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In der Fremde

Ein langgestreckter, schmaler, saalartiger, niedriger Raum. Die äußere Längsseite zeigte etwa sechs Fenster, zwischen denen, mit dem Fußende ins Zimmer herein, zwölf schmale Bettstellen der Reihe nach aufgestellt waren. Zwischen je zwei Betten befand sich eine Waschkommode für zwei Personen; dem Fußende der Betten gegenüber an der Innenwand standen ebensoviele Kleiderschränke.

An Kahlheit und Nüchternheit ließ diese Anordnung nichts zu wünschen übrig, zumal jetzt, wo alles nur spärlich vom Schein einer einzigen Stearinkerze erhellt wurde, die dort neben dem letzten Bett einsam und trübe flackerte.

Wer freilich genauer zusah, fand etwas, das der poesielosen Nüchternheit der Umgebung Hohn sprach.

In den schmalen Bettstellen nämlich, auf den weißen Kissen zeigten sich blonde, braune, nachtdunkle Köpfchen, helle und dunkle Augen blitzten aus jungfrischen, rosigen Gesichtern oder blinzelten schläfrig ins Licht. Hie und da hob sich ein Köpfchen und lauschte offenbar erwartungsvoll nach der Tür.

Elf der Betten waren so besetzt, das zwölfte harrte noch seines Insassen.

Ein herzhaftes Gähnen wurde laut.

»Ach, mir dauert's zu lange,« sagte eine junge Stimme etwas weinerlich.

»Natürlich der Faulpelz! Schlafratze!« schalt eine andere energischere, tiefe Stimme.

»Hast gut reden! So'n Kraftmensch wie du!« antwortete die erste Stimme noch weinerlicher.

»Piepmatz!« klang's verächtlich zurück.

»Annchen, Ella, wollt ihr wohl? Müßt ihr denn immer streiten?« mischte sich nun eine dritte verhaltene Stimme ein.

»Kindlein, liebet einander,« klang's in salbungsvollem Ton von einem vierten Bette her.

Und ein energisches: »Schäm dich, Gertrud!« kam sofort aus dem fünften.

»Ich muß aber doch sehr bitten! Wenn nicht sofort Ruhe eintritt, notiere ich Sie!«

Die Stimme hatte eine so scharfe, eine so ganz entschieden reife, um nicht zu sagen alte Klangfarbe, daß sie wunderlich von dem bis jetzt Gehörten abstach.

Ein allgemeines Kichern war die Antwort, ja ein »Bravo, Edith, köstlich!« wurde sogar laut.

Ein energischer Schlag an die Tür des Nebenzimmers machte dem Unfug ein Ende.

»Ich muß aber doch sehr bitten!« klang's von dorther mit demselben scharfen Ton, der soeben im Zimmer laut geworden war. Die Treue der vorherigen Nachahmung war erstaunlich.

Die allgemeine Heiterkeit wollte sich denn auch nur dadurch dämpfen lassen, daß sämtliche elf Köpfe unter der Decke verschwanden. Die erstickten Laute, die von dorther vordrangen, erreichten schwerlich das Ohr der Gestrengen im Nebenzimmer.

Tiefe Stille.

In der Ferne klang Räderrollen, Pferdegetrappel! Ein Wagen! Richtig, er bog auf den freien mit Rasen bewachsenen und von Baumgruppen bestandenen Platz ein, an dem das Haus lag. Er hielt.

Der Klang einer elektrischen Glocke durchzitterte das Haus.

»Sie ist's – die Neue!«

Auf einen Schlag fuhren elf weiße Gestalten aus den elf weißen Betten und drängten sich an dem über der Haustür gelegenen Fenster zusammen.

Umsonst! Der Ladenspalt war zu eng. Es ließ sich mit dem besten Willen, abgesehen von der herrschenden Dunkelheit draußen, nicht erspähen, was unten vorging.

Man hörte nur die Haustür öffnen, darauf ziemlich langes Verhandeln, unterschied die liebe, milde Stimme der allgemein verehrten Vorsteherin, dazwischen das scharfe, vorhin ertönte Organ, dann eine tiefe Männerstimme und den hellen, weichen Ton, wie er nur aus einer ganz jungen Kehle zu kommen pflegt.

Dann wurde die Haustür geschlossen. Draußen flog mit energischem Klappen der Wagenschlag zu, die Pferde zogen an, das Räderrollen verklang in der Ferne.

Innen im Hause hörte man Stimmengemurmel. Türen wurden auf und zu gemacht, Schritte nahten und entfernten sich wieder.

Ein erneutes Glockenzeichen rief eine der Mägde herbei. Es wurde also offenbar erst zu Nacht gegessen.

Ergeben legten sich die elf weißen Gestalten, die seit der Abfahrt des Wagens erwartungsvoll in ihren Betten gesessen hatten, wie auf ein verabredetes Zeichen in ihre Kissen zurück.

»Kinder, wenn sie aber kommt, wollen wir mäuschenstill sein. Guckt sie euch mal ordentlich an, aber ohne daß sie's merkt, und dann laßt sie unbehelligt. So'n erster Abend in der Fremde ist keine Kleinigkeit, und bei Nacht und Nebel auch noch gleich elf Mitgefangene kennen lernen zu sollen, geht über menschliches Vermögen. Ich wenigstens für mein Teil hätt' jeder damals am liebsten die Augen ausgekratzt, die mir zu nahe gekommen wäre.«

»Sind auch nicht alle so rauhborstig wie du, Edith,« meinte eine andre zweifelnd.

»Ja, und Teilnahme hilft,« sagte die kleine, weinerliche Stimme der als Schlafratze Angeredeten.

»Solchen Jammerseelchen freilich,« kam's verächtlich von Ediths Lippen.

»Jammerseele hin, Jammerseele her. Amazonen und Walküren sind Geschmacksache!«

Der etwas dunkle Ausspruch kam von der, die die Schlafratze zuvor selber angegriffen hatte. Solches Angreifen war ihr Vorrecht; wenn sich eine andere an die kleine Freundin heranwagte, verteidigte sie diese aufs Entschiedenste.

»Herr, dunkel ist der Rede Sinn –« höhnte Edith dagegen.

»Ich denke, du bist so furchtbar helle, Leuchte der Wissenschaft!«

»Lasset Euer Licht leuchten,« kam's wieder als salbungsvolles Echo wie zuvor schon einmal.

Und das: »Schäm dich, Gertrud!« folgte a tempo.

Da ging eine Tür draußen, und mit einem Schlag trat Ruhe ein.

Elf Köpfe gruben sich in die Kissen, das Gesicht vom Lichte ab der Tür zugewendet, elf Decken wurden fest ans Kinn heraufgezogen, elf Paar Augen spähten erwartungsvoll dem entgegen, was nahen sollte.

»Ein Nichtsnutz, wer sich später dreht und sie belauscht. Der Schmerz ist heilig,« flüsterte die als Edith Angeredete noch, da öffnete sich auch schon die Tür.

Eine ziemlich lange, hagere Gestalt erschien in der Öffnung und hielt eine Lampe hoch. Dahinter wurde eine weißhaarige, vornehm aussehende Dame mit mildem, liebreichem Antlitz sichtbar, die den Arm um die Schultern eines jungen, schlanken Mädchens gelegt hatte, in dessen schmalem, braunem Gesichtchen mit den großen grauen Augen und dem dunklen Kraushaar kein Zug den spähenden Schicksalsgenossen entging.

Friedel – denn sie war's – überflog mit erschrecktem Blick die elf Betten, die elf Köpfchen in den Kissen. Sofort ahnte sie, daß die zwölfte Lagerstatt dort hinten bei der einsamen, flackernden Kerze sie aufnehmen solle. Mit elf unbekannten Menschenkindern als zwölfte ein Zimmer teilen – ihr grauste. Doch tapfer faßte sie sich. Nur nichts zeigen! Papas Junge mußte Schlimmerem gewachsen sein draußen in der Fremde.

»Die Kinder haben dort eine Kerze brennen lassen, sehe ich,« sagte nun die milde Stimme der alten Dame. »Nehmen Sie die Lampe fort, liebe Lange, es könnte die Kinder stören.«

Unverständliches murmelnd, zog die als »Lange« Angeredete sich zurück.

»Und nun, mein liebes Kind, dort steht Ihr Bett, hier bringt Marie Ihre Sachen. Leise, Marie, die jungen Damen schlafen! Ruhen Sie sanft in dieser ersten Nacht unter meinem Dach, liebe Frida. Der Herr segne Ihren Eingang.«

Es klang so milde und gut, und Friedel war so weh ums Herz. Unwillkürlich beugte sie sich über die weiche, feine Hand, die sich ihr entgegenstreckte, und zog sie ehrfurchtsvoll an die Lippen.

Wenn Tante Lenchen das gesehen hätte!

Und nun war die alte Dame gegangen, Friedel saß auf ihrem Bett, stumm mit den elf stummen Gefährtinnen im Raume. Sie saß da und starrte ins trübe, flackernde Licht, die Augen wurden größer und größer, und Träne auf Träne lief über die schmalen, braunen Wangen nieder.

Ja, so weit hatte es Tante Lenchen gebracht!

Sie hatte so lange in den Papa hineingeredet, bis der sich entschloß, seinen »Jungen« in die Fremde zu geben, daß er zum Mädel werde.

Wochenlang hatte das Verhängnisvolle gedroht. Friedel hatte nicht dran glauben wollen, trotz der immer ernster werdenden Vorbereitungen zum Aufenthalt in der Fremde, die ihr nicht entgingen. Geflissentlich hatte sie nichts davon sehen und hören wollen. Wie der Vogel Strauß hatte sie den Kopf untergesteckt und gemeint, damit das Gefürchtete fern zu halten.

Der Papa hatte gescholten und gebrummt, das merkte sie wohl, aber zu einem wirklichen Einschreiten seinerseits kam es doch nicht. Dem flehenden, drängenden Blick seines Kindes wich er aus, und als Friedel einmal in beweglichen Worten seinen Beistand erflehte, da hatte er nur eine kurze, barsche Abweisung für sie.

»Laß mich in Frieden. Ich will gar nichts mehr von der dummen Geschichte hören – basta!«

Damit war er eilig auf die Tür zugegangen, als wolle er jeden weiteren Einspruch abschneiden.

Als keiner folgte, hatte er sich zögernd gewandt.

Friedel stand da, hochrot, mit blitzenden Augen und festgeschlossenen Lippen. Er war wieder einen Schritt näher gekommen.

»Sieh, Kind,« hatte er weicher, wie zögernd gesagt, »die Tante dringt darauf und hält es für das einzig richtige, und schließlich – hat sie doch auch ein Wort mitzureden.«

»Und du?«

Ruhig, fest, klar klang die junge Stimme.

»Ich?«

Der alte Herr brummte etwas Unverständliches in den Bart. Klar verständlich war nur der Schluß: »In Frieden lassen – gar nichts mehr hören – basta!«

Damit trabte er hinaus.

Ob er Friedels helles: »Ihr werdet's bereuen!« noch gehört hatte?

Ja, Friedels Trotz war rege. Schwarze Gedanken brütete das junge Gehirn.

Doch kamen die alle vorläufig nicht zur Ausführung, wohl aber rückte die Reise immer näher. Und merkwürdig, je näher sie kam, desto reger wurde Friedels Neugierde.

Sehen wollte sie doch wenigstens einmal, wie's da draußen in der Welt zuging. Einen Blick tun in die Fremde und dann heimkehren, wie's ihr beliebte.

Sie lachte in sich hinein.

Die Tante sollte sich wundern.

Und Tante Lenchen wunderte sich wirklich, vorläufig freilich nur über die Fügsamkeit der Nichte.

Sie war auf einen ganz anderen Kampf gefaßt gewesen, hatte sich mit Munition ausgerüstet, um sechs Nichten damit aus dem Felde zu schlagen. Und all dies umsonst, fast tat es ihr leid.

Ein- oder zweimal ward ihr Verdacht rege – dieser kampflose Friedenszustand war unheimlich, drückend. Doch kein Zeichen verriet, daß er nur wesenloser Schein sei, daß schwarze Tücke drunter laure, und Tante Lenchen beruhigte sich allmählich und sonnte sich in dem angenehmen Bewußtsein ihrer eigenen unfehlbaren Klugheit, die doch diesmal ganz sicher das Rechte für das unselige Kind getroffen habe.

So kam der Reisetag.

Friedel hielt sich sehr tapfer.

Auch der Papa sah sie manchmal kopfschüttelnd von der Seite an. Jetzt ärgerte er sich beinahe über ihre Gelassenheit und erging sich in einigen Anzüglichkeiten über wetterwendische Launen und jugendliche Gefühllosigkeit.

Der Blick, den ihm Friedel dabei zuwarf, gab ihm späterhin, als er allein wieder heimwärts fuhr, zu denken.

Die Reise war gut verlaufen.

Der kleine Abstecher auf die Wartburg – Friedels neuer Aufenthaltsort lag in den Thüringer Bergen – war köstlich gewesen.

Der Papa munter, glücklich mit seinem Liebling, Friedel toll, übermütig, als gäbe es keine Trennung.

Die war aber doch gekommen, und zwar schon am selbigen Abend. Und als eben vorhin der Papa abfuhr, da war Friedel denn doch das Herz in die Schuhe gefallen. Am liebsten wäre sie gleich hinterher gelaufen.

Statt dessen saß sie jetzt hier auf dem harten Bettrand und starrte ins Flackerlicht. Papas zärtliches, letztes: »mein Jungchen« klang ihr noch im Ohr, und Träne um Träne quoll auf, rollte, fiel in endloser, endloser Folge. Gab's denn wahrhaftig so viele Tränen auf der Welt? Friedel hatte das noch gar nicht gewußt. Daheim hatte sie so selten geweint, eigentlich nie. Daheim!

Friedel saß auf dem Bettrand, ihre Tränen flossen.

Heim! Heim! Friedel sprang auf und sah sich mit erschreckten Blicken um. Ohne zu wissen, was sie tat, war sie mit einem Satz am Fenster und hatte es aufgerissen. Die Wirkung war eine so unerwartete, merkwürdige, daß Friedel, die durch ein Geräusch im Zimmer drin aufmerksam gemacht worden war, sich umwandte, auf ihr Bett zurücksank und lachte – lachte – lachte, als ob sie nie wieder aufhören wolle.

Als Friedel nämlich in ihrer Herzensnot, von jähem Heimweh gepackt, das Fenster aufriß, waren elf weiße Gestalten wie von unsichtbaren Federn geschnellt aus den elf Betten emporgefahren und starrten mit weit aufgerissenen, erstaunten Augen auf die sie ebenso ungewiß und erstaunt anstarrende Neue, die bei dem unerwarteten Geräusch den Kopf gewandt hatte.

Eine Minute wohl starrten sie sich gegenseitig wortlos an, dann brach Friedels Lachen, das glockenklar und rein durch die nächtliche Stille schallte, den Bann.

Alsbald fuhren elf Finger warnend empor, elf Köpfchen winkten bezeichnend nach der Tür des Nebenzimmers, elf mahnende »Pst« ließen sich hören.

Drinnen im Zimmer rührte es sich denn auch, ein harter Gegenstand flog polternd an die trennende Tür.

»Ich muß aber doch sehr bitten!« klang's scharf in nur allzu vertrauten Lauten.

Wie auf Kommando, kichernd, waren die elf weißen Gestalten wieder unter ihren Decken verschwunden. Aber elf Gesichter waren nun Friedel zugewandt, und elf Paar Augen sahen ihr schelmisch und neugierig musternd zugleich in das lachende Gesicht, über das nun vor lauter Lachen die Tränen ebenso reichlich flossen als zuvor im Schmerze.

»Wer bist du eigentlich, Neue?« fragte eine junge Stimme in unterdrücktem Ton.

»Papas Junge!« antwortete Friedel.

Unterdrücktes Kichern. »Und heißt?«

»Friedel.«

»Na denn, gut' Nacht, Friedel, mach, daß du ins Bett kommst, daß es Ruhe gibt, wir sind müde. Morgen mehr! Umgekehrt, Mädels! Wer neu ist, mag's nicht, wenn ihn elf neugierige Spatzen immerzu anschauen. Muß auch gelernt sein!«

Gehorsam drehten sich die elf auf einen Schlag.

Friedel mußte wieder lachen.

»Gut' Nacht, Friedel,« klang's, »gut' Nacht – gut' Nacht,« elfmal. Und dann war Ruhe.

Friedel zog sich eilig aus und löschte das Licht. Zuweilen kicherte sie noch vor sich hin und war dann im Nu eingeschlafen. –

Helles Tageslicht, das ihr ins Auge, unterdrücktes, schelmisches Kichern, das ihr ins Ohr fiel, weckten Friedel. Sie setzte sich aufrecht und rieb sich die Augen. Wo war sie doch gleich? Ja so!

Blinzelnd schaute sie aus verschlafenen Augen.

Junge, schlanke Gestalten in den verschiedensten Stadien der Toilette umdrängten ihr Bett. Ihre Zahl schien überwältigend. Hilflos flog ihr Blick über die Gruppe und blieb an einem großen, dunkelhaarigen Mädchen haften, das, schon vollständig angekleidet, den Mittelpunkt bildete. »Ah – wir finden uns nicht zurecht,« sagte die lachend. »Achtung, große Vorstellung! Ehre dem Ehre gebührt: hier unser Phönix an Tugend und Weisheit, Asta Finke! Übrigens ein gutes Mädchen, das ihren vollen Schulsack ganz im Verborgenen trägt. Dort unsere Beauté – nach ihrer Ansicht wenigstens.« Allgemeines Kichern – »ganz passabel nett, Elsbeth Schuster. Bitte, sich an dem Namen nicht zu stoßen! Hier die Zwillinge, Milly und Lilly Meyer, mit dem Motto: Der Kaspar, der war kerngesund, ein dicker Bub und kugelrund. Mit ihren roten Pausbacken am ausgiebigsten als Reklameengel oder dergleichen zu gebrauchen.«

»Edith, Edith, schäm dich!«

Halb lachender, halb ärgerlicher Protest der also Vorgeführten.

»Edith« aber ließ sich nicht stören.

»Ruhe, meine Herrschaften, weiter! Hier unsere Großmutter! Im bürgerlichen Leben Mathilde Groß genannt, die uns alle liebend bemuttert und vor der kein loser Knopf und kein abgerissenes Band sicher ist. Dann unser Verzug, unser ›Kleines‹, etwas lang und dünn geraten freilich, aber doch noch gar jung und dumm. Name: Irmgard von Priesen.«

Die Sprecherin hatte dabei ein sehr schlankes, hoch aufgeschossenes, fast überzartes Wesen, das alle anderen beinahe um Kopfeslänge überragte, aus der Gruppe vorgezogen und zärtlich den Arm um dessen schmale Schultern gelegt. Große, scheue Rehaugen schauten Friedel aus einem lilienweißen, zarten Gesicht ganz ängstlich entgegen und verschämt senkte sich das Köpfchen wie eine Blüte auf hohem, schwankem Stengel.

Friedel folgte der humoristischen Vorstellung mit allen Sinnen. Ihre Augen blitzten, um ihren Mund zuckte es.

»So, das wären glücklich sechs. Wen haben wir denn eigentlich noch? Hier unseren Theologen: Gertrud schäm dich! Hat die gute oder schlechte Eigenschaft, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit stets einen Bibelspruch anzuführen, was ihr von ihrem Echo und Inseparabel, Christel Ehlers, stets obigen Mahnruf einträgt.«

»Ein ›Edith, schäm dich!‹ wär' nicht minder oft vonnöten,« brummte lachend die als »Christel« bezeichnete.

Edith machte ihr einen tiefen Knicks.

»Untertänigsten Dank!«

»Nicht Ursache!« versetzte Christel kaltblütig.

»Weiter, Edith, weiter!« drängten die anderen.

Offenbar war man gewohnt, Edith das Wort führen zu lassen.

Edith warf den hübschen, klugen Kopf zurück.

»Weiter! Ihr habt gut reden. Kann ich Armeen aus der Erde stampfen? Wächst mir ein –«

»Schnurrbart unterm Nasenrand?« vervollständigte eine lustige Stimme aus dem Hintergrund des Zimmers.

Edith fuhr herum.

»Herrje,« lachte sie, »hätt' ich doch fast vergessen! Das Beste zuletzt! Hier unser Hanswurst und Hofnarr, in Zivil Ella Petersen genannt. Und dann dort, noch in der Klappe, unser Murmeltier und Schlafratze Anna Köhler. Annchen, 's ist Zeit!«

Wie die Posaune des Gerichts tönte der Ruf an Annchens Ohr.

Sie fuhr auf, heraus, in Strümpfe, Schuhe, ans Waschwasser. Nestelte mit einer Hand die Röcke, knotete mit der anderen das Haar auf, alles mit halbgeschlossenen Augen wie im Traum. Und alles ging mit unglaublicher Fixigkeit vor sich.

Sprachlos sah Friedel, lachend die anderen zu.

Jetzt das Kleid, Bluse, Rock. Die eine Hand knöpfte noch an der Bluse zu, die andere raffte eiligst Uhr, Brosche, Taschentuch und Gürtel auf, um unterwegs die Toilette zu vollenden. Mit einem Satz war Annchen an der Tür.

Die als Hanswurst vorgestellte Ella konnte sie nur eben noch fassen.

Annchen schlug um sich.

»Annchen, es ist ja noch viel Zeit!«

Da erst erwachte Annchen vollständig, riß weit die Augen auf, sah um sich, erblickte alle die lachenden Gesichter und wurde purpurrot.

»Scheusäler!«

Mit einem Seufzer der Erleichterung sank sie wieder auf ihr Lager, zog die Decke hoch und war aufs neue für die Mitwelt verloren.

Ella gab lachend jeden weiteren Versuch auf, die Schlafratze zu ermuntern.

Sie trat zu den anderen.

»Wie du mir, so ich dir! Nun muß Edith 'ran! Achtung, Reverenz! Hier, Hochwohlgeboren Freifräulein Edith von und zu, auf und in Wolfshage. Edler Sprosse eines hochedlen Geschlechts! ›Gnädig‹ vom Scheitel bis zur Sohle und bis in die äußerste kleinste Fingerspitze hinein. Blaues Blut von sechzehn Generationen her, kurz, in der Wolle gefärbt, echt durch und durch!«

»Ein Nathanael, an dem kein Falsch ist,« brummte eine Stimme.

»Gertrud, schäm dich!« folgte a tempo.

Friedel mußte laut hinaus lachen.

Edith von Wolfshage war bei Ellas Worten rot geworden. Ihre Nasenflügel weiteten sich, es zuckte wie verhaltener Ärger um ihren Mund.

Da klang Irmgards sanfte Stimme.

»Eins hast du vergessen, Ella. Nämlich: daß auch Ediths Herz von Adel ist. Das wissen und fühlen wir alle.«

Zustimmendes Murmeln von allen Seiten.

»Kleines, nicht vorlaut werden!« In Ediths Stimme klang etwas wie Rührung durch, als sie Irmgard nun über den Scheitel strich.

Doch sofort wendete sie sich an Friedel.

»Und nun, Neue, Flagge gehißt! Signalement gegeben! Friedel – Papas Junge, wissen wir. Weiter!«

Friedel war aus dem Bette gefahren. Nun stand sie in ihrer schlanken Geschmeidigkeit da im weißen Nachtgewande. Die weichen, dunkeln Kraushaare umgaben in dicken Ringeln das schmale, braune, schlafheiße Gesicht, die großen grauen Augen blitzten übermütig, und die vollen roten Lippen ließen schneeweiße, blinkende Zähne sehen.

»Friedel Polten heiß' ich,« sagte sie mit ihrer hellen klingenden Stimme. »Papas Junge bin ich, Tante Lenchens Schmerzenskind war ich und soll hier bei euch nach ihrem Herzen zurechtgestutzt werden. So 'n richtiges, zimpferliches Mädel aber laß ich nicht aus mir machen, um keinen Preis. Euch aber will ich ein guter Kamerad sein, solange ich hier bin und –«

»Topp, Friedel, topp!« kam's von allen Seiten, und alle Hände streckten sich ihr entgegen.

»Wie lange bleibst du denn, Friedel? Ein halbes Jahr, ein Jahr?«

Neugierige Augen starrten sie an.

»I wo, Kinder. Laßt euch ein Geheimnis sagen. Ich bin ja nur zu Besuch hier.«

»Zu Besuch?«

»Ja, wollt' mal sehen, wie's hier im sogenannten Paradies ausschaut. Solange mir's paßt, bleibe ich, dann begebe ich mich heimwärts und –«

»Ja, aber –«

»Kein aber! Werdet schon sehen! Ein Mann, ein Wort! Jetzt aber laßt mich mal ein wenig ungeschoren, daß ich mich in noch was mehr als in mein Gewand der Nacht hüllen kann.«

»Husch, Gesindel!« kam ihr Edith zu Hilfe. »Ich muß aber doch sehr bitten!« Wieder die scharfe Stimme vom Abend zuvor.

Friedel fuhr ganz erstaunt herum.

Allgemeines Kichern belehrte sie über die Natur der Warnung.

Hell auflachend stimmte sie in das Kichern ein. Und da folgte von der Tür des Nebenzimmers wie das Echo des eben Gehörten genau dasselbe scharfe: »Ich muß aber doch sehr bitten!«

Allgemeine Stille.

»Genau noch zehn Minuten,« flüsterte Edith. »Nun aber fix!«

Emsige stille Geschäftigkeit. In fliegender Hast wurden Haare aufgesteckt und Kleider übergeworfen.

»Eine Minute bis!«

Edith war zu Annchens Bett herangetreten, hatte stillschweigend die Decke ergriffen und fortgezogen.

»Annchen, Zeit!«

Annchen schlug um sich. Doch ein Blinzeln belehrte sie, daß die Situation diesmal ernst sei.

Wortlos erhob sie sich.

Und nun standen alle gedrängt vor der Tür des Nebenzimmers, der »Höhle des Löwen«, wie sie Friedel flüsternd bedeuteten.

»Küssest du gern, Friedel?«

»Nee. Weshalb?«

»Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz, Friedel!«

»Zu Befehl. Weshalb aber in aller Welt?«

»Jetzt heißt's sich durchküssen, Friedel. Fräulein Lange muß allmorgendlich ihren Kuß haben!«

Friedels Augen und Lippen lachten.

»Ich küsse nicht!«

»Aber du mußt!«

»'s ist Hausordnung!«

»Du rennst in dein Verderben!«

»Seid untertan der Obrigkeit.«

»Gertrud, schäm dich!«

So flüsterte und raunte, so kicherte und lachte es durcheinander.

»Ich küsse nicht! Ihr werdet's schon sehen!« Dabei blieb Friedel, und: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht!«

Mit acht feierlichen Schlägen verkündete die Uhr, daß der Ernst des Lebens, das Werk des Tages nun beginnen sollte.

Edith, voran wie stets, hatte die Tür aufgerissen. Alles drängte ihr nach.

»Guten Morgen, Fräulein Lange!« klang es im Chor.

»Guten Morgen, Kinder!«

Und schwipp, schwapp, schwupp regneten die Küsse.

Sonst stürmten die bereits Geküßten in auffallender Hast hinaus.

Heute zögerten sie alle an der Tür. Dem Begrüßungsakt der Neuen mußten sie beiwohnen, der versprach interessant zu werden.

Friedel stand als Letzte vor Fräulein Lange. Kritisch überflogen ihre großen grauen Augen das ihr zugewandte magere, derbknochige Gesicht, dessen Augen gleichfalls scharf prüfend dies neue Mitglied des Hauses musterten.

»Aha, da haben wir ja die Neue,« sagte nun die scharfe Stimme von vorher. »Guten Morgen, Kind. Wie heißen Sie doch gleich?«

»Friedel Polten.«

Aus Friedels Stimme klang es wie Kampfesahnen. Die anderen spitzten die Ohren.

»Nun denn, herzlich willkommen! Hoffentlich fügen Sie sich schön in die Hausordnung und –«

Fräulein Lange verstummte plötzlich. Maßloses Erstaunen lag in ihren weitaufgerissenen Augen, womit sie die Neue anstarrte.

Beim Aussprechen der Hoffnung, daß Friedel sich freudig in die Hausordnung fügen werde, hatte nämlich Fräulein Lange mechanisch ihr Gesicht dem Friedels genähert, um den allmorgendlichen Tribut, den Kuß, auch von ihr entgegenzunehmen.

Friedel aber hatte, statt sich zu nähern, das Köpfchen zurückgeworfen, dagegen Fräulein Langes Hand ergriffen und sie derb geschüttelt.

»Herzlichen Dank,« sagte sie freundlich-unschuldig mit ihrer hellen, klingenden Kinderstimme. »Ich will gern alles tun, was ich kann!«

Fräulein Lange sah sie ungewiß an, doch fand sie's besser, nicht zu untersuchen, ob der Kuß vielleicht zu dem gehörte, was Friedel nicht konnte.

Die anderen waren unterdes mit mühsam verhaltenem Kichern davongestürmt, und Friedel fand sie im Eßsaal versammelt, wo sie auf einem Häufchen zusammengedrängt standen und sich ausschütten wollten vor Lachen.

Friedel trat zu ihnen.

»Hört mal. Ihr braucht das nicht persönlich zu nehmen. Ich laß mich bloß nicht von jedem küssen und küss' auch nicht jeden. Fräulein Lange kenne ich ja gar nicht. Wer weiß, wenn ich ein halbes Jahr hier wäre oder so, würde ich sie vielleicht ganz gerne –«

Feierliche, beteuernde: »Niemals!« »Nimmermehr!« »Im Leben nicht!« schnitten Friedel das letzte Wort vom Munde ab.

Da öffnete sich die Tür, und die Vorsteherin trat ein.

»Guten Morgen, Kinder!«

»Guten Morgen, Tante!«

Man nannte sie nur »Tante« im ganzen Paradiese, und Generationen von »Nichten« hatte sie schon draußen in der Welt, diese feine, vornehm aussehende alte Dame mit dem milden, gütigen Gesicht. Ihr liebevolles Wesen hatte ihr Heim den ihr anvertrauten jungen Seelen zum Paradiese gemacht, und den Namen hatte das alte Haus unter den grünen Bäumen behalten, nun schon Generationen hindurch.

Tante war inzwischen zu Friedel herangetreten.

»Wie hast du geschlafen, Kind?«

»Herrlich – Tante!«

Friedel errötete. Nur zögernd und stockend kam die vertrauliche Bezeichnung über ihre Lippen.

Tante lächelte leise, verständnisvoll.

»Das lernt sich, Kind,« meinte sie mit Humor. »Die alte Tante wird das Ihre tun, sich den Titel zu verdienen.«

Wortlos beugte sich Friedel über die ihr gereichte Hand und küßte sie warm.

Eben trat Fräulein Lange ein.

»Da ist ja auch unsere liebe Lange. Nun schnell zum Frühstück, Kinder, der Herr Professor fängt pünktlich an.«

Damit ließ sich »Tante« auf ihrem Platz am oberen Ende der Tafel nieder, und unter fröhlichem Geplauder wurde das Frühstück eingenommen. – –

Die zwölf Mädchen standen im Schulzimmer um den langen Lerntisch.

Friedel kramte ungewiß in den ihr zugeteilten Büchern. Ihr war gar nicht wohl in ihrer sechzehnjährigen Haut. Sie ahnte, daß alle Unterlassungssünden im Schulzimmer von ihrer frühesten Kindheit an sich nun rächen würden.

»Du triffst's famos, Friedel. Gerade heute ist Literaturstunde bei unserem geliebten Professor. Einmal in der Woche kommt er. Sonst nehmen wir bei Fräulein Lange durch, was er vorgetragen hat, das ist dann weniger nett, was, Mädels?«

»Sollt's meinen!«

»Das weiß der Himmel!«

»Je ja!« klang's durcheinander.

»Aber er!!«

»Das ist ganz was anderes!«

»Prächtig!«

»Famos!«

»Wirklich famos!«

Sie verdrehten die Augen, daß Friedel ganz erstaunt zusah und nicht wußte, wie ihr geschah.

Da hörte man den Professor kommen.

Alle Mädchen begannen wie auf Kommando an sich herumzuzupfen, ob auch alles in Ordnung sei.

Sogar Annchen, die Schlafratze, war hell wach und steckte noch schnell die Brosche gerade, die heute morgen in der Eile etwas schief befestigt worden war.

Friedel schüttelte den Kopf. Ungewiß sah sie nach der Tür. Was mußte denn da kommen!

Die Tür ging auf, und Friedel sah ein ganz gewöhnliches Menschenkind hereintreten. Der Herr Professor hatte Mittelgröße, einen recht alltäglichen Kopf, dafür aber ein besonders kluges, lebhaftes Auge.

»Guten Morgen, meine Damen!«

»Guten Morgen, Herr Professor!«

Die Mädchen waren alle sehr erregt.

Friedel schüttelte abermals den Kopf; fast hätte sie leise vor sich hingepfiffen, wie sie es gern tat, wenn etwas sie erstaunte. Tante Lenchen war dann immer besonders ungehalten über die Jungenmanieren.

Auch Fräulein Lange war inzwischen eingetreten, um sich im Hintergrund niederzulassen.

Der Professor begann seinen Vortrag. Die romantische Schule war der Gegenstand. Mit kurzem Überblick streifte er das früher schon Vorgebrachte, die Periode Schlegel, Grimm, Tieck, Kleist und nahm dann Chamisso gründlicher vor. Er las aus »Frauenliebe und Leben«, und er las gut.

Strahlende Blicke hingen an seinen Lippen; die Mädchen waren ganz gefangen genommen von den herrlichen Dichtungen und dem wirklich glänzenden Vortrag – atemlos lauschten sie alle.

Auf Friedel aber verfehlte der Vortrag seine ganze Wirkung; ihr kam die sichtliche Begeisterung der Gefährtinnen so unsagbar komisch vor, daß sie, als nun selbst Annchen, die Schlafratze, die Äuglein zu verdrehen begann, nicht länger an sich halten konnte; sie mußte sich Luft machen. Ohne zu bedenken, wo sie war, begann sie zu pfeifen.

»Im Grunewald ist Holzauktion – Holzauktion – Holzauktion–« klang's in leisen klaren Tönen durchs Zimmer.

Allgemeines starres Staunen.

Friedel verstummte alsbald. Sie sah dabei nicht einmal gar so sehr erschreckt und schuldbewußt aus. Offenbar erfaßte sie die ganze Ungeheuerlichkeit ihres Benehmens gar nicht.

Der Professor hatte während der unverhofften musikalischen Produktion innegehalten, dann mit mildem Kopfschütteln schleunig das begonnene Gedicht zu Ende gebracht und war etwas unvermittelt auf ein anderes übergesprungen.

Seine andächtigen Hörerinnen waren aus allen Himmeln gerissen; Fräulein Lange im Hintergrund schlug die Hände über dem Haupte zusammen. Das war ja ein nettes Kuckucksei, das man ihnen da ins Nest gelegt hatte.

Der Vortrag war zu Ende. Mit einigen Fragen über das soeben Gehörte wandte sich nun der Professor an seine Schülerinnen.

»Wollen Sie mir Ihren Lieblingsdichter nennen, Fräulein Polten?«

Friedel traute ihren Ohren nicht.

»Meinen Lieblings –?« Dichter blieb ihr in der Kehle stecken.

Sie sann einen Augenblick nach. Der Schalk blitzte auf in ihren Augen.

»Eigentlich mag ich sie alle nicht, Herr Professor,« sagte sie dann ganz freimütig und sah den Fragesteller offen an. »Am liebsten hab' ich immer noch den Max und Moritz gelesen von Busch, glaub' ich« – sinnend sah sie vor sich hin – »ja, ich glaub' wahrhaftig, der Moritz Busch ist mein Lieblingsdichter.«

Eine Lachsalve folgte.

Fröhlich stimmte Friedel mit ein, und gleichfalls lachend verabschiedete sich der Herr Professor.

Fräulein Lange nahte nun, jeder Zoll Vorwurf und Gereiztheit.

»Wie konnten Sie sich so weit vergessen, zu pfeifen?« begann sie. »Sie haben sich benommen wie der erste beste Gassenjunge und –«

»Ich bin ja auch Papas Junge, wissen Sie das noch nicht?«

Ganz unschuldig sagte es Friedel.

Die anderen wollten vor Lachen bersten, und hochrot vor Zorn wendete Fräulein Lange sich ab.

Da kam Tante zur Geschichtsstunde, die sie immer selbst gab.

Ihr berichtete Fräulein Lange halblaut die unerhörte Freveltat der Neuen.

Friedel folgte dem Bericht von ferne mit Aufmerksamkeit. Als Fräulein Lange geendet hatte, sagte Friedel kurz und bestimmt zur Vorsteherin: »Eine Unart habe ich nicht beabsichtigt. Ich konnte nicht anders, es war zu komisch, wie sie alle die Augen verdrehten.«

Und noch in der Erinnerung überkam sie ein Kichern.

Es zuckte etwas wie Lustigkeit um der »Tante« Mund. Sie trat zu Friedel heran. »Glaubst du, Kind, daß selbst ein wohlerzogener Junge pfeifen würde, wenn sein Lehrer Vortrag hält, geschweige denn schnippische Antworten geben, wenn er mit Recht ermahnt wird?« fragte sie milde.

Friedel schmolz alsbald.

»Sicher nicht,« sagte sie ehrlich und warm, »und Papas Junge wird's auch nie wieder tun.«

Leise strich ihr die alte Dame über den krausen Scheitel.

»Recht so, mein Kind. Doch den Jungen wollen wir zusammen ausmerzen mit Liebe und Geduld und dem Papa ein lustiges, frisches Mädel dafür heimsenden, was?«

Friedel hing das Köpfchen, sie antwortete nicht.

In der nun folgenden Geschichtsstunde aber war sie die aufmerksamste, beste Hörerin.

Dann kam die Schüssel mit Butterbroten. Zwei für jede, und jede hätte Hunger für vier gehabt. Merkwürdig, wie sich der Mensch immer just nach dem sehnt, was er eben gerade nicht haben kann.

Darauf zwei weitere Lernstunden, dann das Mittagessen. Hier dieselbe Begleiterscheinung wie bei den Butterbroten.

Friedel meinte, fast Hunger leiden zu müssen, weil ihr der Inhalt der Schüsseln und die Zahl der Speisenden ein gewisses Maß auferlegten.

Nach Tisch ging's für eine Stunde in den Garten.

Alle umdrängten Friedel.

»Die Neue erzählt, das ist so Sitte,« erklärte Edith. »Hierher, Kleines!«

Sie zog Irmgard neben sich ins Gras, zu Füßen einer alten breitästigen Ulme, und die anderen setzten sich ringsum im Kreise. Aller Augen hingen an Friedel.

»Einen Augenblick!« rief die.

Und wie ein Eichkätzchen war sie am Stamm des Baumes hinauf und hatte sich's auf den untersten Ästen bequem gemacht.

»Na nu!«

Wortlos sahen ihr die Gefährtinnen nach.

»Wie schaut's denn da oben aus?« Träge gähnend fragte es Annchen.

»Komm und sieh!«

»Danke, nichts für mich.«

»Du, wenn dich Fräulein Lange sieht, gibt's wieder Skandal!«

»Meinethalben!«

»Wer sich selbst erhöhet –«

»Schäm dich, Gertrud!«

Friedel lachte.

»Los, Friedel!«

Edith rief's mahnend.

»Ja, was soll ich denn erzählen?«

»Alles! Von der Geburt an!« lautete die bescheidene Forderung.

Und Friedel erzählte. Sie erzählte vom Papa, von der Tante, von Lisa, von daheim. Von der Hochzeit, von Miß Miller, von Dorf, Wald und Feld, von Berg und Tal. Im Erzählen wurde die Sehnsucht nach daheim, das Heimweh wieder wach.

»Kinder, lange bleib' ich nicht,« brach's ihr aus innerstem Herzen vor. »Ihr seid ja soweit alle ganz nett –«

»Danke. Danke sehr. Sehr gütig! Sehr freundlich!« lachend riefen sie's durcheinander.

Friedel ließ sich nicht stören.

»Die ›Tante‹ ist mehr als gut und das Paradies recht erträglich bis auf –«

»Ich muß aber doch sehr bitten!«

Friedel fuhr ganz verstört herum.

Ediths lachendes Schalksgesicht beruhigte sie.

»Kurz und gut, daheim ist doch das Beste!« schloß Friedel und rutschte zugleich am Baumstamm nieder, denn ein Glockenzeichen vom Hause her verkündete den Wiederanfang der Stunden.

Am Nachmittag war nur Handarbeitsunterricht und Zeichnen.

Friedel graute vor der Arbeitsstunde.

Was sie darin zu liefern verstand, wußte nur sie allein.

»Was haben Sie denn für eine Arbeit, Elfriede?« fragte Fräulein Lange.

Friedel überlief es schon eisig bei der feierlichen Nennung ihres Namens.

»Eigentlich keine, Fräulein,« sagte sie zögernd. »Das heißt, Tante hat mir hier meinen Arbeitsbeutel eingepackt. Was aber drin steckt, weiß ich nicht. Ich habe ihn, glaub' ich, seit Jahren nicht mehr aufgemacht – wenigstens seit Lisa fort ist sicher,« setzte sie nach kurzem Sinnen ehrlich hinzu, »und das ist nun gewiß ein halbes Jahr her. Was ich überhaupt je von Arbeit angefangen hatte, seit meiner Kinderzeit, steckt da drin.«

Lustig schwang sie einen riesigen Pompadour, Fräulein Lange aber schüttelte wortlos ihr Haupt.

Lachend drängten Friedels Gefährtinnen hinzu.

»Aufgemacht, Friedel. Was steckt in dem Wunderbeutel?« jubelten sie.

»Ja, wenn ich selber wüßte!«

Und Friedel öffnete die Schnüre und tauchte auf den Grund.

Ungeahntes förderte sie zu Tage.

»Mein erstes Strickzeug!« sagte sie, »eigentlich das erste und einzige.«

Damit legte sie ein angefangenes Paar Kinderstrümpfchen in gelb und braun geflammter Baumwolle vor sich hin.

»Tante Lenchen hat's mir angefangen, ich war, glaube ich, acht Jahre alt. Ein Nachbarkind sollte es haben. Bis ich aber den ersten Strumpf fertig hatte, war das Mariechen so gewachsen, daß er nicht mehr paßte, und da ließ ich denn den zweiten lieber ganz liegen. – Die Häkelei hier – sie sieht ein bißchen schwarz aus, verzeiht – war für Tante Lenchen bestimmt. Lisa hatte mich veranlaßt, der Tante einen Schoner auf ihr Sofa zu häkeln, um verschiedene Schäden zu bedecken. Die Schäden aber wuchsen viel rascher als mein Schoner, Tante ließ das Sofa überziehen – weshalb hätte ich mich da noch quälen sollen?«

Friedels Art war so drollig, selbst Fräulein Lange konnte sich deren Wirkung nicht entziehen. Die strengen Falten ihres vergrämten Gesichts glätteten sich immer mehr, ja um die Mundwinkel spielte es wie der Schatten eines Lächelns.

»Dem Papa seine Pantoffeln« – ein hoffnungsloses Chaos von bunter Wolle und Stramin wurde zu Tage gefördert – »die haben's an sich, die können nicht fertig werden. Mit dem Muster komme ich nun einmal nicht zurecht, und was ich heute nähe, trenne ich morgen auf. Ganz vertrackt, sage ich euch. Bis er die an den Füßen hat, hab' ich gewiß schon graue Haare. Das Ding ist hoffnungslos!«

Friedel schüttelte niedergeschlagen das Köpfchen, die anderen lachten und lachten.

»Der Lisa ihr Taschentuch« – ein schwarzgraues Lümpchen kam zu Tage – »nein, Kinder, das mach' ich nicht fertig. Weshalb hat sie geheiratet, so dumm! Aus dem L. P. wird nun kein L. H. mehr. Hab' ich nicht wirklich Pech mit meinen Arbeiten?«

»Was ist denn das hier?«

Edith war mit untergetaucht in die Tiefe des Beutels und hielt nun einen mächtigen Kordelknäuel hoch, woran etwas wie ein angefangenes Seil baumelte.

»Das da? Ei, die Arbeit, an der ich gegenwärtig beschäftigt bin. Es soll eine Strickleiter werden.«

»Eine Strickleiter?«

Zwölffach klang das Echo, unbegrenztes Erstaunen lag darin.

»Eine Strickleiter?« wiederholte Fräulein Lange noch einmal, als traue sie ihren Ohren nicht.

»Ja,« bekräftigte Friedel unbefangen. »Ich wollte mir gern eine Strickleiter für alle Fälle machen. Man kann nie wissen, wozu so ein Ding noch mal gut sein wird!« Und Friedel blinzelte pfiffig mit den Augen.

Die Mädchen lachten.

Fräulein Lange aber schüttelte den Kopf. Sie war förmlich überwältigt von alle dem, was sie da zu hören bekam. War denn bei dem Unglückskind überhaupt noch eine Umgestaltung möglich? Ihr schauderte vor der Aufgabe, und ganz schwach setzte sie sich in ihren Stuhl.

»Bitte, an die Arbeit!«

Nie hatte ihr Ton so beklommen geklungen.

»Noch einen Augenblick, bitte, bitte! Friedel hat da noch was, was sie uns erst zeigen und erklären muß.«

Fräulein Lange fand nicht die Kraft zum Widerspruch.

Ella hielt einen Umschlag hoch, dessen Inhalt sich als eine Unmasse schwarzes, weißes und rosa englisches Pflaster entpuppte.

»Ja, Friedel, bist du Wundarzt daheim bei euch?«

»Nein, aber ich hab' selber immer irgendwo eine Schramme mindestens und dann – flick' ich damit!«

»Flickst du damit?«

Sprachloses Erstaunen lag in der Frage.

»Ja so!«

Friedel drehte ihren dunkelblauen Rock um und zeigte stolz dessen Rückseite, wo verschiedene kreuz und quer verklebte Risse sichtbar wurden.

»Das Mittel ist probat, Kinder, sehr zu empfehlen, denn es geht damit auch hübsch schnell. Eins, zwei, drei, geklebt, und zu ist der Riß!«

Friedel schien sehr befriedigt. Die Mädchen lachten wie toll.

Nun wurde Fräulein Langes Gewissen rege.

»Das ist denn doch aber zu stark, Kind. Was sagt denn Ihre Tante zu dergleichen?«

»Tante Lenchen, o die weiß nichts davon. Von dem Rock hier wenigstens nicht,« verbesserte sich Friedel, »der war neu, als ich von Hause wegging. Das ist alles unterwegs mit dem Papa passiert, und der war froh, daß ich mir so flink zu helfen wußte.«

Friedel lachte sehr vergnügt.

Fräulein Lange seufzte. »Ist das nun alles, Kind?«

»Nein, hier kommt noch etwas. Halten Sie mal einen Augenblick still, Fräulein, bitte, bitte!«

Friedel hatte einen Bogen schwarzes Papier zur Hand genommen und schnitt emsig mit einer kleinen spitzen Schere dran herum. Dabei warf sie ab und zu einen Schelmenblick auf Fräulein Lange, die nicht wußte, was die Sache zu bedeuten habe.

»Hier, bitte!«

Friedel legte ihr ihre wohlgelungene Silhouette in die Hand.

Die Mädchen umdrängten sie alle, und ein Schrei des Entzückens wurde laut.

»Nein, wie ähnlich!« – »Wie reizend!« – »Wie allerliebst!« – »Zum Sprechen gleich!« – »Wunderbar!« – »Unglaublich!« – »Friedel, du bist ja ein Genie!« So rief und schallte es durcheinander.

»Sogar die Härchen auf der Oberlippe und seht nur, das Wärzchen!« meinte Annchen bewundernd und enthusiastisch und bedachte nicht, daß die Besitzerin besagter Eigentümlichkeiten nicht eben angenehm berührt sein würde von dieser allzutreuen Wiedergabe ihres Ich.

»In der Tat, ein sehr schönes Talent, mein Kind,« sagte Fräulein Lange denn jetzt auch, etwas süß-sauer lächelnd. »Sie sollten sich dabei nur vor Übertreibungen hüten, möchte ich raten, sonst artet das, was Sie liefern, leicht in Karrikatur aus. – Ich muß doch sehr bitten –« zum ersten Male wieder der scharfe Ton – »ich muß doch sehr bitten, jetzt endlich wirklich an die Arbeit zu gehen!«

Die Mädchen waren aber alle ganz aus Rand und Band. Jede mußte sich zuerst noch bei Friedel des Versprechens versichern, auch eine Silhouette zu bekommen, und es bedurfte mehrerer immer schärferer »ich muß aber doch sehr bitten!« bis endlich Ruhe eintrat.

Alle saßen nun an ihren Arbeiten.

»Und was wollen Sie tun, Kind?«

Friedel sann einen Augenblick nach. Ihr Blick glitt zwischen Strickzeug, Häkelei, Pantoffeln und Strickleiter hin und her, sie konnte sich sichtlich zu nichts entschließen.

Ein wunderbar weicher, flehender Blick traf Fräulein Lange, bei dem ihr ganz seltsam warm um die Herzgegend wurde.

»Darf ich heute einmal ganz, ganz als Ausnahme meine Lieblingshandarbeit holen, ja, bitte, bitte!« flehte ein roter Schelmenmund, flehten noch eindringlicher zwei strahlende Schelmenaugen.

»Meinetwegen!«

Erstaunt schauten die Mädchen auf. War das Fräulein Langes Stimme, die einen so weichen Klang zu finden wußte?

Friedel aber war schon hinausgeflogen.

Und nach ein paar Minuten atemlosen Harrens klangen von der Tür her die weichen, süßen, langgezogenen Töne einer Fieldschen Nocturne, um sofort in allerlei Allotriamelodien überzugehen und in einem rasend gespielten Chopinschen Walzer zu verklingen.

»Bravo, Friedel, bravo!«

Begeisterter Beifall der Hörerinnen.

»Ein Blitzmädel!«

»Noch ein Talent!«

»Wirklich erstaunlich!«

»Nein, so was!«

»Herein, Friedel, herein!«

Da öffnete sich die Tür, und herein tänzelte zu den Klängen eines feurigen Galopps Friedel, die Geige im Arm.

»Hurra, Friedel!«

Und Friedel tänzelte immer weiter, und die Geige jauchzte und lockte. Wie elektrisiert fuhren alle Mädchen auf, immer paarweise hinter Friedel her chassierend und sich drehend.

Und das Unglaubliche ereignete sich.

Edith ließ Irmgard fahren, die ihrerseits Elsbeth umfaßte, tänzelte auf Fräulein Lange los, neigte sich, umfaßte sie und –

Fräulein Lange tanzte, lachte – tanzte mit!

Alles lachte, jubelte, sang durcheinander, dazwischen die lockenden, jubilierenden Klänge der Geige – der reine Hexensabbat für ein paar Minuten.

Niemand merkte, daß »Tante« die Tür geöffnet hatte und wie versteinert von dem sich ihr bietenden Anblick dort stand.

Niemand merkte, daß Tante die Türe geöffnet hatte.

»Kinder!«

Niemand hörte.

»Fräulein! Fräulein Lange!«

Umsonst!

»Ja, seid ihr denn ganz närrisch geworden?«

Damit hatte »Tante« Friedel am Rockzipfel erwischt; es half nichts, sie mußte standhalten und mit ihr der ganze tanzende, jauchzende Schwarm.

Lachende Gesichter wandten sich der Vorsteherin zu. Friedels Geige aber intonierte in schmelzenden, langgezogenen Tönen die Gnadenarie.

»Schon gut, schon gut. Heute einmal soll Gnade vor Recht gehen, um des schönen Talents willen, das wir da bei unserer ›Neuen‹ entdecken. Und nun, spiel uns einmal was Rechtes, Kind!«

Alle setzten sich erwartungsvoll, »Tante« mitten drunter. Fräulein Lange saß schon lange wie festgewachsen auf ihrem Platze und tröstete sich mit der allerdings etwas hinfälligen, unwahrscheinlichen Annahme, nicht bemerkt worden zu sein.

Und Friedel spielte.

Schubert, Schumann, Chopin, Brahms redeten in herzbewegenden Weisen aus den Saiten des kleinen Instruments, dem Friedels Bogen Seele und Leben entlockte. Friedels zarte Gestalt schien zu wachsen, ihr Auge strahlte in begeistertem Glanze.

Atemlos lauschte ihr Publikum, und als der letzte Ton von Schumanns »Glücks genug« verklang, und Friedel Bogen und Geige sinken ließ, da ging es wie ein Aufatmen durch den Raum – die von der Musik mit Zauberbann umfangenen Geister kehrten allmählich zum Alltagsleben zurück.

»Tante« war die erste, die sich da wieder zurecht fand.

Sie trat zu Friedel heran.

»Eine gottgesegnete Gabe hast du verliehen bekommen, Kind, nutze sie wohl! Wir danken dir alle von Herzen für den Genuß.«

»Ja, wir danken, wir danken,« kam's nun allmählich tropfenweise von den Lippen der anderen. Mit einer gewissen Scheu traten die Mädchen zu der kleinen Gefährtin heran, die ihnen plötzlich so himmelweit entrückt schien.

Mit der Geige aber hatte diese alles beiseite getan, was den Mädchen fremd an ihr schien, sie war wieder die alte, tolle Friedel.

»Ach wo, Kinder, das bissel Gekratze! Macht doch kein Aufhebens davon,« lachte sie. »Jetzt aber, hurra, die Arbeit!«

Und mit wütendem Eifer fiel sie über ihre Strickleiter her und knüpfte so emsig an ihrem Seile, als gelte es, heute noch damit fertig zu werden. Ihr Fleiß wirkte ansteckend, und Fräulein Lange konnte für die noch übrige Zeit ihre Lust an ihren Schülerinnen haben.

Vier Uhr!

»Hurra, Schluß!«

Damit warf Friedel die Arbeit hin und fegte wie ein Irrwisch in tollem Wirbeltanz durchs Zimmer. Die anderen hinterher.

Fräulein Lange hatte gut zetern und predigen. Ihr: »Ich muß aber doch sehr bitten!« ging unter in dem Toben.

Eingedenk der eigenen Unzulänglichkeit von vorher, schloß sie sachte die Tür zwischen sich und den Lärmenden.

Drüben bei Tante seufzte sie: »Das wird eine harte Nuß zu knacken geben, aus dem Unband ein gesittetes Glied der menschlichen Gesellschaft zu machen. Ich fürchte –"

»Lassen Sie nur, liebe Lange,« kam Tante ihren Befürchtungen zuvor, »Herz und Gemüt sind da, und wo die sind, ist guter Baugrund für alles weitere!«

*

Zwei und zwei pilgerten sie dahin, die frühlingsfrischen, jungen Gestalten.

»Zu Paaren getrieben wie Sklaven,« nannte es Edith.

»Nein, Lämmer, die zur Schlachtbank geführt werden,« sagte Irmgard.

»Ach wo, Kinder,« meinte die lustige Ella, »ist mir ganz gleich, wie. Wenn ich nur was sehe. Was, Annchen?«

Annchen unterdrückte mit Mühe ein Gähnen.

»Wenn sie uns nur nicht immer so gräßlich weit führte. Ich bin ganz entsetzlich müde!«

»Faultier!« war Ellas lakonische Antwort.

Friedel kam es recht sonderbar vor, so in Reih und Glied marschieren zu sollen.

»Wie die Soldaten,« hatte sie zuerst gemeint und lustig angefangen zu pfeifen: »Ich hatt' einen Kameraden,« wobei die andern lachend im Takt marschierten.

Fräulein Lange aber hatte ihr alsbald den Unfug verwiesen.

Jetzt ging Friedel gesittet neben Mathilde Groß einher. Fräulein Lange hatte ihr wohlweislich die Gesetzteste von allen zur Gefährtin erlesen.

Die Straßen der kleinen Stadt mit ihrem sehr bescheidenen Getriebe wirkten zudem etwas einschüchternd auf das Landkind.

Friedel dünkte sich in den Lärm einer Großstadt versetzt, ihr war fast beklommen zu Mute.

Als man in den Park einbog, atmete sie erleichtert auf.

»Uff, Bäume und Grün, endlich! Das Gedränge da drin war ja unerträglich!«

Sie mußten alle lachen.

»Solltest mal nach Berlin kommen,« meinte Edith – Ediths Eltern lebten in Potsdam – »da lernt man erst Gedränge kennen. Das hier ist ja gar nichts.«

»Na danke, mir ist's genug,« meinte Friedel.

»Aufgepaßt!« zischelte es durch die Reihen.

Edith hatte das Stichwort gegeben.

»Sie kommen!«

»Wer?« fragte Friedel erstaunt.

»Die Löwen!«

Verständnislos schaute Friedel um sich. Sie konnte nur in der Ferne einen Trupp junger Herren mit bunten Mützen entdecken, die sich rasch näherten.

»Was für Löwen, Tilde?«

Friedel begriff noch immer nicht.

»Dort die Buntbemützten. Wir begegnen ihnen fast alle Tage; paß mal auf!«

Ein Rauschen und Raunen ging durch die Mädchenreihe, ein Kichern und Flüstern.

Fräulein Lange ersah die jungen Herren. »Augen rechts, Kinder! – Ich muß doch sehen, wie wir diese stete Belästigung los werden können!«

Friedel begriff die Erregung der anderen Mädchen gar nicht.

»Das ist auch was Rechtes,« brummte sie vor sich hin, »solch' dumme Jungens!«

Jetzt war man dicht beieinander angelangt.

Die jungen Herren machten ausgiebigen Gebrauch von ihren Augen, die jungen Damen schlugen die ihren nieder oder wendeten sie auffallend gleichgültig nach der anderen Seite. Fräulein Lange hatte ihre entsetzlichste, grimmigste Miene aufgesetzt.

Friedel hatte die Bunten sehr gleichmütig gemustert und die Augen weder gesenkt noch abgewandt.

Als Neue hatte sie entschiedenes Interesse erregt.

Nun war die Klippe umschifft, Fräulein Lange atmete auf.

»Laßt uns hier einbiegen, Kinder! Denselben Weg immer zu gehen ist langweilig!«

Fräulein Lange wies auf eine sehr stille Seitenallee. Sie hatte offenbar vergessen, daß sie vor noch nicht gar zu ferner Zeit einem diesbezüglichen Anliegen ihrer Schülerinnen entrüstet den Satz entgegengestellt hatte: »Der Weg ist doch wahrlich Nebensache. Wir gehen doch nicht spazieren, um etwas zu sehen, sondern um frische Luft zu schöpfen.«

Gehorsam bog die Schar in den befohlenen Seitenweg. Das Ereignis des Tages, die eben stattgehabte Begegnung, war ja vorüber. Der Weg, der gegangen wurde, war nun wirklich Nebensache.

»Sag mal, Tilde, was sind denn das für Jünglinge?« erkundigte sich Friedel bei ihrer Gefährtin.

»Polytechniker,« belehrte diese eifrig. »So oft wir in den Park gehen, begegnen wir ihnen. Ihre Namen wissen wir nicht.«

»Nein, wie interessant,« meinte Friedel ironisch. »Ihr wartet wohl jetzt immer darauf, ob sie kommen?«

»Ja, und wetten!« Milly Meyer, die mit Lilly vor Tilde und Friedel herging, wendete sich um. »Neulich hat Annchen ein Pfund Schokolade verloren, weil sie behauptete, bei dem Regenwetter würden sie sicher nicht kommen. Ich aber hab' gewonnen!«

Stolz, die dicken Posaunenbacken übernatürlich aufgebläht im Bewußtsein ihres Triumphes, sah Milly um sich.

Annchen hatte es gehört und wendete sich.

»Ich wär' auch sicher nicht freiwillig gegangen bei dem Wetter,« sagte sie weinerlich. »Diese Spaziergänge sind noch mein Tod. Aah –« sie gähnte, daß man meinte, ihre unnatürlich verzerrten Gesichtsmuskeln könnten nie wieder in ihre ursprüngliche Lage zurückkehren.

»Schlafratze!« Und Ella versetzte ihr einen freundschaftlichen Rippenstoß.

»Achtung!« tönte es von vorn.

»Alle Wetter!« Ella fuhr herum.

»Wahrhaftig, noch einmal!«

Das galt derselben Gruppe von jungen Herren, die sich wiederum am oberen Ende des Weges zeigten.

Nur die vordersten hatten sie bis jetzt bemerkt. Fräulein Lange, die sich sorglos dem Gefühl hingab, die Begegnung für heute endgültig überstanden zu haben, unterhielt sich eifrig mit den ihr zunächst Gehenden.

Erst ein zunehmendes Kichern machte sie aufmerksam.

Sollte –?

Wahrhaftig, da waren sie wieder, diese promenierenden Buntmützen!

Einzig Friedel teilte Fräulein Langes Entrüstung.

»Solche Bengels!«

Die dachten womöglich noch, ihnen, den Mädels, eine Freude zu machen mit dem dummen Anstarren! Sie, Friedel, wollte es ihnen aber einmal zeigen.

Dieselbe Unruhe bei ihren Gefährtinnen wie zuvor.

»Aber, Kinder, seid doch nicht so einfältig,« schalt Friedel empört und recht vernehmlich. »Was habt ihr denn an den dummen Jungen? Paßt mal auf, denen will ich das Wiederkommen vertreiben!«

Was hatte sie vor?

Gewiß was Tolles.

Die einen kicherten, Bedächtigere mahnten: »Friedel, nur keine Dummheiten!«

»Ich muß aber doch sehr bitten!«

Fräulein Langes scharfes Organ schaffte augenblicklich Ruhe.

Jetzt war man dicht beieinander. Die vordersten hatten die Begegnenden bereits passiert.

Da die jungen Herren eben bei der Mitte des Zugs der Mädchen angelangt waren, trat eine kleine Stockung ein.

Plötzlich machten sie wie auf Kommando Front, rissen die Mützen vom Kopfe und verbeugten sich tief mit spöttisch übertriebener Höflichkeit. Die Blicke waren dabei alle auf eine Person gerichtet.

Friedel!

Daß Friedel Veranlassung zu dieser Szene gegeben hatte, war sonnenklar. Aber welche? Ihrem gleichgültig unbekümmerten Gesicht, das vielleicht nur um einen Schatten dunkler geworden als sonst, war nichts anzusehen.

»Vorwärts, meine Damen!«

Fräulein Langes Stimme klang schneidend wie ein Messer.

»Ich muß aber doch sehr bitten!«

Das galt diesmal den jungen Herren, die die Mützen nochmals tadellos höflich vor der älteren Dame lüfteten und eiligst ihres Weges gingen.

»Friedel!«

Elffach, kichernd, ängstlich, vorwurfsvoll, mahnend klang's mit unterdrücktem Ton aus allen Kehlen.

Fräulein Lange sagte nur: »Kein Wort der Erörterung unterwegs, wenn ich bitten darf. Zu Hause ist der Ort dafür.«

Und in lastendem, bedrücktem Schweigen wurde der Heimweg vollendet.

*

»Was muß ich da hören, Kind? Willst du mir nicht einmal die Sache auf deine Weise erklären?«

Die milde Stimme der Tante war's, die das sagte. Hochrot, erregt stand Fräulein Lange daneben, die anderen alle, noch in Hut und Mantel, drängten sich im Hintergrund des Zimmers zusammen.

Friedel, die Sünderin, stand vor der Vorsteherin. Etwas blaß war jetzt das braune Gesichtchen, aber groß und furchtlos hielt Friedel das Auge auf »Tante« geheftet.

»Sprich, Kind!« mahnte die noch einmal.

»Gewiß, das will ich, die Sache ist ja so einfach. Die dummen Menschen haben uns belästigt, und da habe ich ihnen eben, als Ausdruck meiner Verachtung, die Zunge ein ganz klein wenig herausgestreckt.«

»Kind!«

»Die Spitze, wirklich und wahrhaftig nur die Spitze, Tante!«

Die Mädchen kicherten, selbst »Tante« mußte sich zum Ernste zwingen.

»Wie viel oder wie wenig, darauf kommt es hier gar nicht an,« sagte sie strenge. »Fühlst du denn nicht, wie ganz unwürdig du dich benommen hast? Ein Gassenjunge streckt dem anderen die Zunge heraus, und dann ist's ein Flegel. Wie aber soll man eine junge Dame nennen, die dergleichen tut?«

Bekümmert schauten die guten Augen der alten Dame die junge Sünderin an, und diese ließ das Köpfchen hängen.

Dann zuckte es über das gesenkte Gesichtchen, ein Schelmenblick fuhr von der Seite her zur »Tante« auf.

»Ich bin ja aber gar keine junge Dame, Tantchen,« sagte die helle junge Stimme ganz zerknirscht und doch recht drollig, »ich bin ja doch Papas Junge. Und daß der sich wie ein Gassenjunge benimmt, ist freilich eine Schande; aber er will's ganz, ganz, ganz gewiß nicht wieder tun!«

Damit hatte Friedel Tantes Hand erfaßt, sie herzlich geküßt und dabei so beweglich armsünderhaft und so schelmisch zugleich ausgesehen, daß »Tante« nicht länger zürnen konnte.

»Das laß ein Wort sein, Kind,« sagte sie milde. »Und nun laßt uns nicht weiter drüber reden. Wer seinen Fehler einsieht und bereut, der hat ihn schon halb gesühnt!«

»Im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über zehn Gerechte,« sagte eine Stimme halblaut im Hintergrunde, und: »Gertrud, schäm dich!« folgte a tempo.

Damit war Friedels Missetat erledigt, und da Fräulein Lange in der Folge mit wahrhaft verblüffendem Scharfsinn stets neue Wege aufzufinden wußte, der Park aber von ihr gemieden wurde, so gab es auch keinen Anlaß mehr zu solcher Selbsthilfe, wie Friedel sie angewendet hatte.

*

So waren nun bereits Wochen vergangen.

Vier Wochen weilte Friedel schon hier. Sie war selber erstaunt, als sie es sich eines Abends klar machte.

»Noch zwei, höchstens noch vier,« sagte sie sich, »dann komme ich daheim gerade zur Lese recht.«

Die Zeit hier aber war ihr ganz angenehm vergangen.

Sie stand mit allen gut. Mit »Tante«, die sie mehr und mehr lieben lernte, und mit den anderen Lehrern. Mit Fräulein Lange, deren Schärfen sie durch geschickt angebrachte Schelmereien die Spitze nahm, die ihr sogar den allmorgendlich verweigerten Kuß verzieh. Mit den Gefährtinnen endlich und mit diesen vor allem, da Friedels unverwüstliche frohe Laune eine Quelle der Lust und Fröhlichkeit war. Sie hätten sich das Paradies ohne Friedel gar nicht mehr als Paradies denken können. Von zu Hause hatte Friedel immer gute Nachrichten. Tante Lenchen schrieb regelmäßig zweimal die Woche. Friedel antwortete eben so oft und ihre Briefe waren eine Quelle der Zufriedenheit für die Tante, die entsetzliche Heimwehepisteln befürchtet hatte.

Der Papa dagegen ärgerte sich über dies leichte Sichhineinfinden in die Trennung. Er hatte »seinem Jungen« doch mehr Temperament zugetraut. Unwillkürlich spiegelte sich etwas von den Empfindungen in seinen Briefen wieder. Der erste hatte mit dem zärtlichen »mein Jungchen« begonnen. Der zweite mit »liebste Friedel«. Der dritte gar mit »mein Kind!« Das gab Friedel zu denken. Wenn der Papa »mein Kind« sagte, war er immer in etwas feierlich gereizter Stimmung, und das scheute Friedel ganz besonders.

»Zeit, daß ich heimkomme,« sagte sie sich, »der Papa wird mir sonst kopfscheu.«

Bei dem gleichmäßig geregelten Leben im Hause, wo sich ein Tag vom nächsten nur durch die Art der Stunden, das Ziel des Spaziergangs oder die eine oder andere Bluse unterschied, die die Mädchen trugen, flog die Zeit nur so hin. Nie gleiten ja die Tage unvermerkter vorüber, als wenn sie sich wie die gleichmäßigen Glieder einer Kette aneinander reihen.

Nur wenn Trauer oder Schmerz, Erlebnisse irgendwelcher Art sich einer Reihe dieser Glieder mit ihrem Gewichte anhaften, wird jedes als Einzelglied empfunden, und das stete Dahingleiten der Kette ist gehemmt.

»Wißt ihr was, Kinder, tödlich langweilig ist's eigentlich,« rief Elsbeth eines Vormittags nach den Unterrichtsstunden und reckte und streckte sich. »Die letzte Stunde war doch rein zum Einschlafen! Ach, wär' doch nur erst der Winter da! Da sieht und hört man doch auch mal was andres als nur das ewige tägliche Einerlei. Friedel, zerbrech dir mal ein bißchen deinen Hirnkasten, wir müssen was anstellen, einerlei was, so halt' ich's nicht mehr aus!«

»Ja, Friedel muß was aushecken,« bekräftigte nun auch Ella, »sie ist noch die verhältnismäßig Unverdorbenste unter uns, die von der Institutskultur am wenigsten Beleckte. Besinn dich mal, Friedel, es muß aber ganz was Besonderes sein!«

»Nur nichts Anstrengendes,« gähnte Annchen.

»Doch, was recht Unternehmendes!« meinten Lilly und Milly Meyer, und ihre dicken Pausbacken schwollen zu doppeltem Umfang vor Unternehmungsgeist.

»Seid doch vernünftig, Kinder,« mahnte bedächtig Tilde Groß, »laßt Friedel in Frieden!«

»Bravo, bravo! Die Großmutter hat 'nen Witz gemacht!« jubelten nun alle. Die Mahnerin aber zuckte die Achseln, wendete sich ab und schwieg gekränkt.

»Sie hat aber recht,« mahnte nun auch Asta Finke, »macht keine Tollheiten, sonst –«

»Unke!« »Jungfer Weisheit!« »Schulsack!« »Nun erst recht!« »Wir wollen!« »Wir müssen!« »Friedel schieß los!«

Das tollste Durcheinander, die reine Empörung war im Gange. Die Mahnung hatte nur Öl ins Feuer gegossen. – Friedel saß währenddessen gelassen auf dem Tisch, pfiff vor sich hin und baumelte mit den Beinen.

Mit lustigem Schelmenblick sah sie von einer zur anderen. Als sie sie nun alle umdrängten, ihr in die Ohren schrieen, sie zur Bekräftigung ihres Anliegens stießen und zerrten, da hielt sie sich in drolligem Entsetzen die Ohren zu, sprang auf den Tisch, auf den Stuhl, auf den nächsten Stuhl, wieder auf den Tisch und so fort, die anderen immer schreiend und rufend hinterher, so daß der reinste Hexensabbat entstand.

Da plötzlich tönte die Essenglocke!

Nun war richtig wieder die Zeit verpaßt, sich vorher im Schlafsaal ein wenig zurecht zu machen. Und Tantes Blick dafür war so scharf.

Fieberhafte Tätigkeit begann. Alle Taschenkämme traten in Aktion. Wasserflasche und Gläser nebst Taschentücher zum Abtrocknen der Hände mußten das Ihre tun.

Elsbeth zog ein Flacon Eau de Cologne vor und betupfte sich mit der Flüssigkeit.

»Zieraffe!« »Beauté!« »Modepuppe!« »Putznarr!« und wie die Liebenswürdigkeiten alle hießen, die ihr dafür an den Kopf flogen. Unbekümmert steckte sie ihr Flacon ein und folgte den Vorherstürmenden in den Eßsaal.

Dort stand Friedel, sie war längst vorausgeeilt, Haar und Hände kümmerten sie wenig. Rot, heiß, zerzaust sah sie aus, aber sehr unbekümmert, und sie empfing die Nahenden mit einem lustigen Schelmenblick.

»Diener, meine Damen! Nein, wie Sie fein sind!«

Eben wollten die anderen wieder auf sie los, da machte Tante und Fräulein Langes Erscheinen allem weiteren ein Ende.

Nach Tisch, bei der Freistunde im Garten begann das Drängeln wieder.

»Was aushecken, Friedel! Bitte, bitte, was aushecken!«

Elsbeth und Ella waren die lautesten, doch wurden sie von den anderen mehr oder weniger unterstützt. Selbst Asta Finke und Mathilde Groß ließen sich von der allgemeinen Erregtheit mit fortreißen.

»Was aushecken, Friedel! Bitte, bitte!«

Und Friedel versprach's.

»Aber dabei sein müßt ihr dann. Schwört!«

»Der Schwur auf dem Rütli! Hurra!«

Und sie beschworen es alle.

*

In zauberhaftem Glanze lagen die weiten Wiesen.

Groß und klar, rein und milde stand der Mond am Himmel. Etwas geheimnisvoll träumerisch Verklärtes lag über allem; das Vertrauteste sah märchenhaft fremd aus.

Am Fenster der kleinen Garderobe, die dicht neben dem Schlafsaal nach dem Garten zu lag, drängten sich schlanke weiße Gestalten, junge, verträumte Augen starrten schweigend in den Silberglanz draußen, in die leuchtende Mondscheibe, der nur noch wenig an ihrer vollständigen Rundung fehlte.

»So'n Mond ist doch was Riesiges,« meinte Lilly Meyer tiefsinnig.

»Wie 'ne mächtige Lampenglocke aus Milchglas mit 'ner elektrischen Flamme dahinter,« verglich Milly geschmackvoll.

»Zu denken, daß das nur ein ausgebrannter Körper sein soll!« sagte Asta Finke sinnend.

»Daß er geborgtes Licht spendet,« verfolgte Tilde Groß den wissenschaftlichen Gedankengang.

»I wo, Kinder, laßt euch doch nichts weismachen. Ich glaub' nichts von der Fabel, 's ist noch keiner dort gewesen. Unser Mond braucht keinen anderen, um zu leuchten, das kann er allein besorgen. Seht mal, er grinst förmlich vor Vergnügen, daß es Leute gibt, die sich solche Schnurren aufbinden lassen,« lachte Ella und nickte vergnügt dem stummen Gesellen droben zu.

»Weshalb er überhaupt da ist? In der Nacht schlafe ich und brauche kein Licht.« Annchen blinzelte nur noch aus ganz schmalen Augenschlitzchen. Sie hatte sich gewaltsam aufgerüttelt, um die Schwärmerei der andern zu teilen.

»Megatherium!«

Ella fand keine treffendere Bezeichnung für den Ausdruck ihrer Verachtung. Ein einfaches Faultier tat's diesmal nicht.

An Annchens Unschuld in wissenschaftlicher Hinsicht aber glitt der Pfeil ab.

»Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündiget seiner Hände Werk!«

Diesmal folgte kein: Gertrud, schäm dich!

Christel Ehlers faßte still die Hand der Freundin, und ein feierliches Schweigen senkte sich auf die jungen Gemüter.

»Mir ist der Mond stets wie das Gottesauge selber. Ernst und mahnend ruht's auf mir: komm herauf, in deines Vaters Haus sind viele Wohnungen!«

Irmgards weiche Stimme war's, die das sagte. Ihr Liliengesichtchen war dem Monde zugewandt und sah in seinem Schimmer ganz überirdisch zart und verklärt aus.

Ungestüm schlang Edith den Arm um sie.

»Was sind das für Torheiten, Kleines? Gib acht, du bekommst 'nen furchtbaren Schnupfen. Wer reicht mir ein Tuch für unser Kleinchen hier?«

Im Poltern der Stimme zitterte etwas wie bange Furcht.

Friedel war sofort mit dem Gewünschten zur Hand. Ihre Schelmenaugen blitzten.

»Wie wär's, Kinder, wenn wir jetzt 'ne Mondscheinpartie dort auf den Luisenberg machten? Der Blick von da in die Ebene muß sich bei der Beleuchtung lohnen!«

»Bravo!« »Herrlich!« »Ausgezeichnet!« »Das ist ein Gedanke!« »Kapital!« »Großartig!« »Machen wir!«

Der Bann, der seit Irmgards Bemerkung auf allen lastete, war gebrochen. Friedel hatte das Richtige getroffen.

»Ja, aber –«

Ella schnitt der Großmutter das Wort vom Munde ab.

»Einmal im Leben laßt uns einen Streich machen! Wir haben noch so viel Zeit, nachher vernünftig zu sein!«

Und keine widersprach. Der Mond hatte es allen angetan.

Eben schlug's zehn Uhr vom Stadtturm. Tante war müde gewesen und hatte heute besonders früh das Zeichen zum Aufbruch gegeben.

Fräulein Lange saß in ihrem Zimmer und las. Man hörte sie deutlich die Blätter wenden und ab und zu mit sich selber reden, eine Gewohnheit, die bei ihr in letzter Zeit sehr zunahm. Wenn sie aber das tat, dann war sie so stark mit sich beschäftigt, daß ihr die Außenwelt verschwand. Das wußten die Mädchen aus Erfahrung; oft schon hatten sie daraufhin gesündigt.

Und nun weiter kein Überlegen. Frisch gewagt ist halb gewonnen! Eine fieberhafte Tätigkeit begann. Kleidungsstücke jeder Art wurden in aller Hast möglichst geräuschlos übergeworfen.

»Ja, aber, Kinder, wie kommen wir hinaus?«

Die wichtige Frage tauchte jetzt erst auf. Hilfloses Staunen lag auf allen Gesichtern.

Friedel schmunzelte. Sie schien ihrer Sache sicher.

»Da, wo der Zimmermann ein Loch gelassen hat, durch die Tür oder durch das Fenster,« sagte sie lakonisch.

Sie winkte. Der Schrank, der die Korridortür versperrte – es war nur der Eingang durch Fräulein Langes Zimmer freigelassen – wurde leise, leise zur Seite gerückt. Der Tatendrang verdoppelte die Kräfte.

Umsonst! Die Tür war von außen verschlossen.

In schweigender Ratlosigkeit sah man sich an.

Friedel war schnell gefaßt.

Mit raschem Griff nestelte sie ihr Haar los, haschte einen Leuchter, der zunächst stand, und hatte nach raschem Klopfen auch schon die Tür zu Fräulein Langes Zimmer geöffnet, ehe die anderen wußten, was sie vorhatte.

»Entschuldigen Sie, Fräulein,« hörte man sie drinnen sagen, »ich –«

Das weitere verlor sich, und man unterschied nur ein Brummen, das wie: »Bitte sehr!« klang.

Eine lange Pause, endlos, wie es den Mädchen dünkte, obgleich es in Wahrheit vielleicht fünf Minuten waren.

Man hörte ein leises Rascheln an der Tür von außen, dann in der Ferne eine Tür klappen, dann Stille, und dann wieder ein Öffnen und Schließen der Tür des Nebenzimmers und einen sich nähernden leichten Schritt.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten?« fragte Fräulein Langes Stimme ganz deutlich.

Die Lauscherinnen erstickten beinahe an unterdrücktem Kichern.

»Danke sehr,« antwortete Friedel. »Gute Nacht, liebes Fräulein!«

»Gute Nacht, schlafen Sie recht wohl!«

Friedel erschien. Die Kerze beleuchtete das lustigste Gesicht, das sich denken ließ.

Sie legte aber den Finger auf den Mund und wies nach der Garderobe.

Lautlos huschten alle dorthin.

Flüsternd teilte Friedel mit, daß an ein Entweichen durch die Tür nicht zu denken sei, da der Schlüssel auch von außen fehle.

»Bleibt nur das Fenster!« schloß sie.

»Nein!«

»Niemals!«

»Um keinen Preis!«

»Das wäre denn doch zu toll!«

»Na, denn nicht!«

Friedels kurz entschlossenes Abbrechen reizte nun wieder die anderen.

»Wie hast du dir's denn gedacht, Friedel?« fragte Edith zögernd.

»Höchst einfach, so!« Und Friedel zog aus ihrem Schranke die erst kürzlich vollendete Strickleiter vor. Wie der Wind hatte sie die oberen Fensterflügel geöffnet und die Stricke ums Fensterkreuz geschlungen.

Ehe die Mädchen sich erholen konnten von ihrem Erstaunen, war Friedel draußen, drunten, und tauchte auch schon wieder über der Brüstung auf.

Die Sache sah sich wirklich höchst leicht und ungefährlich an.

Die Abenteuerlust, der Wagemut begann sich wieder zu regen.

» Coute que coute, ich probier's!«

Ella stand auf der Brüstung.

Friedel stand schon wieder unten und zog die Leiter straff.

Ella wagte den Abstieg.

»Tadellos!«

»'s ist gar nichts, Kinder,« raunte sie nach oben, »mal flink 'raus!«

Eine nach der andern kletterte hinunter in den Garten.

Und sie folgten alle.

Edith zuerst, dann Irmgard wie der Schweif seinem Kometen.

Lilly, Milly! Die quietschten ein bißchen.

Asta, Tilde, sehr bedächtig.

Elsbeth merkwürdig zierlich und geziert.

»Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen – gerne!«

»Gertrud, schäm dich!«

Christel klimmt nach.

»Wo ist Annchen?«

»Annchen fehlt!«

Ein gar nicht mißzuverstehender Ton droben aus der Tiefe des Schlafsaals gab Zeugnis, wo Annchen weilte und womit sie sich beschäftigte. Tief und regelmäßig klang ihr mildes Schnarchen.

»Faultier!«

»Na, lassen wir sie. Sie vertritt uns bei Fräulein Lange!«

»Einen Augenblick, Kinder!«

Friedel war schon wieder oben und begann die Leiter aufzuziehen.

Wortlos, sprachlos sahen die anderen zu.

»Friedel!«

»Ho, ho!«

»So haben wir nicht gewettet!«

»Schändlich!«

»Erbärmlich!«

»Feige!«

»Verräterei!«

»Empörend!«

Der nur mühsam niedergehaltene Sturm der Entrüstung legte sich erst, als Friedel oben wieder erschien und diesmal am Spalier niederkletterte.

»Wißt ihr was? Euer Verdacht hätte verdient zur Wahrheit zu werden. Wofür haltet ihr mich?«

Friedel war ganz gekränkte Unschuld, verletztes Ehrgefühl.

Die anderen hatten Mühe, sie zu versöhnen.

»Und ich hab' die Leiter doch nur eingezogen, damit man uns den Rückweg nicht etwa abschneidet, ihr Dummeriane. Merkt euch: ein Mann, ein Wort! Dafür stirbt Friedel Polten!«

»Ja doch, ja doch, Friedel, es kam nur so unerwartet!«

»Na, denn los!«

Friedels leichtbewegliches Gesicht sprühte jetzt vor Lust am Abenteuer.

Bisher hatte sich alles im Schatten der breitästigen Ulme abgespielt, die fast den ganzen kleinen Garten überdachte.

Nun traten die Mädchen durch das hintere Gartenpförtchen auf den Wiesenpfad ins silberne Mondlicht hinaus.

So ganz wohl war's ihnen dabei nicht zu Mute. Obgleich der rote Mund unbekümmert zu plaudern versuchte, flog doch manch ängstlicher Blick über die Schulter zurück nach dem verlassenen Käfig.

Friedel war die Unbefangenste von allen. Sie war eben eine hartgesottene kleine Sünderin, längst im Feuer bewährt, sozusagen.

Im Verhältnis zur Entfernung vom Hause stieg der Mut auch der anderen.

Unwillkürlich hatten sie sich paarweise geordnet, als sie es dann bemerkten, brachen sie in silberhelles Lachen aus.

Damit war der Bann vollends gebrochen, der Übermut entfesselt.

»Laßt uns mal Wettlaufen bis dorthin zum Waldrand,« schlug Friedel vor. Und eins, zwei, drei stürmten sie dahin, die jungen Gestalten. Nur eine löste sich von der Gruppe, die größte, schlankste von allen. Irmgard fühlte Seitenstechen beim Laufen, sie mußte immer gleich aufhören. So schlenderte sie dahin, den Hut am Arme, das zarte Gesicht dem Monde zugewandt. In ihrem Goldhaar fing sich sein Flimmern, in ihre großen Augen tauchte tief sein Strahl. Sie waren alte Gefährten schon seit Irmgards Kinderzeit und hatten schon viele Zwiesprach gepflogen. Irmgard war eine Waise von frühauf, sie hatte schon manch liebes Mal den stillen Tröster gebraucht.

»Irmgard!«

»Kleines!«

»So eil' dich doch!« schallte es vom Waldrand her, und gleich darauf war sie bei den anderen.

Jetzt ging's in die Walddämmerung hinein.

Unwillkürlich verlangsamten sich die Schritte.

Nur stellenweise brach das Mondlicht durch, und da warf es so eigentümliche Schatten auf den Weg, daß man nur schwer zwischen Schatten und wirklichem Hindernis sich zurechtfand.

Hier hüpfte eine vorsichtig über einen Schatten, in der Meinung, es sei ein Graben, und dort stolperte eine in eine Rinne, die nur ein Schatten schien.

Es gab furchtbar viel zu kichern und zu lachen, aber ein eigentümlich gepreßter Ton klang durch. »Puh! 's ist doch eigentlich 'n bißchen unheimlich hier,« gab endlich jemand dem allgemeinen Gefühl Ausdruck. »Ich freu' mich auf den Mondschein oben!«

»Wir auch! Wir auch!«

Man konnte unbedenklich beistimmen. Aus welchem Grunde man sich so sehr auf den Mondschein freute, brauchte ja nicht erörtert zu werden.

»Jammerlappen!« brummte Friedel vor sich hin.

»Laßt uns mal was singen!« schlug sie dann vor, »da marschiert sich's besser, und wir müssen bis elf Uhr oben sein. Eine Stunde droben, dreiviertel zurück, dann sind wir bis ein Uhr im Bett und haben noch sechs Stunden Schlaf.«

»Famoser Schlachtplan!«

»Friedel, du bist der geborene Feldherr!«

»Bravo!«

»Bravo!«

So klang's Beifall von allen Seiten.

»Ich hatt' einen Kameraden,« intonierte nun Friedel mit ihrer jungen hellen Stimme, und die anderen fielen ein, zaghaft und gepreßt erst, dann immer klarer und frischer.

*

»Werden denn die Dryaden und Nymphen des Waldes lebendig? Der reine Zauberspuk der Mondnacht.«

Ein Herr in mittleren Jahren lehnte an der Brüstung des Luisentempels und sah sinnend ins Weite.

»Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Blick gefangen hält –«

flüsterte er eben vor sich hin, da trafen die glockenreinen Mädchenstimmen sein Ohr, und staunend, lauschend richtete er sich auf.

Der Gesang kam näher.

Der Herr trat etwas in den Schatten des Tempels zurück und hielt den Blick gespannt auf die Stelle geheftet, wo die Sängerinnen auftauchen mußten.

Und jetzt tauchten sie auf.

Paarweise kamen sie näher. Hell fiel der Mondschein auf die jungen Gesichter, förmlich liebkosend bestrahlte er sie mit seinem Glanze.

Der Herr im Tempel traute seinen Augen kaum.

»Das ganze Paradies!«

Und erwartungsvoll haftete sein Blick am Wege, wo doch jeden Augenblick entweder »Tante« oder doch mindestens Fräulein Lange austauchen mußte.

Nichts dergleichen.

Die jungen Damen standen, sich umschlungen haltend, am Rand der Lichtung, die den Tempel trug.

»Herrlich!« –

»Himmlisch!« –

»Göttlich!« –

»Erhaben!«

Lilly Meyer mit den Pausbacken sagte es, und erregte damit einen wahren Sturm der Heiterkeit. Der Mund stand ihr einmal nicht nach volltönenden Worten, die wohlgenährte kleine Gestalt paßte nicht zu hochtrabenden Gefühlen.

»Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt,« sagte Edith mit Pathos.

Lilly war sehr gekränkt, und Irmgard streichelte ihr begütigend die heißen Wangen.

Friedel hatte sich auf die Brüstung des Tempels gesetzt, baumelte mit den Beinen, spitzte die Lippen und pfiff:

»Guter Mond, du gehst so stille.«

Ella hatte sich zu ihr geschwungen.

»Wenn Annchen hier wäre, die würde das singen. Paßt wie angegossen für sie: bist so ruhig und ich fühle, daß ich ohne Ru–u–u–he bin!«

Ella betonte das u–u–u– ganz ohrzerreißend.

»Still, du Uhu!«

Edith raffte ein paar Kieskörner auf und warf nach ihr.

Damit gerieten die beiden aneinander und ein lustiges Ringen begann.

»Ruhe, bitte Ruhe,« flehte Irmgard, »deshalb sind wir doch nicht hergekommen.«

»Hast recht, Kleines, komm, gib Händchen. Ich will ganz artig sein.«

Elsbeth Schuster hatte sich zu Füßen eines Baumes malerisch hingelegt, verdrehte die Augen und starrte schwärmerisch in den Mond.

»Elsbeth, du stehst wohl Tableau? Schade, daß dein Publikum so wenig dankbar ist.«

Edith rief's spöttisch. Irmgard legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Mund, die Edith erst küßte, dann die Zähne zeigte, um hinein zu beißen.

»Weg mit der Hand, Kleinchen, oder ich beiße. Die Elsbeth muß gezogen werden.«

»Richtet nicht, auf daß ihr nicht –«

»Gertrud, schäme dich!«

»Meinetwegen, heute einmal!«

Und Gertrud umhalste Christel.

»Seid umschlungen Millionen,
Diesen Kuß der ganzen Welt –«

»Friedel, wo kommt diese Stelle vor?«

Edith rief's neckend. »Ach was, laß mich zufrieden. Frag deinen Herrn Professor das nächste Mal, der –«

»Guten Abend, meine Damen!«

Professor Becker trat vor. Er war es, der dem Nahen der Dryaden und Waldnymphen gelauscht hatte. Bei dieser Wendung der Unterhaltung hatte er den Zeitpunkt für gekommen erachtet, sich den Mädchen zu erkennen zu geben.

Als ob die Erde sich plötzlich aufgetan und etwas Entsetzliches ausgespieen oder eine von ihnen verschlungen hätte, als ob ein greller, betäubender Blitz vor ihnen niedergefahren wäre, so entsetzt, so verwirrt, so fassungslos standen die Mädchen vor dem Herantretenden.

Wie eine Herde Schafe, wenn's gewittert, so hielten sie sich auf ein Häufchen zusammengedrängt. Blasses Entsetzen lag auf allen Gesichtern.

Nur Friedel verlor die Fassung nicht, sondern blieb sogar auf ihrem Platze sitzen, baumelte mit den Beinen und pfiff – ihr selber unbewußt – leise aber deutlich: Seht einmal, da kimmt er, lange Schritte nimmt er.

Dann aber, als sie die Ratlosigkeit der Gefährtinnen sah, sprang sie rasch von ihrem Sitze, trat an den Professor heran, reichte ihm freundlich die Hand und sagte unbefangen fröhlich: »Guten Abend, Herr Professor, Sie wollten wohl auch den schönen Mondschein genießen?«

»Das wollte ich. Darf ich fragen, ob die jungen Damen allein sind?«

Staunender Zweifel lag in der Frage.

Friedel ließ sich nicht einschüchtern.

»Gewiß. Es ist zwar ein bißchen spätgeworden, wir denken aber bereits an den Aufbruch. Scheint der Mond nicht herrlich?«

Sie wollte ablenken, und einstweilen gelang es auch.

»Ganz wunderbar. Aber nun muß ich auch die anderen Damen begrüßen.«

»Wie nett, daß wir uns treffen, meine Damen!«

Er war zu der verschüchterten Gruppe herangetreten und reichte jeder einzelnen die Hand mit herzgewinnender Freundlichkeit. Die jungen Mädchen taten ihm leid in ihrer ratlosen Scheu und Verwirrung.

»Wie nett, daß wir uns treffen, meine Damen! Ich setze nämlich bescheiden voraus, daß Sie sich ebenso darüber freuen wie ich. Jedenfalls werden Sie mir erlauben, Sie nach Hause zu begleiten.«

So liebenswürdig die Stimme klang, feste Entschlossenheit lag in dem letzten Satze. Die Mädchen fühlten – selbst Friedel fühlte es – da gab's keinen Widerspruch.

Sie versuchte, ein klein wenig gegen den Stachel zu löcken.

»Wir können doch den Herrn Professor nicht bemühen!«

Der aber hörte den Einwurf scheinbar gar nicht, und Friedel fügte sich.

Die anderen fingen inzwischen an aufzutauen. Sie gestanden sich's nicht, aber es fiel ihnen doch gewissermaßen ein Stein vom Herzen, sich nun unter sicherem Schutz zu wissen.

»Wie wär's, meine Damen, wenn wir noch ein klein wenig hier auf dem Höhenrücken weiter gingen. Zum Sitzen ist es doch etwas kühl. Der Rücken liegt frei, und man kann den Mondschein voll genießen. Ich bringe Sie dann, wenn Sie gestatten, auf einem direkteren Weg nach Hause.«

Jubelnd stimmten die Mädchen ein.

»Wir müssen aber über die Wiesen zurück, Herr Professor,« rief Friedel übermütig, »sonst können wir nicht in unsere Zimmer.«

»Was Sie nicht sagen? Davon erzählen Sie mir nachher. Jetzt wollen wir den herrlichen Abend noch ein Weilchen genießen!«

Er wußte, daß er ein ernstes Wort würde reden müssen, wenn erst die Geschichte zum Austrag kam. Einstweilen wollte er aber den Kindern ihren erschlichenen Genuß nicht verkümmern.

»Ist Fräulein Irmgard warm genug gekleidet?«

Es lag etwas Weiches, Besorgtes im Tone dieser Frage.

Lilly und Milly versetzten sich gegenseitig einen Rippenstoß und verzogen die behäbigen Pausbäcklein zu einem mutwilligen Grinsen.

Über Irmgards Gesicht huschte eine leise Röte.

»Edith, die Gute, hat mir noch ihren Kragen gegeben,« sagte sie leise, »ich fürchte nur, sie vermißt ihn.«

»Unsinn, Kleinchen!«

Edith rief's übermütig.

Der Professor sah an Irmgards lilienschlanker Gestalt empor – sie überragte ihn sogar ein wenig.

»Ein passender Name!« meinte er lachend.

»Der hat auch seine Geschichte,« neckte Edith.

»Darf man die wissen?«

»O gewiß, was, Kleinchen?«

Irmgard war dunkel errötet, die anderen kicherten und drängten heran, auch Friedel, die noch nichts von der Sache wußte.

»Edith!« sagte Irmgard vorwurfsvoll.

Aber Edith war nun einmal im Zuge.

»Ach was, Kleines, die Sache ist zu gut. Also, Herr Professor, in unserer Tanzstunde vorigen Winter hatten wir auch ein sogenanntes Tanzkränzchen, zu dem Tante einige Herren gebeten hatte. Irmgard, unsre Jüngste, war ein bißchen schüchtern – damals« – Edith warf einen Schelmenblick nach Irmgard – »na also, sie wollte lieber wegbleiben, Tante aber und wir alle bestanden auf ihrer Gegenwart. Ohne unser Kind war's ja nur ein halber Genuß.« Wie weich Ediths Stimme klingen konnte. »Irmgard gab nach, ›aber mit Herren tanze ich nicht‹, sagte sie und dabei blieb sie. Am Abend nun, wie die Herren engagierten, stürzte denn auch so ein ganz kleiner Jüngling – Adolf Müller, Sie kennen ihn ja – auf unsere Irmgard los, die sich beharrlich in der zweiten Reihe hinter mir hielt. Er neigte sich tief: ›Mein gnädiges Fräulein, darf ich bitten?‹ Irmgard merkte erst gar nicht, daß es ihr galt, ich mußte sie erst darauf aufmerksam machen. ›Ich danke, ich tanze nicht, ich bin noch zu klein.‹ Spricht's und erhebt sich mit Würde lang und länger, so daß der verblüffte Jüngling sprachlos an dieser ›zu kleinen‹ Tänzerin hinauf starrte. Daher der Name!«

Edith hatte so packend und drollig geschildert, daß selbst Irmgard, wenn auch purpurrot, in das allgemeine Lachen mit einstimmen mußte.

»Bravo, Irmgard, das gefällt mir,« mischte sich nun Friedel in die Unterhaltung. »Ich tanze auch niemals mit Herren, das weiß ich gewiß. Überhaupt finde ich das Tanzen gräßlich albern. Dies ewige Herumhopsen, bis man schwindlig ist! Da klettre ich lieber auf den höchsten Baum. Was meinen Sie, Herr Professor?«

»Wenn ich wählen sollte, würde ich wohl einen gesetzten Walzer vorziehen. Wenn Sie mich freilich vor etlichen dreißig Jährchen gefragt hätten, würde meine Antwort wohl anders gelautet haben,« sagte er mit feinem Lächeln.

»Waren Sie auch ein wilder Junge, Herr Professor?«

Aus Friedels Stimme klang atemloses Interesse.

»Auch?«

Professor Becker sagte es etwas befremdet.

Friedel wurde nun ihrerseits rot, und die anderen kicherten wie die Kobolde.

»Reingefallen, Friedel!« neckte Ella.

»I wo. Ich mach' ja gar kein Geheimnis draus, daß ich Papas Junge bin. Der Herr Professor mag's getrost wissen.« Friedel warf übermütig das Köpfchen zurück, »'s ist ja Christenpflicht bei mir, wo der arme Papa nur Mädels hatte und sich so sehr einen Jungen wünschte.«

Der Professor verbiß ein lautes Auflachen.

»So, so! Hm! Ja! Christenpflicht!« murmelte er, man wußte nicht recht, ob in Zustimmung oder aus Verwunderung. »Dann – hm, ja – dann weiß ich ja wohl auch, wo ich den Anstifter dieses – hm, ja, verzeihen Sie, meine Damen, – Jungenstreiches zu suchen habe.«

Was er mit dem »Jungenstreich« meinte, war allen sofort klar. Das Kichern verstummte, die Köpfchen hingen, die Augen suchten den Boden.

Selbst Friedel war einigermaßen aus der Fassung geraten und fand nicht sogleich Worte.

»Sie werden es in meiner Eigenschaft als Ihr Lehrer begreiflich finden, meine Damen, daß ich etwas näher auf die erstaunliche Tatsache eingehen muß, Ihnen allein im Walde zu nachtschlafender Zeit zu begegnen. Wollte eine von Ihnen die Güte haben, mir darüber Auskunft zu geben? Vielleicht Fräulein Edith, ja? Ihr steht das Wort ja so zu Gebote.«

Seine Stimme klang sehr milde, aber zugleich sehr ernst.

Edith kämpfte mit dem Weinen, sie ließ den Kopf hängen.

Die anderen alle waren mehr tot als lebendig; Irmgard zitterte so sehr, daß Edith beruhigend den Arm um sie legen mußte.

Friedel kämpfte gewaltsam ihre Erregung nieder. Die Stimme gehorchte ihr noch nicht ganz, als sie sagte: »Darf ich reden, Herr Professor?«

Er hob den Blick, in dem der Schalk saß; es zuckte um seine Mundwinkel; aber die Mädchen sahen es nicht vor dem Schatten, den der breitrandige Hut auf sein Gesicht warf.

»Ich bitte darum!«

»Der Mondschein war nämlich so wundervoll,« begann nun Friedel, in krausem Durcheinander sich überstürzend, »wir standen am Fenster und da – es war nämlich noch so frühe, Tante hatte uns nämlich besonders früh zu Bett geschickt, und da – ja der Mondschein war zu wundervoll, wir konnten noch nicht schlafen. Und da standen wir am Fenster, und da –«

»Da kam uns der Einfall, wie schön es wäre, einen Mondscheinspaziergang zu machen,« setzte hier Irmgards weiche Stimme ein. Die Stimme zitterte und bebte, aber Irmgard wollte Friedel doch nicht stecken lassen.

»Ja, aber ich machte den Vorschlag zuerst,« sagte Friedel ehrlich.

»Aber wir stimmten alle sofort bei,« berichtigte Irmgard leise.

»Ja, das taten wir – das taten wir! Friedel hat nur zuerst die gute Idee gehabt,« beeilten sich nun alle anderen im Chorus beizustimmen.

Der Professor verbiß sich mit Mühe das Lachen.

»So, also Fräulein Friedel hat zuerst die gute Idee gehabt? Darf ich nun bitten, Fräulein Friedel reden zu lassen? Es vereinfacht die Sache.«

Friedel zögerte einen Augenblick.

»Wie ich eben den Vorschlag machte, haben sie ihn angenommen, und wir sind losgezogen; das ist doch sehr einfach.«

Es klang in der Erregung beinahe schnippisch.

Der Professor blieb sehr ruhig.

»Dürfte ich vielleicht um etwas nähere Details bitten?«

Friedel krümmte sich innerlich vor Ärger und – Scham.

»Mein Gott, wir haben uns eben schnell zurecht gemacht und dann –«

»Dann?«

»Dann sind wir eben fortgegangen!«

»Wie verschafften Sie sich denn den Hausschlüssel?«

»Den brauchten wir nicht!«

»Den brauchten Sie nicht?«

»Nein, unsere Haustür war unverschlossen!«

»Wieso?«

»Wir gingen nämlich gar nicht durch die Tür, sondern –«

»Sondern?«

»Durchs Fenster!«

»Durchs Fenster?«

»Durchs Fenster!!!«

Friedel sagte es in einem Ton, daß man die drei Ausrufungszeichen förmlich hören konnte.

Eine kleine Pause.

»Der Schlafsaal ist doch, soviel ich weiß, im ersten Stock!«

Friedel hatte ihre volle Fassung wieder erlangt. Frei und unbekümmert sprudelte sie nun heraus.

»Ganz richtig, im ersten Stock, aber der ist nicht hoch, weil der untere Stock zu ebener Erde liegt. Papas Junge aber ist so was einerlei, der wäre auch aus dem dritten herausgekommen. Na, aber hier –« mit einem bezeichnenden Blick nach den anderen – »war's doch besser so. Wir haben also die Strickleiter festgemacht –«

»Die Strickleiter?? Ja woher –«

»Die hab' ich mitgebracht, natürlich. Ich werd' mich doch in keinen Käfig sperren lassen, ohne daß ich weiß, wie herauszukommen ist. Und wie die Leiter fest war, bin ich zuerst hinunter und hab' sie stramm gezogen, und dann sind die anderen 'runter geklettert. Es war ganz furchtbar einfach!«

»So scheint es!«

Ungewiß sahen die Mädchen den Professor an. Aus seiner Stimme war nicht heraus zu hören, was er dachte. Er ging mit sich zu Rate. Was sollte er tun? Verraten mochte er die Mädchen nicht, sie trauten ihm so unbedingt. Und dann! Die alte Dame, »Tante«, hätte sich sicherlich ganz todunglücklich gefühlt. Wie konnte er das vermeiden? Ins Gewissen wollte er den Mädchen reden, ernst und eindringlich, und sich versprechen lassen –

»Herr Professor, Sie werden uns doch nicht verraten?«

In Ediths Stimme bebte Todesangst, Irmgard weinte leise, und ersticktes Schluchzen wurde noch sonst hörbar.

»Ist Ihnen denn der Gedanke gar nicht gekommen, wie übel die Sache hätte ablaufen können?« sagte der Professor nun sehr ernst. »Abgesehen von einem möglichen Unglück beim Abstieg, hätte Ihnen doch auch unterwegs allerhand Unangenehmes passieren können! Nehmen Sie einmal an, Sie hätten statt meiner, der ich Sie kenne und doch auch ein leidlich zuverlässiger Mensch bin, irgend einen Strolch oder auch nur einen Trupp meiner jungen Polytechniker begegnet, was glauben Sie, wie das Abenteuer da hätte verlaufen können?«

Nun fingen die Mädchen alle an zu weinen. Der Professor meinte förmlich, ihre Zähne aufeinander schlagen zu hören.

»Sagen Sie selbst, glauben Sie nun nicht, daß es meine Pflicht ist, Ihre Vorsteherin von dem allem zu benachrichtigen, damit dergleichen nicht mehr vorkommen kann?«

Allgemeines lautes Aufschluchzen. Stumme Pause.

»Es soll nie wieder vorkommen, Herr Professor, mein Ehrenwort!«

Friedel stand vor ihm, schlank aufgerichtet, ernst, totenblaß.

»Wie wollen Sie mir das gewährleisten? Verzeihen Sie, wenn mir das ›Ehrenwort‹ einer einzelnen jungen Dame für elf weitere Gefährtinnen nicht genügt.«

Es zuckte um seinen Mund, er hatte Mühe, ernst zu bleiben.

»Ich stehe dafür ein,« rief Friedel eifrig. »Ohne einen Rädelsführer, der in dem Falle ich war, hätten die anderen nie an dergleichen gedacht. Der Rädelsführer wird fortgeschafft, und die Luft ist rein!«

Nun konnte der Professor nicht anders, er mußte lachen. »Das heißt, Sie verzichten endgültig auf dergleichen Streiche für sich und die anderen? Ihr Wort?«

Er hielt ihr die Hand hin.

Friedel zögerte, dann schlug sie schallend ein und sagte: »Mein Wort! Ich werde meine Mitschülerinnen nie wieder zu irgend etwas Unrechtem verleiten. Genügt Ihnen das?«

»Vollständig!«

Er schüttelte ihr herzhaft die Hand und hatte ganz überhört, daß Friedel bei ihrem Versprechen keineswegs versichert hatte, auf Streiche ihrerseits zu verzichten.

»Werden Sie Ihr Wort auch halten können, ja?« fragte er noch einmal zweifelnd.

»Ich werde schon sorgen, daß ich nie wieder in Versuchung falle,« sagte Friedel, und was sie damit meinte, erörterte der Professor nicht weiter.

»So soll die Sache begraben und vergessen sein, meine Damen,« wendete er sich nun an die anderen, die ihm ganz demütig und geknickt die Hände hinstreckten und etwas von »nie wieder vorkommen« murmelten.

Darauf wurde der Heimweg eiligst und schweigend zurückgelegt.

Am Gartenpförtchen bei den Wiesen verabschiedete der Professor sich, nachdem die Mädchen ihm zuvor noch geloben mußten, sehr vorsichtig beim Einsteigen zu sein.

Daß er zwanzig Schritte davon stehen blieb und lauschte, ob alles ohne Unfall verlaufe, ahnten sie nicht.

Er aber hörte nur ein Wispern und Raunen, ein Flüstern und Rascheln unter der alten Ulme, geschäftiges Hantieren – dann tiefe Stille. Leise schloß sich ein Fenster oben – die entflohenen Vögelchen waren in den Käfig zurückgekehrt.

Er atmete auf und ging heimwärts.

*

Anderen Tags standen alle um den Eßtisch versammelt. Ein wenig bleicher, ein wenig ernster, ein wenig stiller als gewöhnlich. Friedel fehlte noch.

»Tante« erschien.

Ihr Blick überflog ihre Herde.

»Wo ist Friedel, Kinder?«

Keine wußte es.

Sie hatte die Stunde von elf bis zwölf Uhr – englischen Aufsatz – nicht mitgenommen und wollte statt dessen im Arbeitzimmer sonstige Arbeiten machen.

»Um halb zwölf Uhr ist Fräulein Friedel in Hut und Mantel aus dem Schlafsaal gekommen und ausgegangen,« berichtete Anna, das Hausmädchen.

»Hat sie nichts gesagt?« fragte Tante, die sehr blaß geworden war.

»Nein, gnädige Frau. Fräulein Friedel sah nur etwas rot aus und schien es sehr eilig zu haben.

»Es ist gut, Anna! Sie können gehen.«

Verwundert entfernte sich Anna. Sollte sie heute nicht bei Tisch aufwarten?

»Ella, geh du einmal ins Arbeitzimmer und sieh, ob du etwas von Friedel entdecken kannst. Und du, Edith, sieh im Schlafsaal nach!«

Tante sprach das sehr ruhig.

Die Mädchen waren alle sehr blaß und sichtlich sehr erregt.

»Kinder, keine von euch weiß etwas?«

»Nein, Tante!«

Ella kam zurück. Sie hatte nichts gefunden.

Jetzt hörte man Ediths Schritt.

Sie hielt einen Brief in der Hand, den sie der Tante schweigend überreichte.

Diese erbrach ihn, überflog erst den Inhalt und las dann laut:

Geliebte Tante!

Lassen Sie mich noch einmal Sie so nennen. Wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich schon ein ganzes Stückchen auf dem Wege in die Heimat. Der Zug soll dort um acht Uhr Abends ankommen. Ängstigen Sie sich nur nicht um mich, ich komme sicher heim. Ich habe Sie sehr lieb gewonnen und war sehr gerne in Ihrem Hause. Vielleicht hätte ich sogar mit der Zeit ein ganz passabel gesittetes Menschenkind bei Ihnen werden können. Aber es ist besser so. Einmal braucht mich mein Papa daheim, der seinen Jungen schwer vermißt, und dann, liebe Tante, ist's auch für Sie und das Paradies besser, wenn sich das räudige Schaf selber hinauswirft. Der Vergleich ist nicht schön, aber passend. Ich habe oft zu tolle Streiche im Kopf und könnte die anderen dazu verleiten; da ist's besser, wenn ich der Versuchung ganz aus dem Wege gehe. Grüßen Sie mir meine Mitschülerinnen alle, alle! Sie sollen ihre Friedel nicht vergessen. Und grüßen Sie auch Fräulein Lange, und grüßen Sie auch den Herrn Professor und Anna und alle anderen.

Sie aber umarme ich von Herzen, geliebte Tante, und bitte Sie, verzeihen zu wollen

Ihrer dankbaren
Friedel Polten.«

Totenstille.

»Wußtet ihr darum, Kinder?«

Ein gepreßtes »Nein«.

»Friedel sagte schon gleich zu Anfang, sie sei nur zu Besuch hier,« berichtete dann Edith stockend.

Die meisten der Mädchen kämpften offenbar mit den Tränen.

Fräulein Lange murmelte etwas von »Schlange und Busen«.

Tante sah lange schweigend vor sich hin.

»Wir wollen nicht weiter darüber reden, Kinder. Mir war das Mädchen wirklich lieb in seiner ehrlichen Offenheit. Ein guter Kern steckt in Friedel, und gerne hätte ich geholfen, ihn ans Licht zu bringen. Aber vielleicht ist's doch besser so, und Friedel hat in ihrem einfach natürlichen Fühlen die beste Lösung gefunden, obgleich die Art, wie sie diese Lösung ins Werk setzte, mir furchtbaren Kummer macht. Ich schreibe noch heute an ihren Vater. Doch zu Tisch jetzt, und am Nachmittag machen wir den lange geplanten Gang ins Wedental!«

Man war über das Kapitel Friedel hinweg zur Tagesordnung übergegangen. Wie ein lustig blitzendes Sternlein war Friedel am Himmel des Paradieses aufgetaucht, um sternschnuppengleich alsbald wieder zu verschwinden.

*

Daheim saßen Vater und Tante am Abendtisch.

Herr Polten hatte eben die Zeitung fortgelegt, seine Serviette entfaltet und ärgerlich und gereizt über den Tisch geblickt.

»So 'ne alberne Institutswirtschaft!« sagte er ziemlich grob. »Statt daß man nun sein Kind da hat und sich dran freuen kann, soll partout aus dem Staatskerl so 'n zimpferliches, einfältiges Frauenzimmer zurechtgestutzt werden. Ich pfeife –«

»Konrad!«

Mild mahnend kam's von Tante Lenchens Lippen. Seit sie sich mit ihrem Experiment so im Vorteil glaubte, war sie furchtbar nachsichtig mit dem polternden Bruder, der mindestens einmal des Tages einen solchen Zornanfall hatte.

Heute war der Anfall schlimmer als gewöhnlich. Kein mahnendes »Konrad« half. Hochrot und erregt polterte Papa Polten weiter: »Jawohl, ich pfeife auf den Frauenzimmerkram! Gebt mir meinen Jungen wieder, ich –«

»Guten Abend, Papa – guten Abend, Tante,« klang da eine helle Stimme von der Tür her. »Da bin ich wieder!« Dann in ausbrechendem Jubel: »Hurra, Väterchen, da ist dein Junge!«

Und Friedel flog dem alten Herrn an den Hals und erstickte ihn beinahe mit ihren Küssen.

Tante Lenchen war stumm, schreckensbleich, mit gerungenen Händen in ihren Stuhl zurückgesunken.

Eine Minute lang ließ der Vater die stürmischen Umarmungen über sich ergehen, dann faßte er Friedel und schob sie etwas von sich.

Er blickte ihr in das glühende Gesicht, ernst, prüfend.

Friedel ließ plötzlich den Kopf hängen.

»Durchgebrannt?« fragte der Alte streng.

»Durchgebrannt!« bestätigte Friedel scheu.

»Pfui!«

Friedel würgte an den aufquellenden Tränen. »Väterchen,« begann sie, aber der Vater schnitt ihr das Wort ab.

»Streiche gemacht?«

Stumm hing sie den Kopf.

»Pfui!!!« Noch kräftiger als das erste Mal.

Jetzt stürzten Friedels Tränen wie ein Wasserfall.

»Frida, Frida, wahrlich du bist noch mein Tod!« Tante Lenchen fand jammernd die ersten Worte.

»Still, nicht gezetert, Lene,« unterbrach sie der Bruder streng. »Heute verlieren wir kein Wort über die Sache, morgen will ich dann hören, wie alles zusammenhängt. Friedel geht sofort auf ihr Zimmer. Sorge, daß man ihr etwas zu essen bringt. Schick mir den Johann, er muß noch ein Telegramm an die Vorsteherin des Instituts zur Station bringen. Sie soll Friedels halber keine schlaflose Nacht haben. Gute Nacht, Kind!«

Das galt Friedel, die bisher wortlos und blaß dagestanden hatte und nun stumm hinter der Tante das Zimmer verließ.

Als Tante Lenchen dann wieder hereinkam, verzehrten Vater und Tante ihr Abendbrot, ohne ein Wort miteinander zu reden. Nur Tante Lenchens aus tiefster Tiefe hervorgeholte Seufzer unterbrachen ab und zu die Stille.

Droben aber auf dem alten lieben Bett im alten lieben Zimmer weinte sich ein junges Menschenkind unter heißen Tränen in den Schlaf.

Friedel hatte sich das Heimkommen doch ganz anders gedacht.


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