können. Lisa, ach Lisa!«

Er machte nun weiter keinen Versuch mehr, sie zu stören, setzte sich aber ganz leise neben sie ins Gras.

»Weshalb gehen Sie nicht fort? Ich will allein sein!« Bitterböse rief es Friedel.

»In diesem Zustande lasse ich eine Dame nicht allein,« sagte er einfach. »Wenn Sie erst ruhig geworden sind, entferne ich mich sofort.«

»Wenn Sie erst ruhig geworden sind, entferne ich mich sofort.«

Friedel antwortete nichts mehr. Ein paarmal schluchzte sie noch wild auf, dann beruhigte sie sich allmählich.

Nach ein paar Minuten hob sie verstohlen das Köpfchen und schielte nach ihm, der, scheinbar ohne Notiz von ihr zu nehmen, die Hand über das Knie gelegt, auf dem weichen Rasen saß.

»Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Ist's in England schön?«

»Es läßt sich da leben.«

»Glauben Sie – glauben Sie, daß Lisa es dort aushalten wird?«

»Mein Freund wird jedenfalls alles aufbieten, sie glücklich zu machen.«

»Ach was – hier war sie auch glücklich und wir mit und – ach, Lisa, Lisa!«

Noch ein Aufschluchzen als Nachzügler, doch schon etwas milder. Nach einer kleinen Pause: »Herr von Rödern!«

»Mein gnädiges Fräulein?«

»Weshalb ist wohl das dumme Heiraten auf der Welt?«

»Ja, das wird wohl so seine Gründe haben, denke ich mir. Aber für Sie, mein gnädiges Fräulein, und für mich existiert das ja nicht. Wir beide haben's ja verschworen!«

»Ja, wirklich! Und sehen Sie, das gefällt mir so gut an Ihnen. Ich glaube, wir könnten mit der Zeit ganz gute Kameraden werden.«

»Topp, mein gnädiges Fräulein, soll ein Wort sein! Wenn ich erst von Amerika zurück bin –«

»Nach Amerika gehen Sie?« Es klang wie ganz leichtes Bedauern im Ton.

»Nach Amerika!« bestätigte er kopfnickend.

»Na, dann purzeln Sie nicht in den Niagara! Das ist so ziemlich alles, was ich aus der Geographie noch weiß. Leben Sie wohl, Herr von Rödern, auf Wiedersehen! Ich muß nun wirklich zu Papa, er könnte seinen Jungen brauchen!«

Sie hatte ihm die schmale Kinderhand hingestreckt, die er, sich ritterlich verneigend, an die Lippen führen wollte, was sie dadurch verhinderte, daß sie ihm die Hand ganz heiß und scheu entriß.

Er fügte sich, wobei ein lustiges Lächeln um seine Mundwinkel zuckte.

»Auf Wiedersehen, mein gnädiges Fräulein,« konnte er ihr nur noch nachrufen.

Sie hatte in aller Hast ihr Rad vorgezogen, sich darauf geschwungen und war schon wer weiß wie weit.

Noch einmal wandte sie das Köpfchen, ein Schelmenblick flog über ihn hin, sie winkte einen Gruß mit der Hand und war drüben über der breiten Chaussee, die als leichte Böschung das Gelände durchquerte, seinem Blick entschwunden.

Sinnend, träumend schritt er Rödershof zu. – – – –

Es war am Abend spät.

Herr Polten saß in seinem Zimmer auf seinem Sorgenstuhl und paffte dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife in die Luft. Er war nur wie durch einen Nebel zu sehen. Die Gäste, die im Hause geblieben waren, hatten sich schon alle zurückgezogen. So ein Hochzeitstag ist doch sehr anstrengend.

Das dachte auch Papa Polten, wie er so vor sich hin paffte, und seine Gedanken flogen hin und her zwischen zwei Polen: seiner Ältesten, die dem Manne ihrer Wahl in die weite Welt folgte, und seiner Jüngsten, die nun doch anfing, ihm Kopfzerbrechen zu machen.

Er hatte sie egoistisch nur für sich erzogen. Jetzt, wo sich bei ihr dies von ihm anerzogene Ich geltend machte, mußte er sich doch gestehen, daß es für ein heranwachsendes junges Mädchen nicht das Rechte sei, sich wie ein Junge zu gebärden. Wie glühend hatte er sich einen Jungen gewünscht! Drei Mädchen hatte ihm der Himmel geschenkt, das vierte Kind sollte und mußte ein Junge werden. »Sein Junge« war's auch geworden, trotzdem es wieder ein Mädchen war.

Wäre die Mutter am Leben geblieben, so wäre sie wohl energischer für die »weiblichen Rechte« ihres vierten kleinen Mädchens eingetreten, als es Tante Lenchen, die nach der Schwägerin Tod das Hausregiment übernahm, dem Bruder gegenüber vermochte.

Da die zwei ältesten kleinen Mädchen schon frühe, vor der Mutter Tod, gestorben waren, so blieben nur Lisa und Klein-Friedel mit Vater und Tante zurück.

Lisa, der Mutter Ebenbild, blond, sanft, zart, weiblich in jedem Gedanken, in jeder Faser ihres Seins, war der Tante Liebling. Elfriede, seine Friedel, »sein Junge«, das Zigeunerkind mit dem dunkeln Kraushaar und den grauen, blitzenden Augen, war des Vaters Verzug. Umsonst suchte Tante Lenchen die kleine »Frida«, wie sie sie mit Betonung stets nannte, durch Puppen und Strickstrümpfe ihrer natürlichen Bestimmung zuzuführen. Klein-Friedel zerschlug die Puppen und verwirrte die Strümpfe rettungslos.

Die Lehrerin, die zur Erziehung der beiden Mädchen ins Haus genommen wurde, lobte Lisa stets über die Maßen, erlebte mit allen ihren Bemühungen aber nicht viel Freude an Friedel. Das Notdürftigste lernte die wilde Hummel wohl, machte aber gar kein Hehl daraus, daß sie lieber tollte, turnte, kletterte, Reifen und Kreisel schlug, als las, schrieb und rechnete, Sprachen, Geschichte und Geographie studierte. Auf dem Rücken des Pferdes, gesattelt oder ungesattelt, war ihr wohler als auf der Schulbank.

Der Vater schmunzelte und frohlockte; »sein Junge« war sein Augapfel. Die Tante klagte und jammerte, »Frida« war ihr Schmerzenskind. Lisa stand dazwischen, sie klagte mit der Tante, bewunderte mit dem Vater um die Wette und liebte die kleine tolle Schwester, die solch ein weiches Herzchen hatte, aus Herzensgrund.

So waren die beiden Schwestern in ihr sechzehntes und achtzehntes Lebensjahr eingetreten. Da war die große Wendung in Lisas Leben gekommen.

Auf einem Nachbargute hatte Lisa Werner Horst, der bei den Verwandten zu Besuch war, kennen gelernt. Er war Kaufmann und hatte in Liverpool ein eigenes überseeisches Exportgeschäft, das ihm den Gedanken an die Heirat erlaubte.

Und Werner Horst dachte daran, dachte stark daran, als er Lisa Polten sah.

Papa Polten meinte freilich, seine Lisa sei noch gar zu jung. Werner Horst aber war andrer Ansicht, und Lisa Polten ebenfalls, so daß der Papa schließlich nachgeben mußte.

Jung-Friedel riß die großen Kinderaugen weit auf und staunte die bräutliche Schwester an wie ein Wundertier. Was dergleichen bedeuten sollte, begriff sie nicht. Erst empörte sie sich gegen den Eindringling, den Schwager. Der aber wußte mit seiner unverwüstlichen Gutmütigkeit die kleine Wilde zu bezähmen.

So sehr auch er seinen Spaß an dem tollen Kobold hatte, so stimmte er doch mit Tante und Braut überein, daß Papa aus »seinem Jungen« nun doch allmählich ein Mädchen machen müsse. Und wenn Papa Polten sich sträubte und wetterte und polterte und schwor: »sein Junge« sei ihm eben recht, so war ihm doch seit einiger Zeit im tiefsten Innern nicht mehr ganz wohl dabei. Er fing an, seine Erziehungsresultate mit einer gewissen unsicheren Scheu zu betrachten.

Im Herbst war Lisa Braut geworden. Werner Horst hätte sein Kleinod am liebsten alsbald mit sich übers Meer genommen. Den Winter aber hatte Papa Polten sich als Frist ausbedungen. Im Mai mochte dann Werner, wenn es denn durchaus sein mußte, seine junge Frau heimholen.

Der Mai war ins Land gezogen, und mit ihm der Hochzeitstag näher und näher gerückt.

Und heute nun, heute war alles schon vollendete Tatsache.

Lisa war davongezogen, und die Ihren trauerten ihr nach, jedes auf seine Art.

Friedel lag sorgfältig eingeschlossen droben im Zimmer, das sie mit der Schwester geteilt hatte, auf ihrem Bette, noch im vollen, wenn auch zerfetzten Hochzeitsstaat. Sie hatte sich in Schlaf geweint, und mit hochroten Backen lag sie und schlief den festen, traumlosen Kinderschlaf, den nur die glückliche Jugend kennt. Bei ihrer Heimkunft am Abend hätte sie gar zu gerne den Vater noch einmal umarmt. Der aber war mit allen andern im Saal drinnen gewesen. Da hinein wollte sie nicht. Einmal nicht wegen ihres verweinten Gesichts, und dann schämte sie sich des halbierten Rockes doch auch etwas. So war sie hinaufgegangen und hatte sich eingeschlossen; so allein im Zimmer hatte sie furchtbar weinen müssen, auch nicht aufgemacht, als man an ihre Tür pochte und sie rief. Und dann – dann war sie entschlummert.

Tante Lenchen bezeugte das Heimweh nach der Nichte dadurch, daß sie unermüdlich rumorte und räumte, als solle und müsse heute noch jedes Ding an Ort und Stelle. Die endlich sichtlich zu Tage tretende Unlust der helfenden Mägde erst brachte sie zur Besinnung, daß morgen auch noch ein Tag sei.

So ließ sie denn alles sein und begab sich zu dem Bruder, mit dem sie noch etwas Wichtiges zu bereden hatte. Sie mußte das Eisen schmieden, solange es heiß war.

Der alte Herr – er hatte nicht frühe, erst mit vierzig Jahren geheiratet und war nun ein angehender, wenn auch stattlicher Sechziger – der alte Herr saß in seiner Höhle und dampfte – dampfte. Auf seinem gutmütigen, roten, wetterharten Gesichte – dem Gesichte des Landmanns, das Tag für Tag der Sonne oder dem Sturm preisgegeben wird – lagerte ein tiefer Schatten. Die buschigen, weißen Haare standen zu Berg, als sei die feste Faust achtlos wieder und wieder hindurchgefahren. Die großen, grauen Augen – Friedels Augen – starrten ins Weite.

Alles, was ihn bewegte, schien er in Dampfwolken von sich zu geben. Einmal pafften die Lippen wild und stürmisch, so daß er selber kräftig ins Räuspern und Husten kam, dann wieder kräuselten sich feine zarte Wölkchen, leise und sacht.

Jetzt eben dampfte es wieder wie ein Fabrikschlot, und nur aus dem Laut der paffenden Lippen konnte man auf die Gegend schließen, wo der Urheber dieses Dampfes sich befand.

»Konrad!«

»Lene!«

Der alte Herr fuhr auf und tappte sich durch den Nebel der Stelle zu, von wo die Stimme klang. Ritterlich schob er der Schwester einen Stuhl hin, trieb mit dem Taschentuche, das er vor sich her schwang, die Rauchwolken dem rasch geöffneten Fenster zu und setzte sich dann wieder in seinen Sorgenstuhl.

»Schieß los,« sagte er ergeben; er wußte, was kommen würde.

»Konrad, so kann das nicht weitergehen.«

»Mit dem Rauchen, meinst du? Ja, Lenchen, an dem kolossalen Dampf heute abend ist nur die Lisa schuld.«

Mit gut gespielter Unschuld suchte er abzulenken, und das »Lenchen« war auch eine Art Parlamentärflagge, für die die alte Dame heute aber völlig blind blieb.

»Stell dich nur nicht, als ob du nicht wüßtest, was ich meine. Von Frida rede ich. So kann das nicht weitergehen mit dem Mädchen, das mußt du doch nach den heutigen Erfahrungen selbst einsehen.«

»Na, Lenchen, was war denn da groß?«

Die Stimme des alten Herrn klang förmlich bittend.

»Erbarm dich! Was war denn da groß, sagst du?« Die alte Dame unterstrich jedes Wort doppelt und dreifach. »Was war denn da groß? Nein, es ist gar nichts, wenn ein junges sechzehnjähriges Mädchen am Treppengeländer herunterfährt wie der erste beste Junge, und das im vollen Hochzeitstaat, angesichts aller Gäste, Damen wie Herren. Es ist durchaus in der Ordnung, wenn sie sich dann nach der Trauung mitten unter die Dorfbengels mischt, mit Pistolen knallt, schreit wie besessen und sich Winkelhaken ins Kleid reißt, die sie mit Heftpflaster zuklebt. Von den ungehörigen, albernen Reden, die sie geführt haben mag, schweige ich ganz, aber Herrn v. Röderns Gesicht ließ tief blicken. Dann aber ist's durchaus, was sich gehört, daß sie direkt nach dem Essen auf die Schaukel springt, jedenfalls wie toll schaukelt, den Rock zerreißt, mit Hilfe eines Herrn den Fetzen vollends abtrennt und dann zu Rad in diesem Aufzuge der Schwester nachsetzt, deren Abschied sie gedankenlos versäumt hat. Es ist dies alles ein vollständig tadelloses, korrektes, anständiges Benehmen eines jungen Mädchens und durchaus nichts Erstaunliches dabei. Nun, Konrad?«

Dies »nun, Konrad« tönte dem alten Herrn ins Ohr wie die Posaune des Gerichts.

Er räusperte sich, er hustete, er tat alles, um die Antwort hinauszuschieben. Er stand sogar auf, schloß das Fenster und murmelte etwas von Nachtkühle, obgleich die Maiennacht so lind war, wie etwa eine Nacht im späten Juni, wenn der Sommer schon anfängt in seine Rechte zu treten.

Diese Manöver alle nützten dem alten Herrn aber wenig. Tante Lenchen ließ ihn stumm gewähren und verfolgte sein Treiben nur mit einem lächelnden Blick, wobei sie die Augen unverwandt auf ihn geheftet hielt.

Als er endlich wieder still in seinem Sessel saß und der Schwester ins Gesicht sah, zwang ihn dieser stille Blick doch zum Reden.

»Na, siehst du, Lenchen,« begann er stockend und unsicher, »ganz so schlimm, wie du sie hinstellst, ist die Sache denn doch nicht. Friedel ist noch ein Kind –«

»Von sechzehn Jahren,« schaltete die Tante trocken ein.

»Der Verstand wird schon kommen und –«

»Wann denn? So ganz von selbst?«

Er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Und dann wird das Kind einsehen, daß ein Mädchen –«

»Das vom Vater als Junge erzogen worden ist –« die Stimme klang scharf.

Er räusperte sich, fuhr aber unbeirrt fort: »Daß ein Mädchen, das heranwächst, alle wilden Streiche lassen muß, daß –«

»Das sind ja nur Worte, die du selber nicht glaubst, Konrad,« unterbrach ihn nun die Schwester ungeduldig und gereizt. »Du möchtest jetzt, wo du deinen Fehler einzusehen beginnst, gerne den Kopf unter den Flügel stecken, wie der Vogel Strauß. Mir machst du aber keine Wippchen vor. Ein junger Baum, der mal krumm gewachsen ist, wächst sein Lebtag von selber nicht wieder gerade. Der muß eine Stütze bekommen und fest verschnürt werden, bis er tut was er soll. Ein Mädchen, das bis zu seinem sechzehnten Jahr ein toller Junge war, wird ebensowenig aus sich selbst heraus plötzlich zur wohlerzogenen jungen Dame. Da muß so gut eine Stütze herbei, wie bei dem jungen Baum. Und daß wir die bekommen, das hab' ich mit der Lisa nun fest ausgemacht. Sie schickt uns irgend eine passende Engländerin, die das tolle Ding schon Mores lehren wird. Lisa wollte auch noch mit dir darüber reden. Hat sie's getan, und was sagst du dazu?«

Dem alten Herrn war heiß und immer heißer geworden. Er wischte sich wiederholt mit dem Tuche das dicke, rote Gesicht, auf dem große Schweißperlen standen. Er fauchte, er pustete, er riß die Weste auf und knöpfte sie wieder zu, er sprang vom Stuhle auf und ließ sich krachend wieder zurückfallen.

»Ins drei Kuckucks Namen, tut, was ihr nicht lassen könnt,« wetterte er endlich los. »Schafft mir meinethalben gleich ein halbes Dutzend an. Das aber sag' ich euch, wenn ihr mir aus dem Prachtkerl, der Friedel, so 'nen Zieraffen und Putzdocke machen wollt, so fahre ich dazwischen, ich werd' euch das Handwerk dann schon legen. Basta, und nun laß mich in Ruhe!«

Schnaubend hob der alte Herr die Pfeife zum Mund und dampfte, als sei er bezahlt dafür, einen Fabrikschlot vorzustellen.

Leise war Tante Lenchen hinter den Bruder getreten, leise legte sie ihm die Hand auf die Schulter.

»Konrad!«

Ein brummendes Knurren.

»Ist Lisa etwa ein Zieraffe, eine Putzdocke geworden?«

»Lisa! – – –«

Eine Welt von Liebe und väterlichem Stolz lag in dem einen Wort. Papa Polten reichte besänftigt der Schwester die Hand über die Schulter hin.

»Laß gut sein, Lenchen,« sagte er gutmütig, »ich weiß, du meinst's gut und treu mit den Kindern und mit mir. Probier's denn, ob du an dem jungen Holz wieder grad machen kannst, was der alte Mann krumm hat werden lassen. Meinen Segen hast du. Helfen aber werd' ich dir nicht, das geht gegen meine Grundsätze. Ich kann dem Kind nicht auf einmal sagen, dein alter Vater hat sich geirrt, was schwarz war ist weiß, und weiß wird nun schwarz. Ich will dir in nichts drein reden, aber mich laß aus dem Spiel.«

»So sei's, Konrad. Und nun, gute Nacht, Bruder!«

»Gute Nacht, Lenchen! Und – – Lenchen – Dank für alles, was du bis jetzt an den Kindern und mir getan hast. Wenn ich auch mal wettre, fühlen tu' ich's doch, und du kennst mich alten Brummbär ja lange genug, um das zu wissen.«

Er hielt der Schwester die breite feste Hand hin, und sie legte leise und warm die ihre hinein.

»Ich weiß es, Konrad, und wen hätt' ich denn auf der Welt, wenn ich euch nicht hätte.«

Damit war sie gegangen.

Sinnend schaute der Bruder ihr nach, und noch lange, lange paffte er seine Dampfwolken in die Luft, ließ er seine Gedanken ziehen zwischen Vergangenem und Zukünftigem. – – –

Und dann lag Stille über Haus und Hof. Kein Laut unterbrach das Schweigen der Maiennacht. Lisas Hochzeitstag war zu Ende.


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